Vanda Duarte, wie sie Drogen nimmt und starke Hustenanfälle hat, während hinter ihr das warme Grün der gestrichenen Wände leuchtet; junge Männer, die in einem Abrisshaus mit ein paar Möbeln vom Sperrmüll das Zusammenleben improvisieren, die Gespräche kreisen um die Nadeln der Spritzen, die nicht sauber sind, und darum, wo sie ihre nächste Bleibe finden könnten; Ventura, ein älterer kapverdischer Einwanderer, dessen Hände wegen einer Krankheit zittern und der mit seinen Erinnerungen kämpft. Für Jacques Rancière, einen der wichtigsten zeitgenössischen politischen Philosophen, zeichnet sich die Arbeit Pedro Costas durch eine Spannung »zwischen der Kulisse eines miserablen Lebens« und »den in ihr verborgenen ästhetischen Möglichkeiten« aus, seine Filme konfrontierten dabei die Körper »mit dem, was sie vermögen«.1 Costas Kino kippt nie in Miserabilismus um, bleibt politisch stets auf der Höhe der Zeit, sowohl gegenüber seinen filmischen Subjekten als auch im Verhältnis zum Zuschauer.
Pedro Costa wurde erwachsen in den Jahren unmittelbar nach der Nelkenrevolution – in jenen Jahren, als Portugal für viele Ausdruck der Hoffnung auf eine bessere Welt und eine gerechtere Gesellschaft war. In gewisser Weise setzt sein Kino diesen Anspruch fort – dass Filme dazu beitragen können, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, indem sie den Zuschauer zum Sehen anleiten. Und zwar nicht in einem offen didaktischen Akt, der sie zum Handeln auffordert, sondern indem etwas gezeigt wird, etwas offengelegt wird, das die Welt ebenso wie das Subjekt betrifft. Der Beitrag von Paulo Cunha und Daniel Ribas situiert Costa in diesem kulturhistorischen und politischen Spannungsfeld, verdeutlicht auch, wie stark er innerhalb einer spezifisch portugiesischen Filmkultur zu Hause ist.
Costas Filme lassen sich einer ganzen Reihe von Bewegungen und Tendenzen zuordnen, doch würde man Costa damit in gewisser Weise auch verkennen: Seine frühen Filme lassen sich im Kontext anderer aufstrebender europäischer Filmemacher der 1980er Jahre sehen wie Aki Kaurismäki, Mike Leigh oder Ken Loach, aber auch António Reis und Margarida Cordeiro sowie Jean-Marie Straub und Danièle Huillet (siehe den Text von Ilka Brombach). Der Übergang von OSSOS (BONES, 1997) zu NO QUARTO DA VANDA (IN VANDA’S ROOM, 2000) ist ein radikalerer Bruch, als ihn der vermeintliche Übergang vom europäischen Kunstkino einer Bresson’schen Prägung zu neuen dokumentarischen Mischformen, wie sie etwa in Asien von Wang Bing, Jia Zhangke, Tsai Ming-liang, [3|4]Lisandro Alonso bis hin zu Hou Hsiao-Hsien praktiziert werden, beschreibt. Mit Apichatpong Weerasethakul hat er zudem das Wandeln zwischen der Kunst- und der Filmwelt gemeinsam, wie sich an einer Vielzahl von Ausstellungen in den letzten Jahren zeigt (siehe Filmografie und ausgewählte Ausstellungen). Zu radikal bricht Costa mit den tradierten und herkömmlichen Herstellungsformen, die sich auch im politisch engagierten Kino eingebürgert haben. Auch der Vergleich mit dem Contemporary Contemplative Cinema oder dem Slow Cinema als einer neuen globalen Variante des Realismus (Carlos Reygadas, Brillante Mendoza, Nuri Bilge Ceylan, Albert Serra, Béla Tarr, Berliner Schule), von dem man immer wieder lesen kann, gibt nur unzureichend wieder, worin Costas Radikalität besteht, nämlich in einer gänzlich anderen Herstellungs- und Repräsentationsform (siehe die Beiträge von Tina Kaiser und Ulrich Köhler). Eher bewegt er sich zwischen traditionellen bilddokumentarischen Formen (Jacob Riis, Walker Evans, Robert Frank),2 einer ästhetisch geprägten Schule des politischen Aktivismus und bestimmten Momenten aus der Filmgeschichte. Volker Pantenburgs detaillierte Untersuchung von Costas zweitem Film, CASA DE LAVA (1994) macht deutlich, dass sich diese ästhetische Entwicklung schon seit Anfang seiner Karriere abzeichnet. Annika Weinthal wiederum betont eine spezielle Geste des Widerstands, ausgehend von JUVENTUDE EM MARCHA (COLOSSAL YOUTH, 2006). Eine interessante Verbindungslinie zwischen Aby Warburgs Konzept des Nachlebens und Costas filmischen Kräfteverhältnissen stellt Daniel Eschkötter her.
