Über Brigitte Reimann

Brigitte Reimann, geb. 1933 in Burg bei Magdeburg, war Lehrerin und seit ihrer ersten Buchveröffentlichung 1955 freie Autorin. 1960 zog sie nach Hoyerswerda, 1968 nach Neubrandenburg. Nach langer Krankheit starb sie 1973 in Berlin. Wichtigste Veröffentlichungen: Die Frau am Pranger (Erzählung, 1956), Ankunft im Alltag (Erzählung, 1961), Die Geschwister (Erzählung, 1963), Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise (1965), Franziska Linkerhand (Roman, 1974, vollständige Neuausgabe 1998), Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955-1963 (1997, als Lesung mit Jutta Hoffmann DAV 066-5), Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964-1970 (1998, als Lesung mit Jutta Hoffmann DAV 110-6). Außerdem erschienen die Briefwechsel mit Christa Wolf, Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964-1973 (1993), mit Hermann Henselmann, Mit Respekt und Vergnügen (1994); Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf. Briefe an eine Freundin im Westen (1995), und mit Irmgard Weinhofen, Grüß Amsterdam. Briefwechsel 1956-1973.

Angela Drescher, geboren 1952, ist Lektorin und gab Werner Bräunigs Roman »Rummelplatz« heraus, außerdem die Tagebücher Brigitte Reimanns und die ungekürzte Neuausgabe des Romans »Franziska Linkerhand«.

Informationen zum Buch

»Ich habe zu früh Erfolg gehabt, den falschen Mann geheiratet, in den falschen Kreisen verkehrt; ich habe zu vielen Männern gefallen und an zu vielen Gefallen gefunden«, schreibt Brigitte Reimann 1959. Vielleicht sind diese Tagebücher ihr eigentlicher Roman: die Lebensgeschichte einer leidenschaftlichen, lebenshungrigen, kompromißlosen Frau und zugleich eine Dokumentation des Alltags in den fünfziger und sechziger Jahren.

»Ich weiß nicht, wann ich wahrhaftig ich selbst bin, am Schreibtisch oder sonst. Ich frage mich, ob all meine Kraft und meinen Mut die auf einem Blatt Papier geschaffenen Menschen fressen oder ob ich gar keine Kraft und keinen Mut habe und sie gerade deshalb meinen Gestalten gebe.«

Brigitte Reimann schrieb diese Sätze mit 29 Jahren. Mit der für sie typischen Radikalität benannte sie ihre Konflikte als Autorin und als Frau: leben wollen und schreiben müssen, geliebt werden wollen und wahrhaftig sein müssen. Sich allem immer ganz hinzugeben, und zwar sofort, gehörte zu ihren dominierenden Charakterzügen, und sie selbst stand hilflos der eigenen Lebenswut gegenüber und trieb sich doch ständig an: »Wer weiß, wie lange ich noch lebe …«

Gestorben ist sie zehn Jahre später an Krebs, aber eigentlich war es die Überdosis Leben, die sie ihrem Körper zugemutet hat – Affären, Arbeit, Alkohol –, die sie so früh sterben ließ, und eben jene zerstörerischen Selbstzweifel. So manisch, wie sie alles betrieb, hat sie seit ihrer Jungmädchenzeit Tagebuch geführt. Die frühen Aufzeichnungen hat sie selbst vernichtet. Dieser erste Band der Edition ihrer Tagebücher setzt ein, als sie sich von ihrem ersten Ehemann zu trennen beginnt, den Schriftsteller Siegfried Pitschmann kennenlernt und mit ihm in eines der neuen Industriezentren, nach Hoyerswerda, zieht. Dort schreibt sie zwei ihrer wichtigsten Bücher, und die Lebensbedingungen in Hoyerswerda drängen ihr den Stoff für »Franziska Linkerhand« auf. Wegen ihres leidenschaftlichen Engagements wird sie in Kommissionen des Politbüros berufen, aber bald wird ihr klar, daß die falschen Leute sie für ihre Ziele vereinnahmen wollen. Und so sind die Tagebücher nicht nur Dokument der Emanzipation einer Frau von herrschenden Moralvorstellungen und einer Schriftstellerin von dogmatischen Erwartungen, sondern auch einer politischen Desillusionierung.

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Brigitte Reimann

Ich bedaure nichts

Tagebücher 1955–1963

Herausgegeben von Angela Drescher

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1963

Anmerkungen

Personenregister

Lebensdaten Brigitte Reimann

Zu dieser Ausgabe

Impressum

1955

Burg, den 31. 8. 55

Nun bin ich wieder zuhause – hinter mir liegt eine Woche reinsten Glückes, und ich wünschte nichts sehnlicher als eine Wiederholung dieser wunderbar schönen Zeit. Aber freilich – so etwas wird uns nur einmal beschert […].

Vieles ist geschehen, Schweres – ich habe mich von Günter getrennt. Daher auch dieses neue Tagebuch – mein anderes hat Günter und gibt es nicht heraus; er wird mich damit bei der Scheidung erpressen wollen. […]

Günter hatte mich – es mag jetzt drei Wochen her sein – nach einer sehr unerfreulichen Szene verlassen, kam aber am nächsten Tage, unserem Hochzeitstag, wieder, mit einem prächtigen Strauß üppiger Gladiolen. Wir waren beide bedrückt und unruhig […]. Ganz plötzlich dann küßte mich Günter, bat, ich solle ihm Treue versprechen – dann sei alles wieder gut. Ich versprach es, und ich hatte in diesem Augenblick auch den besten Willen, mein Versprechen zu halten […]. Es folgte eine Woche, während der wir glücklich waren: Wir lebten zwar getrennt, aber jede Nacht stieg Günter zu mir durchs Fenster, und wir liebten à la Romeo und Julia. […]

Und dann kam er der heimlich erhoffte, gefürchtete Brief von Georg Piltz, der mich nach Rheinsberg einlud, zur Besprechung meines Buches. Nach einer langen Auseinandersetzung erst erlaubte mir Günter, auf 3 Tage nach R. zu fahren. Ich will ja ehrlich sein: trotz meiner Beteuerung, ich würde ihm während dieser 3 Tage treu sein, erwartete ich den üblichen Flirt […].

Es ist nicht zu leugnen: Piltz hatte Eindruck auf mich gemacht, und ich landete nach einer mehr als zehnstündigen, sehr beschwerlichen Fahrt mit Herzklopfen in Rheinsberg. Dort ist die Welt mit Brettern vernagelt: die Eisenbahnlinie endet hier, das Städtchen ist winzig und kulturlos und hat nichts vom Lärm anderer Städte.

