Die Autorin

Jana Schäfer – Foto © privat

Jana Schäfer ist 1995 nahe Freiburg im Breisgau geboren. Nachdem Sie nach der Schule ein Jahr in Schottland verbracht und die rauen Highlands lieben gelernt hat, zieht es sie jetzt wieder in den Süden Deutschlands. Seit 2016 studiert sie Heilpädagogik in Freiburg. Wenn sie nicht im Hörsaal sitzt, liest und schreibt sie für ihr Leben gerne.

Das Buch

„Naja, du weißt ja, was man sagt, wenn man sich mehr als zweimal begegnet, ohne es geplant zu haben.“
„Ähm, nein, weiß ich nicht.“
„Die ersten beiden Male ist es nur Zufall, aber das dritte Mal ist es Schicksal.“

Als Jonah in Ellas Leben stolpert ist sie hungrig, müde und völlig überfordert von dem Angebot des Fremden, der erst ihren Einkauf ruiniert und dann anbietet, für sie zu kochen. Ellas Tagesablauf lässt keinen Platz für Spontanität. Viel zu sehr ist sie damit beschäftigt, sich und ihre Familie zusammenzuhalten, seitdem ihre Mutter sie verlassen hat. Doch Jonah geht ihr nicht aus dem Kopf und – wie es scheint – auch nicht aus dem Weg. Als sie sich erneut zufällig begegnen, wirft Ella all ihre Bedenken über Bord und lässt sich auf einen Ausflug mit dem Fremden ein. In Jonahs Gegenwart spürt Ella zum ersten Mal, dass ihr Leben auch ganz anders sein könnte. Sie fühlt sich mutig, frei und lebendig. Doch ein Anruf holt sie hart auf den Boden der Tatsachen zurück und auch Jonah ist nicht so frei, wie er vorgibt zu sein …

Jana Schäfer

Reveal me

Ella & Jonah

Roman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
April 2019 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
E-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95818-454-1

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Widmung

Für alle, die es noch wagen, groß zu träumen.

Vorspann

Ich würde am liebsten die Augen schließen und mich fallen lassen. Mich fallen lassen in die unendliche Weite der Meere dieser Welt, in die Stille der Berge, die mich ausfüllen würde, bis sie mich durchdringt und meine lauten Gedanken zum Schweigen bringt.

Ich würde am liebsten die Augen schließen und tanzen. Tanzen, bis meine Ängste und Zweifel sich in wilden Rhythmen auflösen, bis sie in bunten Wirbeln von lauten Melodien davongetragen werden und es keine Zeit mehr gibt.

Bis nichts mehr zählt als dieser Moment, dieser Atemzug, in dem ich meine Arme hebe, zum Sprung ansetze und mich daran erinnere, wie es ist zu fliegen.


-Ella

1. Kapitel


Ella

Das durfte doch nicht wahr sein! Genervt und mit einem Anflug von Unmut starrte ich auf die vielen Leute, die sich hektisch durch die Gänge des Supermarkts schoben.

Was für ein beschissener Tag! Schon heute Morgen, als ich den Wecker überhört hatte und zu spät zur Vorlesung kam, war mir klar gewesen, dass es kein besonders guter Montag werden konnte. Als ich dann auch noch feststellen musste, dass mein Fahrrad einen Platten hatte, wäre ich fast durchgedreht. Irgendwie hatte ich die letzten Stunden jedoch hinter mich gebracht und mit der Aussicht auf einen gemütlichen Abend mit viel Schokolade und einem Film, einen Zwischenstopp im Supermarkt eingelegt. Ich wollte schnell ein paar Lebensmittel besorgen, bevor ich es mir in meinem Bett gemütlich machte. Nur konnte von schnell bei diesem Ansturm kaum die Rede sein. Ich atmete tief durch und wagte mich dann ins Getümmel.

Langsam schob ich mich zwischen den Leuten durch, die in einer Geschwindigkeit ihre Einkaufswägen füllten, dass ich mich ernsthaft fragte, ob ich die Ankündigung einer plötzlichen Apokalypse verpasst hatte. Vor uns lag eine stinknormale Woche, keine Feiertage, kein Grund durchzudrehen und einen Jahresvorrat anzulegen.

Seufzend griff ich nach Salat und Tomaten, bevor ich mir einen Weg zum Kühlregal bahnte. Ich biss die Zähne zusammen, als ich von einem älteren Herrn angerempelt wurde, fest entschlossen, meine schlechte Laune nicht an unschuldigen Einkäufern auszulassen. Da ich es bei meinem Glück heute natürlich vergessen hatte, einen Einkaufskorb am Eingang zu holen, balancierte ich kurze Zeit später Gemüse, Nudeln und Joghurt auf meinen Armen.

Genervt und hungrig hetzte ich zur Kasse. Kurz bevor ich die deutlich kürzere Schlange erreichte, stand mir plötzlich jemand im Weg und ich rannte mit einem viel zu schnellen Tempo in die Person hinein. Der Zusammenstoß war so heftig, dass mir der gesamte Einkauf herunterfiel und sich auf dem Boden verteilte. Entsetzt starrte ich auf die aufgeplatzten Tomaten und den Joghurt, der sich auf dem Boden verteilt hatte.

»Spinnst du? Kannst du nicht aufpassen?«

Wütend schaute ich auf und begegnete dem Blick eines jungen Mannes. Dunkelbraune Augen funkelten mich belustigt an. Ich schnappte nach Luft. Das war ja wohl nicht sein Ernst! Der Kerl vor mir grinste mich an, als wäre die Sauerei auf dem Boden tatsächlich ein Grund zum Lachen.

»Soweit ich mich erinnere, bist du in mich hineingerannt und nicht andersherum.«

Seine Stimme hatte einen angenehmen, warmen Klang und an einem anderen Tag hätte sie mir vermutlich gefallen. Vielleicht hätte ich das verschmitzte Lächeln auch süß gefunden und der Tatsache, dass der Fremde mich eingehend musterte, Beachtung geschenkt. Aber heute war ich nicht in der Laune zu flirten oder auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, was der Fremde für einen Eindruck von mir haben musste.

»Was ist hier los?«

Eine Angestellte kam auf uns zu und als sie die kaputten Lebensmittel auf dem Boden sah, schnalzte sie missbilligend mit der Zunge.

»Sorry, ich hatte wohl etwas zu viel Schwung und bin in die junge Dame hier reingerannt.«

Ich runzelte die Stirn und musterte den Fremden misstrauisch. Junge Dame? Wer drückte sich denn heute noch so aus?

»Ja, das sehe ich.«

Die Angestellte, eine junge Frau, stemmte ihre Hände in ihre Hüften und schnaubte genervt.

