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Der Ablauf des militärischen Geschehens entspricht der geschichtlichen Wahrheit. Die Namen der handelnden Personen sind frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten sind daher rein zufällig.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2012

©2018 Edition Förg, Rosenheim
www.rosenheimer.com

Lektorat und Satz: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger & Karl Schaumann GmbH, Heimstetten
Titelfoto: © Bayerische Staatsbibliothek München / Fotoarchiv Hoffmann

eISBN 978-3-933-70879-3 (epub)

Inhalt

Die Todgeweihten

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Es ist noch früh am Morgen. Die Sonne steht schräg über der Adria und wärmt die von Bombensplittern und Bordwaffenbeschuss zerhackten Mauern des Wachgebäudes. Ein Fenster, in dem die Scheiben fehlen, steht offen. Drinnen im verräucherten Wachlokal läuft ein kleiner Radioapparat und schmettert Marschmusik in den Morgen. U. v. D. Müller pfeift fröhlich mit und unterzieht sich einer Reinigung seiner trauerberänderten Fingernägel, wobei er sich des Taschenmessers bedient.

Die Marschmusik endet. Ein Gongschlag ertönt.

»Die Zeit: sieben Uhr. Wir bringen Nachrichten. Das Oberkommando der Wehrmacht meldet …«

U.v.D. Müller lümmelt sich auf die Tischkante und hört aufmerksam zu.

»Die Alliierten sind zwischen Gaeta und Monte Cassino zu einem Generalangriff angetreten. Im Raum von Minturno und am Monte Petrella gelangt es den Angreifern, kleine Erfolge zu erzielen. Unsere tapferen Fallschirmjäger leisten erbitterten Widerstand und fügten dem massiert angreifenden Gegner schwerste Verluste zu. Der Kampf um Monte Cassino geht in unverminderter Härte weiter …«

In die schnarrende Stimme des Rundfunksprechers rasselt das Telefon. Unteroffizier Müller stellt das Radiogerät leiser und nimmt den Hörer ans Ohr.

»U. v. D. Müller, Hafenwache«, meldet er sich.

»Hier Boltz. Ist Brandt in der Nähe?«

Müller ist unwillkürlich aufgesprungen und hat Haltung angenommen. Oberstleutnant Boltz, der Chef des Amtes Ha, Abteilung Sabotage, eine Zweigstelle des Hauptamtes Canaris, ist am Apparat.

»Im Augenblick ist Leutnant Brandt nicht da«, meldet Müller. »Soll ich ihn suchen lassen?«

»Nein. Wenn er kommt, soll er mich sofort anrufen.« »Jawohl.« Müller klappt die Hacken zusammen. Der Teilnehmer hat aufgelegt. Unteroffizier Müller legt den Hörer zurück und stellt das Radio lauter.

»Terrorflieger haben in der vergangenen Nacht Städte in Westdeutschland angegriffen …« schnarrt die Stimme des Rundfunksprechers.

Indessen steht Leutnant Jochen Brandt an Bord eines zerbombten Frachters und beobachtet durch das Dienstglas die Vorgänge im Hafen. Brandt trägt eine Art Räuberzivil: zerknautschte Hosen, Segeltuchschuhe, eine abgewetzte, knapp sitzende Lederweste, die sich unter der linken Achsel verdächtig ausbeult, dazu eine schmierige Schlägermütze auf dem Kopf. Nur wenige hier wissen, dass es sich bei diesem Mann, der in unberechenbaren Zeitabständen mal da, mal dort auftaucht, um einen der verwegensten Offiziere des Amtes Ha, Abteilung Sabotage, handelt. Er ist schweigsam, versieht pflichtbewusst seinen Dienst, nachdem man ihn vor etwa acht Wochen nach einer schweren Verwundung aus dem Lazarett entlassen hat. Seine Aufgabe ist es, den Hafen zu kontrollieren und ein wachsames Auge auf alles zu halten, was hier kreucht und fleucht. Sobald dieser Leutnant seine Uniform anlegt, kann man eine erkleckliche Anzahl Tapferkeitsauszeichnungen am Tuch sehen, unter anderem auch das »Blaue Kreuz«, eine der höchsten Auszeichnungen, die Italien vor seinem Bruch mit dem Achsenpartner an deutsche Soldaten zu verleihen hatte.

Der Mann an Bord des rostenden Schiffes setzt das Glas ab und wischt sich über die lederbraune Stirn.

Nichts los hier! Alles in Ordnung. Langweiliger Betrieb! Und so geht es schon seit Wochen. Er, der ehemalige Verbindungsoffizier zu den italienischen Froschmännern der X. Flottiglia M. A. S. S. und zum italienischen Geheimdienst –, er mopst sich hier herum. Und wie er sich mopst! Pfui Deibel!

Ins trübe Hafenwasser spuckend, verlässt Brandt über eine Laufplanke seinen Beobachtungsplatz und geht mit katzenhaft geschmeidigem Gang die Kaimauer entlang.

Er hat graue, hart blickende Augen, wenn er sich einer gefährlichen Situation gegenübersieht; aber jetzt sind diese Augen nachdenklich, blicken über die Trümmer des Hafens, schweifen darüber hinweg zur Stadt, hinter der bewaldete Berge aufsteigen.