Filmhistorisch sind dabei keineswegs nur Antonioni und Bresson, die heute immer wieder als zentrale Einflüsse in ästhetisch ganz unterschiedlich gelagerten Filmen aufscheinen, zu nennen, sondern ebenso die dokumentarische Langzeitbeobachtung, die japanischen Großmeister (allen voran Ozu und Mizoguchi) sowie einige Klassiker des US-Kinos (John Ford, Jacques Tourneur). Das macht auch Costas eigener Text deutlich, der auf einer Masterclass an einer japanischen Filmhochschule beruht.
Dank gebührt Pedro Costa, Adrian Martin, Girish Shambu.
Malte Hagener und Tina Kaiser |
September 2015 |
1 Jacques Rancière, »Die Paradoxa der politischen Kunst«, in: Der emanzipierte Zuschauer, hg. von Jacques Rancière, Wien 2009, S. 63–99, hier S. 96. — 2 Michael Guarneri, »Documentary, Realism and Life on the Margins. Interview with Pedro Costa«, in: Bomb Magazine, 16.7.2015, http://bombmagazine.org/article/5506714/pedro-costa (letzter Zugriff am 8.9.2015).
[24|25] Ilka Brombach
Auf den Versuch, den Gegenstand seiner Filme zu benennen, wie er bei jedem Q&A und jedem Interview unternommen wird, reagierte Pedro Costa einmal mit dem Satz »Ich mache keine Filme über Arme«1, um anschließend ausführlich über seine Arbeitsweise zu sprechen: Die Filme seien das Ergebnis einer kollektiven Arbeit, an der Bewohner des Viertels Fontainhas, einem (mittlerweile abgerissenen) Slum am Rande von Lissabon, und das Filmteam beteiligt sind. Zum Team gehören außer Costa maximal ein bis zwei Mitarbeiter; das Equipment besteht aus einer DV-Kamera; das Budget wird unter den Mitwirkenden geteilt. Ob man seine Filme noch als Kunst bezeichnen könne, wisse er nicht.
Costa hat mehrere Lang- und Kurzfilme über Fontainhas gedreht, die von den kapverdischen Einwanderern und portugiesischen Familien, die dort leben, handeln – CASA DE LAVA (1994), OSSOS (BONES, 1997), NO QUARTO DA VANDA (IN VANDA’S ROOM, 2000), JUVENTUDE EM MARCHA (COLOSSAL YOUTH, 2006), CAVALO DINHEIRO (HORSE MONEY, 2014) und THE RABBIT HUNTERS (2007), TARRAFAL (2007), O NOSSO HOMEM (OUR MAN, 2010). Außerdem gibt es von ihm zwei Filme über das Filmemacherpaar Straub/Huillet, einen Film über die Sängerin Jeanne Balibar sowie den frühen, cinephilen Film O SANGUE (BLOOD, 1989).