»Aber ich kann das gerne sauber machen. Ich will Ihnen ja keinen Umstand machen.«

Er legte seinen Kopf schräg und warf der Frau ein Lächeln zu, das selbst meine Knie kurz weich werden ließ. Im nächsten Moment verdrehte ich die Augen. Ernsthaft? Er wollte sich so rausreden? Na ja, eigentlich redete er ja gerade mich heraus …

»Schon okay, ich putz das weg, pass beim nächsten Mal einfach besser auf.«

Das gab’s doch nicht!

»Na komm, gehen wir«, raunte mir der Fremde plötzlich zu.

»Gehen? Wir? Warte, was?« Verwirrt starrte ich in seine braunen Augen, die mich immer noch amüsiert musterten. »Und hör auf damit!«

»Womit denn?«

»Dich über mich lustig zu machen. Du hast meinen Einkauf ruiniert! Und mein Tag ist wirklich schon beschissen genug, da brauche ich das hier nicht auch noch!«

»Ich habe deinen Einkauf doch nicht … Okay, weißt du was? Es tut mir leid. Ich mach es wieder gut.« Auf einmal verschwand das Grinsen aus dem Gesicht des Fremden. »Wie wäre es damit, dass ich für dich einkaufe?«

»Ähm …«

»Ich könnte dir die Lebensmittel vorbeibringen und für dich kochen. Wäre ja nur fair, nachdem ich dir deinen sowieso schon furchtbaren Tag noch mehr ruiniert habe.«

»Was?«

Entgeistert starrte ich ihn an und musterte ihn zum ersten Mal richtig. Er hatte längere Haare, zumindest lang genug, um sie zu einem Dutt zusammenbinden zu können. Sein kantiges Gesicht und der Dreitagebart ließen ihn älter als die meisten meiner männlichen Kommilitonen wirken. Ich schätzte ihn auf etwa fünfundzwanzig Jahre.

Mein Blick fiel auf seine schlichte Kleidung, das zerschlissene T-Shirt und die verwaschene Jeans. Er legte jedenfalls keinen Wert auf Markenklamotten.

»Also, was sagst du?«

»Ich weiß nicht«, stammelte ich, ehrlich verwirrt über seine offensive Frage.

Ich war es gewohnt, Menschen schnell einschätzen zu können, aber bei diesem Typ versagte meine Intuition völlig. Ich hatte keine Ahnung, was ich von ihm halten sollte und das ärgerte mich. Der Tag war wirklich schon stressig genug, da brauchte ich dieses seltsame Gefühl der Verunsicherung nicht auch noch. Alles, was ich wollte, war zu entspannen und runterzukommen. Aber die Augen des Fremden, die mich viel zu intensiv musterten, machten es mir unmöglich, ruhig zu bleiben.

»Ich kenne dich doch gar nicht.« Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und machte einen kleinen Schritt zurück. Der Kerl war mir nicht ganz geheuer.

»War ja nur ein Angebot.« Er zuckte mit den Schultern, als wäre es das normalste der Welt einer Wildfremden anzubieten, für sie zu kochen. »Na ja, dann wünsche ich dir, dass dein Tag noch besser wird. Man sieht sich!« Er zwinkerte mir zu, drehte sich um und verschwand zwischen zwei Regalen. Verdutzt schaute ich ihm nach, während ich darauf wartete, dass irgendjemand aus einem Versteck heraussprang und »verarscht« schrie.

Was für ein Spinner!

Kopfschüttelnd verließ ich ohne Einkauf den Laden. Wenn ich zu Hause nichts Essbares fand, würde ich mir eben eine Pizza bestellen. Oder zu Hanna und Tara fahren!


In meiner Wohnung angekommen, fand ich in meinem Kühlschrank wie erwartet nur einen Rest Nudeln und ein letztes Stück Käse. Nein danke.

Kurz entschlossen kramte ich das Handy aus meinem Rucksack und wählte Hannas Nummer.

»Hallo?«

»Hanna? Hi, ich bin’s! Sag mal, seid ihr gerade zu Hause?«

»Ja, willst du vorbeikommen?«

»Gerne, ich hatte einen furchtbaren Tag, habe nichts zu essen da und bin frustriert.«

»Oh nein, das ist natürlich kein akzeptabler Zustand! Komm auf jeden Fall her, wir haben noch Tiefkühlpizza und Wein.«

»Danke, du bist ein Schatz.«

Ich legte auf, schlüpfte in meine Schuhe und schnappte mir meine braune Lederjacke. Dann verließ ich mit schnellen Schritten die Wohnung.


Eine halbe Stunde später stand ich vor Hannas und Taras Wohnung. Es war bereits nach sieben Uhr und mein Magen hatte während der Fahrt mit der Straßenbahn mehrmals laut geknurrt.

Noch bevor ich meine Hand ausstrecken und klingeln konnte, flog die Tür auf. Hanna stand mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht vor mir und zog mich in eine enge Umarmung.

»Komm rein, die Pizza ist gerade fertig.«

»Wirklich? Ich bin am Verhungern!«

»Ja, das habe ich geahnt.«

Sie hakte sich bei mir unter und zog mich in das kleine, gemütliche Wohnzimmer, in dem Tara auf der Couch saß.

»Hey, Ella.« Sie kam mit langsamen Schritten auf mich zu und wie jedes Mal seit ihrem Unfall musterte ich sie prüfend. Es war jetzt vier Wochen her, dass ein Auto Tara erwischt hatte und sie schwer verletzt ins Krankenhaus musste, um sofort operiert zu werden. Seither ging es ihr schon wieder deutlich besser, auch wenn sie sich noch schonen musste.

»Hey, wie geht’s dir?«

»Gut, ich bin nur viel zu ungeduldig. Am liebsten würde ich morgen schon wieder joggen gehen.«

»Was du nicht tun wirst«, rief Hanna aus der Küche.

»Natürlich nicht.«

Tara verdrehte die Augen und warf mir einen leidenden Blick zu, aber ich wusste, dass sie Hanna für ihre Sorge dankbar war. Sie und Maxim kümmerten sich rührend um Tara. Seit Hanna sich mit der Tatsache abgefunden hatte, dass ihr Bruder mit ihrer besten Freundin zusammen war, verbrachten die drei viel Zeit miteinander. Das lag vor allem daran, dass sich Maxim ständig in der Wohnung der Mädels aufhielt.

»Und wie geht es dir? Hanna meinte, du hattest einen stressigen Tag?«

Ich ließ mich neben Tara auf die Couch sinken und legte meinen Kopf an ihre Schulter.