Wie schön dieser Morgen ist! Wie warm die Sonne scheint! Nichts verrät, dass in der Nacht diese verdammten Jabos da waren und ihre Bomben auf Stadt und Hafen warfen. Man riecht noch die Brandstellen, die irgendwo in der Stadt schwelen. Es hat wieder Tote gegeben. Mehr Zivilisten als Soldaten.

Diese Berge dort hinten! Lieblich und grün sind sie. Aber über sie hinweg sausen in unberechenbaren Zeitabständen die Jabos, um sich auf die wehrlose Stadt zu stürzen, die paar Flakgeschütze missachtend, die irgendwo im Hafengelände zu feuern beginnen.

Im Hafenbecken zwei wird ein Frachter entladen. Er ist in der vergangenen Nacht aus Triest gekommen und löscht seine Ladung, bestehend aus Ballen und Kisten. Ein Trupp Hafenarbeiter ist eingesetzt, bewacht von einem grauhaarigen Obergefreiten.

»Morjen«, grüßt er den Mann in der Lederweste.

Brandt nickt grüßend zurück, begibt sich an Bord des Frachters, schlendert am Oberdeck entlang, lässt seine grauen, wachsamen Augen umherschweifen und findet alles in Ordnung.

In Ordnung scheint auch alles drüben in der Werft zu sein. Die Niethämmer poltern, die Sauerstoffgebläse zischen. Brandt stolpert über ein paar herumliegende Eisenteile. Die Arbeiter sind fleißig, wissen sie doch, dass die Arbeit für die Deutsche Wehrmacht derzeit ihre einzige Verdienstmöglichkeit ist. Der Lohn wird ihnen pünktlich ausgezahlt, und ein paar zusätzliche Lebensmittel gibt es außerdem.

Im Trockendock liegt ein deutsches Patrouillenboot. Die Aufbauten sind zerschossen. Das Heck weist ein Loch auf. Vor drei Tagen hat sich das Boot in den Hafen geschleppt, an Bord fünf Tote und den schwerverwundeten Kommandanten.

»Lohnt es sich denn noch, den Kahn zu flicken?«, fragt Brandt den italienischen Ingenieur.

»Befehl ist Befehl«, sagt der andere und zuckt die Schultern.

Fünf Minuten später sieht man die breitschultrige Gestalt des kontrollierenden Abwehrmannes die Hafenstraße entlangschlendern und vor einem Trupp Straßenarbeiter haltmachen. Man bessert die Asphaltdecke der Straße aus, die von drei Bomben aufgerissen wurde. Der Wachposten nimmt lasch die Hacken zusammen und zieht den Karabiner an.

Brandt winkt mit den Augen ab. Keine Meldung. Die Kerle hier brauchen nicht zu wissen, wer gekommen ist.

»Alles in Ordnung?« Brandt fragt es leise, während er den Blick über die Arbeiterschar wandern lässt und jeden einzelnen kurz mustert.

»Alles in Ordnung«, brummt der Gefreite. »Man darf bloß den Buckel nicht wenden, sonst sind sie alle Standbilder der Arbeit.« Der Gefreite Schulz grinst.

»Sind Neue dabei?«, fragt Brandt.

»Nee. Noch die alte Garnitur.«

Brandt studiert nachdenklich den Haufen schuftender Männer. Es kann einer darunter sein, der nicht hierher gehört, der aus den Augenwinkeln heraus alles sieht, was den Gegner interessieren könnte. Jeder hier kann ein V-Mann sein, ein Agent, ein bezahltes Individuum, dem ein Bündel Banknoten mehr wert ist als ganz Italia, aber auch ein überzeugter Antifaschist, der für seine Ideale seine Haut riskiert.

»Was sagt der Nachrichtenonkel in Berlin?«, fragt der Gefreite. »Ist es bald soweit, dass wir wieder wetzen müssen?«

Brandt runzelt die Stirn. Am Ton der Frage wäre allerhand auszusetzen. Aber kann man das? Viele der Leute hier, die Wache schieben, sind schon in Palermo, Salerno, Neapel gewesen und haben etwas von der Eile der Rückzüge mitbekommen.

Der Gefreite wartet blinzelnd auf die Antwort.

»Sie kommen nicht weiter«, sagt Brandt. »Bei Formia geht es wild zu, und Monte Cassino hält sich noch.«

»Viele Hunde sind des Hasen Tod«, orakelt der Gefreite und schnauzt zu dem Haufen Arbeiter hinüber: »Tempo! He! Tempo presto! Macht weiter, Amigos!«

Brandt hat seinen Rundgang beendet. Als er ins Wachlokal zurückkehrt, sagt ihm Unteroffizier Müller, dass vom Castell Mare angerufen worden sei. Brandt lässt sich von der Vermittlung verbinden. Gleich darauf meldet sich die Stimme des Chefs.

»Hier Seeadler zwo, Brandt«, antwortet der Leutnant. »Ich sollte anrufen. Was gibt’s?«

»Bitte, komm sofort zu mir«, erwidert die andere Stimme. »Witt soll den Kram weitermachen. Pack deine Klamotten, Jochen, denn du kommst fürs Erste nicht zurück.«

Brandt pfeift leise durch die Zähne. »Es liegt was an, wie?«

»Das sage ich dir, wenn du hier bist.«

»Gut. Ich bin in einer halben Stunde drüben. Bis dann also. Ende.«

Brandt legt auf und reibt sich mit der flachen Hand die Stirn. Es hängt also wieder eine Kuh in der Luft! Soll man sich darüber freuen? Mal sehen, was der gute Boltz zu sagen hat.