Bedenkt man die Themen seiner Filme, so sind Costas zögerliche Antworten auf die gestellten Fragen wohl vor allem ein Ausdruck dafür, dass seine Filme in höchstem Maße problematisieren, was die Fragen als scheinbar einfache Begrifflichkeiten – der Kunst, des Kinos und des Elends – behandeln wollen.
Der Prolog seines jüngsten Films CAVALO DINHEIRO ist dafür ein eindrückliches Beispiel: Er beginnt mit einer Bildstrecke, jedes Bild lang genug gehalten, damit man es genau betrachten kann, dazu kein Ton, besser: Stille, die der Wirkung Raum gibt. Was man sieht, sind Fotografien von Jakob A. Riis (1849–1914), dem Begründer der sozialdokumentarischen Fotografie, der die Elendsquartiere New Yorks um 1900 abgelichtet hat: An All-Night Two-Cent-Restaurant – Männer, die gedrängt um die schäbigen Kneipentische im Sitzen schlafen. A Downtown »Morgue« – ein Tresen, an dem Männer in schmutziger Kleidung stehen, darunter ein Schwarzer, noch schäbiger gekleidet als der Rest. Weitere Bilder von [25|26]Schlafenden in öffentlichen Nachtquartieren; Straßenszenen; Polizisten, die einen Toten auf einer Bahre forttragen, sowie das berühmte Bandits’ Roost mit seinem Blick hinein in die Mulberry Street und der Atmosphäre von Armut und Kriminalität.
Die rohe, dokumentarische Qualität der Fotografien kontrastiert mit einem gemalten Porträt,2 das an die Bildstrecke anschließt. Es hängt an einer mit Stoff bezogenen Wand in einem dunklen Rahmen und zeigt einen jungen schwarzen Mann in weißem Hemd mit nachdenklichem Blick. Das Gemälde ist nicht sehr kunstfertig, Rahmen und Wand abgenutzt und von einfacher Machart. Ob man hier, im gemalten Bild und im filmischen Tableau, den Ausschnitt eines armen, aber (im Vergleich zu den Szenen bei Riis) besseren Lebens sieht, oder dasselbe Elend in einem anderen Darstellungsmodus – einem Modus der Kunst oder der Alltagskunst, in den diejenige Sicht eingegangen sein mag, die die Dargestellten von sich selbst haben –, bleibt offen.
Jacob A. Riis, A Black-and-Tan Dive in »Africa« Broome Street (1890)
Im Anschluss erst beginnt der eigentliche Film, in dem wir der Figur des kapverdischen Einwanderers Ventura wiederbegegnen, die wir bereits aus drei vorherigen Filmen kennen. Wir sehen ihn nackt, wie er die Treppe in dunkle Katakomben hinuntersteigt. Der rohe Stein und das [26|27]Fehlen der Kleidung lässt zunächst an die Riis’schen Fotografien denken. Als jedoch die Tür, an die er gelangt, sich als Eingang zu einer Klinik erweist, von einem Pfleger geöffnet und in graue Flure führend, erhält die Sequenz in den Katakomben nachträglich einen anderen Charakter – statt dem eines Dokuments den der Vision eines Verrückten. Oder auch den Charakter eines kunstvollen Bildes vom Elend des nunmehr kranken Ventura – und zwar in der Form einer mythenähnlichen Erzählung von der Unterwelt und den Verdammten, die dort leben.
Die Fotografien von Riis und das gemalte Porträt sowie das Spiel mit den Darstellungsmodi in der nachfolgenden Sequenz stellen eine Anordnung her, die das Verhältnis zwischen den Formen der Darstellung und ihrem Gegenstand als ein künstlerisches Problem hervortreten lassen. In dem oben genannten Interview formuliert Costa in einem ähnlichen Zusammenhang, er habe seinen Weg als Filmemacher in Bezug auf bestimmte Aspekte des Kinos zu finden versucht, die in einem Ausspruch von Fritz Lang zusammengefasst seien: Das Kino sei eine populäre Kunst und als solche eine Kunst über das Volk, aber auch von und für das Volk.3 Für CAVALO DINHEIRO könnte man daran anschließen und folgern, der Film lote aus – indem er den Fragen des Filmanfangs folgt –, wie er über die Einwanderer in Lissabon sprechen, wie er dabei ihre eigenen Erzählungen wiedergeben und außerdem eine Geschichte für sie erzählen kann.
