Eigentlich will die alleinerziehende Ella nur eine Lampe kaufen, doch dann nickt sie völlig erschöpft in einem Luxusbett des Möbelhauses ein. Der aufmerksame Verkäufer Julius bewacht ihren Schlaf, fasziniert und gleichzeitig irritiert von dieser müden jungen Frau. Das Treffen endet mit einer Anzeige. Zwischen Kindererziehung, Job und Wohnungssuche rückt diese Begegnung für Ella in immer weitere Ferne – bis ein Schreiner ihre Wohnungstür reparieren muss. Es ist Julius. Und während Ella noch versucht, ihren chaotischen Alltag zu meistern, scheint ihr Herz schon ganz andere Pläne zu haben …
Für Ute Seidel, geboren 1970 in Erlangen, begann das Leben eigentlich erst richtig, als sie lesen lernte und Bücher sie in fremde Welten führten. Nach dem Abitur studierte sie Anglistik und Germanistik an der Universität in Nürnberg und in Newcastle, England. Neben ihrer Tätigkeit als Autorin unterrichtet Ute Seidel Deutsch, Englisch und Ethik an einem Gymnasium. Mit ihrer Familie lebt sie in der Nähe von Nürnberg.
Es ist
nicht alles
Glück,
was glänzt
Abgesehen davon, dass man einmal ihren Namen in ein Stück unberührten Schnee gepinkelt hatte, war Ella noch nie sonderlich umworben worden. Und selbst der Name des Pinklers kann getrost unerwähnt bleiben, nicht zuletzt, da er, völlig verausgabt, vor der Vollendung eines gelben Herzens neben den vier Buchstaben unvermittelt versiegt war.
Ella war leidlich hübsch, intelligent und wirklich nett. Sie selbst hätte das zwar nie von sich behauptet, und vielleicht war dieser Mangel an Glauben an sich selbst das, was Ella für andere so unattraktiv machte.
Nein, an Herz und Hirn lag es nicht und an fünf Kilo zu viel erst recht nicht. Es war einfach nur Gottes Wille. Oder Schicksal. Oder simpler Zufall, dass Ella allein war und sich bisher niemand gefunden hatte, dem sie mehr als ein halbes, in den Firn gepinkeltes Herz wert war.
Eine Zeit lang hatte Ella überlegt, ob es vielleicht mehr Frauen als Männer in ihrer Stadt gab. Nicht nur in ihrem Yoga-Kurs, da war es ja klar, sondern überhaupt. Eventuell irgendwas im Leitungswasser oder Strahlen eines seit dreißig Jahren defekten Handyfunkmasts, die die Chromosomen beeinflussten, ohne dass das je jemand bemerkt hätte. Ein Blick auf die Website der Stadtverwaltung zeigte, dass tatsächlich deutlich mehr Frauen gemeldet waren, doch lag das allein an der unseligen Kurzlebigkeit des durchschnittlichen Mannes. In Ellas Altersklasse war die Verteilung noch fifty-fifty.
In einer besonders verzweifelten Phase hatte Ella beschlossen, statt immer mit Gefühl doch einmal ganz logisch an die Sache heranzugehen, die Wahrscheinlichkeiten zu optimieren und nur noch Orte und Events zu besuchen, wo die Zahl an Männern und damit auch die Chance, einen für sich zu finden, groß war. Also trat sie einem örtlichen Kampfsportklub bei, der Trainingsräume im Keller einer Grundschulturnhalle und eine eindeutig männlich geprägte Mitgliederklientel aufweisen konnte.
Vier Jahre später hatte sie den blauen Gürtel und ein sechs Monate altes Baby, das im Dojo gezeugt worden war, als Ella und ein Schwarzgurt nach dem gemeinschaftlichen halbjährlichen Mattenputzen zurückgeblieben waren, um die Putzeimer wegzuräumen und abzuschließen.
Der Schwarzgurt zog mit seiner Familie nach Köln, bevor Ella überhaupt wusste, dass sie schwanger war. Ihr Herzschmerz hielt sich in Grenzen. Sie freute sich auf das Baby, auch wenn von Anfang an nicht klar war, wie das mit dem Arbeiten und dem Kind und dem Geld klappen sollte.