»Es war ein schrecklicher Tag! Einfach nur furchtbar.«

»Oje, das klingt so gar nicht nach dir.«

»Ich weiß! Aber irgendwie hatte ich heute bei allem Pech. Es hat damit angefangen, dass ich verschlafen habe und zu spät zur Vorlesung kam. Dann hatte mein Fahrrad einen Platten und als ich einkaufen war, hatte ich eine sehr seltsame Begegnung.«

»Was für eine Begegnung denn?«

Hanna balancierte drei Teller mit Pizza auf den Armen, die sie vor uns abstellte. Ich schnappte mir sofort ein Stück und biss davon ab, um nicht sofort antworten zu müssen. In Gedanken ging ich noch einmal die Begegnung mit dem Fremden durch und ja, ich fand sie immer noch schräg. Sein Angebot für mich einzukaufen und zu kochen war einfach nur verrückt! Trotzdem fragte sich ein kleiner Teil von mir, was passiert wäre, wenn ich ja gesagt hätte. Ich wusste selbst nicht warum, aber ich konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken, was hinter seinem fröhlichen Grinsen und der direkten Art steckte. Vielleicht lag es daran, dass ich ihn nicht gleich hatte einschätzen können.

»Ella?«

Hanna wedelte vor meinem Gesicht herum, als wäre ich weggetreten und ich blinzelte heftig.

»Was denn?«

»Oh, du bist wirklich gestresst.«

»Sorry! Ich … ja, es war ein seltsamer Tag.«

Ich erzählte von der Situation im Supermarkt, während Hannas und Taras Augenbrauen immer weiter nach oben wanderten.

»Also ich hätte das Angebot angenommen. Ist doch toll, wenn ein Mann für dich kochen will!« Hanna biss von ihrer Pizza ab und zwinkerte mir zu.

»Das war ja klar, dass du einen Wildfremden in unsere WG lassen würdest, wenn er dir Essen mitbringt.« Tara schüttelte den Kopf, aber ihre gehobenen Mundwinkel waren nicht zu übersehen.

»Na ja, wenn er kochen kann, ist das doch schon mal ein gutes Zeichen. Wenn ich überlege, was für Wildfremde ich hier schon hatte … manche von den Typen hätten vermutlich nicht mal gewusst, wie sie Nudeln kochen sollen.«

»Wie beruhigend.«

Jetzt schüttelte ich ebenfalls den Kopf, denn Hannas Männergeschmack und vor allem ihren Männerverschleiß hatte ich nie ganz nachvollziehen können. Allerdings war es nicht schwer zu erkennen, dass sie das nur tat, weil sie nicht bereit war, sich ernsthaft auf jemanden einzulassen. Ich konnte es ihr nicht verdenken.

»Aber mal ehrlich, das wäre doch verrückt gewesen, oder?«

»Ein bisschen vielleicht, aber manchmal ist verrückt ja gar nicht so verkehrt.«

Tara warf mir ein vorsichtiges Lächeln zu und ich musste daran denken, wie gut ihr die Beziehung mit Maxim tat. Die Tara, die ich vor knapp zwei Jahren kennengelernt hatte, hätte niemals auch nur mit dem Gedanken gespielt, sich mit einem Fremden zu treffen.

»Ich weiß nicht. Ich hoffe einfach nur, dass morgen ein ganz normaler Tag wird.«

»Das wird es bestimmt.«

Hanna reichte mir noch ein Stück Pizza und ich lehnte mich mit einem zufriedenen Lächeln zurück. Zumindest das Ende von diesem katastrophalen Tag ließ sich ganz gut ertragen.

»Wer weiß, vielleicht siehst du den Fremden ja irgendwann wieder …«, bemerkte Tara.

»Ja, vielleicht.«

Aber ich wusste, wie gering die Wahrscheinlichkeit war. Trotzdem dachte ich weiter daran, wie der Abend hätte verlaufen können, wenn ich mich einmal nicht von meiner Vorsicht hätte leiten lassen.

2. Kapitel


Ella

Mein Herz klopfte wie verrückt und meine Hände zitterten. Das Müsli, das ich mir als Frühstück gerichtet hatte, stand unangetastet neben einer Tasse Tee. Ich war viel zu aufgeregt, um auch nur einen Bissen herunterzubekommen. Nervös starrte ich auf den Bildschirm vor mir. Zum bestimmt hundertsten Mal las ich die Mail, die vor zweiunddreißig Minuten in meinem Postfach eingegangen war. Schon der Name des Absenders hatte gereicht, um meinen Puls schlagartig in die Höhe zu treiben.

Hochschule für Tanz und Musik Lilberg.

Seit ich vor zweieinhalb Monaten die Videodatei mit den Bewerbungsunterlagen eingereicht hatte, wartete ich auf eine Rückmeldung, auch wenn ich mir verboten hatte, mir ernsthaft Hoffnung zu machen. Caro, meine Arbeitskollegin in der Tanzschule, hatte mich dazu überredet, mich zumindest für den Studiengang zu bewerben. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht im Traum daran gedacht, das Germanistikstudium aufzugeben. Trotzdem verbrachte ich einen ganzen Nachmittag damit, mich durch die Homepage der Hochschule zu klicken. Der Bachelorstudiengang »Tanz und Choreografie«, klang wie für mich gemacht.

Sehr geehrte Frau Graf, es freut uns, Ihnen mitteilen zu können …

Immer noch fassungslos starrte ich auf die Zeilen vor mir. Ich hatte es tatsächlich geschafft! Am liebsten hätte ich jetzt sofort zum Telefon gegriffen und Tara oder Hanna angerufen, aber meine Freundinnen wussten nichts von meiner Bewerbung. Ich war nicht davon ausgegangen, es überhaupt über die erste Bewerbung hinaus zu schaffen und obwohl ich jetzt den schriftlichen Beweis vor mir sah, konnte ich es kaum glauben. Ich war zu der Zugangsprüfung vom 21. bis 23. Mai eingeladen.

Wow. Für eine winzige Sekunde lang erlaubte ich mir die Vorstellung, dass ich mich tatsächlich den ganzen Tag mit dem beschäftigen durfte, was ich mehr liebte als alles andere. Es war ein schöner Traum vom Tanzen leben zu können und als Choreografin arbeiten zu dürfen. Aber eben nur ein Traum. Seufzend klickte ich die Mail wieder weg.

Wem wollte ich etwas vormachen? Ich war vielleicht eine ganz passable Tänzerin und es fehlte mir auch nicht an Disziplin, doch vom Tanzen zu leben war nichts, was ich eben mal so erreichen konnte. Dazu gehörte Glück, Talent und vor allem Mut.

Ich wusste nicht, ob ich wirklich bereit wäre, die Sicherheit und Routine aufzugeben, die mein Leben in Lilberg ausmachten. Ich mochte es, mit Tara gemeinsam in den Vorlesungen zu sitzen und anschließend über den Lernstoff diskutieren zu können. Das Studium aufzugeben würde eine riesige Veränderung bedeuten und wie sicher konnte ich schon sein, dass ich es wirklich auf die großen Bühnen schaffte?