Im Folgenden sollen die formalen Fragen, die der Beginn von CAVALO DINHEIRO in Szene setzt und die Costa auch in seinen anderen Filmen beschäftigt haben, unter anderem im Zusammenhang mit der Rezeption Costas durch den Philosophen Jacques Rancière beschrieben werden.
Auch wenn man Pedro Costa bislang eher als Ausnahmeerscheinung des Kinos wahrgenommen hat, vor allem deshalb, weil seine Arbeitsweise, über Monate mit seinen Protagonisten zusammenzuleben bzw. zu arbeiten, aber auch die Qualität seiner Filme – mit ihrer Verbindung von hochästhetischer Bildergestaltung und engagiertem Thema – ungewöhnlich ist, kann man Costa doch mindestens mit zwei (bzw. vier) anderen Filmemachern in engere Beziehung setzen, die allerdings der vorhergehenden Generation des Autorenfilms angehören, nämlich mit Jean-Marie Straub und Danièle Huillet sowie mit António Reis und Margarida Cordeiro.
[27|28]António Reis, einer der wichtigsten Autoren des portugiesischen Novo Cinema, gehörte in den 1980er Jahren zu Costas Lehrern an der Film- und Theaterhochschule von Lissabon. Mit Reis und Cordeiro verbindet Costa in erster Linie die spezifische, am besten vielleicht als ethnografisch zu bezeichnende Arbeitsweise. In ihrem bekanntesten Film, TRÁSOS-MONTES (1976), hatten Reis und Cordeiro das Alltagsleben der Bevölkerung in der verarmten portugiesischen Region von Trás-os-Montes in einer Mischung aus dokumentarischer und poetisch-künstlerischer Erzählung beschrieben und waren während des Drehs viele Monate durch die Region gereist, um den Alltag der Bevölkerung zu studieren.
Die Nähe zu Straub und Huillet wiederum hat Costa durch zwei Filme über das Paar quasi selbst belegt. Hier sind es die reduzierten Bildkompositionen, die denen von Costa ähneln, die Originalschauplätze, denen die Kadrage ein Maß an Abstraktion abgewinnt, indem sie auf ein einzelnes Fenster oder den Kontrast von Licht und Schatten fokussiert, sowie der Umgang mit den Darstellern, an denen die Regie eine bestimmte Körperhaltung oder einen Tonfall herausarbeitet.
Reis/Cordeiro und Straub/Huillet stehen für ein engagiertes Autorenkino der 1960er/70er Jahre und haben, so könnte man interpretieren, jeweils eine eigene Idee von einem Kino des Volkes entworfen, die Costa weiterentwickelt hat. Wollte man diese Bezüge im Einzelnen untersuchen, so wären auch, und vielleicht in erster Linie, die Differenzen interessant, die Costa von den Filmemachern der älteren Generation trennen. Sie liegen vermutlich dort, wo etwa das engagierte Kino von Reis/Cordeiro noch daran glaubt, es könne ohne Umstände zum Medium einer kollektiven Erzählung werden, in der die verarmte portugiesische Region den Reichtum und das Wissen ihrer Tradition kommuniziert. Dagegen scheinen Costas Filme eher die Frage zu stellen, ob es eine kollektive Erzählung derjenigen geben kann, deren Sorge um das Überleben kaum Raum für das Zusammenleben lässt. Und wenn es sie gibt, mit welchen Mitteln der Film von den geringen Mitteln erzählen soll, oder wie die gemeinsame Erzählung von der unzulänglichen Gemeinschaftlichkeit zu formulieren wäre. Im Fall von Straub/Huillet könnte man die Differenzen vermutlich dort aufzeigen, wo es um das Problem der Selbstbestimmung bzw. der politischen Widerständigkeit des einfachen Volkes geht. Während Straub/Huillet in den Gesten und Haltungen ihrer Darsteller eben jenen Moment der Widerständigkeit sichtbar machen, handeln Costas Filme von denen, die weder politisch für ihre Rechte eintreten noch überhaupt ein erkennbar selbstbestimmtes Leben führen. Auf welche Weise, so scheinen Costas Filme hier die Darstellung selbst zu problema[28|29]tisieren, kann ein Film von Selbstbestimmung erzählen, wenn diese in höchstem Maße eingeschränkt ist?