Ihre Mutter, die in ihrer alten Heimatstadt, gut einhundert Kilometer entfernt, einen Buchladen führte, drängte Ella, den Kindsvater zu Zahlungen zu verpflichten. Doch Ella wehrte ab, nicht aus dem unbrechbaren Stolz einer autarken Amazone oder aus Rücksicht auf die Familie des Schwarzgurts, sondern schlicht, weil sie seinen Nachnamen vergessen oder vielleicht nie gewusst hatte, die Judo-Zeit hinter ihr lag und sie niemanden ohne weitere Ausführungen oder gar Lügen nach seinem Namen und der neuen Adresse hätte fragen können.
Dass ihre Mutter, die verwitwet war und einen neuen Lebenspartner hatte, mit ihrem vorwurfsvollen Unverständnis dafür, wie man sich in eine solche Lage bringen konnte, ihr mit dem Baby nur sehr bedingt unter die Arme greifen konnte – sowohl im wörtlichen Sinn als auch finanziell –, leuchtete Ella ein. Sie war ihrer Mutter auch nicht böse, nur ab und zu ein bisschen, wie alle Töchter ihren Müttern manchmal böse sind.
Bei alldem war Ella nicht neidisch auf andere, einfachere Biografien, auch nicht unglücklich, nur unendlich müde vom Arbeiten, vom Warten auf einen Mann und von Lotta, die nachts nur selten schlief. Wenn Unzufriedenheit an ihr nagte, dann war es lediglich ein kleines Eingeständnis ihres fehlenden Ehrgeizes und Erfolges, ein schüchternes Anklopfen der Erwartungen, die einst durch ihre Teenager-Tagebücher gegeistert waren.
Ella hatte ohnehin nicht viel Zeit, über ihre Lage nachzudenken, denn die bleierne Müdigkeit zog sich von der Nacht in den Tag hinein bis in die Stadtbibliothek, wo sie in der Reiseabteilung Leute beriet, die viel Geld für Bildungstrips in die Emilia Romagna oder Luxusresorts im Oman ausgaben, sich aber keinen eigenen Reiseführer leisten wollten, sondern sich lieber einen ausliehen, der schon fünf Jahre alt war und die Cappuccino-Flecken von mindestens einem Dutzend Kunden aufwies. Das sprach Ella natürlich nicht laut aus, sondern dachte es sich nur und beriet freundlich und fachkundig, auch wenn sie selbst noch nie in der Emilia Romagna, geschweige denn im Oman gewesen war.
Ansonsten ordnete sie zurückgegebene Bücher ein, überprüfte Rechnungen für Neuanschaffungen, entkatalogisierte und packte zerfledderte, zu verhökernde Exemplare nach Genre geordnet in gebrauchte Orangenkartons für den allmonatlichen Flohmarkt-Samstag zusammen. Ella hätte eine besonders hübsche Orangenkiste mit der Aufschrift Mängelexemplare für Liebhaber für sich selbst reservieren sollen.
Als Ella die Tage für die Betreuung der eigenen kranken Kinder aufgebraucht hatte, war es leider erst März, denn Lotta, die neu in der Kindergartengruppe war, bediente sich an jedem Virus, jedem Bakterium, das an Bauklötzen, Tassen und Sandschaufeln klebte. Ella freute sich dennoch an ihren unvermindert dicken Backen, der zarten Haut, küsste die fiebrige Stirn und verfluchte die anderen Eltern, die ihre Kinder krank in die Krippe schickten. Allerdings hatte sie das einige Male auch selbst schon getan, weil ihr eben die Betreuungstage durch die Finger rannen.
»Haben Sie denn gar kein Back-up?«, fragte ihre Chefin Frauke Fürstenberg, die, mit Twinset und Perlenkette stets elegant, die Regalreihen durchstreifte und dabei Buchrücken rückte und Titel notierte, die man für das nächste Kultur-Event auf Display-Tischen in Szene setzen könnte. Insgeheim hoffte Ella auf einen Wechsel in die Tourismus-Abteilung der Stadt – mit ihr hofften alle Mitarbeiter der Bibliothek. Man hatte sogar schon überlegt, Bestechungsgelder zu sammeln, um ihr diesen Karrieresprung zu ermöglichen.
Ella musste verneinen. Nein, einen doppelten Boden, ein Sicherheitsnetz, eine gute Fee hatte sie nicht.
