Kapitel 1

Gemeinschaftliche und
individuelle Kultur

Clan und Individuum

In den letzten Jahren haben wir den Zusammenbruch einer Reihe von Staaten in der islamischen Welt erlebt: Libyen, Syrien, Irak und Jemen. Lange vor ihnen brachen bereits Somalia (seit 1991), Afghanistan (seit 2003) und der Sudan (seit 2011) auseinander. Überall, wo der Staat zusammenbricht, tauchen soziale Organisationsformen wieder auf, deren Existenz man längst vergessen hat; Stämme, Sippen und Clans gehen aufeinander los und bekriegen sich gnadenlos.

Diese durch verwandtschaftliche Beziehungen zusammengehaltenen Gruppen bilden die Grundlage größerer Einheiten, die auf Ethnie, Religion und Herkunft basieren. Alle Ethnien etwa in Afghanistan, ob Paschtunen, Tadschiken oder Hazara, bestehen jeweils aus einem Sammelsurium von Stämmen derselben Ethnie. Sie haben eigene Stammesgremien für die Verwaltung ihrer Angelegenheiten. Die größte Ethnie unter ihnen, die Ethnie der Paschtunen, hält beispielsweise seit Urzeiten unabhängig von den staatlichen Institutionen eine Stammesversammlung ab, Loja Dschirga genannt, um Stammeskonflikte zu lösen oder Stammespolitik zu beraten. Seit ihrer Invasion Afghanistans im Oktober 2001 und der Vernichtung der letzten Spuren von Staatlichkeit ist es den Alliierten nicht gelungen, eine überethnische nationale Armee und Staatsverwaltung als tragende Säulen für einen Staat, der alle Bürger repräsentiert, zu bilden; ob es ihnen jemals gelingen wird, ist ungewiss.

Im irakischen Kurdistan haben jahrzehntelang innerhalb derselben Ethnie zwei Bündnisse von Stämmen unter der Führung von Dschalal Talbani und Masud Barazani um die Macht konkurriert und immer wieder gegeneinander gekämpft, bis sie vorübergehend eine Teilung der Macht unter beiden Gruppen erzielten, die aber dann wieder zerbrach. Die Großfamilie, egal in welcher Form, ob des Stammes, der Sippe oder des Clans, bildet stets die Grundeinheit für die soziale Organisation, sie ist die Konstante; andere Faktoren wie Ethnie, Herkunft und Religion sind die Variablen. Manchmal verlaufen die konfessionellen Auseinandersetzungen entlang der ethnischen Grenzen wie in Afghanistan mit den schiitischen Hazara oder im Iran mit den sunnitischen Belutschen und sunnitischen Kurden; manchmal verlaufen sie quer durch die Ethnien wie zwischen Zaiditen und Sunniten im arabischen Jemen. Oder es handelt sich um ethnische Konflikte innerhalb derselben Konfession wie im Sudan zwischen den afrikanischen sunnitischen Stämmen in Darfur und den sunnitischen Arabern in Khartum.

Im Libanon, der lange als Vorzeigeland für eine auf minimalem Level funktionierende Demokratie galt, beraten bis heute die Ältesten und Notabeln der Großfamilien über die Wahlen und geben Empfehlungen aus. Man ist nicht verpflichtet, sie zu befolgen, es hat aber Konsequenzen, sie nicht zu befolgen. Die Großfamilie ist der Klient eines Politikers, und je größer sie ist, umso größer ist der Umfang der Dienstleistungen, die sie von ihm erwartet. Dazu gehören etwa die Vermittlung von Posten im Staatsdienst oder das Ergattern staatlicher Aufträge. Die Großfamilie bildet die Grundeinheit der Konfession, wodurch sie mit den anderen Gruppen kommuniziert. In einem konfessionellen System wie im Libanon werden die staatlichen Ressourcen nach konfessionellen Quoten verteilt. Wenn man sich der Großfamilie nicht fügt und einen antikonfessionellen, demokratischen Kurs befolgt, ist man vollständig ausgeschlossen und kann sein Glück nur in den Privatberufen suchen oder auswandern.

Die Grenze, an die die Demokratie in diesen Ländern stieß, kann man sich rasch verdeutlichen: Alle sogenannten demokratischen Nationalstaaten, die infolge der Kolonialzeit und unter europäischem Einfluss entstanden sind, waren von kurzer Dauer. Selbst die Staaten, die aus den eher säkularen nationalen Befreiungsbewegungen entstanden, endeten in Clanstrukturen. So etwa der Irak mit der arabisch-nationalistischen, sozialistischen Baath-Partei mit Saddam Hussein an der Spitze; am Ende stützte Hussein sich an erster Stelle auf seinen Clan, dann auf seine sunnitische Konfession und schließlich auf die Baath-Partei, um die Kurden zu bekämpfen und die Schiiten zu drangsalieren.

In Syrien haben die Nusairis, besser bekannt als Alawiten, die führenden Figuren anderer Konfessionen wie Drusen, Christen und Sunniten in der Baath-Partei ausgeschaltet, die meisten physisch. 1970 putschte Hafez al-Assad, der Vater des jetzigen syrischen Präsidenten, gegen die Regierung und übernahm die Macht. Trotz der Tatsache, dass Assad wie Hussein vor Morden und Massenmorden nicht zurückschreckte, ließ er seinen Widersacher Salah Jedid, ebenfalls ein Alawit, am Leben. Zwanzig Jahre lang behielt er ihn bis zu seinem Tod gut versorgt im Gefängnis. Er hat ihn nicht getötet, weil er die Vendetta fürchtete, denn beide gehörten verschiedenen Clans innerhalb der alawitischen Ethnie an.