Piltz empfing mich an der Bahn und brachte mich zum HO-Hotel Ratskeller, dem einzigen Hotel von R., in dem auch er sein Zimmer hatte. Ich war zuerst sehr befangen, und er brachte mich noch dazu beim Abendessen in arge Verlegenheit, weil er nicht gestatten wollte, daß ich für mich selbst bezahlte: ich sei sein Gast. Das lief mir gegen mein Selbstbewußtsein, aber er lachte mich aus […] ich bin in solchen Dingen sehr empfindlich und möchte um alles in der Welt mir nicht wie eine ausgehaltene Person vorkommen.

Aber er ist dabei geblieben: ich war während der ganzen Zeit sein Gast, und wir [haben] prächtig gelebt. Ich habe so viel Schlagsahne gegessen wie in den Jahren zuvor nicht, je lebhafter ich beteuerte, ich dürfe wegen meiner schlanken Linie nicht so viel essen, mit desto größerem Vergnügen bestellte er nach – und ich habe tatsächlich nicht zugenommen. Wahrscheinlich wegen unserer ausgedehnten Wanderungen und Ruderpartien, die mir in jeder Hinsicht gut getan haben – auch mein Husten ist verschwunden. Das liegt vielleicht auch daran, daß ich nur wenig rauchen durfte – Georg plädierte für ein absolut solides Leben, und neben Zigaretten war auch der Schnaps verpönt.

Aber ich greife vor. An diesem ersten Abend sprachen wir nur wenig über mein Buch – Piltz sagte lediglich, daß es ihm sehr gut gefallen habe, daß ich begabt sei und daß mein Buch noch von allerhand Schlacken gereinigt werden müsse.

Wir gingen, bevor die Dämmerung hereinbrach, zum Schloß, das nur wenige Schritte von unserem Hotel entfernt ist – ein erster Bau Knobelsdorffs, von dem mir Georg in der Folge sehr viel erzählt hat. Wir besichtigten es nur von außen […]. Dann wanderten wir durch den Park, den mir Piltz ganz genau erklärte – er ist so klug, er weiß ungeheuer viel, und er ist erschreckend sarkastisch und von geistvoller Ironie, daß ich ihm nicht immer zu folgen vermochte und stumm lauschte, erfüllt von Bewunderung […].

Auf einer Erhöhung steht der Obelisk […]. Man kann von hier aus über den See hinweg auf das Schloß schauen, zu beiden Seiten erstreckt sich der Park. Wir saßen auf einer Bank, es wurde dunkel, im Schloß flammten Lichter auf, Heimchen zirpten, und der Wind rauschte in den Bäumen.

Wir sprachen nun über allerlei Privates, […] und immerhin glitten wir in eine ganz vertrauliche Unterhaltung hinein, die Piltz mehr als einmal Gelegenheit bot, über meine naiven Ansichten zu lachen, wobei er es nicht versäumte, mir freundschaftlich den Arm um die Schulter zu legen, was ich aber bewußt ignorierte. (Der Püschel hatte mir eingeimpft, Piltz sei ein Frauenjäger. Ich sagte ihm das später auch ganz freimütig, und er war amüsiert und ein bißchen beleidigt und überzeugte mich bald davon, daß Püschel nur aus Egoismus dergleichen gesagt habe.)

Als wir endlich aufbrachen, war schon ein ganz anderer, vertrauter Ton in unserem Gespräch, obgleich ich mich sehr zurückhielt. Es war inzwischen ganz finster geworden, und als in der düsteren Allee Piltz plötzlich von Gespensterhunden zu sprechen begann, zitterte ich vor Angst. Ich war froh, als wir endlich den Park verlassen hatten, denn es drohte noch anderes in diesen unheimlichen Gängen als nur ein Gespensterhund. Wir hätten ins Hotel gehen sollen, aber Piltz überredete mich leicht, noch mit an den See hinunterzukommen. […] Dann lagen wir im Gras, hörten den Heimchen zu, und das Schweigen wurde so schrecklich, daß ich heiß wünschte, er möge irgendetwas Belangloses sagen, mich aus dieser Qual des Wartens zu befreien. […]

Ich weiß nicht, wie es kam, daß er mich in seine Arme zog – aber das weiß man ja hinterher niemals mehr. Wir küßten uns, und wir wußten an diesem ersten Abend schon, daß wir uns gern haben, sehr gern – aber zu welcher Verstrickung das anwachsen sollte, wußten wir noch nicht.

Das erste »Du« zwischen uns war so seltsam, es rührte mich im Innersten an, ich hatte Angst vor dem Kommenden und ersehnte es zugleich. Wir sprachen kaum auf dem Heimweg. Am nächsten Morgen brachen wir früh auf zu einer Ruderpartie. Georg mietete ein Boot, er ruderte über den Grienericksee, und ich steuerte. Der See ist ganz grün, sehr klar und groß. Ich saß Georg gegenüber und betrachtete ihn – das breite Gesicht –, »kassubisch« nennt er es, und er hat auch wirklich etwas von einem Russen –, das ungebärdige, glatte Haar, das ihm immer in die Stirn fällt, die blauen Augen und den vollen Mund […] wenn er lacht, ist er wie ein Junge, und man vergißt die grauen Haare an seinen Schläfen. Aber sie liebe ich gerade, diese grauen Haare […].

Wir ruderten zur Remusinsel, da saßen wir im Boot am Ufer und sprachen über mein Buch. Georg hat rigoros gestrichen, aber er hat recht mit allem, er ist streng, ich habe sogar geweint. Er hat mich ausgelacht und mir die Tränen vom Gesicht geküßt, und er hat mir ganz genau erklärt, warum ich dies und jenes nicht schreiben dürfte in einer so strengen Novelle. Georg meint, ich könne, wenn ich den rechten Weg fände, eine zweite Seghers werden; ich könne aber auch, verfehlte ich den Weg, in glatter Mittelmäßigkeit landen. Er will nicht, daß ich der herrschenden Strömung in der heutigen DDR-Literatur verfalle, […] er will nicht, daß ich »linientreu« schreibe – ich soll meinen eigenen Weg gehen, unbekümmerter um Parteiregeln, und wirkliche Menschen gestalten, Bücher schreiben, die nicht heute nur gelten, sondern auch später noch Bestand haben. Er hat sehr eigenwillige Anschauungen, und er wird deshalb gehaßt, aber ich glaube, er ist im Recht […].

Wir badeten im Rheinsberger See, hinterher lagen wir naß in der heißen Sonne, wir küßten und kämpften miteinander – oh, ich schämte mich wirklich, und ich habe geweint, als er meine Brust berührte und in mich drang, ich solle am Abend doch mein Zimmer nicht abschließen. Ich habe geschworen, niemals Ehebruch zu begehen […]! Aber als wir am Abend nach Hause fuhren, ahnte ich schon, daß ich nicht würde ausweichen können.