Am nächsten Tag machte die Chefin ihr im Büro unmissverständlich klar, dass es so nicht weitergehe und Ella nur Vollzeit arbeiten könne, wenn sie auch tatsächlich Vollzeit arbeite, und dass ihr Engagement wirklich geschätzt würde, wenn sie es denn wieder wie früher entfalten würde. Die Frage, wo sie sich in fünf Jahren sehe, konnte Ella nicht beantworten. Sie war zu müde, sich so etwas vorzustellen, und außerdem wollte sie pünktlich aus dem Haus, um Lotta abzuholen, die einen neuen Backenzahn bekam, sich am Morgen an sie geklammert hatte und die nur die Praktikantin Rebecca aus Ellas Armen hatte lösen können, indem sie Lotta so sanft wie möglich jeden einzelnen Finger aufgebogen hatte.
Ella unterschrieb mechanisch den bereits vorbereiteten Teilzeitvertrag, was, doch das wusste sie nicht, ihrer Chefin höchst willkommen war, da immer weniger Leute echte Bücher lasen und sie so immer weniger Personal brauchte, sie aber Kündigungen aus Imagegründen vermeiden wollte. Wer benötigte eigentlich auch Beratung bei so offensichtlichen Genres wie Reiseführern oder austauschbaren Schmonzetten, die als Strandlektüre dienten und so schnell vergessen waren wie die Erholung, die man am letzten Urlaubstag entschlossen mit heimzunehmen gedachte?
Die Chefin bewegte sich in Bezug auf Attraktivität und Rentabilität ohnehin auf dünnem Eis. Sie lieh sich selbst jede Woche auf den Namen ihres Mannes, der außer der Zeitung gar nichts las, zwanzig Bücher aus, um die Leihdaten in die Höhe zu treiben. Im Jahr waren das fast tausend Bücher; das machte schon was aus. Neben dem heroischen Kampf um zahlreiche Ausleihen musste gespart werden; das Stadtsäckel wurde jedes Jahr schmaler, und dennoch musste die Stadtbibliothek eine gute Show abliefern, wenn die Chefin ins Tourismus-Amt wechseln und da eine Chance haben wollte.
Immerhin stammte das Gebäude der Bibliothek aus dem späten Barock und wies einen kleinen Saal auf, der für Lesungen und Konzerte genutzt werden konnte, ja musste. Sollte Ella sich doch um die Events kümmern. Das war doch was für sie. Keine andere Angestellte hatte sechs Semester Germanistik und Journalistik studiert, auch wenn es mit dem Abschluss dann nichts geworden war. Zumindest bevor sie das Kind bekommen hatte, war Ella kompetent und zupackend gewesen, und die Chefin hegte immer noch gewisse Sympathien für die Prä-Lotta-Ella, die so zuverlässig und unverbraucht gewirkt hatte, belesen und voller Ideen, wenn auch ein wenig hausbacken und manchmal zu bemüht.
»Die Medienarbeit für die Events und die Konzeption können Sie notfalls auch mal von daheim machen«, gestand ihr die Chefin großmütig zu (da solle noch jemand sagen, ledige Mütter würden nicht gefördert bis zu den Grenzen der Belastbarkeit des Systems).
Im Bus legte Ella das Gesicht an die Scheibe und träumte müde vor sich hin. Als sie ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sie fliegen können. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie über Hausdächer geflogen wäre, aber wenn sie in einem Türrahmen stand, konnte sie abheben und ein paar Zentimeter über dem Boden schweben. Das ging mit Willenskraft und brauchte nicht viel Energie, nur Konzentration. Aber auch nur so viel, wie man als Kind aufbringen konnte. Wobei Ella sich als Kind bestimmt besser hatte konzentrieren können als jetzt, und mehr Willenskraft hatte sie sicher auch gehabt.
Irgendwann war ihr diese Fähigkeit plötzlich abhandengekommen, und rückblickend glaubte Ella, ihr war damals gar nicht aufgefallen, dass sie es nicht mehr konnte. Da war plötzlich anderes wichtiger gewesen.
Erst als Ella zu Hause war und Lotta fütterte – ihre kleine Tochter aß manchmal nicht alleine, und auch jetzt landete mehr Kartoffelbrei auf Ellas Jeans als in Lottas Mund –, wurde ihr klar, dass praktisch neunundneunzig Prozent der Events in der Bibliothek abends stattfanden, wenn das Kinderhaus längst geschlossen hatte, und sie also nicht nur einen Teilzeitvertrag unterschrieben hatte, der sie die Hälfte verdienen ließ. Zu allem Übel würde sie von dem Verdienst, der ihr blieb, auch noch einen Babysitter bezahlen müssen.