Oberstleutnant Boltz und der um etliche Jahre jüngere Brandt arbeiten schon über zwei Jahre zusammen. Brandt ist Boltz’ Stellvertreter. Außer Dienst duzen sie sich, wie überhaupt in einer so kleinen Gemeinschaft ein anderer Umgangston herrscht als bei einer regulären Militäreinheit. Das Leben bei den Einzelkommandos unterscheidet sich wesentlich von den Umgangsgepflogenheiten bei anderen Einheiten: Der Nimbus des Ranghöheren fehlt. Man schätzt den Charakter und die Tapferkeit eines jeden Mannes und erhebt ihn, gleich welchen Dienstgrad er einnimmt, zum Kameraden und Freund.

Die Härte des Einsatzes bestimmt das Verhältnis zueinander und nicht zuletzt auch die traurige Tatsache, dass die meisten der durch eine harte Ausbildungszeit gegangenen Kämpfer bei einem ihrer hochriskanten Einsätze ums Leben kommen. Sie werden als anonyme Tote oder standrechtlich Erschossene aus der Liste gestrichen und machen einer anderen Nummer Platz, der aller Voraussicht nach das gleiche Schicksal beschieden ist. Das Sterben dieser Männer geschieht in aller Stille, wird ohne Ehrensalve zur Kenntnis genommen. Man gedenkt ihrer, indem eine gestrichene Nummer kein zweites Mal vergeben wird.

Leutnant Jochen Brandt, 24 Jahre alt, wortkarg geworden, verschlossen und schon längst von heftigen Zweifeln befallen an der Sache, der er dient, verlässt das Wachlokal. Das kleine Zimmer im Marinekommando ist rasch erreicht. Feldwebel Witt liegt auf dem Feldbett und schnarcht, noch angekleidet, die Beine auf das untere Bettgestell gelegt.

»He, du!«

»Was’n los?«, grunzt der untersetzte, sonnverbrannte Kollege und fährt erschrocken hoch.

»Ich muss weg. Du übernimmst den Laden hier. Falls etwas passiert, Nachrichten von unseren Mittelsmännern eintreffen, oder sonst was Wichtiges vorliegt, erreichst du mich im Castell Mare.«

Brandt hat bereits mit dem Packen des Seesacks begonnen und stopft die wenigen Klamotten in das Gepäckstück.

Witt reibt sich mit beiden Händen das Gesicht. Er hat noch gar nicht begriffen.

»Geht’s los?«, fragt er.

»Möglich. Der Alte hat es eilig gemacht.«

»Dann ist bestimmt was los«, grunzt Witt. »Schickt er dir den Wagen rüber?«

»Nein. Ich nehme unser Krad. Vielleicht liegt auch nichts vor, und ich bin morgen wieder zurück.«

»Wenn er dich ins Castell ruft, sind bestimmt ein paar Neuigkeiten eingetroffen.«

Brandt knallt die Spindtür zu und reicht Witt die Hand: »Mach’s gut, Ernst.«

»Du auch. Und lass mich bloß nicht hier kleben, wenn was los sein sollte!«

»Du hörst von mir!«

Brandt wirft den Seesack über die Schulter und geht. Fünf Minuten später knattert die schwere Beiwagen-Maschine durch die Straßen von Ancona. Man sieht nur wenige Menschen. Die meisten Bewohner haben sich wegen der zunehmenden Bombenangriffe in die Campagna zurückgezogen. Räumtrupps sind dabei, Trümmer zu beseitigen. Am Stadtrand wird Brandt zweimal angehalten und muss sich ausweisen.

»Haben Sie Ihre Uniform verscheppert?«, fragt ein Leutnant vom Marinekommando, als er Brandt den Ausweis zurückreicht.

Brandt deutet auf den Seesack. »Dort drinnen. Soll ich sie auspacken?«

»Nicht notwendig. Der Ausweis genügt.« Der Leutnant grüßt.

Brandt gibt Gas, und die Maschine macht einen Satz nach vorn.

Das Castell, in dem Oberstleutnant Boltz seinen Schreibtisch aufgestellt hat, liegt knapp zwanzig Kilometer hinter Ancona, an einem Berghang, zu dem ein staubiger Weg hinaufführt. Dunkle Zypressen trauern um das alte Gemäuer, das an der Ostseite steil zur Straße abfällt und von graugrünen Olivenhainen abgelöst wird. Man hat von dort oben einen wunderbaren Blick über das Meer. Aber das hier einquartierte Kommando hat anderes zu tun, als sich an der idyllischjen Küstenlandschaft zu ergötzen, deren romantische Stille nur allzu oft von Gefechtslärm zerrissen wird.

Vor dem Burgtor stehen zwei Posten mit Maschinenpistolen bewaffnet. Brandt hält kurz an und ruft in das Brummen der Maschine: »Ich bin’s, Wendlinger!«

»Ach, der Herr Leutnant!« Wendlinger grüßt zackig und tritt zur Seite.

Staubbedeckt und eilig rennt Brandt in das efeuumsponnnene Gebäude, über eine Treppe hinauf und stürmt in sein Zimmer. Das Umziehen ist rasch getan. Die Uniform ist etwas zerknautscht; man sieht jetzt die vielen Auszeichnungen am Tuch: EK I, Deutsches Kreuz in Gold, Nahkampfspange und etliches mehr. Brandt hängt sich auch die italienische Auszeichnung um den Hals, denn es kann sein, dass fremder Besuch da ist, dem man vorgestellt wird. Außerdem weiß Brandt, dass es der Alte lieber hat, wenn man in Uniform kommt.

