Seine Berührung fährt durch mich hindurch, vom Haaransatz bis in die Zehenspitzen, warm und süß, prickelnd und heiß. Ich sollte ihm nicht trauen. Ich sollte ihm nicht meine Geheimnisse verraten. Aber wie könnte ich nicht, wenn er doch der Grund ist, warum ich lebe? Ich brauche ihn so sehr.
Vor Jahren musste Lara fliehen und ihr gesamtes Leben, ihre Familie und Freunde hinter sich lassen.
Als Amy lebt sie nun ein ganz neues Leben und hofft, dass niemand sie finden wird. Doch dann erhält sie erneut einen anonymen Anruf. Sie wurde entdeckt. Sie ist in Gefahr. Und sie muss erneut fliehen. Sofort.
Am Flughafen trifft sie auf Millionär Liam Stone, der sie mit seiner düsteren Aura sofort in seinen Bann zieht. Er ist ein Mann der klaren Ziele – und sein neues Ziel heißt Amy.
Doch was geschieht, wenn Liam mehr von ihr verlangt als sie ihm jemals geben kann? Wenn er von ihrem dunklen Geheimnis erfährt?
Amy beginnt ein gefährliches Spiel und weiß bald schon nicht mehr, wer Freund und wer Feind ist …
»Entfacht« ist der erste Band der spannenden Erotikreihe »Amy´s Secret« der New York Times Bestseller Autorin Lisa Renee Jones.
Lisa Renee Jones lebt derzeit in Colorado Springs. Sie veröffentlichte in den USA bereits über 40 Bücher und wurde mehrfach mit dem Genrepreis ausgezeichnet. Ihre Titel erscheinen regelmäßig auf den Bestseller-Listen der New York Times und der USA Today.
beHEARTBEAT
Digitale Deutsche Erstausgabe
»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Titel der Originalausgabe: »Escaping Reality (The Secret Life of Amy Bensen)«
Für die deutsche Ausgabe
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Projektmanagement: Esther Madaler
Textredaktion: Mona Gabriel
Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de
unter Verwendung von Illustrationen © shutterstock/Noci; shutterstock/Yermolov
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-2508-9
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
AMY’S SECRET
Entfacht
Aus dem amerikanischen Englischen
von Kerstin Fricke
Für Diego und Julie,
mit denen ich viele wundervolle
Wochenenden in Denver und insbesondere
Cherry Creek verbracht habe,
um die Welt dieser Serie
zum Leben zu erwecken.
Amy
Nur mein Name – mehr steht nicht auf dem schlichten weißen Umschlag, der mit Klebeband am Spiegel befestigt ist. Als ich die Damentoilette betreten habe, war er noch nicht da.
Ich bin auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung im Metropolitan Museum of Art in Manhattan, doch das Gelächter und die angenehme Stimmung verblassen, als Angst und Schrecken Besitz von mir ergreifen und mir das Adrenalin durch die Adern rauscht. Nein. Nein. Nein. Das kann nicht sein – aber es ist so.
Auf einmal wird der Raum um mich herum immer unschärfer und grauer. Mein letzter Flashback ist Jahre her, und ich versuche, dagegen anzukämpfen, aber es ist längst zu spät. Rauch brennt mir in der Nase. Das Geräusch durchdringender Schreie zerrt an meinen Nerven. All der Schmerz und die Pein, der Verlust von allem, was ich einst hatte und nie wieder haben werde, drohen, mich zu überwältigen.
Ich kämpfe gegen den Zusammenbruch an, schlucke schwer und schiebe die qualvollen Erinnerungen beiseite. Das darf jetzt nicht geschehen. Nicht hier, an einem öffentlichen Ort. Nicht wenn ich davon ausgehen muss, dass mir unmittelbare Gefahr droht.
Auf wackligen Beinen gehe ich mit meinen Riemchenpumps mit den zehn Zentimeter hohen Absätzen, in denen ich mich eben noch so sexy gefühlt habe, vorwärts und presse die Handflächen auf den Rand des Waschbeckens. Ich kann mich nicht dazu überwinden, nach dem Umschlag zu greifen, und mustere stattdessen mein Spiegelbild: das lange blonde Haar, das ich heute Abend zu Ehren meiner schwedischen Mutter, die ich nicht länger leugnen möchte, offen trage. Auch die Brille mit dem dunklen Rahmen, mit der ich so oft meine blassblauen Augen verborgen habe und die ich von meinen Eltern geerbt habe, ist nicht mehr da, sodass es mir viel zu leicht fällt, diese leere Hülle eines Menschen zu sehen, zu dem ich geworden bin. Wenn ich mit vierundzwanzig Jahren schon so aussehe, wie wird es dann erst sein, wenn ich vierunddreißig bin?
Vor der Tür sind Stimmen zu hören, und ich reiße den Umschlag vom Spiegel ab und husche in eine Toilettenkabine. Zwei Frauen betreten den Raum, und ich ignoriere ihre Schwärmereien für einen Mann, der auch auf der Party anwesend ist. Ich lehne mich an die Wand, öffne den versiegelten Umschlag und entnehme ihm eine schlichte weiße Karteikarte, wobei ein kleiner Schlüssel herausfällt. Während ich meine zitternden Hände verfluche, bücke ich mich und hebe ihn vom Boden auf. Einen Augenblick lang schaffe ich es kaum, mich wieder aufzurichten. Aber ich zwinge mich dazu und blinzele mehrmals, um das Brennen in meinen Augen zu vertreiben und die wenigen Sätze zu lesen, die mit Schreibmaschine auf der Karte getippt stehen.
Wenn ich dich gefunden habe, schaffen sie es auch. Fahr direkt zum JKF-Flughafen. Geh nicht nach Hause. Trödele nicht. Du findest in Schließfach 111 alles, was du brauchst.
Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich die Unterschrift mustere, die aus einem Dreieck mit ein paar Buchstaben darin besteht. Dasselbe Symbol hatte der Fremde auf den Arm tätowiert, der mich gerettet und mir geholfen hat, ein neues Leben anzufangen – und der mir eingebläut hat, dass ich nicht zögern darf, wenn ich dieses Symbol sehe, weil es bedeutet, dass ich in Gefahr bin und weglaufen muss.