Wäre sie am Nachmittag nicht so unendlich müde gewesen, hätte sie um Bedenkzeit gebeten. Und wäre sie jetzt nicht so unendlich müde gewesen, hätte sie geweint. Stattdessen badete sie Lotta, zog ihr den Frotteeschlafanzug an, setzte sie neben sich auf die Couch und schaltete den Fernseher an. Kein Kinderprogramm, das war schon aus für heute, sondern eine Kochsendung.
Lotta dämmerte auf ihrem Schoß weg, und Ella outsourcte alles, was eigentlich in ihrer eigenen Küche ablaufen sollte, an die Fernsehköche, die munter Löffel abschleckten und sich nie die Hände wuschen, aber sehr professionell Zwiebeln hackten und nachhaltige Röstaromen lobten. Sie machten das so viel besser: das Experimentieren, das Abschmecken, das Genießen, das Lob, das man spendete oder einstrich. Bevor noch das Team Knackwurst durch eine raffinierte Crème brulée mit Chilifinish den ersten Punkt im Küchenduell errungen hatte, war auch Ella weggedämmert, bis Lotta wieder aufwachte und die Nacht begann.
So schlich sich in Ellas Leben die unheilvolle Ehe von unendlicher Müdigkeit und nicht enden wollender Schlaflosigkeit ein. In der Nacht, während in ihren Beinen die Ameisen tanzten – Nervenärzte nannten das »restless legs«, also war es immerhin keine Einbildung –, dachte Ella an eine Szene, die sie tags zuvor vom Bus aus beobachtet hatte. Zwei Frauen waren sich begegnet, staunendes Erkennen, dann fielen sie sich lachend in die Arme. Der Bus fuhr weiter und ließ das Paar hinter sich.
Ella stellte sich vor, sie wäre dabei gewesen, umarmt, wiedererkannt und glücklich getroffen. Natürlich war es ganz und gar unwahrscheinlich, dass sich statt zwei gleich drei Frauen, die sich lange nicht gesehen und fast, aber eben nicht ganz vergessen hatten, unversehens an einer Straßenecke trafen. Und auch das Umarmen zu dritt war sicher schwieriger. Vermutlich hätte man sich sogar über das Zusammentreffen mit einer der Frauen mehr gefreut als über das mit der anderen, doch all diese stochastischen und psychologischen Feinheiten beiseitegelassen, wäre Ella gerne mit von der Partie und die Freundin dieser Frauen gewesen. Der rote Dufflecoat der einen hätte ihr auch gefallen, die andere Frau hatte lustige Haare, unfrisiert, wirkte aber trotzdem nett.
Ella hatte natürlich Freundinnen, aber keine solchen, die immer für sie da waren oder sie mit kuscheligen Mänteln umhüllt hätten, selbst wenn die Knebelknöpfe eines Dufflecoats sicher unangenehm drückten, wenn man heftig umarmt wurde.
Solche schönen Gedanken sponnen sich durch Ellas Nächte, doch auch dunklere, wie sie nachts eben kommen, gigantische Schatten kleiner Sorgen, die Ella mit den meisten Menschen teilte, die um vier Uhr morgens aber nur sie heimzusuchen schienen. Da waren die vielen Krankheiten – sollte Ella wegen des knubbeligen Muttermals am Arm nicht lieber doch zum Hautarzt gehen? Die Möglichkeit eines Feuers – darf man die Spülmaschine überhaupt unbeaufsichtigt laufen lassen, ohne einen Schwelbrand zu riskieren? Geld – was, wenn sie ihren Job ganz verlieren würde?
An einem solchen Punkt angekommen, stand Ella auf, schaute nach Lotta, ging zur Toilette, wusch und cremte sich die Hände ein, baute sich aus dem Seitenschläferkissen ein Nest am Fußende und legte sich verkehrt herum. Ein alter Trick, der früher funktioniert hatte, aber dessen Zauber immer öfter versagte.
Mit der Zeit gewöhnte sie sich kapitulierend an vier Stunden Schlaf und an ihre neuen Aufgaben in der Bibliothek.
Ein Blockflötenquartett stand auf dem Programm: Freitagabend, vier Absolventinnen der Musikakademie Utrecht, spezialisiert auf klassische Musik einerseits und zeitgenössische Kompositionen andererseits.
Ella hatte vor vier Wochen eine Babysitterin für Lotta engagiert, eine Studentin, die am Schwarzen Brett der Bibliothek ihre universalen Dienste (Babysitten, Gassigehen, Grabpflege) angeboten hatte. Sie hieß Anneli, hatte eine Vorliebe für orangefarbenen Lippenstift und sprudelte so vor sich hin.