In der weiträumigen Schlosshalle, beobachtet von einer Anzahl aristokratischer Hochmutsgesichter, belauert von zwei aufgestellten Ritterrüstungen und vom antiken Hauch des Hauses umfächelt, hat Fräulein Emmy Schreiner aus Magdeburg ihren Vorzimmerplatz zugewiesen bekommen.

Das weizenblonde Mädchen mit den etwas farblos wirkenden Augen arbeitete schon seit Jahr und Tag im Amt Ha der deutschen Abwehrorganisation. Oberstleutnant Boltz sorgt immer dafür, dass bei dem oftmaligen Stellungswechsel seines Amtssitzes auch Fräulein Emmy Schreiner mit eingepackt wird. Denn sie ist eine routinierte Arbeitskraft, die Boltz nicht mehr missen kann.

Das Mädchen weiß bereits, wer gekommen ist. Ein rascher Blick aus dem hohen Bogenfenster hat sie davon überzeugt, dass Leutnant Brandt sehr rasch dem Ruf des Chefs Folge geleistet hat – ein Grund, um in aller Eile das Lippenrot aufzufrischen und das germanisch einfach geordnete Blondhaar glattzustreichen.

Da kommt er auch schon herein.

»Tach, Emmy«, grüßt er.

»Heil Hitler, Herr Leutnant«, erwidert sie als linientreue Parteigenossin. »Der Herr Oberstleutnant erwartet Sie schon.«

»Wie geht’s?«, fragt er und lächelt ein bisschen. »Spukt es schon in Ihrem Salon, oder dulden die Herren dort …« – Brandt wirft einen Blick auf die hochmütigen Gesichter im schweren Goldrahmen – »die Zwangseinquartierung?«

Emmys roter Mund verzieht sich zu einem Lächeln. »Ich habe noch nichts bemerkt, Herr Leutnant.«

»Mäuse auch nicht?«

»Mäuse?« Die hellblauen Augen weiten sich erschrocken. »Nein. Gott sei Dank nicht!«

Rechts drüben geht eine hohe Flügeltür auf.

»Ah, da bist du ja schon, Jochen! Komm herein!«

Oberstleutnant Boltz winkt und klopft Brand freundschaftlich auf die Schulter, als er in das antik ausgestattete Zimmer tritt.

»Alles in Ordnung im Hafen?«

»Alles in Ordnung«, sagt Brandt und meldet sich nachträglich zur Stelle.

»Setz dich, mein Junge«, fordert Boltz auf. »Ich muss mit dir reden.«

Boltz ist frühzeitig ergraut. Die schwere Verantwortung, die er bei seinen Aufgaben trägt, hat sein Gesicht gezeichnet; es ist ein noch junges Gesicht, etwas nervös, schmal und verrät den geborenen Offizier. Canaris hat diesen Mann nicht umsonst vom Hauptmann zum Oberstleutnant avancieren lassen. Man weiß in Berlin genau, dass Boltz das Vertrauen und die Hochachtung der noch loyal gebliebenen Italiener besitzt, wie sich überhaupt kein Mann besser als Sabotageleiter eignet als Oberstleutnant Walter Boltz. Die Freundschaft zu Leutnant Brandt gründet auch auf dem Umstand, dass Boltz seinen einzigen Sohn, der als Fähnrich in Russland kämpfte, verloren hat. Brandt ähnelt diesem Toten, hat auch dessen Art. Aus diesem Grunde ist die Schranke zwischen Leutnant und Oberstleutnant auch so gut wie restlos gefallen.

»Cognak?«, fragt Boltz.

»Es ist mir lieber, wenn du gleich vom Leder ziehst«, sagt Brandt und setzt sich in den hochlehnigen Stuhl.

Boltz kehrt hinter seinen Schreibtisch zurück, auf dem ein Wust an Karten und Aktenpapieren in kunterbuntem Durcheinander liegen.

Brandts graue Augen heften sich gespannt auf das Gegenüber.

»Hör zu«, fängt der Oberstleutnant an. »Es gibt Arbeit. Du fährst noch heute nach San Giorgio. Colonello Lorenzoni erwartet dich.«

Brandts Miene verrät Überraschung. »Lorenzoni?«

»Ja. Er hat das Kommando bei dem Unternehmen.« Boltz lächelt flüchtig. »Er erinnert sich sehr gut an deine Verdienste beim Unternehmen Seeigel und hat dich angefordert. Auch Dengler ist von Lorenzoni angefordert worden, unser Funkerfeldwebel. In San Giorgio werden noch zwei Mann von uns antanzen. Ein Fähnrich, der eben erst die Ausbildung hinter sich hat, und – tja, Jochen«, grinst Boltz herüber, »ein Mann vom SD, Kramer heißt er. Ich kenne ihn flüchtig von Berlin her. Er war schon zweimal in Moskau, wurde beim letzten Mal erwischt, konnte aber rechtzeitig ausbuchsen. Klar, dass man ihn jetzt nicht mehr im Osten einsetzen will. Kramer ist Hauptsturmführer. Soll auch das Ritterkreuz haben. Er gilt als kaltschnäuziger Bursche. Man hat mir zugeflüstert, dass er auch gelegentlich die Nase etwas hoch trägt. Erzählt gerne davon, dass er mit dem Führer gefrühstückt hat und … Na ja, du wirst schon wissen, wie du den Mann zu nehmen hast.«

Brandt fischt nach Zigaretten und zündet sich eine an. Sein Gesicht verrät nichts. Nur das linke Auge hat sich halb geschlossen.

