Brigitte Reimann, geb. 1933 in Burg bei Magdeburg, war Lehrerin und seit ihrer ersten Buchveröffentlichung 1955 freie Autorin. 1960 zog sie nach Hoyerswerda, 1968 nach Neubrandenburg. Nach langer Krankheit starb sie 1973 in Berlin. Wichtigste Veröffentlichungen: Die Frau am Pranger (Erzählung, 1956), Ankunft im Alltag (Erzählung, 1961), Die Geschwister (Erzählung, 1963), Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise (1965), Franziska Linkerhand (Roman, 1974, vollständige Neuausgabe 1998), Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955-1963 (1997, als Lesung mit Jutta Hoffmann DAV 066-5), Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964-1970 (1998, als Lesung mit Jutta Hoffmann DAV 110-6). Außerdem erschienen die Briefwechsel mit Christa Wolf, Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964-1973 (1993), mit Hermann Henselmann, Mit Respekt und Vergnügen (1994); Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf. Briefe an eine Freundin im Westen (1995), und mit Irmgard Weinhofen, Grüß Amsterdam. Briefwechsel 1956-1973.
Elisabeth und Ulrich leben längst in verschiedenen Städten, aber alle paar Monate fahren sie zu ihren Eltern, gehen gemeinsam aus, hocken zusammen wie in Kindertagen. Ostern 1961 jedoch ist alles anders: Ulrich will in den Westen, weil er für sich keine Entwicklungsmöglichkeit in der DDR sieht. Was aber wird bleiben von ihrer Gemeinsamkeit, wenn jeder in einem anderen Deutschland lebt? Ein, zwei Tage hat Elisabeth noch Zeit, mit Ulrich zu reden.
»Die Geschwister« ist neben Christa Wolfs Erzählung »Der geteilte Himmel« das beeindruckendste zeitgenössische Buch über die Konflikte, in die die Menschen durch die deutsche Teilung gestürzt wurden.
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Die Geschwister
Erzählung
Inhaltsübersicht
Über Brigitte Reimann
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Verlust und Verrat
Impressum
Als ich zur Tür ging, drehte sich alles in mir.
Er sagte: »Das vergesse ich dir nicht.« Er stand sehr gerade und ohne Bewegung mitten im Zimmer, er sagte mit einer kalten, trockenen Stimme: »Das werde ich dir nicht verzeihen.«
Ich fand die Klinke, und draußen im Korridor hielt ich mich eine Weile an der Klinke fest, während ich auf seine Stimme wartete, auf einen Fluch oder darauf, daß er seinen Schuh gegen die Tür warf.
Früher hatte er mit den Schuhen nach mir geworfen, wenn wir uns zankten, oder sogar mit einer Vase, und einmal, als ich ihn auf dem Balkon aussperrte, schlug er mit der Faust in die Glasscheibe. Damals, weit zurück, war er sehr jähzornig, und manchmal fürchtete ich mich vor ihm; jetzt wäre mir sein Jähzorn aber lieber gewesen als diese kalte, trockene Ruhe.
Ein paar Minuten lang blieb ich im Korridor stehen. Durch das offene Fenster sah ich die feuchten, braunen Äste des Nußbaums vorm Haus und die krausen Blattspitzen. Im Sommer wölben sich die Zweige dunkelgrün und schwer und zuverlässig über der Treppe, und die Blätter ticken ans Fenster, wenn der Wind geht. Heute ist der Dienstag nach Ostern; die seidengelben Forsythien sind schon verblüht. Morgen wäre Uli abgereist.
Es blieb still im Zimmer, und schließlich ging ich auf Zehenspitzen zur Küche, auf dem roten Kokosläufer – solange ich zurückdenken kann, liegt ein roter Kokosläufer im Korridor, alle vier oder fünf Jahre ein neuer, nur in den Jahren nach dem Krieg war er schäbig und grau und abgetreten. An den Wänden hängen auch immer noch dieselben Drucke, Liebermann und Leibl; die heiteren Landschaften van Goghs, die ich meinen Eltern geschenkt habe, liegen in einer Schreibtischschublade unter alten Schulzeugnissen und den säuberlich abgehefteten Briefen und Postkarten, die wir während unserer Studienzeit schrieben.