»Ich finde kleine Kinder total süß! Gehen Sie ruhig aus, solange Sie wollen. Ich mach das schon.«
Ella hatte ihr zwar vorher erklärt, dass sie nicht vorhatte, sich in irgendeinem Club einen amüsanten Abend zu machen, sondern arbeiten musste, doch das war bei Anneli irgendwie nicht angekommen. Immerhin sträubte sich Lotta nicht, von einer ihr fremden Person beaufsichtigt zu werden. Vor allem, weil sie Annelis lange blonde Haare unwiderstehlich fand; Ella hingegen vermutete, dass es Extensions waren. Natürlich kostete Anneli gutes Geld. Aber welche Wahl hatte Ella schon, wenn doch Stühle aufgestellt, ein Blumenarrangement abgeholt und das Ensemble vorgestellt werden wollten?
Der Saal der Bibliothek füllte sich erstaunlich gut, viele ältere Leute, jedoch auch einige Studenten, die vielleicht die Flötistinnen kannten oder kunstbeflissen die Zeit bis zur Öffnung der örtlichen Kneipen überbrücken wollten.
Ella nahm die Eintrittsgelder entgegen, wünschte einen schönen Abend, gab dem Beleuchter ein Zeichen und dann ihrer Chefin ein »Daumen hoch«, die im letzten Moment mit einer exotischen Wolke Parfüm hereingeweht war und nun die Musikerinnen wortreich ankündigte.
Die Chefin schien Sprechperlen eingeworfen zu haben, wie sie in Ellas Jugend von Vitakraft für verstockte Wellensittiche verkauft worden waren: »Herzlich willkommen zum Auftakt unserer Kulturreihe! Vier Musikerinnen aus Utrecht werden Ihnen heute Flötentöne beibringen.« Die Chefin schien über ihr eigenes Wortspiel zu schmunzeln. »Wenn Sie einen bunten Blumenstrauß immergrüner Melodien erwarten, werden Sie überrascht sein. Tauchen Sie ein in ungeahnte Klangwelten, die in unserer wunderschönen Bibliothek widerhallen! Und nun allen einen interessanten Abend und viel Vergnügen!«
Spätestens beim Wort »interessant« hätte man aufhorchen müssen, war dies doch meist ein Euphemismus für »schön ist was anderes, aber das darf man auf keinen Fall offen zugeben, wenn man nicht als ungebildet gelten will«.
Ella staunte. Sie hatte handelsübliche Blockflöten erwartet, doch die vier zierlichen Damen in Schwarz wuchteten kantige, riesige Holzblöcke auf die improvisierte Bühne. Sie spielten sich ein, indem sie abwechselnd in diverse Ritzen der klobigen Instrumente fiepten und mit Fingerringen auf das Holz klopften. Als Ella gerade hoffte, dass das Konzert doch endlich beginnen möge, bevor ihr müdes Hirn zerspränge, applaudierte das Publikum. Ella schielte auf das Programm, das sie zwar beflissen ausgeteilt, doch nicht gelesen hatte.
Hendrik Claßen, geboren 1992:
Opus 25b Lofoten ohne Fahrrad.
Ella hatte noch nie von einem Komponisten gehört, der jünger als sie selbst war. Schon dass ihr Zahnarzt jünger als sie war, kam Ella irgendwie komisch vor und schmälerte ein bisschen ihr Vertrauen in ihn, wenn er alle halbe Jahre die Vitalität ihrer Zähne mit Trockeneiskügelchen testete und ihr der Schmerz durch den Kiefer zischte.
Sie scannte die Liste der weiteren Musikstücke auf der Suche nach Komponisten, die sie vom Namen her kannte, doch die Blockflötendamen hatten für diesen Abend offenbar keine klassischen Weisen vorgesehen.
Einige Zuhörer verließen das Konzert zeitnah diskret über den Notausgang neben der Herrentoilette, die meisten hielten bis zur Pause durch, erstaunlich viele bis zum Ende. Ella bedankte sich, wie mit der Chefin abgesprochen, aus ganzem Herzen bei den Flötistinnen, als das Konzert zu Ende war, und insgeheim noch mehr, weil das Konzert zu Ende war.