Boltz fährt fort: »Was den Fähnrich betrifft, so musst du ein bisschen auf ihn aufpassen. Ist noch ein unbeschriebenes Blatt, wurde aber, wie ich aus den Akten feststellen konnte, mit einer sehr guten Beurteilung von der Schule entlassen. Es wird sein erster Einsatz sein.«

»Wo?«

»Bari.«

Brandt schaut zum hohen Bogenfenster hinüber. Man sieht nur blauen Himmel. Ein Efeuzweig schaukelt sich im Wind.

Im Gehirn des Leutnants beginnt die Abteilung »Geographie« zu arbeiten: Bari. Hafenstadt an der Adria. 200000 Einwohner etwa. Das Ziel des Auftrages liegt also rund 200 Kilometer hinter der augenblicklichen Frontlinie. Wichtiger Nachschubhafen der Alliierten. Also eine wenn auch wieder gefährliche, so doch interessante Aufgabe.

Die Augen des Oberstleutnants schauen mit nachdenklichem Ausdruck herüber.

»Du triffst Colonello Lorenzoni in der Villa Flora«, sagt Boltz jetzt.

Brandt nickt und zerdrückt die Zigarette im Aschenbecher. »Wer ist noch dabei?«

»Darüber hat sich der Colonello nicht ausgelassen. Ich vermute aber, dass ein paar alte Bekannte von dir mitmachen werden.«

Brandt schiebt sich hoch und geht zweimal durchs Zimmer. Indessen ergänzt Boltz seine Einsatzmeldung:

»Dengler wird die Funkverbindung mit unseren V-Männern in San Benedetto aufnehmen. Von dort aus werde dann ich über den Stand der Dinge benachrichtigt. Außerdem wird Dengler auch die Funklinie Rom benützen. Genaue Anweisungen wird der Colonello noch geben. Das wäre im Augenblick alles, Jochen.« Brandt ist vor dem Schreibtisch stehengeblieben und blickt den älteren Freund an.

»Und deine Meinung von dem Auftrag?«

»Der Erfolg hängt von den Vorarbeiten ab. Die Chancen sind wie immer.«

Brandt grinst matt. »Diesmal vielleicht noch um ein paar Prozent herabgesetzt, weil der Gegner wachsamer geworden ist.«

»Damit muss gerechnet werden, Jochen.«

»Hm …« Brandt reibt sich das Kinn. »Wer hat die Sache vorbereitet?«

»Ein paar Agenten der O. V. R. A. Lorenzoni weiß bestimmt mehr.«

»Na schön. Ich werde mich gleich auf die Socken machen. Übrigens, Witt hat mich gebeten, ihn nicht in Ancona kleben zu lassen. Kann er mitkommen?«

»Witt muss diesmal hierbleiben. Wir brauchen einen verlässlichen Mann für die Hafenkontrolle. Ich werde ihm das persönlich sagen.«

»Gut. Wo ist Dengler?«

»Er macht den Wagen fertig.« Boltz erhebt sich und kommt um den Schreibtisch herum. »Hör mal zu, mein Junge. Du kannst ablehnen. Wenn du mir sagst, dass deine Verwundung noch nicht ganz ausgeheilt ist und du Schonung brauchst, wäre das ein Grund, dich von dem Unternehmen zu streichen.«

»Ich fühle mich in Ordnung.«

Boltz legt dem anderen die Hand auf die Schulter und rüttelt ihn leise. »Du bist jetzt insgesamt sieben Mal verwundet worden, das letzte Mal ziemlich schwer. Ein Wort von dir genügt, und ich teile Lorenzoni mit, dass er einen anderen Mann einsetzen soll.«

Brandt winkt ab. »Unsinn. Es sähe wie Kneifen aus. Außerdem reizt mich die Sache. Wenn die Kameraden von der ›Decima‹ mit dabei sind, möchte auch ich dabei sein.«

Boltz setzt sich auf die Schreibtischecke. Sein Blick gleitet an der breitschultrigen Gestalt des Leutnants auf und nieder.

»Es wird diesmal ziemlich schwer sein, mein Junge. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob du den Strapazen gewachsen bist. Der Mensch ist keine Maschine.«

»Leicht war’s noch nie, Walter, und was meine gesundheitliche Verfassung anbelangt, so mute ich mir bestimmt nicht zu viel zu. Außerdem, Walter – der Dienst in Ancona ist mir zu langweilig. Ich freue mich, dass wieder mal was anliegt – und ich freue mich doppelt, weil ich weiß, dass ich in San Giorgio ein paar Freunde wiedersehen werde.«

Boltz’ Miene bleibt ernst und nachdenklich. In seinen etwas müde dreinschauenden Augen liegt ein heimliches Bitten, als er sagt: »Von unserer Gruppe sind nicht mehr viel übrig geblieben, Jochen. Jeder Einsatz rafft ein paar dahin. Ehrlich gesagt, mein Junge: Ich hätte nichts dagegen, wenn du diesmal daheim bliebst und mir sagtest: ›Ich kann nicht. Ich fühle mich der Aufgabe nicht gewachsen. In vier oder sechs Wochen mache ich wieder mit!‹«

Brandt geht zum Fenster und schaut hinaus. Tief unten breitet sich die blaugrüne Wasserfläche der Adria aus. Himmel und Wasser verschmelzen zu eins. Klar und hell scheint die Sonne, lässt vergessen, dass der Krieg schon fünf Jahre lang tobt. Friedlich ist das Meer, einsam, ohne Rauchwolke, ohne weißen Segelfleck.