Er kam des Nachts in mein Zimmer. […] Wir schliefen zusammen in meinem schmalen Bett, erst im Morgengrauen verließ er mich. Ich habe ihn umarmt mit wilder Leidenschaft, und ich schäme mich dessen nicht. Es ist doch das natürlichste Recht der Liebenden, und ich liebe, mein Gott, ich liebe! Dabei habe ich doch noch immer eine gewisse Scheu nicht überwunden, und Georg nennt mich lächelnd seine »schamhafte kleine Geliebte«, er ist aber überzeugt davon, daß ich sehr sinnlich bin und ein Künstler in der Liebe werden könnte […].

Einmal bin auch ich zu ihm gekommen, es war schon gegen Morgen, ein schreckliches Gewitter ging über Rheinsberg nieder. Ich erwachte von den Donnerschlägen, ich fürchtete mich, und eine plötzlich brennende Sehnsucht nach Geborgenheit in Georgs Armen trieb mich zu ihm. […] Ich weckte ihn mit Küssen, und er war gerührt, als er mich so vor sich stehen sah, und ängstlich fragen hörte, ob ich bei ihm bleiben dürfte. […] erst am hellen Morgen ging ich, ohne Furcht vor den anderen Gästen, in mein Zimmer zurück. Am letzten Tag noch sagte Georg, daß er diese Szene nie im Leben vergessen würde: wie ich da in seinem Zimmer stand, erschrocken vor dem eigenen Mut und dabei angstvoll auf das Gewitter lauschend. Er hält mich für ein Kind, und ich bin es gegen ihn wirklich noch.

Ich blieb länger, als beabsichtigt. Es war ja nun gleichgültig […], und ich genoß diese herrlichen Tage in Rheinsberg […].

Sein ganzes Vertrauen hat mir Georg geschenkt […]. Ich will mich in Zukunft ganz nach ihm richten, er soll meine Arbeiten lesen und mich unbarmherzig kritisieren, es wird gut werden dadurch.

[…]

Am letzten Tag wanderten wir zum Leuchtturm hinaus. Da saßen wir auf den Steinstufen und sahen auf das weite Land hinab, die dichten Wälder, die gelben Wiesen – in dieser Stunde streifte mich die bange Ahnung, daß all dies sich nicht wiederholen kann, weil es so unwirklich schön ist. Freilich haben wir vereinbart, daß wir im nächsten Jahr zusammen wieder nach Rheinsberg fahren werden – aber wer weiß, was im nächsten Jahr sein wird? Wenn er mich liebte – […] ich würde mich begnügen damit, seine Geliebte zu sein, wir werden ja niemals unser Verhältnis juristisch sanktionieren können: Georg ist verheiratet […] Ich will nicht darüber nachdenken, […] ich will genießen und nicht grübeln. Wenn ich es kann …

[…]

Der Morgen meiner Abreise war furchtbar, ich hätte immerzu weinen mögen. Wir haben uns geküßt, […] und ich habe gespürt, daß auch ihm der Abschied naheging. Wir werden uns in der nächsten Woche wiedersehen – wie unendlich lang erscheint mir diese Zeit! […]

Auf dem Bahnhof umarmte er mich, er dankte mir für die schöne Zeit, die so ohne Mißklang endete, und ich küßte ihn immer wieder – mir war es gleichgültig, daß Leute um uns waren. Ich würde jede Dummheit für ihn begehen …

Ich wollte tapfer sein, aber als er neben dem anfahrenden Zug herging und meine Hand hielt, kamen mir doch die Tränen. Er mußte zurückbleiben, er winkte, seine große, kräftige Gestalt wurde kleiner, der Bahnhof blieb zurück, langsam verschwand Rheinsberg, verschwand eine Woche der Glückseligkeit, verschwand Georg – da weinte ich doch.

[…]

Burg, den 1. [9]. 55

Günter kam des Nachts zu mir – auf dem üblichen Wege durch das Fenster. Ich erwachte in seinen Armen, er behauptet, ich habe Georgs Namen gemurmelt, als er mich wachküßte. Da wußte er schon alles. Ich habe keinen Hehl aus meiner neuen Liebe gemacht, ganz ruhig habe ich gesprochen und ihm freigestellt, die Scheidungsklage einzureichen. Ich wurde erst erregt, als er durchblicken ließ, daß er meine Tagebücher gegen mich ausnutzen wird, um ein »schuldig« für mich zu erreichen. Dabei habe ich ihm freiwillig zugesagt, alle Schuld auf mich zu nehmen, obgleich er doch wirklich nicht ganz unschuldig ist an der Entwicklung der Dinge. Ich habe mir nur ausbedungen, daß niemals Georgs Name fallen darf während der Verhandlungen […].

Ich war geradezu froh, mich über Günters Engherzigkeit aufregen zu können – ich hänge doch noch immer an ihm und die Trennung wird mir nicht leicht. […] Zwei Jahre kann man nicht so einfach aus seinem Leben streichen …

Als ich ihn bat, mir den Ehering vom Finger zu ziehen, weigerte er sich: er wolle mich noch einmal als Verheiratete küssen. Und wie er geküßt hat! Ich habe mich gegen die Tränen wehren müssen. Und dann habe ich einer unverzeihlichen Schwäche nachgegeben: ich habe noch einmal mit ihm geschlafen. […]

Günter sagt, er liebe mich noch immer […] ich empfinde tiefes Mitleid mit ihm – aber was soll ich denn machen in dieser unseligen Verstrickung? Wenn ich aus Burg fortgehen könnte, unter andere Menschen, unter denen ich das Vergessen lernen könnte!

Übrigens war ich auf der Rückreise beim Verlag, der den Umschlagentwurf für meine »Frau am Pranger« fertig hat. Das Buch wird sehr hübsch und dezent: Ganzleinen, olivfarben, mit feiner Goldschrift und Vignette, einen Frauenkopf darstellend. Der Umschlag zeigt das Gesicht einer Frau, nicht zu hübsch, von Leid gezeichnet, mit traurigen, schönen Augen, die etwas Rührendes haben in Ratlosigkeit und Tapferkeit zugleich. […]

Die »Junge Welt« druckt gegenwärtig meine Novelle »Tod der schönen Helena« ab. Das wurde Zeit – ich brauche dringend Geld, augenblicklich bin ich völlig mittellos. Das kratzt mich zwar wenig, aber sehr angenehm ist es auch nicht – ich habe bald mehr Schulden als Haare auf dem Kopf.

Burg, 5. 9. 55

Günter kommt noch immer, und ich kann mich ihm nicht versagen. Dabei war er schon auf dem Gericht und hat sich nach den technischen Einzelheiten einer Scheidung erkundigt […].

Er ist jetzt soweit, daß er mir volle Freiheit zusichert, wenn ich nur ja bei ihm bleibe: ich dürfte nach Berlin fahren, andere küssen, mich austoben – nur mit anderen schlafen soll ich nicht. Da sagt mir dieser Junge, dem ich mich immer ein bißchen überlegen fühlte, mit der Vernunft eines ganz reifen Menschen, ich sei wohl noch zu jung für eine feste Bindung […] – er wolle mir Zeit lassen, denn er sei überzeugt, daß ich mich in zwei Jahren beruhigt habe und glücklich mit ihm zusammenleben kann.