In Libyen hat Muammar al-Gaddafi lange vor Chávez einen neuen sozialistischen Weg propagiert. Chávez rief den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« aus, Gaddafi den islamischen Sozialismus. Er sprach von einer »grünen Revolution«, was in einem Wüstenland etwas sonderbar klingt. Als ihn die Rebellen 2011 vertrieben hatten, flüchtete er zu seinem Stamm nach Sirte, wo er trotzdem aufgefunden und getötet wurde. Dann zerfiel das Land in seine Stammesbestandteile; dass die Stammesgebiete wieder zu einem Staat zusammenwachsen werden, ist ziemlich unwahrscheinlich.

Und Südjemen? Vor der Vereinigung mit dem Norden 1990 und nach der Unabhängigkeit im Jahr 1967 erhielt das Land 1970 eine sozialistische Verfassung und wurde zur »Demokratischen Volksrepublik Jemen« erklärt; diese war bizarrerweise das einzige sozialistische Land weltweit mit einer Staatsreligion, nämlich dem Islam. 1986 brach ein Bürgerkrieg aus. Ein Bekannter von mir, ein Ägypter, der in Ostberlin lebte, erzählte mir von einem Berliner Symposium zu diesem Thema, an dem er teilgenommen hatte. Die anwesenden Wissenschaftler sprachen von vorkapitalistischen archaischen Stammesverhältnissen und schienen unbeteiligt, als ob das Geschehen nichts mit ihrem Land zu tun hätte. Meinem Bekannten platzte der Kragen, er warf den Anwesenden Versagen vor, denn alle diese angeblichen Stammesfürsten hatten in der DDR studiert und waren dort politisch ausgebildet worden, hatten dort ihr sozialistisch-proletarisch-internationalistisches Klassenbewusstsein erhalten, das am Widerstand der Stammesrealität wieder zerbrochen war.

Die sozialistische politische Bildung war vergeblich, weil sie realitätsfremd war. Die sicherste Basis für die Machtausübung in den hier aufgeführten Ländern scheint der Clan zu sein, er scheint auch das Haupthindernis für die Entstehung von Nationalstaaten überhaupt darzustellen. Eine Individualisierung des Menschen als Voraussetzung für die Bürgergesellschaft und den Nationalstaat hat sich in diesen Ländern nicht entwickelt.

Individualismus in Europa

Individualismus und Demokratie sind ausschließlich europäische Errungenschaften. In der Kolonialzeit haben die Europäer versucht, mehr oder weniger das europäische Modell zu exportieren. Nach der Kolonialzeit wollten viele Länder dieses Modell beibehalten, weil sie hofften, damit Anschluss an die Moderne zu finden. Von diesem Ziel sind sie jedoch noch weit entfernt.

So betrachtet man etwa Indien als die größte Demokratie der Welt, übersieht aber dabei das islamische Familienrecht für die 140 Millionen seiner muslimischen Bürger, das jede demokratische Gleichheit zwischen Mann und Frau verkennt. Genauso wird der immer noch nicht entschiedene Kampf gegen das Fortwirken des hinduistischen Kastensystems ausgeblendet.

Individualismus setzt unter anderem die Auflösung der Sippenverhältnisse voraus, ein Vorgang, der sich nur in Europa vollzogen hat. Weder in China noch im Nahen Osten, in Ägypten oder auch in Amerika bei den Inkas, den Mayas oder den Indianern ist dies im vergleichbaren Maß geschehen. In Europa wurde die Großfamilie durch die Jahrhunderte des Kriegs und der Zerstörung erschüttert, die der im fünften Jahrhundert einsetzenden Völkerwanderung folgten. Am Ende dieser Phase war die Großfamilie instabil wie nie zuvor, das ist feststellbar anhand der unklaren Filiation, der Beziehung zwischen Kind und Eltern, ob sie matrilineal oder patrilineal ist. Deshalb war sie nicht mehr in der Lage, als Grundzelle für die soziale Organisation zu dienen. In diesen unruhigen Zeiten, in denen die Sippe keinen ausreichend festen Bestand mehr besaß, um ihre Mitglieder zu schützen, suchten die Schwachen Schutz bei den Mächtigen, in deren Dienst sie sich begaben. Die Unterwerfung der Bauern als Leibeigene unter den Feudalherrn, bei der sie einen Teil ihrer Freiheit einbüßten, vollzog sich individuell und umfasste nicht die Sippe. Auf diese Weise konnten die Klassenverhältnisse allmählich die Sippenverhältnisse verdrängen. Gleichzeitig gewährte der Feudalherr, um sich ökonomisch zu entlasten, den Sklaven etwas Freiheit. Anstatt sie auf seinem Hof voll zu unterhalten, gab er ihnen Besitz, von dessen Ertrag sie für ihren Lebensunterhalt sorgen konnten und einen Überschuss an den Landherrn abführen mussten. Damit wurden sie wie die Bauern zu Leibeigenen. Nur in den wenigen Gegenden, in denen die Sippe stark genug war, wie etwa in Friesland, konnte sich der Feudalismus nicht etablieren.