Das plötzliche Klingeln meines Handys erlöste mich von meinem Gedankenchaos. Fast schon erleichtert griff ich danach und als ich den Namen des Anrufers sah, stahl sich ein Lächeln auf mein Gesicht.

»Hey, Schwesterherz.«

»Ella! Ich muss dir unbedingt erzählen, was gestern passiert ist! Ich bin wieder mit Lukas zusammen! Krass, oder? Wir haben uns ausgesprochen und er hat eingesehen, warum ich sauer war und –«

Ich unterdrückte ein Lachen und ließ mich auf mein Bett fallen. Das konnte jetzt durchaus eine Weile so weitergehen. Meine kleine Schwester Louisa war mir eine der vertrautesten und engsten Menschen auf diesem Planeten, aber was ihr Mitteilungsbedürfnis anging, konnten wir kaum unterschiedlicher sein. Seit einem Jahr führte sie eine On-Off-Beziehung mit ihrem Freund Lukas und ich kannte jede Auseinandersetzung bis ins Detail. Nicht, dass ich unbedingt scharf darauf wäre, über das Sexleben meiner Schwester Bescheid zu wissen, aber wenn sie einmal redete, war es nur schwer, sie wieder zu stoppen. Nachdem sie mir zehn Minuten lang ausführlich und viel zu detailliert ihre Versöhnung mit Lukas geschildert hatte, holte sie zum ersten Mal tief Luft.

»Aber genug von mir. Wie geht’s dir? Wann kommst du uns mal wieder besuchen?«

»Ach, du bist schon fertig?«, zog ich sie auf, woraufhin sie nur fröhlich lachte. So war Louisa. Unbekümmert und grundsätzlich positiv dem Leben gegenüber eingestellt. Noch so eine Sache, in der wir uns definitiv unterschieden. Manchmal beschlich mich das Gefühl, dass ich mir Gedanken und Sorgen genug für uns beide machte.

»Ich weiß noch nicht, wann ich kommen kann, Lou. Du weißt ja, ich muss viel fürs Studium lernen und diesen Monat gebe ich noch mehr Stunden als sonst in der Tanzschule. Caro hat sich den Fuß verstaucht und muss für zwei Wochen aussetzen.«

»Schade! Ich vermisse dich.«

Ihre Stimme wurde leiser und ich presste das Telefon fester an mein Ohr. Obwohl Lou nur zwei Jahre jünger und damit alt genug war, um auf sich selbst aufzupassen, fühlte es sich manchmal so an, als wäre sie immer noch das kleine Mädchen, nach dem ich schauen musste.

»Ich dich auch. Wie geht es Papa?«

»Gut. Zurzeit verbringt er fast jeden Nachmittag im Garten.« Lächelnd warf ich einen Blick zu dem Foto auf meinem Nachttisch, das mich mit Lou im Arm und unserem Vater lachend hinter uns zeigte. Ich konnte mir ihn genau vorstellen, wie er mit seinen dunkelgrünen Gartenschuhen im Beet stand und die Erde umgrub, um neue Pflanzen zu setzen. Seit ich mich erinnern konnte, verbrachte mein Vater jede freie Minute draußen. Entweder in unserem wunderschönen Garten, den er mit viel Mühe und Liebe pflegte, oder mit Lou und mir in den Bergen, die nicht weit von meinem Heimatort lagen.

»Das kann ich mir vorstellen. Richte ihm liebe Grüße aus! Und sag ihm, ich versuche nächsten Monat bei euch vorbeizukommen.«

»Mach ich. Wir hören uns, Ella!«

»Auf jeden Fall. Pass auf dich auf und bis bald.«

Nachdem ich aufgelegt hatte, kam mir die Stille in meinem Zimmer auf einmal unnatürlich laut vor. Mir gefiel es, eine Wohnung für mich zu haben, aber manchmal vermisste ich meine Familie.

Als ich vor drei Jahren mit neunzehn von zu Hause ausgezogen war, hatte sich das weder befreiend noch leicht angefühlt. Meinen Vater und meine Schwester zurückzulassen, tat mir weh. Seit meine Mutter uns vor elf Jahren verlassen hatte, hing ich sehr an Dad und Lou. Wir drei waren seither ein eingespieltes Team, das zusammenhielt, egal was passierte.

Seufzend erhob ich mich vom Bett. Ich wollte nicht an die Zeit zurückdenken, als sich all die Wut und Enttäuschung in mir eingenistet hatte, die ich seither mit mir herumtrug. Bevor ich in Erinnerungen versinken konnte, die mich nur runterziehen würden, schnappte ich mir meinen Rucksack. Die nächste Vorlesung würde zwar erst in drei Stunden beginnen, aber ich hielt es in der Wohnung nicht länger aus. Im Schnellschritt ging ich zu der nächsten S-Bahn-Haltestelle. Auf dem Weg rief ich Maxim an, um zu fragen, ob er mir sein Fahrradflickzeug leihen konnte. Warum ich nicht längst meine eigene Ausrüstung hatte, wusste ich auch nicht.

Statt direkt in die Uni zu fahren, legte ich einen Stopp im Tanzstudio ein. Tanzen beruhigte mich jedes Mal, wenn mich die Erinnerungen an die Zeit einholten, in der ich mir nichts mehr gewünscht hatte, als dass meine Mutter wieder zurückkam. Ich wusste nicht mehr, wie viele Tage ich am Fenster gestanden und nach draußen auf die Ausfahrt gestarrt hatte. Bei wie vielen vorbeifahrenden Autos mein Herz hoffnungsvoll geschlagen hatte. Doch die Hoffnung wurde mit jedem Fremden, der an unserem Haus vorbeirauschte, ein Stückchen mehr zerschlagen. Bis sie sich irgendwann aufgelöst hatte und ich mich damit abgefunden hatte, dass meine Familie nur noch aus meinem Vater, meiner Schwester und mir bestand.

Im Studio angekommen, suchte ich einen freien Raum und ließ meine aktuelle Lieblingsplaylist laufen. Ein bunter Mix aus Klassik, Pop und Jazz. Sobald die ersten Takte Musik erklangen, schloss ich lächelnd die Augen. Ich bewegte mich frei durch den Raum, folgte den Impulsen, die mein Körper vorgab, und tanzte, bis meine Gedanken leiser wurden.


Ausgepowert und verschwitzt, aber glücklich, machte ich mich eine Stunde später auf den Weg zur Uni.

Für die nächste Vorlesung musste ich noch einen Text lesen, also stieß ich schwungvoll die Türe zu der kühlen Bibliothek auf. Die zahlreichen Sitzecken waren von Studierenden belegt, die über ihre Unterlagen gebeugt dasaßen und sich im Flüsterton unterhielten.

»Ella?«

Erstaunt drehte ich mich um und entdeckte Tara, die lächelnd auf mich zukam. Ihre braunen Haare trug sie zu einem lockeren Zopf hochgesteckt und auf ihrem Arm balancierte sie einen bedenklich hohen Stapel mit Büchern.