Sie scheuchte höflich die letzten Gäste aus der Bibliothek und schloss ab. Ihre Chefin hatte längst das Weite gesucht, bevor sie bei den Aufräumarbeiten hätte Hand anlegen müssen. Den Hauptschalter für die Oberlichter konnte Ella nicht finden. Die Stühle würden am nächsten Morgen vom Hausmeister gestapelt werden, der würde dann sicher auch das Licht ausmachen.
Als Ella nach Hause kam, hatte Anneli die Füße vor dem Fernseher hochgelegt. Lotta schlief. Anneli verbröselte Chips und war mit sich, dem Abend und der Bezahlung sichtlich zufrieden. »Supersüßes Kind«, hauchte sie mit chipsgeschwängertem Atem Ella entgegen. Anneli griff nach ihrer überdimensionalen schwarzen Sporttasche – Ella war zu müde, um zu fragen, was Anneli alles dabeigehabt hatte, um Lotta bei Laune zu halten.
Ella ging sofort ins Bett. Vor ihren Augen brannten die Oberlichter in der Bibliothek durch, Tausende Buchbände gingen in Flammen auf. Warum nur hatte sie keine Notfallnummer des Hausmeisters parat?
Der von Henrik Claßen und Kollegen verliehene Blockflöten-Tinnitus wiegte sie schließlich in einen unruhigen Schlaf, bis Lotta weinend erwachte, etwas von »Bumbibärchen« erzählte und eine klebrig bunte Schar garantiert veganer, von Magensäure bereits leicht deformierter Gummibärchen auf ihre Bettdecke erbrach.
Zum Glück war Lotta am nächsten Tag wieder fit, wenn auch denkbar schlecht gelaunt. Sie wollte sich partout nicht anziehen lassen, hielt dafür aber vortrefflich still, als Ella ihr die zwei gewünschten Zöpfe flocht, um sich gleich darauf zurück in einen Zornanfall gleiten zu lassen, der in stumme Schreie mündete, bei denen nur die Augen rot blitzten, bis endlich der erste Brüllbrocken losgetreten und die Heullawine in Gang gesetzt wurde.
Schließlich streifte Ella ihr ein viel zu großes T-Shirt von sich selbst über, weil das eben am leichtesten überzustreifen war und ihre kleine Tochter die rosa Blumen darauf liebte. Lotta begann jedoch, noch ein wenig lauter zu heulen, als sie auch Hose, Socken und Sandalen anziehen sollte.
Das Ende der Bringzeit und der Anfang von Ellas Dienst in der Bibliothek rückten näher und näher. Ella hasste es, mit dem Rad und Lotta im Kindersitz schnell fahren zu müssen. Sie hatte das zuerst ohne Kind mit einem vollen Kartoffelsack geübt, weil der Schwerpunkt so verdammt hoch war. Und bis Lotta angeschnallt war, ohne dass das Rad kippte, würde Ella verschwitzt sein. Den Bus würden sie aber nicht mehr erwischen, das war klar.
Ella fluchte: »Verdammt noch mal, zieh die Schuhe an!«, und hörte sofort, wie sich ihre eigene Grobheit knirschend mit Lottas Geheul vermischte und wahrscheinlich durch die Ritzen der Tür zu den Nachbarn sickerte. Das Ehepaar Braun war Ella ohnehin nicht wohlgesonnen. Fast zwei Jahre war es in erster Linie um Lottas Windeln in der Gemeinschaftstonne gegangen: zu viele, nicht geruchsneutral. Zwar war Herr Braun auch nicht ganz geruchsneutral, doch das Argument hatte Ella nie ins Feld geführt, um die angespannte Nachbarschaftslage nicht noch zu verschärfen.
»Bumbistiefel!«, schluchzte Lotta, die den Tobsuchtsanfall langsam, aber fordernd hinter sich ließ.
Ella kapitulierte, zog Lotta die Gummistiefel an, ohne Socken, ohne Hose. Die Unterhose von gestern hatte sie noch an. Es war warm draußen, das musste reichen. Erstaunlich schnell ließ sich Lotta in den Kindersitz setzen, vermutlich hatte die ganze Machtprobe sie so angestrengt, dass sie einem Schläfchen auf der Hinfahrt nicht abgeneigt war.
Ella trat in die Pedale. Dennoch war die Tür zum Kinderhaus schon abgesperrt, und Ella musste klingeln. Frau Töppers’ Stimme ertönte: »Ja, bitte?« Ella artikulierte Namen, Entschuldigung und Bitte und bekam als Antwort das ärgerliche Summen des Türöffners.