Ich könnte mich drücken, denkt der Mann am Fenster. Ein Wort würde genügen. Walter wartet darauf, dass ich sage: Es geht nicht – ich fühle mich der Aufgabe, rein gesundheitlich, nicht gewachsen. Er hat das aber alles erst hintenan gesetzt und die Pflicht vorangestellt. Soll ich das Schicksal noch einmal herausfordern? Hat es überhaupt noch einen Sinn, das Leben aufs Spiel zu setzen?

Stille herrscht. Der Mann am Schreibtisch reibt sich mit der Hand das hagere Gesicht, streicht sich dann über das graue Haar.

Draußen im Vorraum beginnt eine Schreibmaschine zu klappern. Unten im Schloßhof summt ein Motor, brüllt auf und verstummt wieder. Feldwebel Dengler hat den Wagen fertig gemacht und lädt noch drei Kanister Sprit auf.

Brandt dreht sich um; sein Gesicht liegt im Schatten, als er sagt: »Ich danke dir für dein Angebot, Walter. Sobald ich den Auftrag erledigt habe, werde ich bei dir ein Urlaubsgesuch einreichen.« Er geht auf Boltz zu und reicht ihm die Hand. »Ich fahre jetzt.«

»Zieh dich bitte um, Jochen.«

»Ja.«

Die Hände halten sich noch immer fest. Die beiden Männer schauen sich in die Augen.

»Soll ich jemand benachrichtigen, falls dir etwas zustößt?«, fragt der Oberstleutnant.

»Ich habe nur Mutter. Du musst dir selbst einen Text ausdenken, Walter.«

Boltz lässt Brandts Hand los.

»Du wirst es schaffen«, sagt er und klopft dem Leutnant auf die Schulter. »Grüße Lorenzoni von mir.«

Sie gehen zur Tür. Dort bleibt Boltz noch einmal stehen. »Ich bin stolz auf dich, Jochen. Es käme mir sauer an, wenn du …« Boltz gibt sich einen Ruck. »Mach’s gut, mein Junge, und komm mir heil zurück.«

Brandt klappt die Hacken zusammen und steht stramm.

»Leutnant Brandt meldet sich ab.«

»Ich wünsche euch alles Gute und viel Erfolg.«

Oberstleutnant Boltz lässt Brandt hinaus und schließt die Tür. Drüben am Schreibtisch verstummt das Stakkato der Maschine. Fräulein Emmy schaut auf und kommt um den Schreibtisch herum.

»Sie gehen schon wieder, Herr Leutnant?«

»Ja. Ich muss mich wieder einmal von Ihnen verabschieden, Emmy.«

»Wohin denn diesmal?«

»Zur Abwechslung mal nach Bari.« Er reicht ihr die Hand. »Ich werde Ihnen eine Ansichtskarte schreiben, Emmy.«

»Oh …«, macht sie erschrocken, »nach Bari. So weit wieder.«

»Drücken Sie mir die Daumen«, sagt er.

Sie nickt, und ihre blassblauen Augen schauen etwas verstört zu ihm auf.

»Dann … dann viel Glück, Herr Leutnant.«

»Das könnten wir brauchen.«

Er drückt ihre Hand, streichelt ihr rasch über das Haar und verlässt die Halle mit schnellen Schritten.

Emmy steht noch eine Weile da und schaut der entschwundenen Gestalt nach; dann seufzt sie leise und kehrt wieder hinter ihre Schreibmaschine zurück. Aber es dauert einige Zeit, ehe Fräulein Emmy den Brief nach Berlin weitertippt; denn sie muss daran denken, dass Leutnant Brandt weit ins feindliche Hinterland gehen wird und dass von dort nur wenige zurückkehren. Dieser Gedanke treibt dem Mädchen einen feuchten Schimmer in die Augen.

Zehn Minuten später brummt im Schlosshof ein alter Fiat-Wagen und schaukelt mit zwei Männern in Zivil durch das alte Burgtor. Die Posten stehen stramm und grüßen. Gleich darauf verschwindet der Wagen in einer dichten Staubwolke.

Brandt und Feldwebel Dengler – letzterer ein untersetzter, breitschultriger Kerl mit einer kräftigen Nase, von der sich eine Narbe zum linken Mundwinkel hinabzieht, und dem Gesicht eines jovialen Viehhändlers – tragen Zivilkleider und führen nur wenig Gepäck bei sich. Als einziges militärisches Kleidungsstück tragen sie unter den abgewetzten Jacken das Militärhemd mit dem tausendjährigen Raubvogel auf der Brustseite, sowie Ausweis und Erkennungsmarke. Die 08 steckt im Armhalfter unter der linken Achsel.

Franz Dengler stammt aus Dortmund und gilt als ausgezeichneter Funker und kaltschnäuziger Draufgänger. Brandt schätzt ihn sehr und hat mit ihm schon mehrere Einsätze erlebt. Sie duzen sich.