Die Differenzen zwischen den genannten Autoren und Costa illustrieren, was für die Entwicklung des europäischen Autorenfilms insgesamt charakteristisch ist. Während die Generation der 1960er und 1970er Jahre ihre Filme als Teil der damaligen politischen Bewegung erlebte und daraus mit großer Selbstverständlichkeit die politische Dimension ihrer Kunst ableiten und behaupten konnte, geht den Regisseuren der jüngeren Generation, zu der auch Costa gehört, eben diese Selbstverständlichkeit ab. Den Beginn ihrer Laufbahn in den 1980er und 1990er Jahren markierte die sogenannte Krise des Autorenfilms, die von einer filmkritischen Debatte geprägt war, in der Kritiker das Scheitern der Kunstutopien wie aller linker Utopien kommentierten oder melancholisch auf die Filme der 1960er/70er Jahre zurückschauten.
Die künstlerische Position und die Form des Engagements, die Costas Filme in Anschluss und in Distanz zu den älteren Filmen entwickelt haben, ist, denke ich, eng mit der Idee einer gemeinsamen Arbeit bzw. des gemeinschaftlichen Filmemachens verbunden, die Costa in Interviews (wie dem oben erwähnten) hervorhebt. Sie bildet mittlerweile so etwas wie das Leitmotiv seiner Selbstaussagen zum eigenen künstlerischen Werdegang.4
Der erste Langfilm, O SANGUE, der sich hinsichtlich des Stoffes und der Formen im Reservoir der Filmgeschichte bedient, stellt für Costa im Nachhinein einen unbefriedigenden Versuch dar. Ein selbstbezügliches Kunstkino, dem er im Anschluss den Rücken kehrte. Erst mit seinem zweiten Film, CASA DE LAVA, beginnt, aus der Perspektive Costas, die eigentliche filmische Entwicklung. Sie beginnt unter anderem damit, dass er auf den Kapverden drehte und ihm die Leute vor Ort Briefe für ihre Verwandten in Lissabon mitgaben. Über die Briefe, die er zu übergeben hatte, lernte er das Einwandererviertel Fontainhas in Lissabon kennen, wo er dann seinen nächsten Film, OSSOS, mit jugendlichen Bewohnern des Viertels drehte. Die Dreharbeiten mit dem entsprechenden Filmteam, der Aufnahmetechnik, den Scheinwerfern hätten, so Costa, Unmut bei den Bewohnern erzeugt. Zudem hätte die Geschichte des Films eine seiner Darstellerinnen, Vanda Duarte, zu dem Vorschlag veranlasst, doch besser einmal ihr wirkliches Leben zu filmen als eine [29|30]konstruierte Fiktion darüber. Costas nächster Film, NO QUARTO DA VANDA, realisiert – indem er fast zwei Jahre täglich zu Vanda und ihrer Schwester Zita mit einer DV-Kamera fuhr – eben diesen Vorschlag; mit ihm, so Costa, habe er seine Arbeitsweise und seine Filmsprache gefunden. Mit den Filmen, die Costa anschließend drehte, setzt er diese Arbeitsweise mit verschiedenen Bewohnern des Viertels fort.