Frau Töppers empfing sie an der Tür der Hummelgruppe: »Sie sind wieder zu spät. Bitte halten Sie die Bringzeiten ein. Wir möchten gemeinsam beginnen und unser pädagogisches Programm in Ruhe durchführen.« Im Hintergrund warf ein Junge Uno-Karten durch die Luft, und ein anderer steckte sich Knetgummi in die Nase. Ihr Blick fiel auf Lotta. »Warum hat sie unten nichts an?«
»Es ging nicht«, antwortete Ella wahrheitsgemäß und schob hinterher: »Sie hat ja Gummistiefel an.« Ella beeilte sich, aus ihrer Handtasche das Sockenknäuel hervorzuziehen, das sie immer dabeihatte für Notfälle.
Lotta ließ sie sich widerspruchslos anziehen. »Unten nix an«, wiederholte sie und sah Ella so fragend an, als wüsste sie auch nicht, warum sie so mangelhaft ausstaffiert angekommen war.
»Und man könnte meinen, Sie würden genug Kleidung geschenkt bekommen, wenn Lotta schon dafür wirbt. Ich kann Ihnen von so was sowieso nur abraten.«
Ella sah Frau Töppers verwirrt an. Irgendwie hatte sie den Faden verloren. Lotta spazierte, das erste Mal seit Wochen ohne zu weinen und sich festzuklammern, in die Hummelgruppe und setzte sich in ihrem Riesen-T-Shirt neben die Knetgumminase.
»Dann woll’n wir mal«, sagte Frau Töppers und schloss die Tür vor Ellas Nase.
Die Chefin erwartete Ella mit einer Nachricht, die enthusiastisch aus dem kirschrot geschminkten Mund schoss: »Wir haben ihn!!!«
Ella eilte ihr ins Büro nach und marterte ihr müdes Hirn, wer wohl »ihn« war und ob das für denjenigen nun wohl böse Folgen hatte, dass ihre Chefin ihn hatte.
»Schauen Sie doch nicht so verdutzt!«, flötete die. »Ich habe meine Beziehungen spielen lassen, und siehe da, in Münster haben sie einen Rohrbruch, und jetzt haben wir ihn!«
Hatten sie auch ein nasses Haus? Aber warum war die Chefin dann so himbeersüß exaltiert?
»Hans-Georg Lacroix!«, seufzte die Chefin verzückt.
Ein seltsamer Name für einen Installateur aus Münster.
»Nach uns die Sintflut! Frau Seiler, nun haben Sie mal nicht so eine lange Leitung. Oder sind Sie krank?«
Bei Ella fiel endlich der Groschen. H. G. Lacroix war ein Sachbuchautor, der mit Vor uns das Paradies schon einen Bestseller abgeliefert hatte und nun für sein Buch Nach uns die Sintflut gefeiert wurde. Ella hatte das Werk sogar daheim, es lag gut und geduldig auf dem Nachttisch, weil ihr abends wie nachts die Muße fehlte, über die verdorbene Welt und ihren rücksichtslosen Umgang mit der Natur und den nachfolgenden Generationen nachzudenken, vor allem, wenn ihre eigene nachfolgende Generation gegen Mitternacht halb verdaute Gummibärchen erbrach.
Wie sich im Folgenden, was die Redeanteile anging etwas einseitigen, Gespräch herausstellte, war die Lesung mit Hans-Georg Lacroix in Münster wegen des Wasserschadens abgesagt worden, wodurch die Chefin den Kollegen den freien Termin hatte abluchsen können, und der war in drei Tagen.
»Fix, fix, Frau Seiler, hier ist die To-do-Liste, die ich schon mal aufgesetzt habe. Ich rühr derweil die Werbetrommel!«
Statt der To-do-Liste hätte Ella gerade lieber einen To-go-Kaffee gehabt, aber sie setzte schnell eine »Einer hat uns angesteckt mit dem Feuer der Liebe«-Miene auf und verschwand in ihr Kabuff, um sich durchzuarbeiten: ICE buchen, Hotel buchen, Anzeige schalten, Plakate drucken, Hausmeister benachrichtigen (Bestuhlung, Podest, Beleuchtung), stilles Wasser (natürlich in einer Glasflasche wegen Nachhaltigkeit) und Blumengesteck, Autor anrufen.
