Jennifer Alice Jager

Awakening

Terra #1

Weitere Bücher von Jennifer Alice Jager im Arena Verlag:

Windborn. Erbin von Asche und Sturm

Jennifer Alice Jager schrieb ihr erstes Buch während der Ausbildung zur Mediengestalterin. Schnell erlangte sie Bekanntheit durch ihre erfolgreichen Märchenadaptionen und Fantasyromane bei Carlsen Impress. Nachdem sie eine Zeit lang in Japan lebte, wohnt sie heute wieder in ihrer Heimat, dem Saarland, widmet sich hauptberuflich dem Schreiben und verbringt ihre Freizeit am liebsten mit ihren Tieren in der freien Natur.

Für all jene, die Ohren, Mund und Augen
nicht vor dem verschließen, was wir
mit eigener Hand anrichten.

Because

#thereisnoplanetb

KAPITEL 1

ADDY

TAG 1: SA, 08: 35 UHR, ORSETT, ENGLAND

Wenn es etwas gab, in dem Addy unschlagbar war, dann darin, sich in unter zehn Minuten fertig zu machen. Dank ihrer Schuluniform musste sie morgens nicht einmal Zeit vor dem Kleiderschrank verschwenden. Wenn man dann noch keinen Wert auf faltenfreie Kleidung, eine aufwendige Frisur und schickes Make-up legte, war der Rest ein Kinderspiel.

Eben noch lag sie mit zerzaustem Haar im Bett, acht Minuten später stürzte sie mit lautem Gepolter die Treppe nach unten, schnappte sich ihren Schulrucksack und die Jacke und griff nach der Türklinke.

»Morgen!«, rief sie flüchtig in die Küche.

»Einen Moment mal, junge Dame!«, hielt ihre Mum sie auf.

Addy hatte die Haustür bereits aufgezogen, hielt die Klinke noch in der Hand und schlüpfte, auf einem Bein hüpfend, in ihren Lederslipper.

»Keine Zeit«, wiegelte sie ab und griff sich ihren zweiten Schuh.

»Sicher?« Ihre Mum stand an der Küchentheke, schmunzelte provokant und wedelte Addy den Duft ihres frisch aufgebrühten Kaffees entgegen.

Dabei hatte Addy wirklich keine Zeit für so etwas. Sie hatte vergessen, die Weckfunktion ihres Handys auch auf Samstag einzustellen, weswegen sie nicht rechtzeitig wach geworden war. Ihre Mum hatte sie nicht geweckt und in zehn Minuten musste Addy schon in der Schule sein. Aber es war Kaffee! Heißer, verführerisch duftender, alles besser machender Kaffee. Unmöglich, dem zu widerstehen.

Sie seufzte theatralisch, vergaß auch nicht, mit den Augen zu rollen, und ging in die Küche. »Du bist schuld, wenn ich jetzt Ärger bekomme.«

Ihre Mum stellte eine zweite Tasse auf die Theke und goss ein. »Das mag schon sein. Aber das ist mir immer noch lieber, als zu vergessen, wie meine eigene Tochter aussieht.« Sie blickte Addy über ihren Kaffee hinweg an und wirkte trotz freundlichem Lächeln müde und ausgelaugt. Sofort bekam Addy ein schlechtes Gewissen.

Um ihr die teure Schule zu finanzieren und sich die Miete für das kleine Haus in einer ruhigen Straße von Orsett leisten zu können, hatte ihre Mum zwei Jobs. Nachmittags bediente sie in einem Pub und nachts putzte sie im Stromkraftwerk der Elekreen Group die Büroräume. Und das alles nur, weil London für Addy zu einem Gefängnis geworden war – weil der Lärm, der Dreck und die beengte Wohnung ihr die Luft zum Atmen genommen hatten. Nur ihretwegen waren sie vor zwei Jahren von dort weggezogen, ihretwegen schuftete sich ihre Mum halbtot und Addy war auch fest davon überzeugt, der Grund für die Trennung ihrer Mum von Luc gewesen zu sein – auch wenn Helen das nie zugeben würde.

»Wie du siehst, habe ich mich nicht verändert«, sagte Addy mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen und deutete an sich herunter.

Eigentlich stimmte das nicht so ganz. Zwar war sie noch immer das eher schlichte Mädchen mit dem dunkelbraunen Pferdeschwanz, dem runden Gesicht und trotz ihrer siebzehn Jahre der Figur eines 14-jährigen Jungen, aber immerhin war dieses Gesamtpaket jetzt in die Uniform einer Privatschule gehüllt. Elekreen, dem Arbeitgeber ihrer Mum, zum Dank.

»Oh doch, das hast du«, widersprach Helen und strich Addy eine lose Strähne hinters Ohr. »Du strahlst von innen heraus. Du bist wieder mein kleines Mädchen.«

Verlegen senkte Addy den Blick und starrte in ihren Kaffee. Sie hatte noch immer nicht ganz verwunden, was damals vorgefallen war. Keiner von ihnen beiden hatte das. Addy schämte sich sogar dafür und hatte niemandem aus ihrem neuen Leben davon erzählt. Nicht einmal ihre beste Freundin wusste, dass Addy noch vor nicht allzu langer Zeit allein bei dem Gedanken daran, ihr Zimmer zu verlassen, Panik bekommen hatte. Das war nichts, woran sie gerne erinnert wurde. Selbst dann nicht, wenn ihre Mum es in ein Lob verpackte.

»Und die Schule? Läuft alles gut?«, fragte ihre Mum.

»Ja, alles super«, bestätigte Addy nickend.