Ein entscheidender Grund für die Instabilität der Familie ist auf die nicht festgelegte Filiation zurückzuführen. Man konnte mit allen Konsequenzen für die Gestaltung der familiären Gruppe im Hinblick auf Erbschaft und Haushalt den Namen der Mutter oder des Vaters übernehmen. Noch im 15. Jahrhundert antwortete die französische Nationalheldin Jeanne d’Arc auf die Frage des Gerichts nach ihrem Namen: »Manchmal nennt man mich Jeanne d’Arc und manchmal Jeanne Romée.« – Ihr Vater hieß Jacques d’Arc und ihre Mutter Isabelle Romée. Die Patrilinearität hatte sich offensichtlich zu dieser Zeit noch nicht überall durchgesetzt.

Das Christentum, das damals noch nicht in ganz Europa verbreitet war, hatte keine entscheidende Rolle in der Gestaltung der verwandtschaftlichen Verhältnisse. Außerdem war ihm der Clan-Gedanke fremd, das Christentum betonte den Wert des einzelnen Menschen als Individuum. Selbst in der kleinen Familie kam der entscheidende Impuls für die Einführung des Patriarchats nicht von der Kirche, sondern vom Staat. Die Übertragung des väterlichen Namens auf die Kinder hat der Staat am Ende der feudalen Zeit selbst festgelegt. Durch die Fixierung des Personenstandes erhoffte er sich bessere Sicherheitskontrollen und eine effizientere Verwaltung. Die väterliche Filiation war also eine Initiative des Staates und steht nicht im Zusammenhang mit etwaigem Einfluss erstarkter Sippenverhältnisse. Nur weil man denselben Namen trug, implizierte das in Europa nicht mehr unbedingt eine Clan-Solidarität. Ab dem 13. Jahrhundert machte die Großfamilie Platz für die kleine Familie, wie wir sie heute kennen.4

Im 15. und 16. Jahrhundert wurde in der Renaissance das Individuum aufgewertet und rückte ins Zentrum der kulturellen Beschäftigung. Der auf der wiederbelebten Antike fußende Humanismus betonte den Individualismus und die Autonomie des Subjekts. Die Menschen sollten nicht mehr allein von der Kirche religiös-kulturell dominiert werden, die freie geistige Entwicklung des Menschen sollte gefördert werden. Bildung und Tugend orientierten sich an der Antike und kennzeichneten den Menschen der Renaissance, ohne jedoch mit dem Christentum beziehungsweise der Kirche in Konflikt zu geraten. Der Humanismus hat das Christentum erweitert, aber nicht bedrängt.

Mit dem Kapitalismus infolge der Industriellen Revolution siegte der Individualismus, die Menschenrechte erhielten einen universalen Wert. Christentum und Kirche wurden aus ihrer Vormachtstellung verdrängt und stark bekämpft. Eine Trennung von Politik und Religion setzte sich allmählich überall in Europa durch. Der Nationalstaat beeinflusste die kulturelle Orientierung seiner Bürger, und der Nationalismus führte zu furchtbaren Kriegen, darunter die zwei Weltkriege. Damit geriet der Glaube an die universalen Werte des autonomen, freien und gleichwertigen Individuums ins Wanken. Neue Ideologien werteten die Gemeinschaften wieder auf und stellten sie als Alternative zum Individualismus in den Vordergrund. Zu ihnen gehörten der Kommunitarismus und der Multikulturalismus.

In der Kolonialzeit hat Europa seine Werte übrigens auch wegen des Nationalismus sowie seiner extremen Auswüchse von Rassismus und Eurozentrismus nicht exportieren können. Anstatt eine gesamtgesellschaftliche Modernisierung zu initiieren, haben die Kolonialmächte eine Kolonialtheorie der Kooperation entwickelt, die ihren hauptsächlich wirtschaftlichen Interessen diente. Diese Theorie teilt die kolonisierten Länder in zwei Sektoren auf, einen traditionellen Sektor, in dem die alten sozialen Systeme weiterbestehen, und einen modernen Sektor, der nach westlichen kapitalistischen Maßstäben organisiert ist und der die ökonomische Ausbeutung der Kolonien vornimmt. Für diesen Sektor wurde eine kleine lokale Elite europäisch ausgebildet, die in der postkolonialen Zeit die Macht übernahm und fortan die Ausbeutung der eigenen Leute weiterführte.

In allen Fällen blieben die alten sozialen Strukturen erhalten. In der modernen Zeit, die man Globalisierung nennt, hätte man erwartet, dass sie sich langsam auflösen und in andere individualisierte Formen eingehen. Das ist nicht in einem ausreichenden Ausmaß geschehen, um moderne Nationalstaaten zu tragen. Anstelle von Weiterentwicklung setzte der Zerfall der alten Strukturen ein, Millionen von Menschen wanderten in die Städte. Dort fanden sie keine alternativen Lebenschancen. Sie bildeten Slums, lebten in Armut und versuchten, die alten Strukturen zu reproduzieren, indem sie entsprechend der Herkunft beziehungsweise der Familie zusammenkamen, um sich bei Abwesenheit des Wohlfahrtsstaates gegenseitig zu helfen. Das werde ich am Beispiel der Mhallami darstellen. Die Lage der modernen sozialen Schichten, die dennoch entstanden, war überall zu prekär, um bedeutende politische Macht zu entfalten, wie der arabische Frühling 2011 gezeigt hat. Eine Ausnahme kann Tunesien werden, wo die Konfrontation zwischen dem modernen und dem traditionellen Lager noch nicht entschieden ist.