Ich kneife die Augen zu und kämpfe gegen die Emotionen an, die in mir aufsteigen. Wieder einmal wird mein Leben auf den Kopf gestellt. Ein weiteres Mal werde ich alles verlieren – es ist zwar sehr viel weniger als zuvor, aber dennoch alles, was ich habe. Ich zerknülle die Notiz in der Hand, da ich mir nichts sehnlicher wünsche, als dass dies alles gar nicht wahr ist. Nachdem ich mich sechs Jahre lang versteckt habe, war in mir die Hoffnung aufgekeimt, ich wäre in Sicherheit – was sich jetzt als großer Fehler herausstellt. Tief in meinem Inneren habe ich das längst gewusst- schon seit ich vor zwei Monaten meinen Job als Forschungsassistentin in der Zentralbibliothek aufgegeben habe, um im Museum zu arbeiten. Allein meine Anwesenheit hier ist riskant.
Als die Frauen gehen und es wieder still wird, richte ich mich auf. Bei dem Gedanken, dass mir mein Leben erneut weggenommen wird, wallt eine ungeheure Wut in mir auf. Ich hole tief Luft, zerreiße die Nachricht in winzige Fetzen, spüle sie die Toilette hinunter und werfe den Umschlag in den Mülleimer. Am liebsten hätte ich den Schlüssel ebenfalls weggeworfen, aber irgendwie bringe ich das doch nicht über mich.
Daher ziehe ich den Reißverschluss meiner kleinen schwarzen Handtasche auf und lasse den Schlüssel hineinfallen. Ich werde erst einmal diese Party zu Ende bringen. Und vielleicht sogar mein Leben hier in New York. In der Nachricht stand nicht, dass man mich bereits gefunden hat, vielmehr wurde ich davor gewarnt, dass es möglich wäre. Aber ich will nicht wieder weglaufen. Ich brauche Zeit zum Nachdenken, zum Verarbeiten, und das alles muss bis nach der Party warten.
Nachdem ich diesen Entschluss gefasst habe, verlasse ich die Kabine und sehe gar nicht erst in den Spiegel. Ich möchte mich jetzt nicht betrachten, da ich nicht die geringste Ahnung habe, wer »ich« bin oder morgen sein werde. In diesem betäubten Zustand, den ich schon früher genutzt habe, um zu überleben – fast so oft, wie ich versucht habe, herauszufinden, was dieses Symbol auf der Nachricht bedeutet – folge ich den sanften Klängen des Orchesters und betrete einen Raum mit einer hohen, ovalen Decke, die mit wunderschönen Bildern verziert ist. Ich versuche, mich in der Menge der gut gekleideten Gäste und der Kellner mit ihren Tabletts voller Champagnerflöten zu verlieren, aber es gelingt mir nicht. Vielmehr stehe ich einfach da und betrauere das neue Leben, das ich gerade erst begonnen habe und von dem ich weiß, dass es jetzt vorbei ist. Mein sonst so zuverlässiger Zustand stellt sich nicht ein.
»Wo bist du gewesen, Amy?«
Chloe Monroe, der einzige Mensch seit Jahren, den ich als Freundin bezeichnen würde, tritt vor mich und verzieht das herzförmige Gesicht zu einer finsteren Miene. Sie ist von ihren dunkelbraunen Locken, die ihr auf die Schultern fallen, bis hin zu ihrer extrovertierten Persönlichkeit und lustigen, immer zu Flirts aufgelegten Einstellung genau das Gegenteil von mir, und das gefällt mir so an ihr. Jetzt werde ich sie verlieren. Jetzt werde ich mich ein weiteres Mal verlieren.
»Und«, beharrt sie, als ich nicht schnell genug antworte, und stemmt die Hände in die Hüften, »wo hast du gesteckt?«
»Auf der Toilette. Ich musste mich anstellen.« Es ist mir fast schon peinlich, wie locker mir die Lüge über die Lippen kommt, aber im Grunde genommen ist ja mein ganzes Leben eine einzige Lüge.
Chloe runzelt die Stirn. »Hmm. Als ich dort war, musste ich nicht Schlange stehen. Vermutlich hatte ich einfach Glück.« Sie winkt ab. »Sabrina dreht gleich durch wegen irgendwelcher Spendenunterlagen, die sie nicht finden kann, und sagt, dass sie dich unbedingt braucht. Ich dachte, du bist in der Forschung – seit wann kümmerst du dich auch um den ganzen Papierkram?«
»Seit letzter Woche, als ihr alles zu viel wurde«, antworte ich und bekomme sofort bessere Laune, weil meine neue Chefin mich braucht. »Wo ist sie?«
»An der Rezeption.« Chloe hakt mich unter und zieht mich mit sich. »Und ich werde dich begleiten. Vielleicht kann ich so meinen sechzigjährigen Bewunderer abschütteln, der mich langsam an einen Stalker erinnert. Ich muss verschwinden, bevor er mich hier aufspürt.«
Ihre locker dahergesagten Worte gehen mir unter die Haut. Ich bin diejenige, die gejagt wird. Eigentlich hatte ich geglaubt, ich wäre in Sicherheit, aber das bin ich nicht, ebenso wenig wie alle Menschen in meiner Umgebung. Das habe ich am eigenen Leib erfahren müssen. Ich weiß, wie sich der Schmerz und der Kummer ob des Verlustes anfühlen, und auch wenn ich nicht gern allein bin, ist es doch besser, als jemanden zu verlieren, der einem am Herzen liegt.
Daher bleibe ich abrupt stehen und drehe Chloe herum, sodass sie mich ansieht. »Sag Sabrina, dass ich schnell die Formulare hole und dann sofort bei ihr bin.«
»Oh. Okay. Klar.« Chloe lässt meinen Arm los, und mich überkommt kurz der Drang, sie in den Arm zu nehmen. Aber falls uns jemand beobachtet, könnte er noch auf den Gedanken kommen, dass sie mir wichtig wäre. Daher wende ich mich einfach nur ab und gehe zur Tür, während sich mir bei dem Gedanken, dass ich sie nie wiedersehen werde, der Magen umdreht.
Schließlich trete ich an der Gebäudeseite in den schwülen Augustabend hinaus und laufe auf die Reihe an Taxis zu, wobei ich mich bewusst nicht beeile oder übertrieben umsehe. Ich habe gelernt, wie man keine Aufmerksamkeit erregt. Dazu gehörte allerdings nicht, an einem Ort zu arbeiten, der mit der Welt, die ich hinter mir zurückgelassen hatte, direkt in Verbindung steht, und jetzt muss ich den Preis dafür bezahlen.