Gerne hätte sie ihr den Gefallen getan und ihr alles erzählt, was in letzter Zeit Spannendes passiert war, jedoch gab es da nichts zu berichten.

Sie lebte wieder. Darauf kam es an. Sie ging vor die Tür, hatte Freunde, genoss die frische Luft und die Ruhe. All das, was es in London nicht gab. Sie hatte in ihrem neuen Zuhause alles, was sie brauchte, um glücklich zu sein. Nur in Gegenwart ihrer Mum fühlte sie sich immer so, als wäre das nicht genug. Als müsse sie ihr beweisen, dass die Opfer, die sie gebracht hatten, es wert gewesen waren. Und nicht irgendwann alles wieder von vorne anfangen würde, sie innerlich zusammenschrumpfte und ihre Ängste die Oberhand gewannen.

Addy wollte ja selbst nicht, dass es so weit kam. Und sie verstand auch nicht, wie es überhaupt so weit hatte kommen können. Sie war schon immer sehr empfindlich gewesen, was Lärm und Großstadtgetümmel anging, aber irgendwie war sie damit zurechtgekommen. Bis zu diesem einen Tag, an dem alles anders geworden war.

»Alles in Ordnung?« Ihre Mum sah sie sorgenvoll an.

»Sicher!«, bestätigte sie und setzte ein Lächeln auf, das scheinbar nicht ganz überzeugend wirkte. Addy wich dem forschenden Blick ihrer Mum aus und blieb am Fernseher hängen, der im Hintergrund lief. Mal wieder ein Bericht über einen Tornado oder Tsunami. Man sah zerstörte Häuser, verzweifelte Menschen und beim Anblick der entwurzelten Bäume und dem vielen Müll, der wie Konfetti über die Gegend verstreut worden war, schnürte es Addy die Luft ab. Ein Nachrichtensprecher im Vordergrund berichtete mit regloser Miene und toten Augen über die Geschehnisse, als wäre es das Normalste der Welt.

Addy hatte das Gefühl, als gäbe es nur noch schlechte Meldungen. Jeden Tag wurden irgendwo Städte und ganze Landstriche überflutet, abgebrannt oder unter Geröll vergraben. Einer Naturkatastrophe folgte die nächste, wie in einer Aufwärtsspirale der Zerstörung. Sie wünschte sich, man hätte auf die vielen Jugendlichen gehört, die freitags auf die Straße gegangen waren, um etwas zu bewegen. Sie wünschte sich, sie hätten wirklich etwas verändern können. Bei dem Gedanken an die Demos, das Gebrüll und die Enge auf Londons Straßen überkam sie ein Schauer und das Gefühl, nicht atmen zu können, drängte sich ihr auf.

Ihre Mum folgte ihrem Blick, sah, dass die Nachrichten liefen, und schaltete den Fernseher aus. Ganz offensichtlich machte sie sich noch immer große Sorgen, Addy könne zu labil sein, um sich der Realität zu stellen. War sie das denn? Sie fühlte sich nicht schwach und hilfsbedürftig. Sie wollte das nicht sein. Und dennoch konnte sie es nicht abschalten, Atemnot zu bekommen, wenn sie auch nur an die Großstadt dachte.

»Ich meinte nicht deine Noten«, verbesserte Helen sich und legte eine Hand auf Addys Arm. »Wie läuft es mit deinen Freunden und in der Liebe?«

Addy lachte verhalten, bemerkte dann aber den ernsten Blick ihrer Mum. Wollte sie wirklich irgendwelche Jungsgeschichten hören? Zum Glück blieb es Addy erspart zu antworten, denn noch bevor sie den Mund aufmachen konnte, hupte jemand vor ihrem Haus.

»Das wird Sarah sein«, meinte sie und nahm schnell noch einen Schluck Kaffee.

»Sarah holt dich oft ab. Ist sie deine BFF?«

Addy war bereits im Gehen, stockte bei dem holprigen Versuch ihrer Mum, sich in Jugendsprache zu versuchen, und wehrte die Vermutung mit einer knappen Handbewegung ab.

»Nur eine Freundin«, behauptete sie.

»Bring sie doch mal mit!«

»Mum, bitte!«, flehte Addy.

»Oder gleich ein paar Freundinnen. Wie wäre das? Ich koche auch etwas Leckeres.«

Addy war schon durch die Tür geschlüpft und streckte nur noch einmal den Kopf hindurch, um sich zu verabschieden.

»Bis dann«, sagte sie, ohne auf den Vorschlag einzugehen. »Hab dich lieb.«

Irgendwann würde ihre Mum Sarah kennenlernen und neben ihr vielleicht auch ein paar andere Freunde. Aber noch war Addy nicht so weit. Noch war ihre Angst zu groß, ihre Mum würde sich verplappern und es käme ans Licht, dass Addy einen Sprung in der Schüssel hatte. Was würden ihre Mitschüler dann von ihr denken?

Sie zog die Tür zu, drehte sich um und sah sich einem Urwald gegenüberstehen. Ihr Vorgarten sah aus wie ein Erholungsgebiet für Insekten und Kleintiere. Das Gras stand kniehoch, überall wucherte Unkraut und die Äste einer Eiche hingen tief über der Einfahrt.

Für einen Moment blieb Addy stehen, schloss die Augen und atmete tief durch. Sie liebte das Gefühl, die Zeit würde stillstehen, wenn sie Sonne und Wind auf ihrer Haut spüren und die Vögel zwitschern hören konnte. Allerdings hatte der Wildwuchs im Vorgarten mittlerweile solche Ausmaße angenommen, dass sie von der Sonne nicht mehr viel mitbekam. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Nachbarn sich darüber beschwerten.