Das Element, das in Costas Erzählung vom eigenen Werdegang leitmotivisch wiederkehrt, ist das des direkten Anteils, den die Leute, mit denen er dreht, an seinen Filmen haben. Die Briefe, die Kritik, die Vorschläge bestimmen die Entwicklung seines Werks mit. Und dieses mündet ab NO QUARTO DA VANDA in einer bestimmten Arbeitsweise – der bewussten und sehr expliziten gemeinsamen Arbeit von Filmteam und Darstellern an dem jeweiligen Film. Allerdings, und dies gilt es im Folgenden genauer zu beschreiben, wird aus dieser Arbeit zu keinem Zeitpunkt eine Art Sozialprojekt und die Filme niemals zu so etwas wie Laienkunst. Stattdessen, so würde ich formulieren, geben sich die Filme einerseits in einem ganz klassischen Sinn als Kunst zu verstehen – als nuancierte und komplex konstruierte Kompositionen aus Farben, Formen, Tönen und Motiven –, um aber andererseits gerade eine in diesem Sinne verstandene Kunst als Medium gemeinsamen Tuns, gemeinsamen Ausdrucks zu verwenden.
Diese Idee einer engagierten Kunst als einer Kunst der gemeinsamen Arbeit an Bildern und Erzählungen wäre, aus meiner Sicht, auch Costas Antwort auf die Filme der älteren Autorengeneration, nicht zuletzt auf Reis/Cordeiro und Straub/Huillet. Auf Reis und Cordeiro, insofern diese wegen der Reaktion der Bevölkerung von Trás-os-Montes auf ihren fertigen Film enttäuscht waren.5 Die Regisseure hatten die Traditionen, die in dieser Region gepflegt wurden, als Quelle der Widerständigkeit beschrieben und die alte Kultur in poetischen Szenen wiederaufleben lassen. Die Bewohner hatten jedoch eben daran Kritik geübt, dass sie solchermaßen in Gegensatz zu Moderne und Gegenwart inszeniert worden waren. Ein Austausch über die Art der Darstellung hatte, kurz gesagt, bei Reis und Cordeiro erst nach der Aufführung stattgefunden, aber auf den Film selbst keinen Einfluss gehabt. Ebenso kann man Costas Idee einer gemeinsamen Arbeit auch als Antwort auf den Ansatz von Straub und Huillet verstehen. Die Vorstellung von politischer Veränderung und der Rolle des Volkes, die dort der Arbeit an den Gesten und Worten zugrunde lag, scheint im Rückblick und in Anbetracht der tatsächlichen bzw. der ausgebliebenen Veränderung ebenfalls die Weiterentwicklung des Ansatzes notwendig gemacht zu haben.
Dass Costas Filme eine intensive Rezeption durch den französischen Philosophen Jacques Rancière erfahren haben – Rancière hat mehrere Aufsätze über Costas Filme geschrieben und sich außerdem in zentralen Texten zum eigenen Kunstbegriff wiederholt zu Costa geäußert6 –, liegt in vergleichbaren Ansichten hinsichtlich einer kritischen Rezeption der Ideen von 1968 begründet, wie ich sie eben an Costas Verhältnis zu Straub und Reis skizziert habe.
Rancières Beschreibung seines Werdegangs, ein kleines Indiz für das gerade Gesagte, beginnt ebenfalls mit der Erzählung von einer Begegnung mit denjenigen, von denen – in diesem Fall – die Theorie (und nicht die Kunst) handelt. Als Intellektueller und Vertreter seiner Generation, so Rancière in Der emanzipierte Zuschauer,7 habe er sich anfangs zwei entgegengesetzten politischen Ansprüchen verpflichtet gefühlt, die letztlich aber für die oft »missglückten Begegnungen zwischen den Arbeitern und Intellektuellen«8 verantwortlich gewesen seien – dem Anspruch, dass diejenigen, die das Gesellschaftssystem verstehen, die, die von ihm benachteiligt werden, zur Veränderung desselben anleiten sollten. Und dem anderen, dass im Gegenteil die Intellektuellen zuerst einmal von den Benachteiligten lernen müssten, was denn Unterdrückung und Widerstand in Wirklichkeit sind. Die Briefe von Arbeitern aus den 1830er Jahren, die er in diesem Zusammenhang studieren wollte, lehrten ihn, so Rancière, dann aber etwas anderes. Die Arbeiter sprachen darin von ihren Freizeitaktivitäten, von ihrer Muße, von zufälligen Bekanntschaften und Beobachtungen. Anstelle eines sogenannten spezifischen Charakters des Bewusstseins der Arbeiter kamen darin ihre Fähigkeiten zum Ausdruck, die gerade nicht ihrer Klasse zuzuordnen waren, die sie stattdessen jedem gleich machten. Auch sie waren, so Rancières Schluss, »Zuschauer und Besucher inmitten ihrer eigenen Klasse«,9 sie waren »Intellektuelle, wie jeder einer ist«10. Diese Einsicht theoretisch deuten zu wollen, erzählt Rancière als den Beginn seiner philosophischen Arbeit.