»Zum JFK-Flughafen«, sage ich, als ich mich auf der Rückbank des Taxis niederlasse, und reibe mir den Nacken, weil ich dort erneut dieses vertraute Kribbeln spüre. Dieses Gefühl hatte ich während des ersten Jahres, in dem ich allein war, sehr häufig, da ich stets damit rechnete, hinter der nächsten Ecke auf Gefahr zu stoßen. Schließlich werde ich gejagt. Ich kann es noch so oft leugnen, die Realität ändert sich deswegen trotzdem nicht.
***
Die Fahrt zum Flughafen dauert dreißig Minuten, und ich brauche nach Betreten des Terminals weitere fünfzehn, um herauszufinden, wo Schließfach 111 ist. Als ich es öffne, sehe ich darin einen kleinen Rollkoffer sowie eine kleinere braune Ledertasche, aus der ein großer gelber Umschlag herausragt. Da ich nicht dabei beobachtet werden möchte, wie ich den Inhalt inspiziere, nehme ich alles mit in die nächste Damentoilette.
Sobald ich in einer Kabine eingeschlossen bin, klappe ich den Babywickeltisch herunter und schütte den Inhalt des Umschlags darauf. Darin befinden sich ein Ordner, eine Bankkarte, ein Handy, ein Pass, eine Karteikarte und ein weiterer kleiner, versiegelter Umschlag. Ich greife zuerst nach der Nachricht.
Auf dem Konto ist Geld, und die PIN lautet 1850. Ich zahle mehr ein, da du einiges brauchen wirst, bis du dich ganz eingerichtet hast. Du findest hier auch eine neue Sozialversicherungskarte, einen Führerschein und einen Pass. Außerdem musst du dir deine ganze Hintergrundgeschichte merken, deinen Lebenslauf und deine früheren Jobs, die einer Überprüfung standhalten müssen. Wirf dein altes Handy weg. Dein neues ist unter deinem neuen Namen und auf deine neue Adresse registriert. Im Umschlag stecken ein Flugticket und die Schlüssel für eine Wohnung. Entsorge deine alten Ausweise, und benutz deine Bankkonten und Kreditkarten nicht mehr. Sei clever. Trenne jegliche Verbindung zu deiner Vergangenheit. Und halte dich dieses Mal von Museen fern.
Ein neuer Name. Das sticht mir als Erstes ins Auge. Ich bekomme wieder einen neuen Namen. Nein. Nein. Nein. Bei diesem Gedanken rast mein Herz. Ich will keinen neuen Namen. Wieder einmal verliere ich einen Teil von mir. Nachdem ich jahrelang eine Lüge gelebt habe, verliere ich den einzigen Teil meiner falschen Identität, den ich wirklich als zu mir gehörend akzeptiert habe.
Ich nehme den Pass und klappe ihn auf, und als ich das Foto sehe, fangen meine Hände an zu zittern. Wie ist der Fremde, dem ich gerade mal ein Mal begegnet bin, an ein derart aktuelles Foto gekommen? Früher habe ich ihn als meinen Schutzengel angesehen, aber jetzt bekomme ich langsam Angst. Hat er mich etwa die ganze Zeit beobachtet? Bei dieser Vorstellung wird mir schlecht.
Mein einziger Trost ist, dass mein Vorname gleich bleibt. Ich bin jetzt Amy Bensen und nicht mehr Amy Reynolds. Wenigstens bin ich immer noch Amy. Das ist die einzig gute Nachricht in all dem Chaos, und ich klammere mich daran und versuche, den nahenden Zusammenbruch auf diese Weise abzuwehren. Ich muss mich jetzt zusammenreißen, bis ich im Flugzeug sitze. Dann kann ich in meinen Sitz sinken und die vertraute Benommenheit anschalten, die sich momentan noch nicht einstellen will.
Ich klappe den Ordner auf und sehe ein Flugticket vor mir. Es geht nach Denver, und zwar schon in einer Stunde. Ich war in meinem ganzen Leben nur in Texas oder New York. Über Denver weiß ich nur, dass es groß und kalt ist und ab sofort der nächste Ort, an dem ich so tun werde, als wäre ich zu Hause, wo ich in Wahrheit doch gar kein Zuhause mehr habe. Bei diesem Gedanken zieht sich in meinem Brustkorb alles zusammen. Aber noch größer ist die Angst vor dem, was mich erwarten könnte, wenn ich nicht weglaufe. Mein Entschluss steht fest.
Schnell schalte ich mein Handy aus, damit es nicht mehr zu orten ist, und stecke es zusammen mit allem außer meinem neuen Ausweis und meinem Flugticket wieder in den Umschlag. Ich habe eigenes Geld auf der Bank und werde daher meinen alten Ausweis und den Zugriff auf diese Ressourcen nicht aufgeben. Außerdem gefällt mir die Vorstellung nicht, eine Bankkarte zu verwenden, die möglicherweise überwacht wird. Daher werde ich morgen zur Bank gehen und so viel Bargeld abheben, wie ich bekommen kann. Damals mit achtzehn war ich naiv und allein und habe dem Fremden, der mich gerettet hat, blind vertraut. Vermutlich traue ich ihm auch jetzt noch, allerdings nicht mehr so uneingeschränkt wie früher.
Ich gehe zum Check-in, erledige alles am Automaten und mache mich auf direktem Weg zur Sicherheitsschleuse. Einige Minuten später stehe ich auf der anderen Seite der Metalldetektoren und mache noch einen Abstecher in einen Laden, um ein paar Dinge zu besorgen, die ich brauchen könnte. Alles läuft gut, bis ich an meinem Gate ankomme und feststelle, dass mein Name ausgerufen wird.
»Es tut mir sehr leid, Miss Bensen«, sagt die Mittvierzigerin hinter dem Schalter. »Aufgrund eines Softwarefehlers wurden einige Plätze doppelt vergeben. Wir …«
»Ich muss in diesen Flieger«, stoße ich zischend hervor, während mir das Herz bis zum Hals klopft. »Ich muss einfach mitfliegen.«
»Ich kann Ihnen einen Gutschein geben und für Sie den ersten Flug morgen früh buchen.«
»Nein, ich muss heute noch fliegen. Geben Sie jemand anderem einen fetten Gutschein und lassen Sie mich mitfliegen.«
»Ich …«
»Rufen Sie Ihren Vorgesetzten an«, beharre ich. Da ich im Allgemeinen keine Aufmerksamkeit erregen will, bleibe ich sonst immer sehr geduldig, aber ich will auch nicht sterben. Noch bin ich am Leben, und so soll es auch bleiben.