»Verdammt gutes Wetter für die Jabos!«, ruft Dengler in den Lärm des Motors. »Wir müssen höllisch aufpassen, Jok!«

Der Wagen rollt jetzt eine schnurgerade Straßenstrecke entlang, zu deren beiden Seiten sich Olivenhaine mit Pfirsichplantagen ablösen. Rechter Hand wellt sich das Hügelland und geht weiter drüben in höheres Bergland über. Links liegt das Meer und badet sich im eitlen Sonnenschein, leicht rollend und den Strand beleckend.

»Wer macht noch alles mit?«, fragt Dengler, während die Tachonadel um die Zahl 100 herumzittert.

»Zwei Neue. Ein Fähnrich und einer vom SD.«

»Seit wann steckt der SD seine Nase in unsere Angelegenheiten?«

Dengler wirft einen Seitenblick auf Brandt und sieht dessen Schulterzucken. »Was ist das für ein Herr?«

»Soll in Russland gewesen sein und das Ritterkreuz haben. Der Chef erzählte etwas von ›Frühstück beim Führer‹ und ›Nase hoch tragen‹.« Brandt grinst herüber. »So was kann uns nicht imponieren, wie?«

»Wir haben auch schon mit feinen Leuten gefrühstückt«, sagt Dengler. »Denk nur daran, als wir …«

»Achtung!«, brüllt Brandt plötzlich und deutet nach links. »Jabos!«

Dengler tritt wild auf die Bremse. Der Wagen schleudert. Die Pneus radieren auf dem Asphalt. Dengler flucht wie ein kanadischer Holzfäller, als er den Fiat in den Straßengraben schaukelt und aus dem windschief hängenden Vehikel springt. Keine Sekunde zu früh.

Die Jabos sind da. Die erste Maschine hüpft über die Chaussee hinweg, legt sich auf die Seite, kurvt über dem Meer ein und kommt zurück. Eine dünne Rauchfahne weht hinter ihr her. Jetzt dröhnt die zweite und sofort hinterher die dritte Maschine heran.

Haben die Briten den Wagen gesehen? Er hängt im Straßengraben unter einem alten Olivenbaum. Die beiden Insassen liegen etwas davon entfernt und pressen sich in den Graben hinein.

Jetzt dröhnt der erste Jabo heran; er fliegt die Chaussee entlang, hinter ihm her die beiden anderen. Weg sind sie. Aber jetzt … Es kracht ein paarmal, scharf und kurz. Fast gleichzeitig hört man das Knattern der Bordwaffen.

Brandt und Dengler heben den Kopf, robben zum Grabenrand hoch und schauen nach vorn. Etwa drei Kilometer entfernt, vielleicht auch etwas näher, liegt eine Ortschaft. Dort blitzt es und kracht es. Rauch steigt auf, Flammen …

»Diese Hunde«, sagt Dengler, »dort vorne haben sie was fertig gemacht.«

Die Jabos kreisen über dem Dorf. Fliegen noch zweimal an. Die Bordkanonen knattern. Schwärzlicher Rauch kennzeichnet die Stelle, wo irgendetwas zusammengeschossen wurde. Ein Haus? Ein deutsches Militärfahrzeug?

»Komm«, sagt Brandt und springt auf.

Brandt schwingt sich in den Wagen, startet, ruckt an, karrt den Fiat endlich aus dem Graben und jagt auf die Rauchwolke zu.

Die Jabos sind abgeflogen. Am Ortseingang brennt ein Omnibus. Lichterloh steht er in Flammen. Eine lebendige Fackel stürzt heran, fällt nieder und wälzt sich auf der Straße.

Mit wildem Ruck hält Brandt den Wagen an und springt heraus. Dengler hinterher. Ein Bild des Grauens bietet sich ihnen. Der Omnibus ist mit Marinesoldaten besetzt. Niemandem ist es gelungen, aus dem zerschossenen und brennenden Wrack herauszukommen. Man sieht das große Fahrzeug kaum. Beißend dicker und rußender Rauch hüllt alles ein. Ein Glutgürtel liegt um das Fahrzeug und verhindert jede Hilfeleistung. Im fressenden Rot sieht man ein paar Gestalten in den Fenstervierecken hängen, tot, verbrannt, ehe sie herauskonnten. Etwas weiter vorne liegt eine Gestalt auf der Straße, die Arme weit von sich gestreckt, das Gesicht auf die Erde gedrückt. Der Fahrer. Tot. Erschossen.

»Hier gibt es nichts mehr zu helfen«, sagt Dengler. »Alles hin.«

Das Omnibuswrack verschmort mit hässlichem Geräusch. Kein Hilferuf mehr, kein Jammerschrei. Die Jabos haben ganze Arbeit geleistet. Niemand ist dem Tod entkommen. Die Flammen verzehren die Reste von dem, was einmal Menschen waren.

Brandt und Dengler können hier nicht helfen. Nur die beiden Toten, der eine verbrannt, der andere von einem Dutzend Kugeln getroffen, werden beiseitegeräumt und in den Straßengraben gelegt. Die Hitze ist unerträglich.

Brandt und Dengler laufen wieder zum Wagen zurück. Brandt setzt sich hinter das Steuer und taxiert den schmalen Raum zwischen dem brennenden Wrack und dem Straßengraben, gibt entschlossen Gas und jagt den Fiat durch den Wall sengender Hitze.