Clan, Religion und Patriarchat

Auf die historische Entstehung des Islam und den Wahrheitsgehalt der islamischen Tradition, die über zwei Jahrhunderte nach den Ereignissen geschrieben wurde, werde ich hier nicht eingehen, damit beschäftigt sich die Koranforschung. Es reicht aus, wenn wir zur Kenntnis nehmen, dass die Entstehungsgeschichten der Religionen und übrigens auch die der Stämme mehr oder weniger mythischen Charakter haben. Uns interessiert hier vor allem die Wirkungsgeschichte der mythischen Erzählungen im Bewusstsein und Handeln der Gläubigen und der Stammesmitglieder.

Als der Islam im siebten Jahrhundert in Arabien entstand, herrschten dort überall Stammesverhältnisse. Die Stämme waren nicht alle Nomaden, es gab halbsesshafte und sesshafte Stämme. In Mekka, wo der spätere Prophet Mohammed zur Welt kam, war der Stamm von Quraisch ansässig und in verschiedene Clans aufgeteilt, was die übliche Stammesstruktur kennzeichnet. Die Clans konkurrieren und kämpfen um die Herrschaft im Stamm. Die islamische Geschichte ab 622, als Mohammed nach Medina ins Exil, hijra, ging – was zugleich den Beginn der islamischen Zeitrechnung darstellt –, war bis zur Tötung des letzten Abbasidenkalifen in Bagdad durch die Mongolen im Jahr 1258 von diesem Clankampf beherrscht. Selbst die Spaltung des Islam in Sunniten und Schiiten ist auf den Kampf zwischen dem Clan des Propheten, den Haschemiten, und dem Clan der Umayyaden zurückzuführen. Die Umayyaden (661750) begründeten die erste dynastische Herrscherfolge der islamischen Geschichte.

Anfang des siebten Jahrhunderts war die Filiation in Arabien genauso instabil wie in Europa, sie war genauso mütterlicher- wie väterlicherseits, und es ist auffallend, dass die Filiation in der Familie des Propheten durch die Mutter, konkret durch die Tochter Fatima, stattfand, was einen klaren Hinweis auf die verwandtschaftlichen Verhältnisse darstellte. Der Unterschied zwischen beiden Kulturräumen liegt darin, dass diese Instabilität in Europa zur Auflösung der Großfamilie führte, während in Arabien durch den entstehenden Islam die Strukturen der Großfamilie und des Stammes gestärkt wurden. Während das Christentum die Familienstruktur kaum beeinflusst hat, war es hingegen ein Hauptanliegen des Islam, diese Struktur neu zu organisieren, um die zuvor mütterliche Filiation zugunsten der väterlichen abzuschaffen, ohne jedoch den großen verwandtschaftlichen Verband aufzulösen. Das ist gelungen: So, wie die väterliche Filiation den Clan in Friesland stärkte (und damit wie bereits erwähnt seine Auflösung in die Feudalverhältnisse verhinderte), so stärkten die patriarchalischen Verhältnisse auch in Arabien den Clan und ermöglichten das Überleben des großen familiären Verbandes bis heute.

Den Orientalisten ist es schon im 19. Jahrhundert aufgefallen, dass selbst in der so spät redigierten Geschichte des Islam so viele Hinweise auf matriarchalische Verhältnisse überlebt haben, trotz der Säuberungsversuche der Historiker in der schon etablierten patriarchalischen Gesellschaft. Die weitere Forschung zeigte in der vorislamischen Zeit die Existenz von über zehn Arten der Geschlechterverhältnisse; die heute offizielle polygame Ehe bei den Muslimen war nur eine unter vielen anderen. In seinem Buch, »Die Ehe bei den Arabern in al-djâhiliya5 und Islam«6 fasst der syrische Jurist Abdulsalam al Tarmanini die verschiedenen Arten zusammen. Die Polygamie war selbstverständlich verbreitet, sie war unbegrenzt. Nicht weniger akzeptiert war die Polyandrie, die Vielmännerei, wobei die Frauen aber nicht mehr als zehn Männer auf einmal haben durften. Ebenso üblich waren Frauentausch, Zeitehe, Prostitution und Homosexualität. Die im Krieg erbeuteten Frauen wurden versklavt und standen sexuell im Dienst ihres Herren, der sie zur Prostitution zwingen konnte.

Es war zudem üblich, dass eine Frau bei der Abwesenheit des Mannes fremdging, was zu keinen Konsequenzen führte. In manchen Fällen schickte der Ehemann in der Hoffnung auf einen besseren, starken und gesunden Nachwuchs sogar selbst seine Frau zu einem kräftigen Ritter. Der Ehrbegriff war nicht sexuell besetzt, sondern an die Ritterlichkeit des Kriegers gebunden. Inwieweit der Mann seinen Stamm verteidigte und sich an den Stammeskodex hielt, entschied über seine Ehre und sein Prestige. In seiner Abhandlung »Die Ehe bei den Arabern« von 1893 schrieb der Orientalist Julius Wellhausen: »Auf die Jungfräulichkeit der Geliebten wird nie Gewicht gelegt.«7

Bei diesen Verhältnissen, die der Promiskuität nahestanden, war die Ehe selten langlebig. Wie der Mann besaß die Frau das Scheidungsrecht, und wie er nutzte sie es häufig. Wie der Mann durfte auch die Frau ihre Sexualpartner selbst aussuchen. Unter diesen Umständen wurde die gebärende Mutter zur Hauptreferenz für den Nachwuchs. Daraus ergab sich die mütterliche Filiation, die Matrilinearität, die bei den Arabern durch die Matrilokalität ergänzt war: Die Frau blieb mit den Kindern bei ihrer Familie, und der Mann besuchte sie.