»Natürlich bist du auch hier.« Kopfschüttelnd registrierte ich Taras glücklichen Gesichtsausdruck. Ich kannte niemanden, der freiwillig so viel Zeit in der Bibliothek verbrachte, wie sie.

»Musst du auch den Text für Professor Kleh lesen?«, fragte sie flüsternd.

»Jepp. Ich versteh nicht, warum er uns jedes Mal solche komplizierten Texte gibt, die kein Mensch versteht.«

»Ich auch nicht.« Tara hakte sich bei mir unter, wobei ihr die Bücher fast vom Arm rutschten.

Wir setzten uns auf zwei freie Plätze in einer Sitzecke und begannen den Text zu lesen, von dem ich auch nach der Hälfte nicht wusste, was er uns genau sagen sollte.

»Ach, das ergibt doch keinen Sinn.« Verärgert klappte Tara ihren Laptop zu. »Wenn wir jetzt losgehen, haben wir noch Zeit für einen Kaffee, bevor die Vorlesung beginnt.«

»Bin dabei.«

Ich verstaute meinen Ordner in meinem Rucksack und verließ mit Tara die Bibliothek.

Draußen angekommen, wehte uns ein milder Wind entgegen. Lächelnd streckte ich mein Gesicht der Sonne entgegen, die eine angenehme Wärme spendete. Die letzten Wochen war es noch recht kühl gewesen, aber jetzt, gegen Ende April, schien der Frühling endlich angekommen zu sein.

Wir schlenderten gemächlich über den Campus, wobei uns vereinzelt ein paar Kommilitonen im Vorbeigehen grüßten.

Als ich im Augenwinkel einen jungen Mann mit Dutt und zerschlissener Jeans sah, blieb ich ruckartig stehen. Langsam, um ja kein Aufsehen zu erregen, drehte ich mich zu ihm um. Ich merkte erst, dass ich die Luft angehalten hatte, als ich laut ausatmete. Es war nicht der Kerl aus dem Supermarkt. Er hatte zwar eine ähnliche Frisur, aber sein Gesicht war runder, jünger und bei Weitem nicht so attraktiv.

»Was ist los?« Stirnrunzelnd drehte Tara sich zu mir um.

»Ach nichts, ich dachte nur ich hätte jemanden gesehen …«

»Aha und wen?«

Ich holte zu ihr auf und schüttelte den Kopf. »Niemanden«, murmelte ich.

»Den Typ aus dem Supermarkt?«

Natürlich hatte sie mich durchschaut. »Ja, albern, oder? Vermutlich würde ich ihn gar nicht mehr erkennen.«

»Rede dir das ruhig ein.« Tara warf mir einen belustigten Blick zu, der dem spöttischen Grinsen von Maxim fast Konkurrenz machte. Die Beziehung zwischen ihnen hinterließ definitiv Spuren. Aber es tat gut, Tara so fröhlich zu sehen. Die Nacht ihres Unfalls würde ich nie vergessen, ebenso wenig wie die Tatsache, dass es nicht selbstverständlich war, sie jetzt gesund vor mir stehen zu sehen.

Nach der Vorlesung folgten noch zwei weitere Seminare, die sich beide wahnsinnig in die Länge zogen. Zwischendurch ertappte ich mich immer wieder dabei, wie meine Gedanken zu der Mail wanderten, die ich heute Morgen geöffnet hatte. Wenn ich Caro das nächste Mal sah, musste ich ihr davon erzählen.


Am Abend stand ich wieder einmal vor Hannas und Taras Tür. Es kam mir im Nachhinein wie ein wahnsinnig glücklicher Zufall vor, dass ich mich an meinem ersten Unitag ausgerechnet neben Tara gesetzt hatte. Durch sie hatte ich Hanna, Maxim und Finn kennengelernt, die mir innerhalb kürzester Zeit ans Herz gewachsen waren, und das, obwohl ich normalerweise wirklich schlecht darin war, schnell Freunde zu finden.

»Ella! Da bist du ja.« Ein fröhlich grinsender Finn öffnete mir die Tür und umarmte mich herzlich.

Woher er immer seine gute Laune und Energie nahm, war mir ein Rätsel. Manchmal wünschte ich mir, ich könnte die gleiche Fröhlichkeit wie er oder Hanna versprühen, aber das entsprach wohl einfach nicht meinem Naturell. Oft beschlich mich das Gefühl, dass meine Unbekümmertheit zusammen mit meiner Mutter verschwunden war. Seither trug ich eine Schwere mit mir herum, die mich in Tiefen ziehen konnte, denen ich nur durch Tanzsessions und Telefonaten mit Lou entkam.

»Hey, schön dich zu sehen!« Maxim tauchte mit Tara im Arm hinter Finn auf und strahlte mich an, als wäre heute der schönste Tag des Jahres. Manchmal wurde mir ihr Glück fast zu viel.

»Hanna ist vermutlich in der Küche, oder?«

»Klar, immer dort, wo das Essen ist«, rief Hanna aus der Küche und ich folgte grinsend ihrer Stimme.

»Brauchst du noch Hilfe?«

Sie war gerade dabei, Tacos mit Avocado, Tomaten, Salat und Käse zu füllen. »Nee, bin sowieso gleich fertig.«

Eine Stunde später saßen wir vollgegessen und zufrieden im Wohnzimmer. Ich hatte es mir mit Tara und Hanna auf der schmalen Couch bequem gemacht, während Maxim und Finn auf dem Teppichboden vor uns saßen.

»Das war extrem lecker, danke Hanna.«

Finn drehte sich zu meiner Freundin um und warf ihr einen langen Blick zu. Ich verkniff mir ein Grinsen. Die offensichtliche Spannung zwischen den beiden schien jeder wahrzunehmen, außer sie selbst.

»Hey, ich habe auch geholfen«, warf Maxim ein und schaute vorwurfsvoll in Finns Richtung.

»Und, was steht bei euch die nächsten Tage an?«, fragte Finn plötzlich, was ich als kläglichen Versuch deutete, Maxims Aufmerksamkeit in eine andere Richtung zu lenken.

»Ich fahre das kommende Wochenende zu meiner Familie.« Auf Taras Worte folgte Schweigen. Sie hatte ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter, das sich aber seit ihrem Unfall zu bessern schien.

»Meine Mutter hat gefragt, ob ich mal wieder zu ihr komme. Ich versichere ihr zwar ständig, dass die Prellungen gut heilen, aber sie will sich davon wohl selbst überzeugen.«

Maxim drehte sich besorgt zu Tara um. »Soll ich wirklich nicht mitkommen? Es gefällt mir gar nicht, dich alleine Zug fahren zu lassen. Was, wenn du einen plötzlichen Schwächeanfall bekommst?«

Kaum vorstellbar, dass er vor wenigen Monaten noch von allen Campusschlampe genannt wurde, weil er beinahe jedes Wochenende eine andere Frau abgeschleppt hatte.