Sie kommen durch, ohne dass der Wagen Feuer fängt.

»Vielleicht ist im Dorf ein Telefon«, meint Dengler.

Brandt schweigt. Mit finsterer Miene fährt er in die Ortschaft ein. Sie besteht nur aus einer Handvoll ärmlicher Häuser. Kein Mensch ist zu sehen. Erst als Brandt auf die Hupe drückt, tauchen ein paar Gesichter auf, angstverzerrt.

Auf Brandts Frage, ob es hier ein Telefon gebe, kommt eine verneinende Antwort. Der schlohweiße Alte, der befragt wurde, schaut entsetzt zum Ortseingang, wo der Bus brennt, und bekreuzigt sich.

»O mio dio«, murmelt er.

»Keinen Zweck«, sagt Dengler. »Schauen wir zu, dass wir weiterkommen, sonst haben wir die Jabos noch einmal auf dem Hals.«

Einsam ist die Straße. Kein Fahrzeug begegnet ihnen. Erst kurz vor der nächsten Ortschaft taucht ein Sanka auf, der nach Ancona fährt.

Brandt informiert den mitfahrenden Unterarzt.

»Sie können nicht mehr helfen«, sagt er. »Keiner ist herausgekommen. Benachrichtigen Sie bitte die Kommandantur von Ancona.«

Sie tauschen noch ein paar Worte. Dann setzt Brandt sich neben Dengler und fährt weiter.

»Die werden immer frecher«, sagt Dengler zu Brandt. »Möchte wissen, wo unsere großdeutsche Luftwaffe ist? Herr Meyer in Berlin ist wohl wieder auf der Bockjagd!«

Brandt antwortet nicht; er starrt die Chaussee entlang. Das, was eben passiert ist, passiert mittlerweile überall. Vom der deutschen Luftwaffe ist nicht mehr viel zu sehen. Ist man vielleicht dem großen Ende näher, als man denkt? Wie lange dauert dieser Irrsinn noch? Warum setzt man sein Leben noch einmal aufs Spiel?

»Sei ehrlich, Jok«, sagt Dengler. »Weißt du überhaupt noch, wie ’ne deutsche Me 109 oder Focke-Wulf aussieht? Ich nicht. Man könnte meinen, es gebe nur noch Tommies und Amis auf der Wiese des lieben Gottes, und uns gehört nur noch ein Stückchen Deutschland, so groß wie das Kornfeld meiner Tante Fini in Dorsten.«

»Halt endlich den Schnabel!«, belfert Brandt.

»Zu Befehl, Herr Leutnant«, grinst Dengler, nimmt Haltung an und beginnt mit dem Kopf zu wackeln und zu singen:

»Deutschland, Deutschland, armes Deutschland,

langsam kommst du auf den Hund …«

Es klingt boshaft und traurig zugleich.

Es ist dunkel geworden. Der kleine Fischerort San Giorgio verrät seine Existenz nur mit ein paar dünnen Lichtstrahlen, die durch verschlossene Fensterläden fallen. In den schmalen Gassen, die vom winzigen Marktplatz zum Hafen hinunterführen, liegt der Geruch von Fisch und geteerten Booten.

Langsam schiebt sich ein Wagen durch die schmale Straße und hält vor dem kleinen Municipio. Wie ausgestorben ist der enge Platz. Denn gleich ist der Zeitpunkt da, an dem »Pipo«, der Nachtjäger, seinen Kontrollflug längs der Küste abkurvt und liebend gern auf Lichtquellen Bomben wirft oder kurz die Bordwaffen rütteln lässt.

»He!«, ruft eine Stimme aus dem haltenden Wagen. »Wo ist die Villa Flora?«

Eine Gestalt tritt näher und gibt halblaut Antwort.

»Grazie, amigo«, sagt Brandt. Dann schnurrt der staubbedeckte Fiat wieder zum Städtle hinaus, biegt links ab und hoppelt einen schlechten Weg hinan, der schließlich vor einem großen, schmiedeeisernen Tor endet.

»Wer da?«, ertönt es drinnen, und der abgeblendete Strahl einer Taschenlampe tastet Fahrzeug und Besucher ab.

»Kommando Seeadler«, erwidert Brandt. »Wir werden erwartet.«

»Va bene«, ertönt es hinter dem eisernen Zierat. Kreischend öffnet sich ein Torflügel. Zwei Posten bewegen sich im Halbdunkel.

Brandt winkt Dengler und geht dem Wagen voran auf eine zwischen großen Bäumen liegende Villa zu. Der Putz ist an verschiedenen Stellen schon abgebröckelt, und große, wie riesige schwarze Augen glotzende Flecke haben sich an der Mauer gebildet. Eine ausgetretene Treppe führt zu einem dunklen Portal hinauf, neben dem zwei Lebensbäume in viereckigen Gefäßen stehen. Der Duft von Jasmin weht durch den nächtlichen Garten. Die herabgelassenen Jalousien lassen keinen Lichtschein durch.

Brandt wartet, bis Dengler ausgestiegen und heraufgekommen ist.

»In Gottes Namen«, lässt Dengler sich vernehmen. »Klopf an, Fremder, und erbitte dir ein Nachtquartier.«

Brandt sucht einen Glockenzug oder Klingelknopf, findet aber nichts dergleichen und pocht hart an die Tür.