In der Küche setzte ich mich auf das Schuhschränkchen, und als ich eine Zigarette anzündete, sah ich, wie meine Hände zitterten. Ich glaube, ich hatte nicht erwartet, daß Uli so reagieren würde, und ich fragte mich, ob ich überhaupt etwas erwartet oder vorausberechnet hatte, als ich heute morgen zu Joachim hinüberlief, nur über die Straße, über den gepflasterten Hof und die enge, düstere, mit Messingleisten beschlagene Treppe hinauf. Er wohnt schräg gegenüber, in einem häßlichen Mietshaus, das ein kleiner Geschäftsmann hier am Stadtrand gebaut hat.
Ich fragte mich nun sogar, warum ich zu Joachim hinübergelaufen war, und während ich auf dem niedrigen Schuhschrank saß und rauchte und mißtrauisch meine Hände beobachtete, versuchte ich mir darüber klarzuwerden, was ich für Uli empfand, jetzt, ein Viertel nach acht Uhr, in der Küche voll Morgensonne … Die ganze Zeit sah ich sein Gesicht mit dem kräftigen Kinn und mit dicken, schwarzen, flachen Brauenbögen und den hellbraunen Augen, die mit dunkleren Pünktchen wie Rostflecken gesprenkelt sind. Ich bin vierundzwanzig, ein Jahr jünger als er, und durch all die Jahre war mir sein Gesicht nah und vertraut – nur im letzten Jahr, seit den Sommerferien, wenn ich mich recht erinnere, fand ich zuweilen einen Ausdruck von Härte, der mir fremd und quälend unverständlich blieb.
Wenn ich meinen Freunden von ihm erzählte – ach, und sie belächelten meinen zärtlichen Überschwang, ich weiß –, dann sagte ich: Er ist schön, der schönste Junge, den ich kenne. Er ist klug, viel klüger als ich. Er hat sein Abitur mit Auszeichnung gemacht. Er ist der Beste in seiner Seminargruppe. Die Mädchen laufen ihm nach. Er ist stark, ein gewandter Sportler. Er liest viel. Er geht oft ins Konzert. Wir lieben uns.
Sie lachten: Zeig uns mal dein Wunder von einem Bruder. Uli studierte aber zu der Zeit in R., an der Ostseeküste, und ich besuchte die Kunsthochschule in D., und dazwischen lagen fünfhundert Kilometer Eisenbahnstrecke. Im letzten Jahr prahlte ich nicht mehr so laut mit ihm, ich sagte aber immer noch: Wir lieben uns.
Ich drückte die Zigarette aus. Auf einmal dachte ich, vielleicht liebe ich in Uli nur etwas Vergangenes, halb Vergessenes, Kindheit, die mir die Erinnerung als ein Idyll vorgaukelt, und obgleich ich das Gaukelspiel durchschaue und hundert nüchterne Einwände habe, blicke ich mit einer Art sentimentalen Vergnügens auf den zuckenden Filmstreifen der Erinnerungen, auf diese Folge kolorierter Genrebildchen:
Blühende Kirschbäume im Garten, der Sandkasten, die roten und gelben blechernen Förmchen; eine mit Efeu bewachsene Mauer, an ihrem Fuß zwischen breitblättrigen, violett blühenden Klettenpflanzen sammeln wir Schneckenhäuser im feuchten, schwarzen Mulm; die Laube im Garten eines Spielkameraden, dessen Namen ich vergessen habe, wir hocken im Heu, spröder Duft, wir rauchen getrocknetes Weinlaub in kurzen indianischen Tonpfeifen; der Balkon, Julihitze, ein blauweiß gestreifter Sonnenschirm, die grünen Blumenkästen überwuchert von Petunien, es ist Mittag, wir warten auf unseren Vater, der mit dem Fahrrad aus seinem Verlag herüberkommt, wir kennen sein Klingelzeichen, wir winken und schreien; eine Zimmerstrecke in der Nachbarschaft, wo roh zusammengeschlagene Loren auf schmalen Schienen um den Holzplatz fahren, und es duftet süß und streng nach frischem Holz, wir spielen Trapper und Indianer und werfen mit Tomahawks; ein Winterabend, meine Mutter, rundlich und schwarzhaarig, sitzt im Korbsessel vor ihrem mahagonibraunen Nähtischchen und liest Andersens Märchen vor, hinter dem Fenster fällt die Dämmerung, es schneit …
Und immer war Uli dabei. Später konnten wir Andersens Märchen selbst lesen, gemeinsam, auf einer Fußbank dicht aneinandergerückt, und wir sahen die kleine Seejungfrau mit ihrem im Wasser treibenden langen Haar und rosigen Muscheln um den Hals und die chinesische Nachtigall und den Kaiser mit unendlich langen Fingernägeln und einem dünnen, gelben Schnurrbart, der ihm bis auf die Brust hängt. Und noch viel später lasen wir »Jimmy Higgins« und weinten, und wir lasen Gladkows »Zement« und das »Siebte Kreuz« und die »Räuber« und Stendhals »Rot und Schwarz« – immer gemeinsam, immer von den gleichen Gedanken, den gleichen Gefühlen bewegt. Und ganz zuletzt, es war im Jahre 1956, stritten wir wirrköpfig und erbittert über die »Sonnenfinsternis« des Renegaten Koestler, und danach schien es mir zuweilen, als sei Uli nicht wieder aus dem Schatten der Sonnenfinsternis herausgetreten, während ich längst zu Gleb Tschumalow zurückgekehrt war und zu Dascha und Tschibis.
