Sabine Herzig
Rezipien
Kurzgeschichten aus dem täglichen Leben
DAS LEBEN IST SCHÖN, SPANNEND UND EINZIGARTIG. JEDER TAG KANN EINE NEUE KURZGESCHICHTE SEIN. MAN MUSS NUR DEN RICHTIGEN BLICKWINKEL HABEN!
Inhaltsverzeichnis
Ich will Schriftsteller werden
Der Turban
Alles anonym
7016
Norddeich
Die Fahrradreparatur
5060
Reziepien
Wasserbetten
Rechts herum
Dienstag, 5. Januar
15.00 Uhr
Ich habe mal gehört, dass ein guter Schriftsteller nicht mehr als einen Satz pro Tag schreibt. Nun ja, das macht mir richtig Mut. Ich denke schon seit einer Woche über meinen ersten Satz nach, er soll ja auch richtig überzeugend klingen für mein Debüt. Ich habe gerade Weihnachtsferien und nicht viel zu tun und so sollte das für mich überhaupt kein Problem darstellen, die ersten fünf Sätze in der kommenden Woche zu Papier zu bringen. Vorsorglich habe ich mir eine Flasche Rotwein mittlerer Preisklasse vorhin in den Einkaufswagen gepackt, denn Schriftsteller trinken schließlich keinen billigen Fusel, sondern leben mit Stil. Wenn sich mein Buch erstmal richtig gut verkauft hat, dann werde ich noch andere Veränderungen in meinem Leben tätigen können. Zum Beispiel den Job kündigen. Wie konnte ich nur Lehramt studieren? Ständig dieser Stress, dieser Geräuschpegel, die Vertretungsstunden, die mal eben spontan anfallen und noch vieles mehr. Nur nicht jetzt dran denken, denn ich habe Ferien , die ich mir nicht versauen will, und ich habe ein Buch zu schreiben.
16.00 Uhr
Der erste Satz, ja wie könnte der lauten? Oder sollte ich erst einmal einen Titel festlegen?Ein Knaller, ein Brüller, ein Schlagwort muss her. Der Rest läuft dann von ganz allein. Niemand wird es wagen, im Buchladen an meinem Buch, vorbei zu gehen. Ich sag ja, es wird ein Bestseller unter den Bestsellern. Ich werde berühmt sein, so wie Joanne K. Rolin oder Thomas Mann.
17.00 Uhr
Meine erste große Tat heute sollte es sein, die Flasche Vino Noblile de Montepulciano zu öffnen und ein Glas zu probieren. Schließlich sind Ferien, da kann ich es mir auch mal gut gehen lassen. Wenn ich nur daran denke, dass ich in drei Wochen schon wieder Nachmittage lang in diesen Zensurenkonferenzen mit abhängen muss. Ätzend! Kann schließlich nicht jedes Jahr krank werden. Außerdem habe ich diese Ausrede schon bei den letzten Konferenzen benutzt. Mein Auto ist auch relativ neu, also wird mir keiner abnehmen, wenn die Batterie nicht anspringt, der Bus mir vor der Nase wegfährt oder ich zufällig eine Zahnfüllung verliere, deren Reparatur keinen Aufschub erduldet. So, wo war jetzt der Korkenzieher? Ah, vielleicht noch etwas Käse zum Nachen dazustellen. Ich habe da doch noch diesen verdammt guten irischen Cheddar, 16 Monate gereift. Der macht sich prächtig zu meinem Wein.
18.00 Uhr
Der Wein ist köstlich und der Käse harmoniert einzigartig dazu. Ich werde mir gleich noch einen Nachschlag gönnen. Schließlich habe ich Ferien, und ich schreibe ein Buch! Meine Gedanken kreisen angestrengt um meinen ersten Satz. Ich beschließe jetzt mal spontan, dass ich mir den Titel bis zum Schluss aufhebe. Wird sozusagen eine Überraschung von mir, für mich. Es ist immer besser, nicht gleich alles Pulver zu verschießen. Ist das nicht ein geläufiges Sprichwort oder liegt es am Wein? Der ist aber auch wirklich unschlagbar in seinem Bouquet.
19.00 Uhr
Zwei Drittel der Flasche sind geleert, aber mir geht es prächtig. Spricht für die gute Qualität des Weins. Vielleicht hätte ich die andere Flasche auch mitnehmen sollen? Ob ich nochmal kurz los gehe? Der Supermarkt hat bis 20.00 Uhr geöffnet, das müsste ich noch schaffen. Ich bin lange tägliche Fußmärsche durch mein Nordic Walking gewohnt und ehe mir diese letzte Flasche guten Weins von einem kulinarischen Diletanten weggeschnappt wird, muss ich handeln.
20.00 Uhr
13,5 % Alkohol steht auf dem Etikett der Weinflasche. Gleich zwei mal! Sind das dann 27% insgesamt??? Der Weg zum Supermarkt war mir dann doch zu weit. Ich gehe ungern im Dunkeln, so kurz nach Silvester, spazieren. Es sind noch immer so viel, gelangweilte Teenies mit Restknallmaterial unterwegs, das kann schon mal böse enden, wenn man von so etwas getroffen wird. Und irgendwie habe ich jetzt auch gar keine Lust mehr auf weiteren Wein. Ich habe schließlich Ferien und muss ein Buch schreiben. Mein erster Satz sollte so langsam Form annehmen.
21.00Uhr
Jetzt schreibe ich schon seit sechs Stunden an meinem Buch. Für den Anfang ist das total gut, finde ich. Thomas Mann hat sicher auch nicht 24 Stunden ununterbrochen vor seinem Schreibheft gesessen oder gab es damals schon die Schreibmaschine? Das Telefon wurde doch auch irgendwann erfunden, aber das ist jetzt nicht von vorrangiger Bedeutung. Mein erster Satz ist wichtig.
22.00Uhr
Mit nur einem Absacker lässt sich nicht gut denken und schon gar nicht schreiben. Ein Nebensatz bis zum Komma dürfte für mich wirklich keine Hürde sein. Vielleicht hole ich mir ein paar Anregungen aus anderen Büchern. Ups, was habe ich denn hier? Ein Fotoalbum. Prima, Fotos kann ich heute Abend besser lesen als Bücher. Die Buchstaben wollen einfach nicht in ihrer Zeile bleiben.
24.00Uhr
(Markusevangelium 9,23)