Ein weiteres Hupen schreckte Addy auf und sie blickte zur Straße. Sarahs Cabrio stand halb auf dem Bürgersteig und hatte den Briefkasten nur knapp verfehlt.

»Wenn du mich nicht hättest, würdest du keine Ahnung haben, wie unsere Schule von innen aussieht«, lachte Sarah und nahm einen Schluck von ihrem Coffee to go.

Addy lief zu ihr, machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem und warf ihren Rucksack und die Jacke auf die Rückbank.

»Und wenn du nicht immer auf mich warten würdest, kämst du auch mal pünktlich zum Unterricht«, konterte sie und schnallte sich an.

»Ihr müsst euch mal um euren Garten kümmern«, meinte Sarah.

Addy warf einen Blick auf den Urwald und das kleine, ungepflegte Haus dahinter. Neben den akkurat geschnittenen englischen Rasen ihrer Nachbarn sah es wirklich aus wie aus einer anderen Dimension gefallen. Der Frühling hatte es dieses Jahr einfach zu gut mit der Natur gemeint und ließ es überall sprießen und wild wuchern. Addy konnte sich gar nicht mehr erinnern, wie ihre Straße ohne Rasen mähende Rentner in den Vorgärten ausgesehen hatte. Davon gab es beinahe mehr als Gartenzwerge.

»Ich mag es, so wie es ist.«

»Komm schon, selbst dein Haar ist nicht so struppig wie diese Wiese«, sagte Sarah schmunzelnd.

»Du kannst dir gerne mal unseren Rasenmäher ausleihen, wenn es dich so stört«, bot Addy an und zwinkerte ihrer Freundin zu.

Sarah stieß ein verächtliches Lachen aus. Sie stellte den Kaffee zurück in die Halterung und wedelte mit ihren pink lackierten Fingernägeln.

»Nicht bei der teuren Maniküre. Aber ich leihe dir gerne Ronaldo aus. Der vollbringt auf unseren Grünanlagen wahre Wunder und sieht oben ohne verdammt sexy aus.«

Addy schüttelte leise lachend den Kopf. Wenn man sie beide zusammen sah, war es offensichtlich, dass sie nicht viel gemeinsam hatten. Sarahs Familie gehörte zu den reichsten in Orsett, ihr Vater leitete das Elekreen-Kraftwerk und ihre Mum war Vorsitzende des Schulrats. Während Sarah sich großer Beliebtheit erfreute, nahmen die wenigsten Notiz von ihrem eher unscheinbaren Sidekick Addyson Maxwell. Wären sie nicht zufällig am selben Tag auf die Benjamin Franklin Academy gewechselt, hätten sie sich wahrscheinlich nie auch nur unterhalten. Aber so waren sie trotz ihrer Unterschiede beste Freundinnen geworden. Sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden und Addy mochte sie wirklich sehr. Vielleicht gerade deswegen, weil sie in Sarahs Gegenwart eine andere sein konnte. Einfach ein ganz normales Mädchen, ohne irrationale Ängste und düstere Gedanken.

Sie verließen Orsett über die Rectory Road in Richtung Schule und passierten dabei das Stromkraftwerk der Elekreen Group. Seine zwei mächtigen Türme ragten weit in den Himmel und stießen weißen Dampf in das unberührte Blau, als hätte man alleine ihnen die Entstehung der Wolken zu verdanken. Addy konnte kaum glauben, dass etwas so hässliches und monströses so vielen Menschen ein gutes Leben bescherte. Jedes Mal, wenn sie das Kraftwerk sah, schnürte es ihr die Kehle zu und sie wusste nicht einmal, wieso. Vielleicht erinnerte es sie zu sehr an die Großstadt? Ein Blick auf die weiten Felder nahm ihr dieses Gefühl wieder.

Der Wind zerstörte Addys Frisur, in die sie ohnehin nicht viel Mühe gesteckt hatte. Sie strich sich mit gespreizten Fingern durchs Haar und hielt es im Nacken zusammen.

»Am Montag ist Abgabe, vergiss das nicht«, erinnerte Sarah sie an die Englischarbeit. Sie nahm einen letzten Schluck Kaffee und warf den leeren Becher anschließend in den Straßengraben, wo er sich zu weiterem, achtlos weggeworfenem Müll gesellte. Addys Blicks blieb daran hängen.

»Ach, komm schon!«, stöhnte Sarah, als habe sie die Gedanken ihrer Freundin gelesen. »Das ist doch nur Pappe. Die ist biologisch abbaubar.«

»Ach ja? Und was ist mit dem Plastikdeckel?«

Sarah verdrehte die Augen. »Du und dein Öko-Wahn. Irgendwann zwingst du mich noch, mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren.«

Addy schmunzelte. »Das ist gar keine schlechte Idee.« Zu Sarahs Geburtstag würde sie ihr einen Becher aus Reishülsen schenken. Am besten einen in Pink mit einem lustigen Spruch darauf. Dann hätte sich das mit den Einwegbechern auch erledigt.

Ein Stück voraus war bereits die Mauer um das Schulgelände zu sehen. Vor dem Tor herrschte gähnende Leere, was keinen Zweifel daran ließ, dass sie das erste Läuten verpasst hatten und ihre Mitschüler schon auf dem Weg in ihre Klassenzimmer waren.

Ein plötzlich aufkommender Donner ließ Addy zusammenfahren. Der Himmel war viel zu blau für ein Gewitter. Sie blickte nach oben und riss die Augen auf, als zwei Flugobjekte mit hoher Geschwindigkeit über sie hinwegrasten.