Weder die Position Rancières noch die Costas sind jedoch mit denjenigen zu verwechseln, die im Anschluss an Aussprüche wie dem, jeder Mensch sei ein Künstler, jede gesellschaftliche Tätigkeit als Kunst deuten oder aber den Vertretern von Randgruppen Kameras, Farben oder ähnliches [31|32]in die Hand geben. Rancières Beschäftigung mit Costas Filmen zielt auf die Konturierung einer Auffassung von Kunst, die nicht die Differenz zum Leben bzw. zur Politik einebnet und trotzdem die Idee der Gleichheit und Ähnlichkeit zwischen der Kunst und denjenigen aufrechterhält, die unter den Folgen gesellschaftlicher Ungleichbehandlung leiden.
So untersucht Rancière, wie Costa in NO QUARTO DA VANDA mit der Beziehung zwischen der dokumentierten Wirklichkeit von Vanda, Zita und anderen Jugendlichen, die Costa in ihre Häuser bzw. notdürftigen Unterkünfte eingelassen haben, um ihm ihr Leben zu zeigen, und dem Kunstcharakter des Films verfährt. Die Besonderheit des Films liegt für Rancière zunächst darin, wie er die Szenen im Inneren der Räume, ohne etwas daran zu verändern, durch Bildausschnitt, Lichtführung und Kameraperspektive Bildern der flämischen Malerei ähneln lässt.11 So sieht man etwa Vanda am Morgen, wie sie Drogen nimmt und starke Hustenanfälle hat, während hinter ihr das warme Grün der gestrichenen Wände leuchtet. Oder man sieht die jungen Männer, wie sie in einem Abrisshaus das Zusammenleben improvisieren, mit ein paar Möbeln vom Sperrmüll, die Gespräche kreisen um die Nadeln der Spritzen, die nicht sauber sind, und darum, wo sie ihre nächste Bleibe finden könnten. Dabei verharrt die Kamera auf einem der Männer, als er geduldig die Platte eines Tisches säubert, obwohl dieser schon am nächsten Tag den Baggern zum Opfer fallen kann und auf der ansonsten noch eine Plastikflasche und das Drogenbesteck liegen. Ein Stillleben entsteht auf diese Weise, ähnlich den flämischen Stillleben mit einfachen Rauchutensilien oder anderen Alltagsgegenständen. Die vergeblich scheinende Tätigkeit des Mannes, ebenso wie die Vandas und Zitas in einer anderen Szene, in der sie mühsam Wolle auf ein Knäuel wickeln, werden aufgrund der Bildgestaltung mit den Tätigkeiten des selbstbewussten flämischen Bürgertums in Verbindung gebracht, dem Briefelesen und Musizieren, sodass sie als Tätigkeiten erscheinen, die sich aus den gleichen Fähigkeiten ableiten wie jene. So kann Rancière formulieren, der Film baue eine Spannung auf »zwischen der Kulisse eines miserablen Lebens« und »den in ihr verborgenen ästhetischen Möglichkeiten«,12 und konfrontiere die Körper »mit dem was sie vermögen«.13 Seine Politik liege darin, mit seiner Darstellungsweise noch in den Situationen des Mangels und Handlungsverlusts in den Protagonisten das Potenzial solcher Fähigkeiten zu erkennen – die Fähigkeit zur Reflexion des eigenen Lebens und zur Gestaltung ihrer gemeinsamen Welt –, die man ansonsten politischen Subjekten zuspricht. Zugleich aber begnüge sich der Film damit, »ein künstlerischer Vorschlag«14 zu sein und akzeptiere die »Trennung, den Abstand«.15