[…] Kann man denn zwei Männer zugleich lieben? Ich glaube wohl, es soll ja berühmte Beispiele geben …

Übermorgen fahre ich nach Berlin, und ich zittere jetzt schon in Gedanken an das Wiedersehen mit Georg. […]

Ich weiß, ich müßte […] nach Berlin gehen, mich dieser neuen Liebe ganz hingeben, ein neues Leben beginnen. […] Ach, […] diese verfluchte Trägheit! Ich bin ein Feigling – aber es ist so bequem, feige zu sein […].

Burg, den 11. 9. 55

So war ich also in Berlin, und es ist alles beinahe genauso gewesen, wie ich es mir ausgemalt hatte.

Beim Verlag habe ich tüchtig gearbeitet – der kleine Lewerenz war mit allen Kürzungen einverstanden, er glaubt an mein Buch und freut sich über die Energie, mit der ich es immer noch zu verbessern suche; freilich habe ich ihm hoch und heilig versprechen müssen, in den Fahnen nichts mehr zu streichen.

Wir verstehen uns beide sehr gut, wir sind in puncto neue Literatur einer Meinung – daß sie schlecht ist, feige, banal, gewissenlos – und überhaupt … Der kleine Lewerenz hat eine zarte Andeutung gemacht, daß ich ihm dankbar sein müßte für seine Engelsgeduld, die er für meine ewigen Änderungswünsche an dem Buch aufgebracht hat. Ich bin jetzt lange genug beim Verlag, ich habe verstanden: ich denke, er wird mir beim nächsten Besuch in Berlin einen Abend freihalten. Wir sind beide rot geworden, als wir darüber sprachen – es kostet Walter auch noch enorm Mühe, den Casanova zu spielen. Er hat gar keine Anlage zur Verderbtheit, er muß sich ordentlich darum bemühen. Das gefällt mir so gut an ihm.

[…]

Und dann: Georg! Wir trafen uns am ersten Abend im Niquet-Keller. […] Er ist schon wieder ganz runter mit den Nerven […]. Seine Stellung ist untergraben, man will ihn provozieren und zur Kündigung zwingen. Er ist eben zu ehrlich, er gibt seiner Entrüstung über all die gemeinen Machenschaften in unserer sog. Kulturpolitik offen Ausdruck, und das vertragen gewisse Leute nicht. Ich bin stolz, daß er mir sein Vertrauen schenkt.

Nach einem großen Menü – er will mich unbedingt die Kunst des Essens lehren – brachte er mich zum Bahnhof. Ich war ganz verhungert nach seinen Küssen, aber Berlin ist zu hell und zu laut, es gibt keinen Platz für Liebende – oh, Rheinsberg, herrlichste Stadt!

Am nächsten Tag fuhren wir nach Potsdam und lagen stundenlang im Wald am Templiner See. […]

Auf dem Rückweg durch Potsdam hat er mir die vielen historischen Bauten erklärt und gezeigt; ich staune immer wieder über sein Wissen und fühle mich sehr klein ihm gegenüber, dabei spricht er gar niemals so von oben herab, und ich lerne gerne und eifrig bei ihm. In einem Antiquariat haben wir eine alte Ausgabe von Goethes Briefen gefunden, ich habe sie ihm geschenkt, obgleich er sie erst nicht annehmen wollte […]. Er hat mir übrigens seine Bücher mitgebracht […].

Er liest mir überhaupt jeden Wunsch von den Augen ab […]. Weil ich gelegentlich gesagt habe, ich äße gern Obst, hat er mir in Westkreuz eine Menge Bananen und herrliche Pfirsiche gekauft […].

Am letzten Tage waren wir nur wenige Stunden zusammen, dann brachte er mich zum Ostbahnhof. Ich hatte Blinddarmreizungen, jedenfalls bildete ich mir ein, es sei der Blinddarm – da war er ganz besorgt und hat mich so behutsam geführt und behandelt, es war direkt rührend. Alle seine bösen Scherze hat er unterdrückt – er kann sonst so zynisch sein, daß ich erschrecke – und vielleicht reizt ihn gerade dieses mein Erschrecken, recht schlimme Bosheiten über andere zu sagen.

Der Abschied hat weh getan, aber es gibt ja einen Trost: am 21. will er nach Burg kommen, denn am 22. soll in Magdeburg die Tausendjahr-Feier des Domes sein. […] Wir haben uns vielmals geküßt im Zug, ich pfeife darauf, was die Leute von mir denken. […]

Der Frosch kommt jeden Tag, wir zanken und vertragen uns am laufenden Band; er quält mich mit Mißtrauen und Eifersucht, und es fällt mir schwer, immer die Gekränkte zu spielen – er hat ja recht, er leidet unter diesem Verhältnis, aber ich kann es nicht ändern […]. Wenn ich nur meine Freiheit habe, dann will ich ihm das Leben gewiß auch schön machen – ach: Freiheit!

Burg, den 29. 9. 55

Es ist sehr viel geschehen, aber ich habe nicht eher einschreiben können, weil Günter – mit wahrhaft kriminalistischem Scharfsinn – auch dieses Tagebuch im Bücherschrank aufgestöbert und an sich genommen hatte.

Georg kam tatsächlich am 21. […] Vor Aufregung trank ich mir einen Schwips an, und ich stand wie blöd, als er durch die Sperre kam, im ungewohnt feierlichen Anzug. […]

Erst nachdem er sich im Hotel umgezogen hatte, taute ich auf, er war mir jetzt gleich vertrauter in seinem hellen Gabardineanzug, in dem ich ihn so gern sehe. Zwei Nachrichten hatte er mir aus Berlin mitgebracht: eine traurige – der »Sonntag« kann aus politischen Gründen vorerst die »Frau« nicht nehmen – und eine frohe – das Ministerium für Kultur hat die »Frau« im Preisausschreiben für Gegenwartsschaffen in die engere Wahl gezogen. Wenn ich dort einen Preis bekomme, bin ich aus allem Dalles heraus, nicht nur finanziell – auch meine ganze Stellung im maßgeblichen Kreis wird gefestigt werden – man wird meinen Namen kennen. […]

Am nächsten Tage fuhren wir nach Magdeburg, leider konnten wir an der Feier im Dom nicht teilnehmen. Dafür erklärte mir Georg den Dom, erzählte mir aus seiner Baugeschichte – ich bin so oft achtlos daran vorbeigegangen […]. Plötzlich ist mir aufgegangen, daß Gebäude eigentlich wie Musik sind – oder wie Dramen – nach ganz strengen Gesetzen gebaut. Man muß nur den Schlüssel finden, das Thema gewissermaßen, dann wird auf einmal alles klar und übersichtlich und die Architektur, ihre Schönheit, ihre Klarheit, ihre Gesetze erschließen sich uns.