Sarah verriss vor Schreck den Lenker, das Auto geriet ins Schleudern und Addy wurde gegen die Beifahrertür gepresst. Sie klammerte sich an den Sitz, stemmte ihre Beine fest auf den Boden und hielt die Luft an.

Ein kräftiger Ruck ließ sie gegen die Rückenlehne knallen und das Cabrio landete im Graben. Sarahs Atem hetzte, sie klammerte sich mit zittrigen Händen ans Lenkrad, schien aber unverletzt. Auch Addy ging es so weit gut. Sie atmeten erleichtert auf.

»Was zur Hölle war das?«, fragte Sarah.

Addy löste den Gurt und stieg auf den Sitz, um besser sehen zu können.

»Keine Ahnung«, murmelte sie. Der Schreck saß ihr noch in den Knochen. »Vielleicht Jets?«

Kondensstreifen zogen sich durch den Himmel und in der Ferne konnte sie weitere dieser Flugobjekte erkennen. Sie steuerten alle in Richtung London und machten, trotz der Entfernung, einen ohrenbetäubenden Lärm.

Ein paar Schüler stürzten aus dem Tor der Benjamin Franklin Academy, gefolgt von aufgebrachten Lehrern. Sie alle blickten den Flugobjekten nach.

Sarah kämpfte mit der Fahrertür, die sich scheinbar verklemmt hatte. Als sie endlich aufsprang, schlug sie gegen einen Baumstumpf.

»Mein Vater wird mich umbringen«, stöhnte sie, stieg aus und begutachtete den Schaden.

Addys Blick hing noch immer am Himmel. Diese seltsamen Flugobjekte waren keine Jets. Da war sie sich sicher. Mittlerweile waren sie kaum noch zu hören und die Kondensstreifen verblassten langsam, aber was Adddy gesehen hatte, erinnerte eher an Bomben als an bemannte Flugzeuge. Konnte das denn sein? Sie wollte nicht daran glauben und schüttelte benommen den Kopf. Sicher würde man schon bald in den Nachrichten erfahren, was es damit auf sich hatte, und am Ende war es bestimmt viel harmloser, als es sich in diesem Moment anfühlte.

Addy wollte gerade wieder vom Sitz steigen, als es eine Explosion gab. Am Horizont, dort, wo die Geschosse verschwunden waren, blitzte ein gleißendes Licht auf. Die Erde bebte und ein Grollen war zu hören, als würde sich eine Lawine auf die Schüler zubewegen. Dem ersten lauten Knall folgten weitere.

Diejenigen, die auf die Straße getreten und ein Stück in Richtung London gelaufen waren, schrien auf und rannten zurück. Addy versuchte, aus dem Auto zu steigen, doch da traf sie schon die Druckwelle.

Es war wie ein plötzlich aufkommender Sturm. Eine Wolke aus Staub, Dreck und Steinen rollte über die offene Straße hinweg. Addy wurde zurückgeschleudert, schlug hart auf dem Heck des Cabrios auf und landete im Gras.

»Sofort alle rein!«, schrie einer der Lehrer. Ein lautes Piepsen in Addys Ohren machte es ihr beinahe unmöglich, ihn zu verstehen. Ihr Schädel dröhnte und es fiel ihr schwer, auf die Füße zu kommen, so schwindelig war ihr. Nur mit Sarahs Hilfe schaffte sie es aus dem Graben.

»Das war London, verdammt!«, schrie jemand. »Die haben London weggebombt.«

War das wirklich so? Waren diese Geschosse Bomben gewesen und das gleißende Licht, gefolgt von der Druckwelle, die Folgen ihrer Detonation?

Addy blickte zum Horizont, doch außer einer dichten Staubwolke war nichts zu sehen. Ihr Herz pochte wie wild und ein beängstigender Gedanke nach dem anderen schoss ihr durch den Kopf. Erst nachdem Sarah ihre Hand losließ, bemerkte sie, wie sehr sie zitterte. London unter Beschuss? Das konnte unmöglich wahr sein!

Die Lehrer drängten ihre Schüler durch das Tor auf den Hof. Addy folgte ihnen wie in Trance. Es fühlte sich an, als träumte sie noch. Ein schrecklicher, viel zu realistischer Albtraum. Ihre Knie waren weich und drohten, ihr Gewicht nicht mehr zu halten. Sie taumelte und hielt sich am Torbogen fest.

»Kommt schon!«, drängte einer der Lehrer.

In der Ferne ertönten die Sirenen von Orsett. Addy warf einen letzten Blick in Richtung London. Der aufgewirbelte Staub lag wie Nebel über der Straße, doch die Sicht besserte sich bereits und man konnte eine immens hohe Rauchwolke erkennen, die sich am Horizont wie ein Gebirge aufgetürmt hatte.

Mitten auf der Straße stand noch ein Schüler, den die Lehrer wohl übersehen hatten. Der Junge blickte wie gebannt zu dem Rauchgebilde.

»Hey!«, rief Addy ihm zu, doch er regte sich nicht.

Sie sah sich gehetzt um, schlüpfte kurz entschlossen unter dem Arm eines Lehrers hindurch und rannte zurück auf die Straße.

»Wir müssen hier weg!«, schrie sie und packte ihn.