Sie schürzt die Lippen, wendet sich dann endlich ab und geht auf einen uniformierten Mann zu. Die beiden senken die Köpfe, und er wirft mir einen Blick zu, bevor die Frau zurückkehrt. »Wir haben Sie ganz oben auf die Warteliste gesetzt und versuchen, Sie noch in den Flieger zu bekommen.«
»Wie wahrscheinlich ist es, dass es klappt?«
»Wir geben uns Mühe.«
»Große Mühe?«
Wieder schürzt sie die Lippen. »Sehr große.«
Ich atme erleichtert aus. »Vielen Dank. Und entschuldigen Sie bitte meinen Aufstand. Ich stecke gerade in einer … ziemlichen Krise und muss unbedingt an mein Ziel gelangen.« Ich kann nicht verhindern, dass man mir meine Verzweiflung anhört.
Ihre Miene wird sanfter. »Das verstehe ich, und das Ganze tut mir sehr leid«, versichert sie mir. »Wir versuchen, es wieder in Ordnung zu bringen. Und bitte geraten Sie nicht in Panik. Wir lassen erst alle Passagiere einsteigen, bevor wir die Passagierlisten ändern. Vermutlich werden Sie als Letzte ins Flugzeug gelassen.«
»Danke«, sage ich etwas verlegen. »Dann werde ich einfach warten.« Nervös wende ich mich ab und gehe zum Fenster, wo ich mein Gepäck neben mir auf den Boden stelle. Ich lehne mich mit dem Rücken an das Stahlgeländer vor der Scheibe und positioniere mich so, dass ich alles in meiner Nähe gut beobachten kann. So kann ich jedes Problem erkennen, bevor es ernst wird. Und in diesem Augenblick treffen sich unsere Blicke.
Er wartet auf einem mir zugewandten Sitz, wobei sich eine Reihe zwischen uns befindet, und hat attraktive, markante Gesichtszüge und dichtes, dunkles Haar, das leicht zerzaust ist und förmlich danach schreit, von mir berührt zu werden. Gekleidet ist er in ausgewaschene Jeans und ein dunkelblaues T-Shirt, aber er könnte genauso gut einen gut sitzenden Anzug mit Krawatte tragen. Er ist älter als ich, ungefähr dreißig, aber er wirkt derart weltmännisch, kontrolliert und selbstsicher – mehr als man es bei einem Mann seines Alters erwarten würde. Seine Ausstrahlung steht für Geld, Macht und Sex, und ich kann seine Augenfarbe nicht erkennen, aber das ist auch nicht nötig. Wichtig ist bloß, dass er sich vollkommen auf mich konzentriert, so wie ich mich auf ihn. Vor einem Moment war ich noch allein in einer Menschenmenge, und plötzlich gehöre ich zu ihm. Als hätte die Distanz zwischen uns nichts zu bedeuten. Ich versuche, den Blick abzuwenden, da er eine mögliche Gefahr darstellen könnte, aber … es gelingt mir einfach nicht.
Als er die Augen kaum merklich zusammenkneift und ein Lächeln seine Lippen umspielt, glaube ich, Zufriedenheit auf seinem Gesicht zu erkennen. Er weiß, dass ich nicht wegsehen kann. Ich bin seine neueste Eroberung, von denen er bestimmt viele hat, und peinlicherweise ist ihm das gelungen, ohne mir auch nur ein einziges lustvolles Stöhnen zu entlocken.
»Das Boarding der Passagiere der ersten Klasse kann jetzt beginnen«, sagt die Dame am Schalter.
Ich blinzle, als der Fremde aufsteht und sich den Riemen seiner Reisetasche über die Schulter schwingt. Sein Blick hält den meinen fest, und darin liegt etwas, das ich nicht genau einordnen kann. Ist es eine Herausforderung? Aber was für eine? Er wendet sich ab, und mit einem Schlag bin ich wieder allein.
Alle Passagiere sind in den Flieger eingestiegen, nur ich nicht. Ich bin, abgesehen vom Bodenpersonal, allein am Gate und fühle mich verletzlich und exponiert, da ich mich nicht mehr in einer Menschenmenge verbergen kann. Als ich bereits meine Optionen für diesen Abend durchgehe, falls ich nicht in diesen Flieger einsteigen kann, wird auf einmal mein Name aufgerufen.
»Heute ist Ihr Glückstag, Miss Bensen«, sagt die Frau von vorhin, als ich an den Schalter trete. »Sie wurden in die erste Klasse hochgestuft.«
Ich blinzle überrascht, und das nicht nur, weil es für mich ungewohnt ist, »Miss Bensen« genannt zu werden. »Sind Sie sicher? In die erste Klasse?«
»Ganz genau.«
»Was kostet mich das extra?«, will ich wissen, wobei ich nicht einmal weiß, wie viel Geld ich auf der Kreditkarte, die mir gegeben wurde, zur Verfügung habe. Meine anderen Ersparnisse kann ich nicht anrühren, da man mich so möglicherweise aufspüren könnte.
»Nichts«, versichert sie mir lächelnd und deutet auf mein Ticket. »Ich drucke Ihnen nur schnell Ihre neue Bordkarte aus.«
»Vielen Dank«, sage ich schnell.
Dann husche ich über den Flugsteig zum Flieger, und obwohl ich durchaus erleichtert bin, dass ich noch einen Platz bekommen habe, ist die Erkenntnis, dass ich New York jetzt verlasse, regelrecht niederschmetternd. Alles, was bisher meine Welt bestimmt hat, befindet sich hier, und ich habe mich nicht mehr so hilflos gefühlt seit … sehr langer Zeit.
Ich mag nicht einmal an das denken, was damals passiert ist. Ich denke auch nicht daran, denn sonst kommen die Albträume wieder und die Angst. Jetzt ist der falsche Zeitpunkt, um mich von diesem Schrecken terrorisieren zu lassen. Schließlich habe ich nicht die geringste Ahnung, was die nächsten Tage bringen werden.
»Willkommen an Bord«, begrüßt mich eine Stewardess fröhlich, als ich den Flieger erreiche, und irgendwie gelingt es mir, sie halbherzig anzulächeln, bevor ich zu Reihe sieben gehe, die nur aus zwei Plätzen besteht.