[…]

An diesem Abend habe ich mich ihm wieder gegeben. Ich muß schweigen, es tut so weh, daran zu denken, sich in die Erinnerung zurückzurufen, wie zärtlich und gut Georg war, welche Kosenamen er fand, wie verwandelt er war, der sonst über alles spöttelt …

Wir lagen noch beieinander, als es klingelte. Ich wußte sofort, daß es Günter war. Da war er schon an der Tür, rüttelte an der Klinke, schrie wir sollten öffnen. […] es war wie in einem Roman, man hat solche Szenen oft gelesen, tragische oder – wie bei Boccaccio – amüsante. Ich glaube, ich habe gar nichts gedacht, habe nur Angst um Georg gehabt. Ich floh in die Veranda, Georg folgte mir. In diesem Augenblick krachte es – Günter hatte in seiner Wut und Verzweiflung die Tür aufgebrochen. Ich umklammerte Georg, zugleich schützend und Schutz suchend.

Günter fand uns. Das Schreckliche, das ich erwartet, geschah nicht: er schien beinahe ruhig; wir gingen ins Zimmer, dann saßen sich die beiden gegenüber, ich in der Mitte. Die folgende Szene war gräßlich, obgleich wir kaum einmal laut oder gar ausfallend wurden. Natürlich machte mir Günter Vorwürfe, die Situation war ja auch sehr eindeutig. Georg beschwichtigte und bat um eine vernünftige Aussprache.

So sprachen sie sich denn aus. Ich kann meine Gefühle nicht schildern: hier der Mann, mit dem ich zwei Jahre lang gelebt hatte, dem ich vertraue wie keinem anderen – dort der Mann, in den ich leidenschaftlich verliebt bin […]. Dennoch: ich genoß die Situation, so pervers das klingen mag.

Günter sagte, er gebe mich trotz allem nicht frei, Georg solle mich nicht bekommen, und wenn er mich anschmieden müßte. Georg dagegen erklärte, […] er sei bereit, sich scheiden zu lassen und mich zu heiraten. Das hat mich umgeworfen. Mir hat er so etwas nie gesagt […] – und er behauptet immer, er sei nun einmal kein Romeo, er könne nicht schwärmen […] wie ich, die ich ein Julia-Typ sei […]. Könnte ich mir Besseres vorstellen als ein Leben an der Seite eines so geistvollen Menschen, der mir in jeder Hinsicht förderlich sein würde?

Günter blieb starr auf seinem Standpunkt, auch, als Georg ihm klarzumachen suchte, daß ich in einigen Jahren eine bekannte Persönlichkeit sein werde. Auch dies hat er mir noch nie ins Gesicht gesagt: daß er mich für ein so bedeutendes Talent hält, das erste große Talent, das ihm unter den jungen Autoren begegnet sei.

Vielleicht hat mich all dies so berauscht, jedenfalls: ich entschied mich, direkt befragt, für Georg … Aber wie habe ich mich geschämt, als Günter mir vorwarf, ich habe doch erst zwei Tage vorher mit ihm geschlafen und ihm geschworen, daß ich ihn liebe … Ja, das habe ich getan, und ich war in dem Augenblick sogar aufrichtig. […]

Am nächsten Morgen traf ich mich wieder mit Georg. Er bestürmte mich, ich solle doch nach Berlin kommen, er werde dafür sorgen, daß ich studieren könne, er ist befreundet mit Prof. Kantorowicz, der könne sicher helfen. Als er so darüber sprach, mir die Zukunft ausmalte, schien mir alles gar nicht so schwer, ich dachte, ich könne meine Feigheit überwinden und ein neues Leben beginnen …

Den ganzen Tag über krochen wir in unseren Kirchen herum, bestiegen die Türme – ich habe heute noch eine Spur Muskelkater –, bummelten durch die Stadt und besichtigten ihre dürftigen Sehenswürdigkeiten. Wie kann ich in Georgs Gegenwart spotten über das Spießerstädtchen! Und dabei kann ich mich doch nicht trennen …

Gegen Abend waren wir noch einmal in seinem Zimmer im »Roland«. Da hat er mir auf meine eindringliche Frage erklärt, daß er wirklich sich nichts Schöneres vorstellen könnte, als mit mir für immer zusammen zu sein […]. Aber seine Kinder! Ich spüre doch immer wieder, wie sehr er an ihnen hängt […]. Kann man denn sein eigenes Glück auf dem Unglück und der Enttäuschung anderer Menschen aufbauen? […]

Zuhause entdeckte ich das Fehlen meines Tagebuchs, Günter muß am Nachmittag eingebrochen sein.

Am Sonnabend morgen mußte ich zur A.G. fahren. Vorher ging ich zu Günter in den Betrieb, um mein Tagebuch zurückzufordern. Ich fand ihn ganz verwandelt: bleich, streng, starr – er sagte, er habe die Scheidungsklage abgefaßt und sei entschlossen, Georg mit hineinzureißen. Und gerade das fürchtete ich ja! […] Erst bat ich. Das prallte an ihm ab. Dann beschimpfte ich ihn. Das ließ ihn kalt. Dann ging ich zum Bahnhof hinüber, wo Georg schon wartete. Ich weinte heftig, erst wollte ich Georg gar nichts erzählen, weil ich schließlich der Dummkopf war – warum führe ich Tagebuch! Aber Georg […] überlegte ganz vernünftig, wie ich mich aus dieser Klemme befreien könnte. Ach, ich war so ratlos und verzweifelt, ich hätte Günter umbringen mögen!

[…]

Ich fuhr mit all meinem Schmerz zur AG. Anfangs war ich überhaupt nicht zu gebrauchen, ich kriegte Tränen in die Augen, sobald mich einer nur ansprach. Am Abend erst wachte ich auf – man griff mich an (in provokatorischer bester Absicht, wie ich später erfuhr) und warf mir Snobismus vor – da bin ich aber doch explodiert! Ich tobte, ich hielt ein Referat aus dem Stegreif, ich war so mürbe, daß ich ohne jede Rücksicht meine Meinung sagte, ihnen vorwarf, sie machten Gebrauchsliteratur, sie würden niemals wirkliche Schriftsteller, ich jedenfalls wolle mich aus dieser Auftragsarbeit heraushalten, ich wolle nicht zum Konjunkturritter werden usw. Kurz, ich warf ihnen all das an den Kopf, was solange in mir gefressen hat – und es hat ihnen gefallen! Sie waren begeistert, daß ich endlich wieder mein früheres Feuer zeigte – haben sie denn gar nicht gemerkt, daß meine Anklage sie alle treffen sollte?