Der Schüler war selbst für einen gut gebauten Teenager ungewöhnlich stark und ließ sich von Addy nicht bewegen. Panik stieg in ihr auf. Sie hatte keine Ahnung, warum sie ihn nicht einfach stehen ließ. Jeden Moment konnten weitere Bomben fallen. Sie kannte ihn nicht einmal, erinnerte sich nicht, ihn je auf dem Schulgelände gesehen zu haben, aber wie hätte sie ihn ignorieren können? Und warum hatten die Lehrer ihn nicht bemerkt?

Der Fremde wandte sich ihr zu, und als ihre Blicke sich trafen, fühlte Addy sich wie unter einem Bann. Sein Gesichtsausdruck war so reglos wie der eines Nachrichtensprechers, der keinen Anteil an der Katastrophe in seinem Rücken nahm, doch seine Augen wirkten warm und vertrauensvoll – beinahe schon hypnotisierend in ihrem ungewöhnlichen flimmernden Goldschein. Ein seltsamer Geruch stieg Addy in die Nase. Er erinnerte sie an ein durchgebranntes Kabel, nur etwas süßlicher.

»Ich komme gleich«, sagte er ruhig, blickte wieder nach vorne und schob die Hände in die Hosentaschen.

Addy zögerte. Sollte sie ihn wirklich einfach hierlassen? Er stand scheinbar unter Schock und konnte nicht klar denken. Aber das konnte sie auch nicht. Ihr Herz pochte noch immer wild und ihr war, als würde der betörende Geruch, der ihn umgab, sie völlig einnebeln.

»Schrecklich, oder?«, fragte er, als ginge es hier um eine Kleinigkeit.

Addy schüttelte den Kopf, um wieder zur Besinnung zu kommen. Ihre Gedanken wurden klarer.

»Jaa«, betonte sie und deutete nach vorne. Die Anspannung ließ ihre Stimme gehetzt klingen. »London ist gerade explodiert, wer weiß, wie viele Menschen tot sind. Das ist mehr als schrecklich!«

Erst nachdem sie das ausgesprochen hatte, begriff sie selbst, was vor ihren Augen geschehen war. Ihre Kehle schnürte sich ihr zu. Sie starrte zum Horizont und hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Es war genau wie an jenem Tag, an dem sich ihr ganzes Leben verändert hatte und sie in sich zusammengebrochen war. Als sie statt der Parkanlage, in der sie ihre gesamte Kindheit verbracht hatte, eine Baustelle vor sich liegen sah.

Es hatte sich damals angefühlt, als wären die Bäume und Pflanzen, die gefällt und entwurzelt worden waren, ein Teil von ihr gewesen. Ein Teil, den man ihr brutal aus dem Leib gerissen hatte. Es tat weh. Es zerriss sie schier und alles um sie herum war zusammengeschrumpft und drohte, sie zu erdrücken. Genauso fühlte es sich auch in diesem Moment für sie an.

Was war bloß geschehen? Wer tat so etwas? Sie versuchte, ruhig zu atmen. Eine Panikattacke war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Sie wollte nicht wieder weglaufen und sich verkriechen. Nicht noch einmal.

»Da hast du wohl recht«, sagte der Junge ungerührt und drehte sich auf dem Absatz um.

Wie betäubt sah Addy ihm nach. Noch immer die Hände in den Hosentaschen und mit einem Blick, als wäre ihm alles im Leben egal, steuerte er auf die Schule zu. Addy erwischte sich dabei, wie sie diesen süßlichen, merkwürdigen Geruch, der ihn umgab, tief einatmete, als er an ihr vorbeilief. In ihren Ohren begann es zu rauschen und sie hatte das Gefühl, die Farben um sie herum würden bunter und die Formen definierter werden. Und ihre Angst, die verschwand einfach. Die sich anbahnende Panikattacke war wie nie da gewesen.

Erst als er das Tor erreicht hatte, strömte die Wirklichkeit wieder auf Addy ein, die Geräusche der Umgebung überfluteten sie und ihr ganzer Körper kribbelte, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen. Ihr lief es kalt den Rücken runter und sie schüttelte sich.

Es war das Adrenalin. Anders konnte sie sich nicht erklären, warum die Gegenwart des fremden Schülers so eine Wirkung auf sie ausübte.

Entweder das oder er nahm irgendwelche Drogen, deren Wirkung Addy beim Einatmen zu spüren bekommen hatte.

»Addy!«, zischte Sarah ihr zu.

Addy überwand ihre Benommenheit und fand Sarah an die Mauer gepresst, nahe dem Tor. Scheinbar hielt sie sich dort vor den Lehrern versteckt. Nachdem sich Addy davon überzeugt hatte, dass sonst niemand in der Nähe war, lief sie zu ihr.

»Was hast du vor?«, fragte sie mit gesenkter Stimme.

»Gib mir dein Handy!«, flüsterte Sarah.

Addy griff an ihre Rocktasche, doch da fiel ihr ein, dass sie es im Auto gelassen hatte.

»Ich hab’s nicht hier«, sagte sie und deutete mit dem Kinn auf Sarahs Cabrio.

»Die Lehrer haben alle Handys einkassiert und versprochen, unsere Eltern zu benachrichtigen. Aber jetzt heißt es, dass das Festnetz lahmgelegt ist. Die wollen uns hier festhalten, bis sie wissen, was passiert ist.«

Addys Gedanken rasten. Sie musste ihre Mum erreichen und ihr sagen, dass alles gut war. Aber dafür brauchte sie ihr Handy. Es war nicht fair, dass die Lehrer sie von der Außenwelt abschneiden wollten.

»Hey!«, flüsterte jemand. Es war Dave, ein Junge aus der Abschlussklasse. Einer von denen, die sich eigentlich für zu cool hielten, um mit jemandem wie Addy zu reden. »Springt die Karre noch an?«

»Hast du kein eigenes Auto?«, knurrte Sarah.