Vom Krieg weiß ich nichts mehr außer dem dumpfen Brummen der Bomberpulks und weißen Scheinwerferbahnen vor dem Nachthimmel. Wir schliefen oft im Keller, Uli und ich auf einer Pritsche, und morgens sammelten wir die Silberpapierstreifen, die von den Amerikanern abgeworfen wurden. Manchmal war der Himmel rot. Zu den Kindergeburtstagen gab es nicht mehr Erdbeeren und Schlagsahne und nicht einmal die ulkigen schokoladebraunen Puddingfische.
Der Kunstverlag, in dem mein Vater arbeitete, wurde als »kriegsunwichtiger Betrieb« geschlossen. Irgendwann brachten wir Vater zum Bahnhof, meine Mutter weinte. Einmal kam eine Jüdin zu uns, um sich zu verabschieden. Sie trug einen gelben Stern auf dem Mantel und hatte krauses Haar, ganz grau, obgleich sie so jung war wie unsere Mutter. Sie sagte, sie sollte nun auch verschickt werden, und sie stand unten an der Treppe und weinte.
Meine Mutter ist die Tochter eines Schuhfabrikanten, sie verkehrte in den Häusern der reichen jüdischen Familien in unserer Stadt, auch während der Nazizeit, auch als die Fabriken dieser Familien »arisiert« wurden und als es eine Schande war, in die Wohnung eines Juden zu gehen. Meine Mutter war ganz unpolitisch. Auch mein Vater war unpolitisch, er ging aber nicht mehr zu den jüdischen Bekannten; er verachtete die Nazis und nannte Hitler einen Emporkömmling, jedoch war er ein vorsichtiger Mann und hatte Familie … Das alles habe ich erst lange nach dem Krieg erfahren oder aus Bruchstücken von Gesprächen zusammengesetzt. Wir waren ja noch klein; nur der Älteste, Konrad, trug mittwochs und sonnabends das braune Hemd der Hitlerjugend; er ging dann zum »Dienst«.
An einem Abend – es muß Anfang Mai 1945 gewesen sein – ist nebenan ein fremder Soldat. Uli äugt durchs Schlüsselloch, er sagt: Bloß Gefreiter. Wir kauern ganz still in unseren Kinderbetten. Drüben spielt das Radio, und plötzlich ist die Musik weg, und wir hören die vier dumpfen Paukenschläge (man kennt das, und man kennt das Getue der Erwachsenen: Warum stehen die Kinder hier noch rum? Bringt doch die Kinder ins Bett!), die vier Paukenschläge und »Germany calling …« Uli, der dem Ältesten öfter Vokabeln abhören darf, sagt: Germany heißt Deutschland.
Endlich geht der fremde Soldat weg. Er ist aber kein Soldat mehr, er trägt einen Anzug von unserem Vater. (Und ich bin nicht sicher, daß meine gutherzige, unvorsichtige Mutter damals wußte, was sie tat. Ich habe sie nie danach gefragt. Wahrscheinlich hat sie selbst den fremden Soldaten vergessen, der bloß Gefreiter war.)
Ein sonniger Nachmittag: Wir fangen flinke, langgeschwänzte Kaulquappen in einem Tümpel nahe der Bahnlinie. Ein Eisenbahner hastet vorbei. Schert euch nach Haus, die Russen kommen. Wir rennen. Im Fenster vom Kinderzimmer hängt schon ein weißes Bettlaken. Uli und ich hocken auf der Treppe, eng umschlungen: Wir werden zusammen sterben.