Die Rede vom Matriarchat ist irreführend, weil sie die Herrschaft der Frauen suggeriert. Diese Herrschaft hat aber nie existiert.8 In den matriarchalen Gesellschaften hat immer ein Mann die Erziehung der Kinder bestimmt, die Verwaltung des gemeinsamen Eigentums und die Rolle des Vormunds übernommen. Diese Funktion kam dem Onkel mütterlicherseits zu, gab es keinen, ging sie auf den nächsten männlichen Verwandten der mütterlichen Linie über.9 Somit hatte das Matriarchat keinen negativen Einfluss auf den Zusammenhalt des Stammes.

Der Stamm bestand aus Kriegern, die untereinander verwandt waren und eine angeblich einheitliche Ahnenreferenz besaßen. Sie waren durch die Blutrache verbunden, die eine kollektive Pflicht war. Kriegsbeute und Nachlass der verstorbenen Männer wurden gleichfalls kollektiv verwaltet und unter den Kriegern verteilt. Frauen waren von der Erbschaft ausgeschlossen, aber sie durften die Kinder behalten und sie in ihrem Clan erziehen und gaben ihnen ihren Namen. Ihre Männer kamen zu ihnen zu Besuch. Trotz ihrer relativ großen Freiheit war die Situation der Frau ziemlich unsicher; durch die ständigen Kriege um die knappen Ressourcen in der Wüste – eigentlich waren sie kurze Raubzüge, auf Arabisch Razzien –, konnte ihr Status schnell von einer Freien zu einer Sklavin wechseln. In dieser auf Krieg ausgerichteten Gesellschaft stellten die Frauen einen Schwachpunkt dar. Um ihn auf ein Minimum zu reduzieren, war es üblich, neugeborene Mädchen lebendig im Sand zu begraben, was wiederum die Knappheit der Frauen zur Folge hatte und den Razzien einen weiteren Antrieb gab. Diese Praxis hat der Koran verboten.

Ein Jahrhundert vor der Entstehung des Islam wurden wichtige Handelswege über Arabien umgeleitet. Es entstanden Handelsplätze wie Taif und vor allem Mekka, in denen die Geldwirtschaft das Privateigentum förderte. Erste Züge des Individualismus bedrohten die kollektive Stammessolidarität, denn sie führten dazu, dass man den individuell erwirtschafteten Besitz auch individuell für sich und die eigenen Kinder behalten wollte. Selbst im traditionellen Stamm zeigten sich diese Tendenzen, so neigten etwa die Vormünder dazu, sich immer öfter das Eigentum ihrer Schützlinge unter den Nagel zu reißen, eine Praxis übrigens, die im Koran heftig verurteilt wird, Mohammed war schließlich selber ein Waisenkind. Außerdem blieben die im Krieg eroberten Frauen im Besitz und im Clan der Männer, die einen Teil zur Prostitution zwangen, aber einen Teil auch als Ehefrau nahmen. Die neugeborenen Kinder trugen den Namen des Vaters. Die patriarchalische Familie, die im Clan des Mannes angesiedelt ist, und in der die Filiation über den Vater stattfindet, gewann immer mehr an Bedeutung.

Zur Zeit Mohammeds konkurrierten die patriarchalische und die matriarchalische Ehe untereinander. Der Islam sorgte für Klarheit, indem er die matriarchalische Ehe abschaffte. Das Leben Mohammeds spiegelt diese Situation: Seine erste Frau Khadija war eine selbstständige, selbstbewusste Geschäftsfrau, die aktiv am öffentlichen Leben teilnahm. Sie hat sich Mohammed als Ehemann selbst auserkoren und für seinen finanziellen Unterhalt gesorgt. Nach ihrem Tod beginnt die islamische Phase, in der die neue Auffassung offenbart wird. Die Frauen des Propheten wurden verschleiert und zum Teil isoliert. Spuren des Matriarchats überlebten mit der Zeitehe im Koran (Vers 4:24). Diese Ehe wurde aber kurz danach durch den zweiten Kalifen Omar (634644) verboten. Die Schiiten haben die Zeitehe bis heute behalten.

Familie und Islam

Unter den Weltreligionen ist die Religion des Islam diejenige, die den Geschlechterverhältnissen den größten Platz in ihrem heiligen Buch einräumt. Die zweitgrößte Gruppe normativer Verse im Koran betrifft die Beziehung zwischen Mann und Frau, sie gestalten das Patriarchat. Mit ihnen wurden alle Eheformen außer der Polygamie ausdrücklich verboten, und die polygame Ehe wurde auf vier Frauen eingeschränkt. Sexuelle Verhältnisse außerhalb der Ehe wurden mit einer großen Ausnahme ebenfalls verboten: Der Muslim darf so viele Sklavinnen besitzen, wie er will, sie stehen ihm neben seinen Frauen auch sexuell zur Verfügung.