»Das steht auf dem Parkplatz und der wird von den Lehrern bewacht wie von einem Rudel Bluthunde. Ich und ein paar andere wollen Richtung London fahren, nachschauen, was da abgeht. Seid ihr dabei?«

»Bist du irre?«, stieß Sarah fassungslos aus.

»Es zwingt euch ja niemand mitzukommen. Wir wollen nur das Auto.«

Sarah schnaubte. »Typisch Jungs. Kaum fliegt irgendwo was in die Luft, müsst ihr drauf zulaufen. Euch ist schon klar, wie gefährlich das ist?«

»Dir ist schon klar, dass du ein feiges Huhn bist?«, konterte Dave.

»Pssst!«, zischte Addy.

Am Tor war ein Lehrer ins Freie getreten und ließ seinen Blick über die Straße schweifen. Die drei pressten sich dichter an die Mauer und warteten, bis er wieder verschwunden war.

»Was, wenn das Atombomben waren?«, fragte Sarah. »Du wirst verstrahlt, wenn du nach London fährst.«

»Ich will ja nicht in die Stadt reinfahren. So blöd bin ich nun auch wieder nicht. Ich will nur ein Stück näher ran, bis über den nächsten Hügel«, meinte Dave.

»Wenn 25 Meilen von uns entfernt eine Atombombe eingeschlagen ist, sind wir ohnehin alle verstrahlt«, sagte Addy gefasst und war selbst überrascht, wie ruhig sie dabei blieb.

»Wir haben nicht ewig Zeit«, meinte Dave und hielt Sarah die offene Hand hin. »Der Schlüssel?«

»Den gebe ich dir nicht!«, fuhr Sarah ihn an.

»Komm schon! Du schuldest mir was, wegen der Sache mit Alex.«

»Wehe du verlierst nur ein Wort darüber, dass wir rumgeknutscht haben!«, warnte ihn Sarah mit erhobenem Zeigefinger.

»Der Schlüssel?« Dave grinste schelmisch.

»Der steckt«, murrte sie und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Sag das doch gleich«, beschwerte er sich und schlich an ihnen vorbei zum Auto.

»Und du sagst kein Wort!«, rief Sarah ihm mit gesenkter Stimme nach.

»Meine Lippen sind versiegelt!«

»Lass uns reingehen«, bat Sarah.

Addy sah Dave nach. Wieso hatte sie ihr blödes Handy nicht in der Rocktasche gehabt? Dann hätte sie ihre Mum jetzt schon angerufen und es Sarah leihen können. Wenn das Festnetz ausgefallen war, wie lange konnte es da noch dauern, bis auch das Handynetz nicht mehr funktionierte? Die Zeit lief ihr davon.

»Gleich«, antwortete sie.

»Wie gleich?«

»Ich hole schnell mein Handy.« Allein beim Gedanken daran begann ihr Herz, schneller zu schlagen, aber hier draußen war sie nicht weniger sicher als in der Schule und ihr Handy war zum Greifen nah.

»Dann beeil dich, verdammt!«, drängte Sarah und sah sich gehetzt um.

»Warte hier«, bat Addy und folgte Dave zum Wagen.

Als der sie sah, betrachtete er sie von oben bis unten und hob dabei anerkennend die Brauen. »Du bist ganz schön mutig für ein Mädchen. Von mir aus kannst du mitkommen, aber wehe, du heulst rum.«

Verwirrt sah Addy ihn an.

»War es nicht das, was du fragen wolltest?«

»Ich will bloß mein Handy haben«, entgegnete sie und wollte schwungvoll die Beifahrertür aufziehen, zerrte aber nur vergebens am Griff.

Dave lachte. Er sprang mit einem Satz ins Auto, fuhr sich, kaum dass er saß, mit gespreizten Fingern durchs blonde Haar und zwinkerte Addy zu, woraufhin sie nur mit den Augen rollte.

»Dir ist schon klar, dass Sarah dir das Auto nur überlassen hat, weil du es sowieso nicht auf die Straße bekommst?« Das Cabrio hing mit dem Heck im Graben und hatte mit einem der Hinterreifen keinen Kontakt zum Boden. Addy bezweifelte, dass da ohne Abschleppwagen viel zu machen war.

»Jetzt hol schon dein Handy.«

Addy beugte sich weit über die Tür, sodass sie mit den Beinen in der Luft hing und den Fußraum nach ihrem Handy abtasten konnte.

»Dann pass mal gut auf«, sagte Dave plötzlich siegessicher, legte den Gang ein und trat aufs Gas.

Die Reifen drehten durch, Grasbüschel und Dreckklumpen flogen weit ins Feld und der Motor heulte laut auf.

»Spinnst du?!«, schrie Addy. Panisch klammerte sie sich an die Rückenlehne des Beifahrersitzes, als die Hinterachse zur Seite wegschlitterte und das Cabrio aus dem Graben auf die Straße schoss. Sie rutschte vollends auf den Sitz, drehte sich umständlich nach vorne und zog die Beine nach. Ihr Atem ging stoßartig und ihr ganzer Körper kribbelte vor nachlassendem Schrecken.

»Handy gefunden?«, fragte Dave.

»Du hättest mich umbringen können!«, fuhr sie ihn an.

»Ach Blödsinn!«

Zumindest in einem lag er richtig. Sie hatte ihr Handy gerade in dem Moment zu greifen bekommen, als der Wagen losgeschossen war. Sie warf einen Blick darauf.