Ich glaube, Georg hat recht: sie denken immer, es bezöge sich auf den Nebenmann …

Immerhin hatte mich diese Eruption so aufgelockert, daß ich bereit war, an diesem Abend die tollsten Dummheiten anzustellen. Horst B[…] und Helmut Sakowski waren ebenfalls bereit, wie immer … Wir gewannen noch einige Kumpane, verpackten alle in Horsts Auto und gondelten von Vergnügungsstätte zu Vergnügungsstätte. Na bloß: eine war geschlossen, in der anderen Betriebsfeier, die dritte überfüllt … So landeten wir in einer elenden Kneipe, tranken uns Mut an, stießen die Schlafmützen ab und stürmten mit dem dünnen Rest Unternehmungslustiger das »Dalmatia«. Da wurde es dann noch ganz lustig, und für Stunden drängte ich meinen Kummer zurück.

Freilich, am Sonntag kam alles wieder. Ich wollte nach Hause fahren, da traf ich an der Sperre im M[agdeburger] Bahnhof – Günter. Fein in Schale – er wollte zum Pressefest. […]

Zuhause entdeckte ich, daß er während meiner Abwesenheit alle seine Bilder geholt hatte, selbst ein Fotoalbum hatte er zerfetzt. Das gab mir den Rest. Ich warf mich auf die Couch und schrie […]. Es war kein Weinen, einfach nur ein Brüllen, laut und wild. Irgendwie mußte ich mir Luft machen, sonst wäre ich zersprungen von all dem Scheußlichen, das mich erstickte.

In der Nacht kam Günter. Erst gab es eine bösartige Szene, wir waren sehr gemein und häßlich gegeneinander, ich mag gar nicht mehr daran denken […] – bis ich es nicht mehr aushielt und wieder einen Schreikrampf bekam. Natürlich lief das ganze Haus zusammen. Ich warf Vati hinaus, brüllte alle an […] – und schlug mit dem Kopf gegen die Wand, am liebsten hätte ich mir die Hirnschale zertrümmert, um endlich Ruhe zu haben.

Da war es Günter, der mich in die Arme nahm und zu trösten versuchte. […] und ich war vor lauter Verzweiflung wieder zärtlich zu ihm. Er blieb die ganze Nacht – und das war unklug in Anbetracht jenes Paragraphen: wenn nach der Scheidungsklage die Eheleute wieder miteinander schlafen, bedeutet es Verzeihung, und die Klage ist hinfällig. Bei Gott, ich habe nicht daran gedacht, seine Schwäche auszunutzen, der gemeine Gedanke kam mir erst am nächsten Tag, als Günter trotz allem auf dem Schuldspruch bestand und Georgs Namen vor Gericht nennen wollte. […]

Jetzt […] hat [er] seine Scheidungsklage zurückgezogen. Er hat sich auf drei Jahre zur KVP gemeldet und will Dienst bei der Seepolizei tun. Das hat mich denn doch erschüttert, […] und ich muß jedesmal weinen, wenn ich an die lange Trennung denke.

[…] Es ist einfach lächerlich, aber ich komme von Günter nicht los und schlage ihm zuliebe meine Zukunftsaussichten […] in den Wind. Das ist doch Wahnsinn! Aber es ist wirklich nicht nur Mitleid […]: Wie gut er ist, wie fürsorglich, ich freue mich, wenn er so hübsch angezogen und frisch rasiert kommt – er weiß, daß er mir so gefällt. […]

Burg, den 17. Oktober 1955

Heute ist unser Hochzeitstag, der zweite … Ich habe nicht geglaubt, daß wir ihn noch erleben werden, aber so wie die Dinge jetzt stehen, bringen wir auch die nächsten Hochzeitstage noch wohlgemut hinter uns.

Der Frosch ist bei der KVP abgelehnt worden – wegen seiner schlechten Zähne. Erst wußte ich nicht recht, ob ich froh oder betrübt sein sollte. Aber nun bin ich doch glücklich, daß es so gekommen ist. […] Vor seiner Liebe verbleichen Klugheit, gutes Aussehen, Geld und Stellung anderer Männer. […]

Jetzt ist schon wieder alles so wie früher – wenigstens nach außen hin. Günter wohnt wieder richtig bei mir, wir gehen zusammen aus, ich spiele wieder Hausfrau – aber so im Innersten ist eben doch noch nicht alles im alten Geleise. Manches ist besser geworden, und ich hoffe, es bleibt so: Günter ist aufmerksamer, bemüht sich noch mehr um mich, er gibt auch auf sein Äußeres mehr als sonst, und er nimmt jetzt an einem Meister-Lehrgang teil, um zu lernen; ja, er liest viel, jeden Abend fast. […] Freilich quält er mich noch oft mit seiner Eifersucht: wenn ich einmal verträumt aussehe, argwöhnt er, ich denke an Georg, er spricht mehr von ihm als ich und wühlt, vielleicht unbewußt, immer wieder die Erinnerung an ihn auf.

Auch ich bin anders geworden – freilich nicht zu meinem Vorteil. Ich analysiere mich selbst, […] und ich erkenne klar meine Fehler, wenn ich sie auch nicht anderen gegenüber zugebe. Ich bin launischer als je, ich tyrannisiere Günter – meist im Scherz, oft aber auch ganz im Ernst […]. Ich bin ihm ja eine Nasenlänge voraus: er kämpft wieder um meine Liebe …

Dabei liebe ich ihn wieder, wirklich […]. Manchmal allerdings schweifen meine Gedanken doch wieder zu Georg, aber es tut nicht sehr weh. Ich möchte, daß er mein Freund wird – aber das ist eine blöde Phrase […].

Eben habe ich einen Brief von ihm bekommen, und ich hatte doch Herzklopfen. Dummheiten! Ich muß doch darüber hinwegkommen – darf ich denn ein – zweifelhaftes – Glück erkaufen mit solchen Opfern: ein Frosch unglücklich, Georgs Kinder vaterlos, seine Frau ohne Ernährer […]! Und kann ich mir denn einen besseren, zärtlicheren Gatten wünschen als Günter? Er würde sich töten lassen für mich – das nenne ich Liebe!

Herbert H[…] hat mir auch geschrieben. Er ist toll verliebt in mich […]. Ich werde Günter den Brief wohl zeigen, soll er ruhig sehen, daß andere mich begehren! (Auch wieder so ein gemeiner Hintergedanke!)

[…]

Ist das nicht komisch – da ist man verheiratet und zu absoluter Treue verpflichtet, und dann gibt es ein paar Männer, die sich nach Kräften bemühen, den Gatten zu verdrängen, die ihre – manchmal recht beachtlichen – Qualitäten in die Waagschale werfen – und dann muß man stur und eiskalt bleiben. Dabei tun sie einem leid, mir fällt es immer schwer, nein zu sagen …

[…]

Burg, 21. 10. 55

Ich war wieder in Berlin und – natürlich – auch bei Georg. Das Kulturministerium veranstaltete eine Tagung für Abenteuerschriftsteller, dazu war ich eingeladen worden.