Interessanterweise werden Homosexualität und Pädophilie im Koran nicht erwähnt. Das führte später unter den Rechtsgelehrten zu unterschiedlichen Einschätzungen der Strafbarkeit dieser Handlungen sowie Diskussionen über das gegebenenfalls zu verkündende Strafmaß. In vielen islamischen Ländern ist die Ehe mit Minderjährigen bis heute legal. Im Iran hat es die Frauenbewegung zur Regierungszeit des Staatspräsidenten Mohammad Chatemi (19972005) nach langjährigem Kampf geschafft, das Alter der Kinderehe von neun auf zehn Jahre zu heben. Sein Nachfolger, der berüchtigte Mahmud Ahmadinedschad, machte es rückgängig, bis heute richtet man sich nach dem Vorbild des Propheten, der seine Frau Aischa als Neunjährige heiratete. In vielen anderen islamischen Ländern dagegen wurde das Mindestalter auf sechzehn Jahre angehoben, selbst in Saudi-Arabien wird immer eindringlicher verlangt, die Altersgrenze gesetzlich zu erhöhen. Die Mhallami, die dieses Buch insbesondere ins Auge fasst, halten diese Regel in Deutschland nicht ein.

Nach der Anerkennung der polygamen Ehe als offizielle Ehe wird das Patriarchat gestaltet. Der Koran legt die väterliche Filiation fest: »Nennt sie nach ihren Vätern; das ist gerechter vor Allah« (Vers 33:5), und um die Patrilinearität abzusichern, legen eine Reihe von Versen die Dauer der sexuellen Abstinenz vor der Eheschließung und nach der Scheidung fest. Das Inzestverbot, das bestimmt, wer wen heiraten darf, gestaltet der Koran im Detail zugunsten des Patriarchats neu (Verse 4:2223), zudem verankert er die Dominanz des Mannes über die Frau. In Vers 4:34 heißt es: »Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie ausgezeichnet hat und wegen der Ausgaben, die sie von ihrem Vermögen gemacht haben.«

Der Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat ist in den Versen des Inzestverbots spürbar. Im Vers 4:22 zum Beispiel wird gesagt: »Und heiratet nicht Frauen, die eure Väter geheiratet hatten, es sei denn bereits zuvor geschehen. Siehe, es ist eine Schande und ein Abscheu und ein übler Weg.« Trotz ihrer Widerlichkeit werden diese Eheformen geduldet, man kann nicht die ganze Gesellschaft auf einen Schlag ändern. Anders bei der Polygamie. Der Polygamie-Vers 4:3 schränkt die Zahl der Ehefrauen auf vier ein und kennt keine Übergangsphase. Deshalb hat der Prophet seine Gefährten aufgefordert, sich von ihren vielen Frauen vier auszusuchen und sich von den anderen zu trennen. Er selber hatte aber bei seinem Tod neun Frauen.

Die relativ freie Frau in der vorislamischen Zeit wurde mit dem Islam unter die Kontrolle des Mannes gebracht. Als Ausgleich für ihre Unterwerfung bekam sie einige Vorteile wie Privateigentum, Teilerbschaft, aber nur halb so viel wie ihre Brüder, und das Behalten der Morgengabe; dagegen erhielt sie einen männlichen Vormund, der über ihre Handlungen mitentschied: Die Frau wurde dadurch infantilisiert. Sie konnte sich zwar gegen die Zwangsehe wehren und den Bewerber ablehnen; sie konnte sich aber keinen Ehemann selbst aussuchen und ohne die Zustimmung des Vormundes heiraten, was einen indirekten Zwang bedeutet. Wegen der Geschlechtertrennung konnte die Frau ihr Vermögen auf dem Markt nicht verwerten, das Geld hat der Vormund verwaltet.

Mit der Festlegung des Patriarchats durch den Islam änderte sich auch der Inhalt des Ehrenbegriffes. In der vorislamischen Zeit war die Ehre, wie erwähnt, mit der Ritterlichkeit assoziiert. Kraft, Mut, Großzügigkeit und Schutz des Stammes galten als Komponenten der Ehre, und nicht die Sexualität. Mit dem Islam löste der Patriarch den Ritter ab. Nicht Kraft und Mut kennzeichneten das Männerbild, sondern finanzielle Potenz und Besitz, Weisheit und Religion. Der Schutz seiner Religion und seines Besitzes, wozu seine Kinder und seine Frauen gehören, bildeten den Inhalt des Ehrenbegriffs. Damit gewann der Begriff der Ehre eine ausgeprägt sexuelle Konnotation. Es geht um die Sicherung der männlichen Filiation, sie gehört zur Kernaufgabe der Religion. Muhammad al-Ghazali (10581111), der Haupttheologe des traditionell orthodoxen sunnitischen Islam, schreibt: »Die Intention der Scharia bezüglich des Menschen besteht aus fünf Prinzipien: der Bewahrung ihrer Religion, ihres Lebens, ihres Verstandes, ihrer Nachkommenschaft und ihres Eigentums.«10 Ein palästinensischer Sozialarbeiter im Bezirk Berlin-Neukölln erklärt 2013 den Ehrenbegriff bei den Arabern wie folgt: »In dem arabischen Ehrenkontext hat eben das Mädchen eine ganz andere Stellung als der Junge. Der Junge ist der Beschützer der Ehre, der Bruder, sehr oft der Vater, und das Mädchen verkörpert diese Ehre, und diese Ehre muss geschützt werden.«11