»Keinen Empfang?«

»Nicht einen Balken«, murmelte sie. Der Empfang war an der Schule schon immer schlecht gewesen. Aber zumindest einen Balken hatte sie sich erhofft. »Halt an.«

Er trat auf die Bremse. Sarah kam auf sie zugelaufen und Addy stand auf. Doch noch bevor sie aussteigen konnte, hatten zwei Lehrer Sarah eingeholt. Ihre Sportlehrerin, Mrs Hill, drängte sie zurück zum Torbogen, der andere wandte sich dem Cabrio zu. Es war Mr Walsh, der immer fies dreinschauende Mathelehrer der Oberstufe.

Dave trat aufs Gas, bevor der Mann etwas sagen konnte, und Addy fiel wieder in den Sitz.

»Anhalten!«, verlangte sie. Sie warf einen Blick nach hinten. Der Lehrer war bereits weit zurückgefallen.

»Wie du willst«, sagte Dave und stoppte so abrupt, dass Addy sich am Armaturenbrett abfangen musste.

Erleichtert atmete sie auf. Stellte dann aber fest, dass Dave nicht für sie angehalten hatte. Zwei weitere Schüler aus der Zwölften hechteten um die Ecke der Schulmauer und sprangen auf die Rückbank.

»Was macht die Elftklässlerin hier?«, fragte das Mädchen mit wasserstoffblonder Kurzhaarfrisur.

»Die wollte unbedingt mit«, meinte Dave abwiegelnd.

»Das stimmt gar nicht!«, wehrte Addy ab und fuhr mit Nachdruck in der Stimme fort. »Ich steige gerade aus.«

»Sicher?«, fragte Dave. »Wir fahren nicht weit. Nur bis zum nächsten Hügel und dort hast du ganz bestimmt Empfang. Außerdem: Ärger bekommst du jetzt sowieso.«

Das Mädchen warf einen Blick zurück. »Mr Walsh hat uns gleich eingeholt. Also wenn du aussteigen willst, dann jetzt. Und lass dein Handy hier. Unsere hat man nämlich einkassiert.«

Addys Gedanken rasten. Auch sie schaute zurück zu dem vor Wut schäumenden Mathelehrer. Dave hatte ja recht. Sie würde Ärger bekommen, egal, ob sie nun ausstieg und ihre Unschuld beteuerte oder nicht. Ihre Finger schraubten sich fester um ihr Handy. Weggeben würde sie es keinesfalls.

»Wir haben keine Zeit für so was!«, knurrte Dave und trat das Gaspedal voll durch.

Addy wurde in die Rücklehne gepresst. Sie konnte nicht glauben, dass sie keinen Einspruch erhob. Vielleicht stand sie noch unter Schock.

Der Junge hinter ihr beugte sich vor und streckte ihr die Hand entgegen.

»Jared, freut mich«, stellte er sich vor. Addy ergriff, ohne nachzudenken, seine Hand.

»Addyson Maxwell. Addy«, sagte sie mit tonloser Stimme und wandte sich dann an Dave. »Nur bis zum nächsten Hügel. Versprochen?«

Dave grinste nur breit.

»Bist du neu auf der Schule?«, fragte das Mädchen.

»Das ist Patti«, erklärte Jared.

Addy kannte die drei. Zumindest vom Sehen her. Schließlich war sie schon seit fast zwei Jahren auf der Benjamin Franklin Academy. Sie hingegen war wohl eine Fremde für die Zwölftklässler.

»Ich komme aus London«, sagte sie nachdenklich und richtete ihren Blick wieder nach vorne.

Die Rauchwolke war dort noch immer zu sehen. Wie in Stein gemeißelt, baute sie sich vor ihnen auf und sie hielten direkt darauf zu.

»Hast du Verwandte dort?«, fragte Dave.

Addy schüttelte den Kopf. »Nein, keine Verwandten.«

Sie dachte an ihre ehemaligen Mitschüler. Nach allem, was passiert war, war sie nicht mehr wirklich eng mit einem von ihnen befreundet gewesen. Ob sie den Angriff überstanden hatten?

Addy konnte sich von dem Anblick vor ihr kaum lösen, doch ihre Gedanken schweiften schnell zu diesem fremden Jungen, der so ungerührt von alledem gewesen war. Da hatte etwas in seinem Blick gelegen, das sie gepackt und innerlich aufgewühlt hatte, und trotz ihrer Angst und der Tatsache, dass sie gerade unfreiwillig in dieses Abenteuer hineingezogen worden war, konnte sie nicht aufhören, daran zu denken.

KAPITEL 2

ADDY

TAG 1: SA, 09:45 UHR, ORSETT, ENGLAND

Jared hatte Addy ihren Rucksack nach vorne gereicht und sie umklammerte ihn nun, als hinge ihr Leben davon ab. Zu Anfang hatten die Jungs den Ausflug noch auf die leichte Schulter genommen, hatten gelacht und gescherzt, doch mittlerweile herrschte erdrückende Stille.

Sie hätten die Skyline von London längst sehen müssen, aber da war nur Rauch. Dave fuhr langsamer.

Die Bäume waren durch die Druckwelle zu beiden Seiten der Straßen entwurzelt worden und lagen parallel zueinander auf den Wiesen. Der Anblick ließ Addy erschaudern, die Brust schnürte sich ihr zu und sie spürte, wie ihr Atem schneller ging. Es tat ihr beinahe schon körperlich weh, das zu sehen. Es wirkte, als habe jemand einen riesigen Friedhof für Bäume angelegt. Schnell riss sie sich von diesem Anblick los und starrte in den Fußraum. Sie fühlte sich, als wäre ihre Haut bloß eine Verkleidung, die ihr wahres Ich vor ihren Mitschülern abschirmte. Sie wollte nicht, dass sie mitbekamen, was wirklich in ihr vorging.