»Ich schaff das schon.« Tara warf ihm einen eindringenden Blick zu und damit war das Gespräch beendet.

»Tja, ich werde wohl zwischen der Bibliothek, dem Tanzstudio und der Plauderecke hin- und herpendeln. Am liebsten würde ich ja heimfahren, aber dazu fehlt mir gerade einfach die Zeit.«

Ich stieß einen tiefen Seufzer aus, als ich an Louisa und meinen Dad dachte, die bei den warmen Frühlingstemperaturen am Wochenende bestimmt die Grillsaison eröffnen würden.

»Vermisst du deine Familie?«

Die Frage kam von Finn und ich wandte mich ihm erstaunt zu.

»Ja.«

Ich sprach nur wenig über Louisa und meinen Vater. Meine Mutter hatte ich meinen Freunden gegenüber überhaupt nicht erwähnt. Über sie zu reden, holte den Schmerz an die Oberfläche, der tief in mir vergraben lag und nur darauf wartete, geweckt zu werden. Und das wollte ich um jeden Preis vermeiden.

»Das kann ich verstehen«, gab er leise zurück und die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme ließ mich aufhorchen. Das war absolut untypisch für ihn und ich wollte gerade nachhaken, als ein schelmisches Grinsen auf seine Lippen trat.

»Ella, was gibt es Neues von dir bezüglich der Männerwelt?«

»Nicht schon wieder.«

Ich verdrehte demonstrativ die Augen, als die Blicke meiner Freunde fragend auf mir landeten.

»Nur weil ihr ein so bewegtes Liebesleben habt, heißt das nicht, dass das für mich auch gilt. Ihr wisst doch, dass ich euch erst dann von einem Mann erzähle, wenn es wirklich erwähnenswert ist.«

»Ähm, und wann soll das bitte sein? Mehr als vage Andeutungen von irgendwelchen Dates mit Typen aus der Uni hab ich von dir nie bekommen.« Hanna schob schmollend ihre Unterlippe nach vorne, was bei ihr sogar niedlich aussah.

»Was kann ich denn dafür, wenn die Kerle, die ich treffe, allesamt uninteressant sind?«, verteidigte ich mich. Es war nicht so, dass ich mich nie auf Männer einließ, aber die Dates, die ich in den letzten zwei Jahren gehabt hatte, waren enttäuschend gewesen. Es war kein Mann dabei gewesen, den ich hatte näher kennenlernen wollen. Vielleicht lag es daran, dass ich mich nicht so schnell auf jemanden einlassen konnte wie Hanna, aber mehr als vier, fünf Treffen waren nie drin gewesen. Ich hatte einfach keinen Bock, jemanden in mein Leben zu lassen, um dann erklären zu müssen, warum mir meine Familie so wichtig war und ich grundsätzlich nicht gerne über meine Mutter sprach. Dann müsste ich auch erklären, warum ich mich manchmal stundenlang zurückzog, niemanden sehen wollte und mich in Musik und Tanz verlor, während die Zeit an mir vorbeiflog. Nein, darauf konnte ich verzichten.

»Es gab in letzter Zeit wirklich keine einzige interessante Begegnung?« Hanna zog eine Augenbraue hoch und bevor sie auf die Idee kommen konnte, noch einmal den Typ aus dem Supermarkt anzusprechen, sprang ich schnell auf.

»Ich hole mir noch was zu trinken.«

Mit den Stimmen meiner Freunde im Hintergrund machte ich mich auf den Weg in die Küche, wo ich, gegen den Kühlschrank gelehnt, einen Moment lang stehen blieb.

Ich liebte Abende wie diesen, wenn ich mit meinen Freunden zusammen war und mich unbeschwert fühlte. Wir alle hatten unsere Päckchen zu tragen, das wusste ich, aber wenn wir Zeit zusammen verbrachten, spielte das keine Rolle.

Warum sollte ich es riskieren, einen neuen Weg einzuschlagen, bei dem ich nicht wusste, wohin er mich führen würde??

Ich schüttelte den Kopf über mich selbst, füllte mein Glas mit Wasser und kehrte zu ihnen zurück.

Jetzt war nicht der richtige Augenblick, um darüber nachzudenken. Ich hatte den Platz an der Hochschule noch nicht sicher und bevor das der Fall war, musste ich auch keine Entscheidung treffen.

»Alles klar, Ella?« Tara musterte mich besorgt, sie bemerkte es meistens als Erste, wenn mich etwas bedrückte.

»Alles bestens.«

Ich zwang mir ein Lächeln ins Gesicht und als ich mich neben sie auf die Couch fallen ließ, wurde es automatisch breiter.

Ich hatte immer davon geträumt, nicht weit entfernt von meiner Heimat zu studieren, regelmäßig tanzen gehen zu können und im Idealfall Freunde zu haben, mit denen ich meine Freizeit verbringen konnte.

All das hatte sich erfüllt und trotzdem fragte eine leise Stimme in mir, was mit den anderen Träumen war. Den Träumen, in denen ich auf einer Bühne stand, in denen ich Choreografien für große Tanzshows einstudierte und meine große Leidenschaft mit der Welt teilte.

3. Kapitel


Jonah

»Verdammt, Marc! Wo bleibst du?« Ungeduldig presste ich das Handy an mein Ohr, doch viel mehr als ein Rauschen auf der anderen Seite der Leitung war nicht zu hören.

»Ich bin in fünf Minuten da«, rief mein Bandkollege und bester Freund. Zumindest glaubte ich, dass das seine Worte waren. Vermutlich steckte er in der Bar fest, in der er regelmäßig jobbte. Der Empfang dort war katastrophal.

»Und?« Leo saß mit verschränkten Armen auf der Couch und musterte mich stirnrunzelnd. Die zahlreichen Tattoos auf seinen Armen sahen in dem schwachen Licht der Garagenbeleuchtung beinahe düster aus und ließen ihn zusammen mit seinem finsteren Blick knallhart wirken. Doch Leo war mit seinen dreiundzwanzig Jahren der Jüngste in der Band und alles andere als der coole Macker, den er so gerne gab.

»Er ist gleich da.«

»Typisch.« Leo war noch nie der geduldigste Typ gewesen, aber obwohl ich dafür bekannt war, selbst gerne mal zu spät zu kommen, konnte ich seinen Ärger heute verstehen.

Wir hatten alle einen vollen Terminkalender und es war schwer, sich überhaupt Zeit für die wöchentlichen Bandproben zu nehmen.