Mein Gangplatz ist leer – obwohl man mir doch erzählt hat, dass das Flugzeug überbucht wäre –, ebenso wie der Platz am Fenster. Meine Hoffnung, dass ich möglicherweise meine Ruhe habe, wird zunichtegemacht, als ich die Tasche sehe, die unter dem Sitz verstaut ist. Ich seufze leise. Eigentlich will ich mich nur hinsetzen und die Augen schließen, bevor mein Sitznachbar zurückkehrt, aber das wird nicht klappen. Erst muss ich mein Gepäck verstauen und mir meine Akte durchlesen.
Achselzuckend lasse ich die übergroße Tasche auf meinen Sitz fallen. Als ich meinen Rollkoffer verstauen will, stelle ich fest, dass das Fach über mir bereits voll ist. Heute sind offenbar alle gegen mich. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und versuche, etwas Platz zu schaffen, um mein Gepäck unterzubringen, und das ist nicht gerade einfach.
»Warten Sie, ich helfe Ihnen.«
Die tiefe, leicht raue Stimme bewirkt, dass ich mich nach links umdrehe, und schon sehe ich in zwei vertraute Augen. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Das kann doch nicht wahr sein! Aber es ist so. Ich komme mir richtiggehend dämlich vor, wie ich dastehe und diesen attraktiven Mann anstarre, und werde vor Scham rot. Der Mann vom Gate überragt meine einen Meter sechzig um fast dreißig Zentimeter, und er steht so dicht vor mir, dass ich jetzt mit Sicherheit weiß, welche Farbe seine Augen haben. Sie sind blau, von einem durchdringenden Aquamarinblau, das fast schon grün aussieht, und sind eindeutig auf mich gerichtet.
»Ich … äh … Vielen Dank.«
»Gern geschehen«, sagt er und verzieht auf eine Art und Weise die Lippen, dass es mich in Kombination mit seinen dunklen Bartstoppeln auf dem markanten Unterkiefer und dem kaum erkennbaren Ziegenbart an einen Piraten erinnert. Die Art von Mann, der einer Frau die Sinne raubt, ihren Körper in Besitz nimmt und sie so durcheinanderbringt, dass sie gerade mal wimmern kann, wenn sie mitansehen muss, wie er wieder verschwindet.
Mr »Groß, Dunkel und potenziell Gefährlich« greift über mich in das Fach, wobei sich sein T-Shirt über seiner perfekten, muskulösen Brust spannt. Ich bleibe wie erstarrt stehen, dabei bin ich doch sonst eigentlich ein Mensch, der anderen ungern nahe kommt. Mir ist klar, dass ich eigentlich zur Seite gehen sollte, aber ich habe offenbar die Kontrolle über meine Beine verloren, nachdem mir in dieser Nacht doch schon mein ganzes Leben abhandengekommen ist.
Er blickt auf mich herab, während er die Gepäckstücke herumschiebt. »Nur diese Tasche?«, will er wissen und sieht mich mit flammendem Blick an. Vielleicht ist er aber auch nur amüsiert. Doch in seinen Augen liegt eindeutig eine Herausforderung, was für einen Mann wie ihn doch irgendwann langweilig werden muss.
Dieser Gedanke reicht aus, um mich einen Schritt nach hinten machen zu lassen, was eventuell etwas zu offensichtlich passiert. »Ja. Vielen Dank.« Er schiebt meinen schmalen Koffer hinein, und die Muskeln an seinem Oberkörper spannen sich auf herrliche Weise an. Ich versuche nicht einmal, den Blick abzuwenden. Indem ich ihn bewundere, gelingt es mir, nicht an die über Hundert anderen Menschen in diesem Flugzeug zu denken, die möglicherweise Ärger bedeuten könnten.
»Fertig«, sagt er dann und deutet auf den Sitz. »Möchten Sie am Fenster sitzen?«
»Was?« Mein Magen zieht sich zusammen, und mir stockt der Atem. »Wir sitzen nebeneinander?«
»Sieht ganz danach aus.« Er sieht mich belustigt an und zieht die Mundwinkel hoch, als er hinzufügt: »Die Welt ist klein.«
Bei der Erinnerung an unseren Blickkontakt am Terminal bekomme ich rote Wangen. »Zu klein«, erwidere ich.
Die Durchsage aus den Lautsprechern bittet uns, unsere Plätze einzunehmen, und verhindert, dass ich noch einen frechen Kommentar abgeben könnte, der mir sowieso nicht eingefallen wäre.
»Letzte Chance«, meint er. »Fensterplatz oder nicht?«
Ich will schon dankend ablehnen, als mir bewusst wird, dass ich am Gang von allen Passagieren hinter mir gesehen werden kann. Der einzige Mensch, der mich mit seinen Blicken verschlingen kann, wenn ich am Fenster sitze, ist dieser Mann. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Ganz und gar nicht.«
»Danke.« Ich nehme meine Tasche und lasse mich auf den Fensterplatz fallen. »Soll ich Ihnen Ihre Sachen rübergeben, die Sie unter den Sitz geschoben haben?«
Er setzt sich neben mich, und ich stelle fest, dass er viel zu groß, breitschultrig und attraktiv ist, um die Damenwelt nicht komplett um den Verstand zu bringen. »Warum stellen Sie Ihre Tasche nicht einfach unter meinen Sitz?«, schlägt er vor.
Sein würziger, maskuliner Geruch steigt mir in die Nase und weckt eine uralte Erinnerung, die ich jedoch schnell wieder verdränge. Dabei ärgere ich mich darüber, dass ich erneut in einem Zustand bin, in dem jede Kleinigkeit einen Flashback auslösen kann. Der heutige Tag hat die Stärke, die ich mir im Verlauf der Jahre mühsam angeeignet habe, komplett verpuffen lassen, und auf einmal bin ich wieder so schwach wie früher.
»Okay«, stimme ich zu. »Aber ich muss noch ein paar Sachen für den Flug rausnehmen.« Rasch hole ich den Ordner und mein Portemonnaie aus der Tasche und reiche sie dem Mann, wobei sich unsere Hände leicht berühren. Sofort rast ein Stromstoß meinen Arm entlang, und ich wende mich rasch ab und schnalle mich an. Vielleicht war es doch nicht so klug, sich hier in die Ecke zu setzen neben einen Mann, bei dem ich meine Reaktionen einfach nicht unter Kontrolle habe.