Die Tagung war interessant, das vierstündige Referat von Frau Dr. Ludwig ausgezeichnet, die Diskussion um Karl May hat mich nicht befriedigt – man lehnte ihn fast einstimmig ab; das ist ungerecht – wahrscheinlich fürchtet man seine Konkurrenz.

Am Abend ging ich mit einem Kollegen aus; es war ziemlich fad. Solange er noch über Literatur sprach, war er erträglich, aber als er nun zu himmeln begann und Zärtlichkeiten wollte, ließ ich ihn stehen. Eigentlich macht es Spaß, die kalte Schulter zu zeigen – nach der obligaten Küsserei bleibt ein schlechter Geschmack zurück. Vielleicht werde ich allmählich doch kühler und gesetzter.

Am nächsten Morgen ging ich zum Verlag des Ministeriums des Innern, das mich telegrafisch davon benachrichtigt hatte, daß mein Manuskript »Tod der schönen Helena« angenommen sei.

Jürgen Gruner und Eberhard Panitz empfingen mich wie gute alte Freunde, sie waren ganz begeistert von der Geschichte und legten mir sofort den Vertrag vor – ich werde sogar in Anbetracht der Qualität höher honoriert als die anderen Autoren. Der Verlag möchte mich für sich gewinnen, man hat mir schmeichelhafte Anträge gemacht und versuchte mir das »Neue Leben« auszureden. […] Ja, man wird allmählich eine geachtete Persönlichkeit …

Dann schickte ich dem Frosch ein Telegramm: »Ich liebe dich und komme heute zurück.« Ich mußte es einfach tun – er sollte sich freuen, und ich dachte mit Sehnsucht in der fremden Stadt an ihn.

Und dann ging ich zu Georg in die Redaktion des »Sonntag«. […] in dem Augenblick, da ich ihn sah, wußte ich, daß ich ihn noch mit der gleichen Leidenschaft liebte wie einst – unbeschadet meiner Liebe zu Günter. Das ist schwer zu verstehen, und ich vermeide es, darüber nachzudenken, man könnte leicht den Verstand darüber verlieren.

[…]

Im Verlag herrschte eitel Fröhlichkeit, als ich aufkreuzte. Der schreckliche Berger, dieser Zyniker, ist jetzt auch in meiner Redaktion […].

Sie waren entsetzt, als ich vom M[inisterium] d[es] I[nnern] erzählte […]. Es scheint ihnen wirklich daran zu liegen, daß ich auch in Zukunft für das N[eue] L[eben] schreibe, denn sie haben mir einen Vertrag für mein neues Buch angeboten, das ich noch nicht zur Hälfte fertig habe. […] Na, ich werde es mir überlegen.

Sie holten eine Flasche Kognak und gaben sich alle Mühe, mich unter den Tisch zu trinken. […]

Ich war ziemlich angeschlagen, als ich im Niquet-Keller landete, und Georg, der schon eine Weile gewartet hatte, war sehr erstaunt über das Temperament, das ich mit einem Male an den Tag legte, als wir in eine kulturpolitische Debatte gerieten, die sich so lange hinzog, daß wir uns sputen mußten, meinen Zug noch zu erreichen.

Der Schnaps machte mir Mut – ich habe ihm mal ordentlich die Wahrheit gesagt über die Feigheit seiner Redaktion – aber was hilft’s? Georg ist sowieso meiner Meinung, an andere komme ich nicht heran, man spricht gegen eine Mauer und kann nichts ändern.

Die letzten Minuten nur gehörten uns beiden. […] Ich hätte heulen mögen, aber das kann er ja nicht leiden. […]

Burg, 24. 10. 55

Gestern war ich wieder zur Arbeitsgemeinschaft, bin natürlich wieder angeeckt – aber das gehört in mein anderes Tagebuch, das ausschließlich der Arbeit gewidmet ist.

Am Sonnabend waren wir in einem HO-Café, wir waren wieder einmal herrlich ausgelassen und scherzten und lachten, daß ringsum alles aufmerksam wurde. Ich war Mittelpunkt, das gefällt mir immer, und wenn ich das spüre, verwandelt sich mein Wesen, ich werde sogar witzig und heimse mit Genuß Gelächter und Beifall und Komplimente ein. An diesem Abend fanden sich wieder zahlreiche Bewerber, die mich nach Hause begleiten wollten. Ich hatte indes meine Augen einem andern zugewandt: Da saßen an einem Tisch zwei junge Studenten, mit denen wir ins Gespräch kamen. Einer machte mir bald schöne Augen. Ich ihm auch. Nun, wie das halt so kommt: Der kleine Student (er war übrigens größer als Günter) […] spielte den Casanova so gut, daß ich es ihm sogar glaubte. Er wollte mich unbedingt nach Hause bringen[…]. Ich schickte meine Kavaliere fort – eigentlich wollte ich den Jungen nur veralbern, wollte ihm eine Lektion erteilen, weil mich sein Draufgänger-Getue ärgerte. […]

Kaum waren wir allein, da verging ihm sein Selbstbewußtsein, und ein paar spöttische Worte verwandelten ihn im Nu in einen hilflosen kleinen Jungen. Ich kann natürlich unser Gespräch nicht wiedergeben, aber es war wirklich psychologisch hochinteressant. […] in Wahrheit hat er noch nie mit einer Frau geschlafen; er konnte gar nicht begreifen, daß meine zärtlichen Blicke rein gar nichts zu bedeuten hatten […].

Ich war geradezu gerührt – sein armes weiches und ach so leicht verwundbares Herz lag ganz offen vor mir, mit ein paar Zynismen hätte ich ihn einfach kaputtmachen können. Nun wieder fühlte ich mich in meine eigene Jugendzeit zurückversetzt, in der ich so hilflos der Schlechtigkeit dieser Welt gegenüberstand, so erschüttert war vom Erlebnis der Liebe und der Zertrümmerung meiner Ideale. […]

Vielleicht hat mich das alles […] nur deshalb so überwältigt, weil ich seit langem nur Männer gehabt habe, die zielbewußt vorgingen, die verführen wollten um jeden Preis, die genau wie ich wußten, daß wir nur flirteten […]

Burg, den 24. 10. 55

Dieses Tagebuch ist nicht meinen außerehelichen Eskapaden gewidmet, es geht hier nicht um Liebe und Liebeleien – ich will aufzeichnen, was immer mir widerfährt auf meinem Wege zur Schriftstellerin. Freilich, ich schreibe, ich werde von manchen schon als Schriftstellerin bezeichnet – aber ich selbst fühle mich noch als absolute Null, ein Nichts in der Literatur. Aber ich will Gutes schaffen, will arbeiten, will mein ganzes Leben nur diesem einen Ziel widmen: auf dem Weg über die Literatur den Menschen helfen, meiner Verpflichtung nachkommen, die wir alle der Menschheit gegenüber haben.