»Ach komm schon, Leo! Das passiert jedem mal.« Layla, die unsere Songs schrieb und mich mit ihrer Gitarre unterstützte, stand auf und griff nach unseren Instrumenten. »Fang doch schon mal an, dein Baby zu stimmen.«

Mit diesen Worten reichte Layla mir meine Gitarre, die ich aufgrund mangelnder Fantasie nach dem Kauf tatsächlich Baby getauft hatte, womit mich Layla bis heute aufzog. Ihre Gitarre hieß Kurt, inspiriert durch ihr musikalisches Vorbild Kurt Cobain, was auch nicht viel origineller war. Nur würde ich mich hüten, ihr das zu sagen. Layla war ein herzensguter Mensch, aber sie hatte ein Temperament, das einen in Angst und Schrecken versetzen konnte. Wenn sie sich ungerecht behandelt fühlte oder glaubte, dass anderen Lebewesen Unrecht getan wurde, konnte sie zu einer regelrechten Furie werden, die sich und ihre Liebsten bis aufs Bitterste verteidigte.

»Na los.«

Sie schwang sich auf einen Hocker und begann ihre Gitarre zu stimmen. Ich gesellte mich neben sie und wenige Minuten später spielte Layla die ersten Akkorde von Nirvanas Come As You Are. Ich tat ihr den Gefallen und stimmte mit ein, vor allem, weil ich das Lied schon seit Jahren mit ihr spielte. Es gehörte zu unserer Tradition mindestens einen Nirvana Song zu covern, wenn wir zusammen Musik machten. Auch wenn wir inzwischen genügend eigene Songs hatten, dank Laylas kreativer Ader und ihrer Freude am Schreiben.

»Sorry, Leute!«

Ich unterbrach das Spielen und schaute auf. Marc schob sich durch die Seitentür in unseren improvisierten Proberaum, der ursprünglich mal die Garage von Laylas Nachbarn gewesen war. Er hatte sie uns großzügigerweise vor einem Jahr überlassen, damit wir einen Ort zum Proben hatten.

»Du bist spät.«

Leo stand auf und warf Marc einen vorwurfsvollen Blick zu, den er mit einem strahlenden Lächeln erwiderte. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, dass das bei den Frauen, die Marc so zahlreich abschleppte, wunderbar funktionierte, aber Leo stieß nur ein genervtes Schnauben aus.

»Krieg dich wieder ein, ich habe dir einen Proteinshake mitgebracht.«

»Echt jetzt?« Leos Blick wurde minimal freundlicher. »Danke.« Er klopfte Marc kurz auf die Schuler, was bei Leo einer Umarmung gleichkam.

»Okay Jungs, seid ihr mit kuscheln fertig? Ich würde gerne anfangen.« Layla machte eine auffordernde Geste in Richtung Marc und Leo, die sich sofort in Bewegung setzten. Leo platzierte sich hinter seinem Schlagzeug, während sich Marc neben mich an sein Keyboard stellte.

»Also, aufgepasst! Am Wochenende haben wir einen Auftritt in der TamTam Bar und darum sollten wir heute noch mal unsere Setlist durchgehen.« Layla kramte einen zusammengefalteten Zettel aus der Tasche ihrer Lederjacke hervor und runzelte konzentriert ihre Stirn.

Lächelnd musterte ich sie von der Seite. Schon als Kinder hatten wir zusammen Musik gemacht, aber während ich meistens nur für mich spielte, hatte sie vor einem Jahr die Band zusammengebracht und seither konnte ich mir mein Leben gar nicht mehr ohne vorstellen.

Layla schrieb nicht nur unsere Songs und spielte überirdisch gut Gitarre, sondern machte uns auch ab und zu kleinere Auftritte klar. Es fiel mir zwar schwer, mir das einzugestehen, aber sie hatte uns Chaoten verdammt gut im Griff.

»Fangen wir mit Tired of Waiting for You an?«

Layla wartete unsere Antwort gar nicht erst ab, sondern entlockte ihrem Kurt die ersten sanften Töne, bevor Leo mit einem rockigen Beat einsetze. Ich schnappte mir das Mikro und sang die ersten Zeilen, die Layla vor sechs Monaten geschrieben hatte, nachdem sie die Beziehung zu Toby, diesem Arschloch, endlich beendet hatte.

Wir probten den ganzen Nachmittag. Zwischendurch machten wir kurze Pausen, in denen wir noch ein paar Dinge für den Auftritt durchgingen.

Als ich drei Stunden später die Gitarre einpackte, war ich mehr als zufrieden. Es gab kaum etwas, das mich so glücklich machen konnte, wie Musik.

»Das lief doch ganz gut.«

Marc fuhr mit einem breiten Grinsen im Gesicht auf dem Fahrrad neben mir. Wir mussten beide in Richtung Stadtmitte, auch wenn mein Weg von dort noch ein ganzes Stück weiterging. Ich wohnte am Rande von Lilberg in einer Wohnung, die halbwegs bezahlbar war und vor allem genug Platz für Lynn bot. Sie hatte dort ihr eigenes Zimmer für die drei Tage in der Woche, die sie bei mir war.

»Ist die Kleine heute bei dir?«

»Ja, sie kommt nachher und bleibt bis Freitag.«

»Cool, wie geht’s ihr?« Marc warf mir einen kurzen Seitenblick zu, den ich nicht einzuordnen wusste.

»Gut, du kennst sie ja. Sie ist der gleiche fröhliche Wirbelwind, der sie immer war.«

»Schön. Und wie ist es mit Anna?«

»Was meinst du?« Ich runzelte die Stirn, als Marc meine Ex-Freundin erwähnte.

»Na ja, sie hatte doch ziemlichen Stress mit diesem Typen, oder?«

»Ja«, gab ich seufzend zurück. »Sie haben sich getrennt. Anna stand vor zwei Wochen plötzlich heulend vor meiner Haustür.«

»Oh Mann.«

»Jepp, das war ziemlich beschissen. Lynn hat davon zum Glück nichts mitbekommen.«

»Immerhin. Sag mal, läuft da zwischen Anna und dir wieder was?«

»Nein!« Schockiert drehte ich meinen Kopf zu Marc um. »Die Sache mit ihr ist seit zwei Jahren vorbei, das weißt du. Da wird nie wieder was laufen.«

»Okay, okay. War ja nur eine Frage.«

»Quatsch, da musst du dir absolut keine Sorgen machen. Den Stress tue ich mir nicht noch mal an.«

Marc nickte erleichtert, was mich nicht wunderte. Er kannte mich seit Jahren. Er war in der neunten Klasse auf unsere Schule gekommen und seither hingen wir ständig miteinander ab. Genau wie Layla hatte er mitbekommen, wie die Beziehung zwischen Anna und mir begonnen hatte. Und er wusste ganz genau, warum sie zerbrochen war und dass es das Beste gewesen war, was wir hatten tun können. Uns zu trennen. Trotz Lynn, denn in der Beziehung mit Anna hatte ich schmerzhaft erkennen müssen, dass ein gemeinsames Kind nicht als Grund ausreichte, um zusammenzubleiben.