»Champagner?«
Ich blicke auf und sehe eine hübsche Stewardess, die etwa Mitte zwanzig sein muss und meinen Sitznachbarn mit unverhohlenem Interesse ansieht. Sie erinnert mich an die offene Art, mit der Chloe ihr Leben angeht. Auf einmal fällt mir das Atmen schwer. Ich werde Chloe nie wiedersehen.
»Oh ja, wir hätten sehr gern welchen«, erwidert er, nimmt zwei Gläser entgegen und dreht sich zu mir um, womit die Stewardess abgemeldet ist.
Ich halte eine Hand hoch. »Nein, danke.«
»Sie müssen doch nicht selber fliegen.«
»Alkohol macht mich schläfrig«, protestiere ich, obwohl ich genau weiß, dass ich dank der Nachricht von meinem Schutzengel oder auch Betreuer für sehr lange Zeit Schwierigkeiten beim Einschlafen haben werde.
»Der Flug dauert vier Stunden«, merkt er an. »Da kann das Sandmännchen doch ruhig mal vorbeikommen.«
Das Sandmännchen. Dieser wundervolle, unglaublich maskuline Mann hat gerade das Wort »Sandmännchen« in den Mund genommen, und das erstaunt mich über alle Maßen, da ich das nie erwartet hätte. »Da haben Sie vermutlich recht.« Ich nippe an dem süßen, perlenden Getränk.
In seinen Augen flackert Zufriedenheit, als würde er sich darüber freuen, dass ich tue, was er will. Dann nimmt er mir das Glas ab und stellt unsere Gläser in die Becherhalter, die sich zwischen uns befinden. Die Selbstverständlichkeit, mit der er die Kontrolle über solche Kleinigkeiten übernimmt und das zu genießen scheint, sollte mich eigentlich stören, aber seltsamerweise fasziniert er mich genau deshalb noch mehr.
Er reicht mir eine Hand. »Liam Stone.«
Mein Herz schlägt beim Klang seines merkwürdig verlockenden Namens sowie der Vorstellung, ihn zu berühren, schneller. Ich will ihm schon die Hand schütteln, zögere dann aber kurz, weil ich das komische Gefühl habe, dass sich mein Leben in diesem Augenblick entscheidend ändert. Doch ich schiebe diesen albernen Gedanken beiseite und drücke meine Handfläche gegen seine. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Liam. Ich bin Amy.«
Er legt die Finger um meine Hand, und mir läuft ein warmes Kribbeln den Arm hinauf. »Verraten Sie mir, was ich getan habe, um Sie zum Lächeln zu bringen, damit ich es noch einmal tun kann.« Seine Stimme ist tief und rau und genauso sexy wie der ganze Mann. Ich warte darauf, dass er mich loslässt, aber er scheint die Finger nur fester um meine Hand zu legen und mich gar nicht mehr hergeben zu wollen. Gleichzeitig bin ich schockiert, wie sehr ich – jemand, der Menschen, die er nicht gut kennt, am liebsten auf Abstand hält – mir das wünsche.
»Sandmännchen«, kommt es mir mit Mühe über die Lippen.
Er runzelt die Stirn. »Sandmännchen?«
»Das haben Sie gesagt und mich damit zum Lächeln gebracht. Sie machen auf mich nämlich nicht den Eindruck eines Mannes, der dieses Wort in seinem aktiven Sprachgebrauch verwendet.«
Jetzt zieht er eine Augenbraue hoch und lässt meine Hand noch immer nicht los.
Ich sollte eigentlich protestieren und ihm meine Hand entziehen. Er strahlt Erfahrung und Tiefe aus, genau was ich mir bei einem Mann ersehne, und dennoch bin ich solchen Männern lange Zeit aus dem Weg gegangen. Doch jetzt zerschmelze ich einfach nur auf meinem Platz und weiß ganz genau, dass ich ebenso leicht für ihn dahinschmelzen würde.
»Ist dem so?«, fragt er herausfordernd.
»Oh ja.«
Er sieht mich amüsiert an und lässt – fast schon widerstrebend, wie es scheint – meine Hand los. Vielleicht bilde ich mir das aber auch nur ein, und er hat sie gar nicht so lange festgehalten, wie ich es empfunden habe. So langsam befürchte ich, dass mir der Bezug zur Realität abhandenkommt.
Liam beugt sich zu mir herüber, als wolle er mir ein Geheimnis anvertrauen, und ich wünsche mir, er würde noch näher kommen. »Für was für einen Mann halten Sie mich denn, Amy?«
Für einen, der mit einsamen Frauen flirtet, die nicht einmal mehr ihren eigenen Namen kennen, und der dann verschwindet, um zusammen mit einem Supermodel die Welt zu bereisen, denke ich, aber ich antworte: »Jedenfalls für keinen, der ›Sandmännchen‹ sagt.«
Sein Lachen klingt tief und maskulin, und bei diesem Geräusch wird mir auf einmal ganz warm. Erstaunlicherweise ist es gleichzeitig wie ein Feuer in meinen Adern und Balsam für meine Nerven und beruhigt mich auf unerklärliche Weise, auch wenn mir klar ist, dass er viel zu gut aussieht, viel zu neugierig und viel zu dominant ist, als dass ich mich mit ihm einlassen dürfte. Was nicht heißt, dass ich überhaupt wüsste, wie ich mich mit einem Mann wie ihm einlassen könnte – oder auch irgendeinem anderen. Männer sind seit Langem genau wie Freunde viel zu riskant für mich.
»Warum fliegen Sie nach Denver, Amy?«, will er wissen, und der besänftigende Balsam wird plötzlich zu zersplitterndem Glas in meinem Inneren.
»Entschuldigen Sie«, mischt sich die Stewardess glücklicherweise gerade ein und rettet mich vor einer Antwort, die in der bisher ungelesenen Akte steht. »Möchten Sie jetzt Ihre Essenbestellung aufgeben?«
»Ich nehme das Hühnchen«, erkläre ich.
Liam wirft mir einen erstaunten Blick zu. »Woher wissen Sie, dass es Hühnchen gibt?«
»In Hotels, auf Partys und bei Fluggesellschaften gibt es immer Hühnchen.« In meiner Jugend hatte es eine Zeit gegeben, in der all das mein Leben bestimmt hatte. Ich sehe die Stewardess fragend an, und sie nickt zur Bestätigung.