Durch die Straßen rasseln Panzer. T 34, sagt der Älteste; er hat im Garten einen Dolch vergraben, auf dem steht: »Blut und Ehre«. Die ganze Nacht jagen Panjewagen vorbei, die Pferde traben in hochbogigen, hölzernen Geschirren. Am nächsten Tag werden russische Offiziere bei uns einquartiert. Konrad geht stumm und finster durchs Haus. Mutter schläft bei uns im Kinderzimmer. Die Offiziere bleiben Wochen, Monate, ein halbes Jahr …
Am liebsten mögen wir den Oberleutnant Wassilij Iwanowitsch. Er ist blond und mager, und wenn er lacht, fallen ihm die Haarsträhnen ins Gesicht. Er bringt Speck und Weißbrot in die Küche. Manchmal zündet er auf dem Hof ein Holzfeuer an und brät Schaschlik – Hammelfleisch und Tomaten und Zwiebelscheiben am Spieß –, und wir sitzen mit tränenden Augen im Rauch und werfen die heißen, scharfgewürzten Fleischstücke von einer hohlen Hand in die andere. Wassilij hat jeden Abend Gäste. Irgendjemand spielt Ziehharmonika, stundenlang dieselbe eintönige Melodie. Wenn Wassilij getrunken hat, tanzt er Hopak, und die Dielenbretter dröhnen.
Vor Grischa, der in Vaters Arbeitszimmer wohnt, haben wir Angst. Sonntags sitzt er, nur mit seiner olivgrünen Stiefelhose bekleidet, auf dem umgestürzten Kleiderschrank, den Gott weiß wer auf das Stiefmütterchenbeet im Vorgarten geschleppt hat. Grischa hat einen schwarzen Schnauzbart und schwere Augenlider, er sitzt da, raucht Pfeife, schweigt, raucht und starrt uns feindselig an. Einmal, in der Küche, erzählt Wassilij: Die Faschisten haben Grigoris Frau erschossen. Sie haben seinen kleinen Sohn erschossen … Meine Mutter wird blaß, wenn sie Grischa begegnet.
Im Winter fährt Wassilij fort, zurück nach Kiew. Er wird wieder als Ingenieur arbeiten.
Wir haben Hunger. Meine Mutter verkauft Schmuck und Bettwäsche und die zierlichen alten Porzellanfigürchen aus dem Glasschrank. Sie zeigt uns die gekreuzten blauen Schwerter: Meißener. Das hat euer Großvater gesammelt. Wenn er wüßte … Sie hat kein Talent zum Geschäftemachen; sie bringt ein Beutelchen Korn mit, ein Brot, einen Rucksack voll Kartoffeln.
Sommerferien. Ein Stoppelfeld, über dem die Luft zittert, Sonne, Staub, der strohige Geruch von reifem Korn. Wir lesen Ähren, barfuß und gebückt, und wenn niemand ringsum zu sehen ist, rupfen wir Halme aus den aufgestellten Mandeln … Zu Haus, im Speisezimmer, ist es kühl, durch die Spalten der Jalousie fließt rotes Abendlicht. Auf dem Tisch liegt ein weißes Damasttuch, wir essen mit silbernen Löffeln: grobe braune Pferdebohnen. Uli sagt: Mach mal die Augen zu. Er hat mir rasch ein paar Löffel voll Bohnen auf den Teller geschaufelt. Du bist ein Mädchen, du bist doch schwächer. Abends lege ich eine Scheibe trocken Brot unter sein Kopfkissen. Du bist ein Junge, Jungs essen mehr.
Wenn Schnee fällt, tragen wir, einen über den anderen Tag abwechselnd, dasselbe Paar Schistiefel.
Eine Nacht im Juni: Wir warten im Bahnhofspark, die Büsche glänzen lackgrün unter einer im Wind schaukelnden Lampe. Ich halte Ulis Hand fest, als der dünne, schüchterne Mann auf uns zukommt. Er umarmt uns, über sein Gesicht laufen Tränen. Ein Fremder in zerlumpter Uniform, der beim Sprechen mit der Zunge anstößt; nun soll man also »Vater« zu ihm sagen – er hat aber nichts zu tun mit dem heiteren jungen Mann, der uns früher Schokoladezigarren mitbrachte und aus seinen Klubsesseln einen Wigwam für Winnetou und Mine-Haha baute.