»Und sonst? Gibt’s eine andere?«

»Was? Nein!«

Ich wusste, warum Marc mich das fragte, warum mich das am liebsten jeder fragen würde, der mich kannte. Seit Anna hatte ich mich auf keine Frau mehr ernsthaft eingelassen. Es war mir ein zu großes Risiko, jemanden in mein Leben zu lassen, der einfach wieder verschwinden könnte. Das wollte ich Lynn nicht antun, außerdem hatte ich dafür gerade gar keine Zeit. Wie sollte ich zwischen Bandproben, den Stunden im Grafikbüro und den drei Tagen mit Lynn überhaupt Zeit für eine Freundin haben?

»Schade. Täte dir vielleicht mal wieder gut.«

Kurz blitzte das Bild von dem Mädchen im Supermarkt vor meinen Augen auf. Die Begegnung war jetzt drei Tage her und ich hatte keine Ahnung, warum ich mich überhaupt noch so genau daran erinnerte. Irgendetwas hatte mich an der Frau mit den großen braunen Augen fasziniert. Vielleicht war es ihre zurückhaltende Art gewesen, mit der sie mich reserviert und völlig verwirrt angestarrt hatte, nachdem ich ihr anbot, für sie zu kochen. Sie wirkte wie ein Mensch, der es nicht mochte, wenn die Dinge anders liefen als geplant. Tja, im Improvisieren, wenn alles gründlich schiefging, war ich dafür ein Meister.

»Jonah?«

»Mmh?«

»Du hast gerade an eine Frau gedacht.«

»Habe ich nicht!«

Verflucht! Warum musste er mich auch so gut kennen, dass es ihm absolut keine Mühe bereitete, mich zu durchschauen?

»Alles klar, Mann. Wir reden wann anders darüber. Freitagabend bei einem Bier, bevor wir spielen?«

»Klaaar. Bis dann!«

Grinsend bog ich ab und trat kräftiger in die Pedale. Lynn würde um neunzehn Uhr ankommen und da ich absolut keinen Bock auf Annas Vorwürfe hatte, tat ich mein Bestes, um nicht zu spät zu sein. Das passierte mir sowieso viel zu oft. Diese dämliche Pünktlichkeitssache! Keine Ahnung, warum das so vielen Leuten so wichtig war. Die Welt ging schließlich nicht unter, wenn man mal ein bisschen später kam.

»Ah, da ist er ja.«

Anna stand mit verschränkten Armen vor meinem VW-Bus, als ich um die Ecke gehetzt kam. Lynn stand neben ihr. Bei meinem Anblick hüpfte sie erst hoch, bevor sie dann auf mich zugerannt kam.

Schnell sprang ich vom Fahrrad, das ich achtlos zur Seite warf, und öffnete meine Arme, in die sich Lynn wenige Sekunden später schmiegte. Ich wirbelte sie einmal durch die Luft und mein Herz machte einen Sprung, als sie laut auflachte.

Wenn es etwas gab, das mich noch glücklicher machen konnte, als die Musik, dann war das meine Tochter.

»Na, Prinzessin?« Ich setzte sie wieder ab und ging vor ihr in die Hocke.

»Ich bin keine Prinzessin.« Lynn verschränkte ihre Arme und blitzte mich aus hellblauen Augen wütend an. Mit einer absolut prinzessinenwürdigen Geste warf sie ihre blonden Locken zurück.

»Was bist du dann?«

Ganz offensichtlich waren wir über die Wir-spielen-Prinzessin-und-König-Phase hinweg.

»Ein Pirat.«

»Soso.« Ich zog ein imaginäres Fernrohr aus meiner Tasche. »Und was für ein Abenteuer erleben wir heute?«

»Wir suchen einen Schatz!« Lynn wirbelte herum und zog mich in Richtung Wohnung.

Lachend folgte ich ihr, wobei ich vor Anna abrupt zum Stehen kam.

»Ich weiß nicht, wer hier das fünfjährige Kind ist.« Sie warf mir einen strengen Blick zu, doch das Lächeln auf ihren Lippen verriet sie. »Pass gut auf sie auf.«

»Mach ich. Wie immer. Gute Arbeitstage dir.«

»Danke. Lynn? Gibst du Mama noch einen Abschiedskuss?«

Lynn, die schon auf die Haustür zugesteuert hatte, drehte sich um und rannte zu uns zurück. Sie schlang ihre Arme um Anna und drückte ihr einen Kuss auf den Mund.

»Tschüss, Mama!« Mit diesen Worten griff sie nach meiner Hand und zog mich zu meiner Wohnung. Ich schob sie hinein, bevor Anna noch etwas sagen könnte, das mir meine gute Laune raubte.

»Okay, was essen Piraten denn zum Abendessen?«

»Ist doch klar. Fischstäbchen und Pommes!«

»Natürlich, was sonst?«

»Können wir nachher eine Insel bauen? Wir haben das im Kindergarten gemacht mit Decken und ganz vielen Kissen und Nadine ist runtergefallen, alle haben gelacht, das war echt gemein, aber dann haben wir eine eigene Insel gebaut und einen Schatz versteckt und –«

Ich lauschte Lynns munterem Geplapper, während sie in der Küche auf und ab hüpfte und pure Lebensfreude ausstrahlte. Das waren die Momente, in denen ich wusste, dass es all das Chaos wert war. Dass ich keinen Plan und keine Struktur brauchte, die mein Leben zusammenhielten. Das machte Lynn bereits. So anstrengend es auch manchmal war und so sehr ich mich danach sehnte, nicht an einen Ort gebunden zu sein, würde Lynn es immer wert sein, zu bleiben.

Und eigentlich hatte ich ja auch alles, was ich brauchte. Freunde, Musik, einen Job, eine wundervolle Tochter. Eigentlich.

Seufzend schob ich den Gedanken beiseite und verhinderte gerade noch rechtzeitig, dass Lynn den Eierkarton aus dem Kühlschrank holte.

»Was genau soll das werden, Madam?«

»Piraten lieben Rührei.«

»Na schön, hol dir die Schürze, dann darfst du helfen.«

»Juhu.«

Sie sprang um mich herum und griff nach der Kinderschürze, die an einem Haken neben den Handtüchern hing. Im nächsten Moment war sie auch schon am Kühlschrank.

»Warte, ich helfe dir …«

»Nein, ich kann das selber!«

Im nächsten Moment hörte ich ein platschendes Geräusch und ohne hinzuschauen, wusste ich, dass sich Eigelb und Schalen gerade auf dem Boden verteilten.

»Na dann schauen wir doch mal, wie gut Piraten putzen können.«