»Dann nehme ich ebenfalls das Hühnchen«, meint Liam und lacht wieder dunkel und ansteckend. Obwohl mir seine umgängliche Art sympathisch ist, kann ich die Kontrolle, die er über alles und jeden in seiner Nähe ausübt, förmlich spüren.
Ein leises Klingeln hallt durch die Luft, und die Flugbegleiterin sieht uns warnend an. »Wessen Handy das auch immer ist, es muss ebenso wie alle anderen elektronischen Geräte in einer Minute ausgeschaltet sein.«
Sie geht weiter den Gang entlang, und da das Geräusch aus Liams Tasche kommt, beuge ich mich vor, um sie herauszuziehen, wobei der Ordner auf meinem Schoß ins Rutschen gerät. Mir bleibt beinahe das Herz stehen, als er zu Boden fällt, aufgeht und der ganze Inhalt herausfällt. Ich greife danach und stopfe die Papiere so schnell es geht wieder hinein.
»Ihr Lebenslauf, nehme ich an«, sagt Liam, und ich erstarre, als er das Dokument neugierig mustert, das ich selbst noch nicht einmal gelesen habe. Die Vorstellung, dass er mehr über mich weiß als ich, macht mich nervös. Langsam hebe ich den Kopf und stelle fest, dass uns nur wenige Zentimeter voneinander trennen. Seine durchdringenden Augen sehen einfach zu viel. Außerdem empfinde ich bei ihm zu viel. Dabei kenne ich diesen Mann überhaupt nicht und kann ihm auf gar keinen Fall trauen.
Gibt es überhaupt noch einen Menschen auf der Welt, dem ich trauen kann?
»Danke«, murmele ich und nehme ihm das Blatt ruckartiger aus der Hand, als ich es beabsichtigt hatte. Ich zerre seine Tasche unter meinem Sitz hervor. Er zieht den Reißverschluss der Seitentasche auf und holt sein Handy heraus, und ich stelle betreten fest, dass mein Rock sehr weit hochgerutscht ist, als er mir hilft, die Tasche wieder zu verstauen.
Aber er starrt meine Beine nicht an. Ich kann spüren, wie mir bei seinem Blick das Blut in die Wangen steigt. Er weiß garantiert, wie unangenehm mir das ist. Er scheint auch zu merken, dass es mir im Moment nicht besonders gut geht. Ich habe das Gefühl, als würde ich in der Falle sitzen. Ich bin gefangen mit diesem Mann und gefangen in einem Leben, das nicht das meine ist.
Ich zerre an meinem Rock und setze mich gerade hin, und er richtet sich ebenfalls auf und starrt auf sein Handy. Ich nutze den Umstand, dass er abgelenkt ist, drehe mich zum Fenster um und wende ihm den Rücken zu. Vielleicht denkt er jetzt, ich würde ihm etwas Privatsphäre gönnen, damit er seinen Anruf machen kann. Oder er hält mich für unhöflich. Aber das ist mir egal. Ich klappe den Ordner auf, nehme den Lebenslauf heraus, den er bereits gesehen hat, und fange an zu lesen. Amy Bensen ist, oder vielmehr war, Privatsekretärin eines Geschäftsführers, dessen Namen ich mir schnell einpräge. Sie hat diesen Job direkt nach ihrem Collegeabschluss vor drei Jahren bekommen, aber als er in den Ruhestand gegangen ist, wurde sie entlassen.
Aus der Zusammenfassung, die daran geheftet ist, erfahre ich mehr über meine Hintergrundgeschichte, und ich lese weiter, während Liam am Telefon über irgendeine Besprechung redet. Aus den Lautsprechern dringt die Durchsage über elektronische Geräte, und ich lese schnell weiter.
Amy Bensen hat einen Dreimonatsjob angenommen, bei dem sie die persönlichen Angelegenheiten eines Geschäftsmannes regeln soll, der ein Freund ihres Exbosses ist und während dieser Zeit im Ausland weilen wird. Ihr neuer Chef stellt ihr eine Wohnung in der Nähe seines Hauses zur Verfügung, das leer steht und im Auge behalten werden soll.
Auf der Seite steht noch ein Kommentar, der fett gedruckt und unterstrichen ist: Sie dürfen sich erst zur Arbeit melden, nachdem ich Sie kontaktiert habe, um Ihnen zu sagen, dass es sicher ist. Tun Sie nichts, um Aufmerksamkeit zu erregen.
Ich hole tief Luft und kann kaum noch ausatmen. Dass es sicher ist? Was hat das denn wieder zu bedeuten? Wer ist hinter mir her? Wissen diejenigen oder die Person, dass ich in New York gewesen bin? Können sie herausfinden, wohin ich gegangen bin? Und warum, warum, warum habe ich die ganze Zeit so getan, als würde diese Gefahr überhaupt nicht existieren, bis ich erneut gezwungen wurde, mich zu verstecken?
Das Flugzeug setzt sich in Bewegung, und ich zucke zusammen. Rasch werfe ich einen Blick über die Schulter, um mich zu vergewissern, dass Liam nichts mitbekommen hat, sondern sich weiterhin mit seinem Handy beschäftigt. Er hat schon jetzt angefangen, mir Fragen zu stellen, und wird bestimmt nicht damit aufhören, daher muss ich vorbereitet sein.
Ich gehe den Ordner durch und finde ein Blatt mit meiner neuen Familiengeschichte. Meine Mutter ist vor vier Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und mein Vater war Alkoholiker und hat uns verlassen, als ich noch ein kleines Kind war. Ich habe keine Geschwister. Mir wird übel, und ich klappe den Ordner schnell zu. Während ich Liam weiterhin den Rücken zuwende, lehne ich mich an und schließe die Augen.
Ich habe meine Mutter bewundert und meinen großen Bruder verehrt. Mein Vater hätte mich nie freiwillig verlassen. Ich hatte eine Familie, die mehr war als eine vollgetippte Seite in einem Ordner. Aber jetzt habe ich nichts mehr außer einem falschen Namen und einem falschen Leben.
Wir haben unsere Flughöhe erreicht, und das leise Summen der Motoren lullt mich bei meinen Gedankengängen ein, sodass ich an Dinge denke, an die ich lieber nicht denken sollte. Blitzartig sehe ich das Tattoo auf dem Handgelenk meines Beschützers vor mir. Im nächsten Augenblick wird es auch schon von Flammen ersetzt. Plötzlich schwebe ich in einer Wolke aus dichtem Rauch und versuche zu entkommen, doch es gelingt mir nicht. Ich kann nicht schreien, obwohl ich es versuche. Aber sie schreien. Oh Gott. Oh Gott. Ich muss zu ihnen. Grelles Licht dringt plötzlich durch den Nebel, und ich richte mich auf, umklammere meine Kehle und ringe nach Luft, während ich noch spüre, wie der Rauch in meiner Lunge brennt.