Wir gehen Hand in Hand hinter den Erwachsenen her, wir müssen jetzt zusammenhalten gegen den Heimkehrer. Mutter sagt: Die Kinder wachsen mir einfach über den Kopf. Der Heimkehrer wird sich nun wieder um unsere Erziehung kümmern, er hat vier Jahre lang nur unsere Photogesichter gekannt, was weiß der schon …
Neulich fand ich auf dem Boden, in unserer alten Spielzeugtruhe, die Heimkehrerstiefel aus grobem Segeltuch, mit einer dicken Holzsohle, und es fiel mir schwer aufs Herz, daß wir Vater die Jahre nach der Gefangenschaft vergällt haben. Wir waren unserer armen Mutter wirklich über den Kopf gewachsen und fühlten uns nun in unserer dreisten Selbständigkeit bedroht, und der Älteste konnte lange Zeit seinen Blut-und-Ehre-Dolch und den Dienst in der Hitlerjugend nicht vergessen. Vater aber, der Schreibtischmann, hatte in den Wäldern um Jaroslawl Bäume gefällt und in Kolchosen Kartoffeln gerodet, er hatte in Antifa-Zirkeln gelernt und war Tausende Kilometer durch die Sowjetunion gefahren, und er sagte: Wir haben so viel wiedergutzumachen.
Später wendete sich das Blatt, wir stritten Abend für Abend: Deine Generation hat schuld, ihr habt Hitler gewählt. Du hast schuld.
Ich habe Hitler nicht gewählt, ich war immer gegen die Nazis.
Du hast aber nichts gegen sie getan.
Was konnte ich allein denn tun; ich mußte eben mitmachen.
Es gibt andere, die nicht mitgemacht haben. Aber ihr: die Stellung, die Familie, die Existenz … Und da sollen wir noch Respekt vor unseren Eltern haben!
Wir waren unversöhnlich und ohne Mitleid, und schließlich gab es mein Vater auf, sich zu verteidigen. Wir gingen damals in die Oberschule, und die ganze Zeit ernährten und kleideten uns unsere Eltern von ihren lächerlich geringen Löhnen, sie arbeiteten schwer, sie lernten, sie jammerten nicht; über Geld wurde, Gewohnheit aus vergangener Zeit, nicht gesprochen.
Meine Mutter, die es früher »nicht nötig« gehabt hatte, lernte Stenographie und Schreibmaschine und wurde Sekretärin. Sie ist heute Sachbearbeiterin beim Rat des Kreises, eine muntere, energische, dunkelhaarige Frau, befreit von der herdwarmen Beschränkung auf ihren Haushalt; man gibt ihr vierzig Jahre, sie ist aber schon fünfzig.
Der Verlag existierte nicht mehr, für den mein Vater Aufsätze über deutsche Bauten geschrieben und Bildbände zusammengestellt hatte: Tizian und Raffael, Goya, Rembrandt und Frans Hals. In den wirren, allerlei zweifelhaften Unternehmen so günstigen Nachkriegsjahren war er Vertreter bei einer Firma mit klingendem Namen und ohne Kapital. Nach der Währungsreform ging er als Arbeiter in ein Textilwerk, nahm ein Fernstudium auf, das er als Ingenieur-Ökonom abschloß, und ist heute Planungsleiter in eben jenem Textilbetrieb. Er ist ein umsichtiger, beweglicher, kleiner Herr, der keinen Feierabend kennt und ein halbdutzendmal für seine Verbesserungsvorschläge ausgezeichnet worden ist; er hat häufig Rückenschmerzen und vegetative Störungen und noch ein paar der Krankheiten, die man mit ungerechtfertigter Ironie als Managerkrankheiten bezeichnet.
Wenn ich abzuwägen versuche, ob wir in den fünfzehn Jahren nach dem Krieg unser Teil geleistet haben, dann scheint es mir, als seien eigentlich Vater und Mutter uns über den Kopf gewachsen. Wir haben gegen sie rebelliert, wir haben sie als Kleinbürger und Mitläufer beschimpft – aber was wissen wir schon von unseren Eltern?