Eine Zeitlang war ich so niedergedrückt, so pessimistisch, habe geglaubt, dieses Leben sei sinnlos, es lohne sich nicht, mühsam vorwärtszukriechen auf ein Ziel zu, das wir doch nie erreichen. Sicherlich werde ich öfter noch solche Anwandlungen bekommen, aber ich denke doch, ich habe meine Aufgabe gefunden, obgleich ich, das sei zugegeben, noch immer keinen rechten Sinn im menschlichen Dasein gefunden habe. Wohl verstanden: Der Urgrund unseres Seins ist mir schleierhaft, aber wahrscheinlich sollte man darüber nicht grübeln, sonst endet man am Strick oder im Irrenhaus. Ich meine halt – das ist freilich eine primitive Philosophie, aber noch weiß ich’s nicht besser – da wir nun einmal aus unerfindlichen Gründen in die Welt gesetzt worden sind, so sollten wir zusehen, das Beste aus ihr zu machen, nicht nur um unserer selbst willen, sondern auch für die anderen – und das fällt am Ende auch auf uns zurück: die Befriedigung, wenn man sich wie ein positiver Held benommen hat. Der Wegweiser, den unsere Gesellschaft darstellt, ist eindeutig, ich meine, man könnte in dieser Richtung mit gutem Gewissen gehen, da ist nichts Verschwommenes, kein unklares Gefasel vom Paradies auf Erden, da ist vielmehr etwas Greifbares: seht, so und so müßt ihr handeln, da dieses glauben und jenes bekämpfen – dann kann’s nicht fehlen. Wir müssen nur achtgeben, daß uns nicht Bürokraten die Idee verwässern, Fanatiker – die im Grunde Anarchisten sind – einen in Massenmorde hetzen (ich meine auch geistigen und seelischen Massenmord), wir müssen achtgeben, daß die Idee sauber bleibt und daß dem Menschen seine Grundrechte erhalten bleiben, Freiheit in jeder Hinsicht, […] Freiheit im Geiste und im täglichen Leben, solange er nicht Krieg und Mord in irgendeiner Form propagiert. Das ist klar, da stimme ich überein mit unseren Gesetzen, die so manches Mal gar nicht nach meiner Mütze sind – vielleicht deshalb, weil Theorie und Praxis nicht immer übereinstimmen. Aber das wird sich schon geben, dafür zu sorgen ist nicht zuletzt Sache des Schriftstellers – »Humanität« heißt unsere große Parole. »Humanität« ist mein Programm, darin erschöpft es sich in seiner grandiosen Unerschöpflichkeit. […] Dafür stehe ich ein, dafür zu leiden bin ich bereit.

Ich habe einen guten, den besten Lehrmeister und Führer : Georg Piltz, von dem will ich lernen, dem vertraue ich, vielleicht zu sehr […]. Nun, das wird sich herausstellen, ich will, soweit mein ungeschulter Verstand das gestattet, prüfen und wägen und einstehen für das, was ich als richtig erkannt habe. Es mag sein, ja es erscheint mir als sicher, daß ich so manches Mal meine Meinung ändern werde. Wir alle sind Irrtümern unterworfen, auch der Größte ist nicht unfehlbar – Hauptsache, er folgt seinem Gewissen und wird nicht zum Heuchler. Habe ich geirrt, so will ich freimütig meinen Fehler bekennen und es in Zukunft besser machen – niemand aber wird mich zwingen können, etwas zu sagen, sofern ich nicht überzeugt bin. Geld und Ehre werde ich wahrscheinlich nicht sammeln, wenn ich meine guten Vorsätze konsequent verfolge, schon jetzt stehe ich manches Mal im Widerspruch zur herrschenden Ansicht über diese oder jene Frage. Aber am Ende muß doch immer die Vernunft siegen, muß die Wahrheit und Menschlichkeit triumphieren. Es kann nicht anders sein; wollte man daran zweifeln, so wäre die Flucht ins Nirwana, die Abkehr von der Welt und ihren Geschäften letzte Rettung.

[…]

Burg, 30. 10. 55

Mit dem Verlag des Ministeriums des Innern habe ich einen Vertrag über ein Abenteuerheft, »Der Tod der schönen Helena«, abgeschlossen. […] Als ich davon im »Neuen Leben« erzählte, kriegten sie einen Schreck, denn sie wollen mich behalten. Als wenn ich diesen »meinen« Verlag verlassen könnte! Hier habe ich Verständnis, hier habe ich wirkliche Hilfe gefunden, vor allem der kleine Lewerenz, »mein Lektor«, bemüht sich in geradezu rührender Weise um mich bezw. meine Arbeiten. Das NL. will gleich einen Vertrag auf mein neues Buch machen (Arbeitstitel »Mädchen von Chronos«), obgleich sie es noch gar nicht kennen. Ich bin vorerst nicht darauf eingegangen – wenn es nun nicht gut wird? So ein Vertrag auf Treu und Glauben käme von Seiten des Autors beinahe einem Betrug gleich. […]

Zudem wurmt es mich, daß ich in den Plan für 1956 nicht mehr hineinkommen kann – was ist das für ein Blödsinn, ein fertiges Manuskript ein ganzes Jahr lang liegenzulassen? Einerseits schreien sie nach guten Jugendbüchern, andererseits aber klammern sie sich stur an ihren Plan … Ich will sie ein bißchen unter Druck setzen […].

Die Publikation im »Sonntag« scheint endgültig gescheitert. Auch wieder diese verfluchte Feigheit der Redakteure! Georg ist dafür, die ganze Redaktion findet das Buch gut – aber nein, sie wagen nicht, es zu bringen, weil sie fürchten, sie könnten sich damit in die Nesseln setzen. Wilhelm Pieck hat eine Amnestie für die Kriegsverbrecher erbeten – da darf man halt nichts gegen diese Verbrecher bringen […]. Hauptsache dem Herrn Chefredakteur kann keiner an den Wagen fahren. Nur immer brav auf der vorgeschriebenen Linie tippeln, nur ja keinen selbständigen Schritt tun – die kostbare Existenz könnte gefährdet werden!

Ich habe mich heftig mit Piltz gestritten, ganz überflüssigerweise, da er ja genauso denkt wie ich. […] Ich kann diese ganze Schweinerei nicht einmal öffentlich anprangern, weil ich sonst Georg mit hineinreiße. […] Denn er hätte mir die wahren Gründe für die Ablehnung ja gar nicht verraten dürfen. Just rief im Verlag an: ihm gefiele die Geschichte sehr gut, aber er könne sie nicht bringen: sie sei wie aus einem Guß, man dürfe sie einfach nicht in Fortsetzungen zerhacken.

Über diese faule Ausrede hat die ganze »Deutsche Belletristik« gewiehert …