»Ganz ruhig. Sie sind in Sicherheit.«
Ich nehme die Stimme kaum wahr. Ich kann mich nicht konzentrieren und lege die Hände an die Wangen. »Wo bin ich?«
»Amy.«
Starke Hände berühren mich, drehen mich um, und ich blicke in zwei blaue Augen, die mich durchdringend ansehen. Auf einmal erinnere ich mich wieder. »Liam?«
»Genau. Liam. Das muss aber ein schlimmer Albtraum gewesen sein.«
Ein Albtraum? Ich bin eingeschlafen? »Nein, ich …« Bilder flackern vor meinem inneren Auge auf, und ich kneife die Augen zu und versuche, meine Angst, den Rauch und die schrecklichen Schreie auszusperren. Ich krümme die Finger in einen Stoff, bei dem es sich nur um Liams T-Shirt handeln kann, und auf irgendeiner Bewusstseinsebene begreife ich, dass ich mich gerade an einen Mann klammere, den ich kaum kenne. Aber er ist alles, was ich habe. Er ist alles, was mich vor dem Zusammenbruch bewahrt.
»Amy«, flüstert Liam und streicht mir mit einer Hand über das Haar.
Mir schießt durch den Kopf, wie unangemessen es ist, dass er mich so berührt. Dennoch ist es genau das, was ich brauche – genauso wie er. Ich rede mir ein, dass er einfach zu einem völlig falschen Augenblick am richtigen Ort ist – aber das ändert nichts an meiner Reaktion auf seine Berührung und auf seine Körperwärme, die ich dort spüre, wo meine Handflächen auf seiner Brust liegen. Ohne mich bewusst dafür zu entscheiden, lehne ich mich an ihn und öffne die Augen. Als sich unsere Blicke treffen, entsteht sofort eine Verbindung, und Adrenalin rauscht durch meine Adern. Jetzt bin ich nicht mehr in der Hölle, die in meinem Kopf existiert, sondern hier bei diesem Mann, der keinen Platz für etwas anderes lässt.
»Geht es ihr gut?«
Ich zucke zurück, als ich die Stimme der Stewardess höre, und Liam lässt die Hände sinken, woraufhin mir seltsamerweise kalt wird. »Ob es mir gut geht?«, wiederhole ich die Frage und wüsste zu gern, was ich getan habe, um die Frau in Sorge zu versetzen.
»Sie mag es nicht, wenn ich über Sport rede«, witzelt Liam und versucht anscheinend, mir so eine weitere Erklärung zu ersparen … Ja, worüber eigentlich? Was habe ich denn getan?
»Ich drehe durch, wenn ich mir ständig Geschichten über Basketball anhören muss«, füge ich hinzu und versuche, seinen Faden aufzunehmen, den er mir gnädigerweise hingeworfen hat. Allerdings befürchte ich, dass ich nicht besonders überzeugend, sondern eher verwirrt klinge.
»Aber die Basketballsaison ist doch schon vorbei«, merkt sie an und klingt irritiert.
»Seit wann hält das einen Basketballfan davon ab, uns mit seinem Gerede auf die Nerven zu gehen?«, erwidere ich und ernte einen todernsten Blick, sodass ich lieber schnell das Thema wechsle. »Es geht mir jedenfalls gut. Entschuldigen Sie, wenn es anders geklungen hat.«
Sie runzelt die Stirn und sieht Liam ärgerlich an, und alle Anzeichen der Bewunderung, die zuvor noch für ihn da waren, sind verschwunden. »Sie sieht aber nicht so aus.« Wieder schaut sie mich an. »Sie haben geschrien und uns allen einen Schreck eingejagt.«
Ich habe geschrien? Na super. Ich wollte doch keine Aufmerksamkeit erregen! »Ich habe ein Grippemittel genommen«, erläutere ich und versuche, überzeugend zu klingen. »Davon werde ich immer schnell müde und bekomme Albträume.«
Ihre Miene wird sanfter. »Wow, das Mittel hat aber schnell gewirkt. Wir sind gerade mal fünfzehn Minuten in der Luft, und Sie haben schon tief und fest geschlafen.«
Das ist völlig untypisch für mich. Insbesondere wenn ich mich bedroht fühle. »Entschuldigen Sie vielmals, dass ich Sie erschreckt habe«, sagte ich und versuche mich an einem Lächeln, was mir jedoch nicht gelingt. »Ich verspreche Ihnen, dass ich den restlichen Flug über wach bleiben werde.«
»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen.« Sie grinst mich an. »Aber vielleicht sollten Sie uns lieber warnen, bevor Sie einschlafen. Das Essen wird in fünf Minuten serviert«, fügt sie noch hinzu und geht dann davon.
»Ein Grippemittel?«, fragt Liam leise, und ich wende mich wieder ihm zu.
»Meine Ohren knacken immer so, wenn ich fliege.« Die Lüge fällt mir nicht schwer, und ich bin wieder die Person, die ich so sehr hasse. »Und wenn Sie nicht gestehen wollen, dass Sie mich unter Drogen gesetzt haben, dann ist das nun mal meine Geschichte, bei der ich auch bleibe.«
Er mustert mich etwas zu gründlich, und bei dem Blick wird mir schon wieder ganz warm, und ich wünsche mir, er würde mich berühren. »Wovor haben Sie Angst, Amy?«
Vor Ihnen, hätte ich am liebsten geantwortet. Sie bringen mich dazu, mir zu wünschen, dass ich Ihnen vertrauen könnte. Aber ich lache nur, und selbst das klingt gezwungen. »Vor Godzilla.« Vor diesem erfundenen Monster habe ich mich als Kind gefürchtet, bis mir das Leben gezeigt hat, dass es auch echte Monster gibt.
Falls ich damit gerechnet habe, dass er lachen würde, werde ich nicht belohnt. »Vor Godzilla?«, wiederholt er und setzt sich etwas anders hin, sodass man uns vom Gang aus nicht mehr beobachten kann und er mich förmlich in die Ecke drängt.