Die Küche ist weiß gekachelt und versucht sachlich auszusehen: Aber da hängt ein altmodisches Eierschränkchen, mit blaubemalten Delfter Kacheln verziert, über dem Stuhl liegt eine rote Schürze, Uli hat seine Hausschuhe in eine Ecke geworfen, es gibt einen bunten Kalender und Stapel von Zeitungen auf dem Schrank, und die Küchenuhr hat ein freundliches, weißes Porzellangesicht …
Von der Uhr konnte ich meine Unruhe ablesen; ich hatte eine Viertelstunde hier gesessen, die mir sehr lang erschien in der überdehnten, aufdringlichen Stille. Ich horchte, sogar mit den Augen, mit dem Mund, mit den gespannten Schultern. Ich hörte ihre Stimmen nicht, und in einem Gefühl von Niedergeschlagenheit und Ungeduld dachte ich, daß die beiden noch kein Wort gesprochen und sich nicht einmal angesehen oder nur einander zugewandt hatten: Uli, steif und mit unbewegtem Gesicht, steht mitten im Zimmer, und am Fenster Joachim, mager, sehr groß, in seiner schlechten Haltung. Als ich vorhin aus dem Zimmer ging, hat er das Gesicht weggedreht, zur Straße hin, die schlammbraun und ungepflastert und mit Pfützen gesprenkelt ist.
Obgleich ich sein Gesicht nicht sah, wußte ich, daß er rot geworden war. Er war auch an dem Abend, als er uns in der Bar fand, rot geworden; ich glaube, er fühlte sich verantwortlich für unsere fröhlichen Ausschreitungen. Das war vorgestern, am Ostersonntag.
Uli hatte mich in die Tanzbar eingeladen, die einzige in unserer kleinen Stadt, er hatte gesagt: »Aber deinen Apostel nehmen wir nicht mit.« Er verbesserte sich gleich: »Sicher, er ist ein fabelhafter Bursche. Er ist genehmigt, das weißt du. Aber heute will ich mit dir allein ausgehen, ohne den dritten Mann. Vielleicht«, setzte er hinzu und lachte dabei, »vielleicht ist es das letztemal.«
»Du willst doch nicht etwa heiraten?« fragte ich und lachte auch, und dabei war ich schon eifersüchtig …
Er sah mich an. »Ich habe immer noch die blödsinnige Hoffnung, ich würde ein Mädchen finden, das dir ähnlich ist.«
»Vorläufig heirate ich ja nicht«, sagte ich schnell.
»Ihr seid ein komisches Liebespaar. Ihr seht euch alle Vierteljahre einmal, und schon auf dem Bahnhof fangt ihr an, euch zu zanken«, sagte Uli.
»Aber wir zanken uns doch nicht.«
»Nenn’s, wie du willst. Ihr diskutiert. Noch schlimmer.«
Wir gingen ohne Joachim.
Die Barfrau, hellblond und füllig, um die Augen und unterm Kinn das Fleisch bleifarben und gedunsen, trug korallenrote Knöpfe im Ohr, und während sie Gläser spülte, erzählte sie uns Stadtklatsch, vergnügt und ohne Bosheit. Ich mag die Barfrau gut leiden, sie war immer freundlich zu uns, auch damals während unserer Studentenzeit, wenn wir manchmal kein Geld mehr hatten und den ganzen Abend bei Selters und einem Wodka an der Bar saßen.
Zuerst fand ich es ganz amüsant, die Geschichten von Leuten getuschelt zu hören, mit denen wir zur Schule gegangen waren oder die wir auf der Straße und im Kino gegrüßt haben oder einfach so kannten, wie man eben Leute in einer Kleinstadt kennt – aber sie berührten mich nicht; es waren Geschichten aus einer fremdgewordenen Welt, die mir jetzt kleinlich und eng erschien; wenn ich mir diese Welt in Farben umgesetzt vorstellte, schwamm Grau neben Violett und ein paar Flecken Rosa.
In einem Anfall von Hoffart dachte ich: Sorgen haben die Leute … Wir beginnen die zweite Baustufe. Wir schlagen uns mit tausend kniffligen Fragen herum, mit Planerfüllung und Verlustzeiten und mit Materialschwierigkeiten. Ich sagte das dann auch Uli, weil ich dachte, er stünde ja in seiner Werft vor den gleichen Fragen, und ich erzählte ihm von meiner Brigade: Wir schweißen hochlegierte Stähle, die wir aus Westdeutschland beziehen; wir mußten bis jetzt auch die Elektroden in Westdeutschland kaufen.