Auch an Costas nächstem Film, JUVENTUDE EM MARCHA, diskutiert Rancière eben diesen paradoxen Bezug politischer Kunst zum Leben bzw. zu den politischen Verhältnissen und nimmt ihn als einen Beleg für die eigene Kunstauffassung. Bei der geht es Rancière nicht zuletzt um eine Neubestimmung politischer Kunst nach deren Krise, die einerseits den traditionsreichen Topos von der Kunstautonomie verteidigt und gleichzeitig die Dimension einer auf Veränderung oder Kritik der Verhältnisse gerichteten Bezogenheit auf das, was außerhalb der Kunst liegt, die Heteronomie der Kunst, nicht aufgibt.
Rancière diskutiert in diesem Zusammenhang insbesondere eine Szene von JUVENTUDE EM MARCHA, die er als Schlüsselszene interpretiert, in der sich die Kunstauffassung Costas ausdrücke. Die Szene spielt im Kunstmuseum von Lissabon, dem Museum der Gulbenkian-Stiftung, und sei, so Rancière, im Kontrast zu den vorhergehenden und nachfolgenden Filmszenen inszeniert, sodass der Unterschied zwischen der Kunst des Museums und der Kunst des Films in den Blick kommt. Die Wände des Museums, an denen die Gemälde hängen, seien dunkel, homogen und steril; auf der Tonebene fehlten die Außengeräusche, die ansonsten in allen Szenen präsent seien. Dass Ventura, der Einwanderer und die zentrale Figur des Films, bei seinem Besuch des Museums von dem Wärter hinausgebeten wird und anschließend in einem längeren Monolog davon berichtet, dass er als Arbeiter das Gebäude mit errichtet hätte, sei, so Rancière, in erster Linie eine erzählerische Entsprechung dessen, was auf der formalästhetischen Ebene entwickelt wird. Nämlich der Kontrast zwischen einer Kunst des Museums, die sich gegen das Leben isoliert, die sich mit den konkreten Erfahrungen und Erzählungen nicht verbindet, und einer Kunst, als die sich der Film in den angrenzenden Szenen zu verstehen gibt, die aus den Worten und Gegenständen der Leute geschaffen ist, für die ein Kratzer oder Seufzer nicht störend, sondern ein zusätzliches Gestaltungselement ist. Auf diese Weise stelle der Film »im Namen einer Kunst des Volkes«16 die ästhetische Trennung infrage, verneine er, mit anderen Worten, die reine Kunstautonomie. Zugleich aber stimme er zu, »nur die Oberfläche zu sein, auf der ein Künstler versucht, die Erfahrung derer, die an den Rand der Wirtschaftskreisläufe und der Gesellschaftsbahnen geschoben wurden, in neue Gestalten zu übersetzen«,17 und bleibe damit ein Film, »eine Übung des Blicks und des Gehörs«.18
Rancières Interpretation, die Filme Costas blieben eine Übung des Blicks und des Gehörs, während sie die Erfahrungen von außen aufnähmen und in Form einer teilbaren Sinnlichkeit zurückgäben, kann man auch als werkästhetische Entsprechung von Costas filmischer Arbeitsweise verstehen. In dem Dokumentarfilm TOUT REFLEURIT: PEDRO COSTA, CINÉASTE (ALL BLOSSOMS AGAIN: PEDRO COSTA, DIRECTOR, 2006) von Aurélien Gerbault über die Dreharbeiten von JUVENTUDE EM MARCHA