Mit dem Fortschreiten des Patriarchats sorgten die islamischen Rechtsgelehrten dafür, dass sich die Situation der Frau zunehmend verschlechterte. Sie wurde aus dem öffentlichen Raum vertrieben und in ihrem Haus eingesperrt. Dort sollte sie Königin ihres Reichs sein; Haushalt und Kindererziehung, die es zum Wohl des Mannes zu verwalten und zu praktizieren galt, waren ihre Fachgebiete. Diese Versprechungen wurden nicht gehalten, bei der islamischen Expansion sind Heere von Sklavinnen in die Hände der Muslime gefallen, und der Sklavenhandel sicherte später die kontinuierliche Versorgung der lokalen Märkte. Der Harem entstand, deshalb erlebte die Frau die Konkurrenz im eigenen Haus. Während in Europa die Sklaverei, die hauptsächlich in der Landwirtschaft verbreitet war, langsam zurückging, breitete sich die Haussklaverei in der islamischen Welt in allen Stufen der Gesellschaft rasant aus und beeinträchtigte die Stellung der Frau massiv.

Nicht nur in den Palästen, sondern auch beim einfachen Volk trugen die Sklavinnen zur Beeinträchtigung der Position der freien Muslimin bei. Ignatius d’Ohsson, ein Diplomat an der schwedischen Botschaft in Istanbul, schreibt Ende des 18. Jahrhunderts in seinem »Tableau général de l’empire ottoman«: »Egal, wie arm sie sind, besitzen die Männer in der Regel mindestens eine Sklavin. Wenn sie über kein Vermögen verfügen, um heiraten zu können, dann fungiert die Sklavin als Ehefrau und als Dienerin.«12 Die Ehefrau steht für Sex und Zeugung zur Verfügung, die Sklavin nur für Sex. Wenn sie aber schwanger wird und der Mann die Vaterschaft anerkennt, dann muss er sie freilassen und sie heiraten. Die Sklavin ist eine potenzielle Ehefrau, genießt aber nicht ihre Rechte. Das Zusammenleben von Sklavin und freier Frau unter einem Dach hat zu einer Nivellierung geführt, die zugleich eine Herabwürdigung der freien Frau bedeutete.

Im 11. Jahrhundert fasst al-Ghazali in seinem »Buch der Ehe«13 die neue Situation der Frau wie folgt zusammen: »Die Ehe ist eine Art von Sklaverei. Die Frau ist die Sklavin des Mannes, sie muss ihm vollkommen gehorchen.« Weiter schreibt er: »Hätte Gott jemals von den Frauen verlangt, sich vor jemand niederzuknien, dann vor ihrem Mann.« Und schließlich: »Wenn eine Frau stirbt und ihr Mann mit ihr zufrieden ist, dann kommt sie ins Paradies.« Der Mann ist damit für die Frau Gott auf Erden.

Dieser Zustand wurde im islamischen Personenstandsrecht festgeschrieben und gilt bis heute in allen islamischen Ländern, außer in der Türkei und teilweise in Tunesien. In der Türkei wurde jedoch das religiöse Familienrecht ab Oktober 2017 wiedereingeführt, die religiösen Gerichte dürfen neben dem Standesamt Ehen nach der Scharia schließen. Dagegen schreitet in Tunesien zeitgleich seit September 2017 das säkulare Familienrecht voran, muslimische Frauen dürfen Nichtmuslime heiraten. In Ländern wie Indonesien, in denen sich das islamische Familienrecht nie durchgesetzt hat, erleben wir gerade jetzt seine mögliche Einführung unter dem Einfluss Saudi-Arabiens. Die Aufnahme der Polygamie im Familienrecht wird dort seit ein paar Jahren heftig diskutiert.

Die Orientalisten haben den Begriff »islamische Welt« untersucht und sich gefragt, ob er eine Relevanz hat; sie sind zu dem Ergebnis gekommen, dass das Familienrecht den gemeinsamen Nenner dieser Kennzeichnung darstellt. Das Familienrecht ist der Faktor, der eine islamische Gesellschaft am stärksten prägt. Es gestaltet den Alltag der Muslime, grenzt sie von den Nichtmuslimen ab, verfestigt die Herrschaft des Mannes über seine Kinder, seine Frauen und seine Sklavinnen. Wenn man bedenkt, dass der Staat bei dieser Gestaltung keine Rolle spielt, sondern diese Aufgabe den religiösen Gerichten der Rechtsgelehrten überlässt, dann kann man verstehen, welche Macht die Scharia auf das Bewusstsein der Muslime ausübt.

Was aus der Perspektive des Muslims am ehesten seine religiöse Identität definiert, ist eben das Familienrecht: In Europa sind Millionen von Muslimen in den letzten sechzig Jahren eingewandert; wenn sie von islamischer Identität und Lebensweise reden, meinen sie nicht Händeabhacken und Steinigung, sondern das Familienrecht. Das Kopftuch ist Teil davon, weil es die Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit, die die Bewahrung der Sexualität der Frau für ihren Ehemann bezweckt, bedeutet.