Uli sagte: »Solange man auf Hoesch und Mannesmann angewiesen ist, darf man eben kein Kombinat bauen. Wenn die Konzerne aussteigen, seid ihr erledigt.«
»Wart mal, wart mal«, sagte ich hitzig. »Der Dicke hat Versuche mit unseren Elektroden gemacht. Es klappt, er spart uns Hunderttausende.«
Die Barfrau starrte mich verwundert an. »Und ich dachte, Sie sind Malerin geworden …«
»Wenn die Konzerne aussteigen«, wiederholte Uli, »dann geht ihr pleite. Der Stahl fehlt, Kindchen; frag doch mal deinen schlauen dicken Meister, ob er ’ne Stahlsorte für extrem hohe Drücke entwickeln kann.« Er tätschelte meine Hand. »Red lieber nicht über Dinge, von denen du nichts verstehst.«
An einem Seitenblick, einem Lächeln merkten wir, daß andere uns für ein Liebespaar hielten, obgleich wir uns sehr ähnlich sehen mit mageren, bräunlichen Gesichtern und den dicken, flachen Brauenbögen. Manche der jungen Männer und Mädchen, die sich auf der winzigen Tanzfläche drängten, in dem goldbraun getönten Halblicht, kannten uns – Ingenieure, eine Dramaturgin, Ärzte, die Schulfreunde von einst, die ihre Osterferien zu Hause verlebten. Ein schöner blonder Junge mit schweren Augenlidern stellte sich neben mich, er stützte die Ellbogen auf die schwarze Glasplatte.
»Hans«, sagte ich.
Seine Lider schoben sich langsam über blaßblauen Augen auf. »Ich hätte dich beinahe nicht wiedererkannt«, sagte er mit einer Stimme, die mir das Empfinden gab, seine Haut müßte sich trocken und kühl anfühlen; sogar seine Augen sehen desinfiziert aus, dachte ich.
»Früher trug ich langes Haar, den Rücken runter.«
»Du hast dich vorteilhaft verändert«, sagte er mit seiner Lysolstimme.
Uli, auf seinem stelzbeinigen Hocker, blickte auf Hans hinunter, er sagte: »Mach’s nicht so billig, Doktor.« Sie gaben sich die Hand. Sie hatten zusammen das Abitur gemacht, und Hans war so lange zu uns ins Haus gekommen, bis Uli merkte, daß wir uns verliebt hatten. Ich glaube, er lauerte uns auf, und richtig kam er dazu, wie wir uns küßten, an der Treppe, unter dem Nußbaum. Er schwieg, er faßte Hans im Genick und schob ihn vor sich her, durch den Garten und zur Tür. Dann drehte er sich zu mir um, und ich sah durch das Dunkel seine Zähne und das Weiße in seinen Augen. Er sagte: »Schluß. Nichts für dich, Elisabeth. Morgen abend küßt er ’ne andere.« Ich weinte ein bißchen. »Nicht genehmigt«, sagte Uli, und das war unsere bewährte Formel, der Spruch, dem ich mich fügen mußte. Ich stand hinter der Gardine, wenn Hans auf der Straße pfiff, aber ich machte das Fenster nicht auf. Er pfiff noch ziemlich oft.
Hans bestellte Gin. Er blickte, das linke, blasse Auge eingekniffen, durch sein Glas zu Uli hoch, er fragte: »Endlich fertig mit dem Studium?«
»Wir haben paar Semester mehr als die Herren Mediziner«, sagte Uli gereizt.
»Seit Weihnachten ist er Diplomingenieur«, sagte ich.
»Gute Stellung?«
»Scheiße«, sagte Uli. Seine kleinen, braunen Hände lagen auf der Glasplatte; die Nägel, sehr kurz geschnitten, sind mit vielen weißen Pünktchen gesprenkelt. (… ich habe seine Hände geliebt, und die kindlich kurzgeschnittenen Nägel, und manchmal habe ich die Narben und Kratzer auf dem Handrücken geküßt, und jetzt, als ich daran denke, fühle ich mein Herz als einen genau bestimmbaren Punkt, in dem sich der Schmerz zusammengezogen hat …) Er trank schnell sein Glas aus. Er spähte zur Tür, die hin und her schwang und den graublauen Dunst teilte.
Er stand plötzlich auf, und wir sahen ihm nach, wie er über das Parkett ging, durch die tanzenden Paare. Er ging gerade, die breiten Schultern zurückgedrückt, und ohne jemandem auszuweichen. Die anderen machten ihm Platz, und ich beneidete ihn um seine Sicherheit, die ich für ein glückliches Merkmal von Kraft hielt.