Unter der Nummer erreichte Ella allerdings nur den Anrufbeantworter, der genau genommen eine Anrufbeantworterin mit Computerstimme war. Etwas ernüchternd, da hätte sich Ella vor dem Wählen nicht räuspern und üben müssen: »Herr Lacroix, hier ist Ella Seiler. Frau Fürstenberg hat Ihre Agentin wegen des neuen Veranstaltungsorts für die Lesung in drei Tagen ja schon kontaktiert. Darf ich Ihnen sagen, wie sehr wir uns freuen, dass Sie nun zu uns kommen können …«
Dennoch spulte sie souverän ihr Sprüchlein ab und gab die Daten durch. »Falls ich nichts anderes höre, hole ich sie übermorgen um siebzehn Uhr am Hauptbahnhof ab und bringe Sie zunächst ins Hotel, damit Sie sich frisch machen können. Die Lesung ist dann um neunzehn Uhr dreißig.«
Ella überlegte kurz, ob sie sich selbst beschreiben sollte, damit sie sich am Bahnsteig finden würden, vielleicht eine bienenfreundliche Blume im Knopfloch oder wenigstens eine Schilderung ihrer Haarfarbe könnte da ja helfen. Aber war das Zimt oder Mausbraun? Ella entschied sich gegen ein floristisches Erkennungszeichen oder indifferente und daher vermutlich wenig hilfreiche Beschreibungen ihrer Haare und verabschiedete sich rasch von der Anrufbeantworterin.
Hans-Georg Lacroix kannte sie schließlich vom Bild über dem Klappentext und aus Buchmagazinen: gewellte Haare mit leichten grauen Einsprengseln, Intellektuellenbrille, gewinnendes Lächeln. Den würde sie am Bahnsteig schon finden. Dann rief sie Anneli an. Hoffentlich hatte die schon ab halb fünf für Lotta Zeit.
Am Donnerstagmorgen waren alle Eintrittskarten verkauft, entweder an Menschen, die mit der Umweltsituation auch so unzufrieden waren und ihren SUV daher nur ganz selten benutzten, höchstens, um die Kinder zum Gitarrenunterricht zu fahren, oder an Leute, die Hans-Georg Lacroix charmant fanden, weil ihm die Mischung aus gut aussehend und intelligent so hervorragend gelang. Ellas Chefin jubelte, und auch Ella war zufrieden, wie reibungslos alles gelaufen war. Und sie war auch ein bisschen neugierig auf den Autor, den abzuholen ihr eine Ehre war, wenn sie sich das nur lange genug einredete.
Anneli kam pünktlich, hübsch gemacht, als würde sie in die Disco gehen, schwer bepackt mit ihrer schwarzen Sporttasche. Lotta freute sich und holte gleich die Bürste, um Annelis Haare zu kämmen.
Ella machte sich beruhigt auf den Weg zum Bahnhof, bis ihr einfiel, dass sie vielleicht ein Gummibärchenverbot hätte verhängen sollen, aber man konnte nicht an alles denken, wenn Hans-Georg Lacroix heute die literarische Energiewende einleiten sollte.
Laut Anzeigetafel war der Zug pünktlich. Ella zog die Leinenbluse etwas tiefer, nicht, um ihren Ausschnitt zu vergrößern, sondern um den Fleck auf ihrer beigen Hose zu verbergen, der irgendwie nach Karottenbrei aus dem Gläschen aussah, den Lotta so gerne mochte, obwohl sie kein Baby mehr war.
Als der ICE einfuhr, scannte Ella die Fenster, bis ihr schwindelig wurde. Unmengen an Menschen strömten aus dem Zug. Unmöglich, auf den ersten Blick einen Brillenträger mit gewelltem Haar um die fünfundvierzig auszumachen. Als sich der Bahnsteig lichtete, sah Ella im Abschnitt D einen schlaksigen Mann mit Seidenschal und Ziehköfferchen, der von hinten so wirkte, als könnte er von vorne ab dem Hals nach oben wie Lacroix in den Bücherjournalen aussehen.
Ella eilte ihm hinterher und musste abbremsen, als er abrupt stehen blieb und sich umdrehte. Er hatte neben dem grasgrünen Seidenschal und der Nickelbrille eine sehr rote, angeschwollene Nase. Ella war enttäuscht. Unverkennbar war er das, doch er sah nur nach Hans-Georg aus, überhaupt nicht nach Lacroix.
Zur Begrüßung holte er unvermittelt tief und lautstark Luft und nieste Ella ins Gesicht. Nach uns die Sintflut