Die Forderung, die Scharia in Europa einzuführen, wurde erstmals 1974 in Großbritannien laut. Sie bezog sich allein auf das Familienrecht. Keine zehn Jahre später, 1982, wurde der Islamische Scharia-Rat in London (Islamic Sharia Council) mit dem Schwerpunkt Familienrecht gegründet. 1996 wurden die Scharia-Gerichte mit dem Arbitration Act legalisiert und dabei den Schiedsgerichten faktisch gleichgestellt. Ihre Entscheidungen sind bindend, sofern sich beide Seiten damit einverstanden erklärt haben. Manche Entscheidungen allerdings, wie etwa Scheidungsurteile, müssen von britischen Gerichten bestätigt werden. Inzwischen sind über hundert solcher Gerichte, die meist in Moscheen angesiedelt sind und ohne jegliche staatliche Kontrolle agieren, tätig. Obwohl die Inanspruchnahme dieser Gerichte freiwillig ist, reicht allein ihre Präsenz, um einen ungeheuren Druck auf die Frauen auszuüben und die Integration in die britische Gesellschaft zu verhindern. Wie schlecht die Muslime in Großbritannien integriert sind, sieht man an den Problemen mit lokal erzeugtem Terrorismus.

Die Verteidigung der patriarchalischen Kleinfamilie steht natürlich nicht nur im Programm der traditionellen Muslime ganz oben, sondern auch bei den Islamisten. Sie ist der Grundstein der islamischen Gesellschaft, die in Europa durch die Migration weiterwächst, um die Bildung größerer Familienverbände zu ermöglichen, die dann in die Umma, also die Gemeinschaft der Muslime, eingehen. Diese Auffassung verteidigt etwa der Islamwissenschaftler Tariq Ramadan, ein umstrittener Modernisierer des Islam und vorgeblicher Hoffnungsträger für die Integration der Muslime.14 Er gibt die Position seines Großvaters Hassan al-Banna, des Begründers der 1928 in Ägypten ins Leben gerufenen Muslimbruderschaft, wieder.

Bei einem von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin 2003 organisierten Treffen wurde der Vertreter der islamischen Gemeinschaft Millî Görüş nach den Zielen seiner Bewegung gefragt. Seine Antwort lautete: dem Bauern aus Anatolien den wahren Islam und seine Zughörigkeit zur Umma der Muslime beizubringen. Daraufhin fragte ich, ob diesem Bauern und Migranten ein Bengladeschi näher stünde als seine deutschen Nachbarn. Der Vertreter schien überrascht und die Frage nicht richtig zu verstehen. Die Frage der Integration in Deutschland stand offensichtlich gar nicht in ihrem Programm.

Stamm und Islam

In Mekka, wo der bereits erwähnte Stamm Quraisch ansässig war, gab es keine Landwirtschaft, denn Mekka war keine Oase. Es gab bloß einen Brunnen namens ZamZam, an dem die Pilger sich noch heute mit heiligem Wasser versorgen, sowie eine heilige Stätte, die Qaaba, in der mehreren Gottheiten gehuldigt wurde. Die damals beständig ausgetragenen Kriege unter den Stämmen wurden jährlich durch vier heilige Monate unterbrochen, in denen Kriegshandlungen verboten waren und die Menschen die Chance hatten, nicht nur ihre religiösen Bedürfnisse durch das Pilgern zu befriedigen, sondern auch die ganz materiellen.

Medina, wohin Mohammed später geflüchtet ist, war im Gegensatz zu Mekka eine richtige Oase mit ausgedehnter Landwirtschaft. Dort lebten fünf große Stämme, zwei arabische, die hoffnungslos untereinander zerstritten waren und sich nicht aus dem Teufelskreis der Blutrache lösen konnten, sowie drei jüdische, die wirtschaftlich erfolgreich waren und mit ihren Propheten und ihrem Heiligen Buch prahlten. Zwischen beiden Gruppen bestanden Bündnisse und Abhängigkeiten in der Form von Klientelverhältnissen, wie es in der Stammesgesellschaft üblich ist. Als Mohammed 621 nach zwölf Jahren vergeblicher Mission gescheitert war, suchte er ein neues Zuhause als Prophet. Er hatte knapp einhundert Anhänger, und sein Stamm wollte ihn loswerden, weil er mit seiner monotheistischen Lehre das Geschäft mit den vielen Göttern in der Qaaba beeinträchtigte. Als die arabischen Stämme davon hörten, traf sich auf der Pilgerfahrt eine Delegation von ihnen (zwölf Männer) mit ihm und erklärte, sie würden ihn als Propheten anerkennen. Eine wichtige Rolle spielte sicherlich dabei die Verwandtschaft Mohammeds mütterlicherseits mit dem Clan der banu nadjar im Stamm der medinesischen Khazraj.

Ein Jahr später, 622, erschien eine große Delegation (dreiundsiebzig Männer und zwei Frauen), die sich heimlich mit Mohammed in al-aqaba außerhalb von Mekka traf. Ein Pakt wurde geschlossen, der dem Islam eine neue Orientierung in Richtung Anpassung an die Stammesverhältnisse geben sollte. Wegen der Bedeutung dieses Paktes gebe ich den Text aus der Mohammed-Biografie von Ibn Hischâm (gest. 829) in der Übersetzung des Orientalisten Gustav Weil (18081889) wieder:


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