Hans berührte mein Knie. »Muß man immer noch den Bruder fragen, wenn man mit der Schwester tanzen will?«
Ich dachte: Früher hatte er so eine Art, mit dem kleinen Finger meine Schulter zu streicheln, wenn wir aus dem Kino kamen … Jetzt fand ich in seiner Berührung die Vorsicht wieder, mit der unser Hausarzt Lichtschalter und Türklinken anfaßte. Hans war mir plötzlich zuwider, auch wegen der Miene vornehmen Mißfallens, mit der er meinem Bruder nachgesehen hatte; auch wegen seiner breiten, etwas hängenden Augenlider, die seinem Gesicht einen Ausdruck von arrogantem Überdruß gaben. Ich sagte: »Immer noch.« Ich lachte. »Die Faust im Nacken …« Es schien ihm peinlich zu sein, und nun erst recht erinnerte ich ihn an seine Niederlage in dem dunklen, duftenden, juniwarmen Garten.
Dann kam Uli zurück und setzte sich wieder auf den Barhocker, er sagte obenhin: »Hab mir eingebildet, Jochen wär an der Tür gewesen.«
Wir tranken noch einen Gin, er duftete nach Kiefernwald und Wacholderbüschen. Die Barfrau war sehr höflich zu Hans, von einer beflissenen Höflichkeit, die ich unterwürfig fand; Hans schien daran gewöhnt zu sein.«Der Nimbus des Medizinmannes«, sagte ich.
Als die Musik wieder begann, verbeugte sich Hans: »Tanzt du mit mir?«
Uli sagte schnell: »Die Dame tanzt nicht. Die Dame ist verlobt.« Ich kannte diesen groben, aggressiven Ton noch nicht. Hans rückte an seinem silbergrauen Binder. Ich beugte mich zu ihm hinab und sagte ohne Bedauern: »Tut mir leid, Teuerster, nichts zu machen.« Auf einmal entdeckte ich die grauen, scharfen Spuren einer wochenalten Müdigkeit in seinem Gesicht, ich dachte verwundert: Er ist doch nicht älter als wir. Er blieb neben mir stehen, und nach einer Weile fingen sie an, über Autotypen zu fachsimpeln. Ich hörte nicht mehr zu, Autogespräche langweilen mich. Ich habe endlich gelernt, einen Dumper von einem Kipper zu unterscheiden; von Personenwagen weiß ich nur, daß man in ihnen angenehmer reist als mit der Eisenbahn.
Hans sagte, er werde im Sommer den Opel Kapitän eines Kollegen kaufen.
»Sicher, unter Opel tun wir’s nicht«, sagte Uli. »Immer mit den Vorderbeinen in den Trog. Westwagen, natürlich, und fette Gehälter, Nebenverdienst garantiert. Und auf den Staat spucken, wie?« Seine Stimme klang jetzt feindselig. »Ihr seid die einzige Sorte von Intelligenzlern, die es sich leisten können, keine Gesinnung zu haben.«
»Hör schon auf, Uli«, sagte ich. »Du hast heute deinen linksradikalen Tag.«
Hans zuckte die Schultern, er legte einen Geldschein auf die Bar und winkte ab, als die Barfrau ihm herausgeben wollte.
Uli rief: »Sieh zu, daß du Land gewinnst, Herr Medizinalrat.« Er war nicht mehr nüchtern. Er winkelte die Arme an und zwinkerte rüde, und auch das kannte ich noch nicht, und ich fragte mich nun, warum ich nicht schon an diesem Abend gespürt habe, was sich hier vorbereitete: In Wahrheit galt seine Wut nicht dem müden jungen Mann, und die rüde Rauflust kam aus der trüben Quelle einer Niedergeschlagenheit, gegen die er sich nicht mehr wehrte und die ihn so beschämend verwandelte.
Hans gab mir die Hand, sie war kühl und trocken. »Schade.« Einen Augenblick glich er wieder dem Jungen, der mich unter dem Nußbaum geküßt hatte. »Ich hätte mich sowieso verabschieden müssen«, sagte er. »Ich hatte letzte Woche Nachtdienst.«
»Laß es dir gut gehen.« Ich dachte, ich sollte mich eigentlich für meinen Bruder entschuldigen.
»Gut gehen …«, wiederholte Hans und versuchte unbekümmert auszusehen. Er nickte zu Uli hinüber; sein Haar wurde schon dünn, und die blonden Strähnen rechts und links vom Scheitel waren sorgfältig nebeneinandergelegt.