»Versuch es noch mal«, bat Jared und deutete auf Addys Handy.

Sie brauchte einen Moment, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Ihre Finger zitterten, als sie die Wahlwiederholung drückte, doch auch diesmal bekam sie kein Freizeichen. Auch das Internet funktionierte nicht. Was musste bloß geschehen sein, dass sie von sämtlicher Kommunikation abgeschnitten waren?

»Nichts?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf und fixierte weiter den Boden.

»Alles okay bei dir?«, fragte Dave. »Du kippst uns jetzt doch nicht um, oder? Wir fahren nicht mehr weit. Nur bis man was erkennen kann.«

»Es geht schon«, sagte sie gefasst und bildete wieder nach draußen.

Es waren nur Bäume. Das musste sie sich nur immer wieder sagen. Sie durfte nicht wegen ein paar Pflanzen in Panik verfallen. Auch dann nicht, wenn sie glaubte, echte Schmerzen zu spüren. Schon viele Male hatte sie sich anhören müssen, dass das alles nur in ihrem Kopf passierte. Von ihrem Therapeuten, ihren ehemaligen Freunden und sogar von Luc, dem Ex ihrer Mum, bevor die beiden sich getrennt hatten. Sie wollte das nicht auch von Dave und den andern hören müssen – stell dich nicht so an, reiß dich zusammen, heul nicht rum. Solche Sprüche hätte sie einfach nicht ertragen, also riss sie sich zusammen, sagte einfach nichts und erinnerte Dave auch nicht daran, dass sie nur bis zum nächsten Hügel hatten fahren wollen.

Hin und wieder passierten sie ein von der Straße abgedrängtes Auto. Ein paar Fahrzeuge waren ihnen bisher schon entgegengekommen, aber zum größten Teil war es erschreckend still und wie ausgestorben.

Allmählich ebbte Addys Panik ab, der Schmerz, den sie geglaubt hatte zu fühlen, verging und etwas irritierte sie an dem, was sie neben der Straße sah. Wieso blühten die entwurzelten Bäume, anstatt ihre Blätter hängen zu lassen? Wieso sah es so aus, als lägen sie schon Monate lang so dort? Ihre Stämme waren teilweise von anderen leuchtend grünen Pflanzen überwuchert, junge Triebe reckten sich steil gen Himmel und neue Wurzeln hatten sich wie Anker in den Boden geschlagen. Je länger sie die Landschaft betrachtete und je mehr blühende Pflanzen sie sah, desto leichter wurde ihr ums Herz.

Addy erinnerte sich an eine Fernsehreportage, in der es um die Manipulation von Pflanzen und Tieren ging, die als schleichende Massenvernichtungswaffen eingesetzt werden sollten. Die Natur wurde so verändert, dass sie eine für Menschen unwirkliche Umgebung schuf. Terraforming nannten sie das. Einige Staaten warfen sich gegenseitig vor, bereits Experimente mit schwerwiegenden Folgen durchgeführt zu haben und Schuld an Erdbeben und Fluten zu tragen. War es das, was London getroffen hatte? Eine Biowaffe? War England ins Kreuzfeuer geraten oder trugen sie selbst Schuld an dem, was gerade geschah?

»Da vorne!«, stieß Jared aus und deutete auf die Straße.

Hinter den dichten Rauchschwaden, die ihre Sicht auf gut eine halbe Meile beschränkten, waren Bewegungen und Schatten zu sehen.

Addy spürte, wie die Angst in ihr wuchs, und sie drückte sich ihren Rucksack noch fester an den Körper. Es war verrückt, aber irgendwie erwartete sie, dass jeden Moment Zombies oder Aliens aus dem Rauch treten würden. Vielleicht lebende fleischfressende Pflanzen?

Tatsächlich waren es ganz normale Menschen. Dieser Anblick war beinahe noch erschreckender als eine ihrer abwegigen Fantasien.

Es waren Flüchtlinge aus der Umgebung von London. Ihre Haare und Kleidung waren von Feinstaub überzogen, einige waren verletzt und nur notdürftig versorgt worden. Sie schleppten sich die Straße entlang und manche fuhren in überfüllten Autos an ihnen vorbei. Alle schienen sie wie in Trance, sprachen nicht, hielten ihre Blicke gesenkt.

Obwohl sie in Richtung London unterwegs waren, um Antworten zu bekommen, wagte es keiner von den vieren im Cabrio, zu fragen, was geschehen war. Sicher wussten diese Leute nicht mehr als Addy und die anderen. Bomben waren auf London gefallen. War es ein Unfall gewesen? Ein Angriff? Wer konnte das schon sagen.

»Wir … wir sollten umkehren«, schlug Jared vor. Seine Worte, so leise sie auch waren, schnitten wie ein scharfes Messer durch die Stille. Der Kloß in Addys Hals verhinderte, dass sie ihm beipflichtete.

»Es ist nicht mehr weit«, meinte Dave und bog auf eine Seitenstraße ab.

Sie fuhren auf einen Hügel, von dem aus man die Flut der Flüchtenden gut überblicken konnte. Von dort oben sahen sie alle gleich aus. Es gab keinen Unterschied mehr zwischen Bankiers und Bauarbeitern. Vielleicht waren unter ihnen sogar Menschen, die Addy von früher kannte. Ehemalige Schulkameraden, Nachbarn. Sie hätte keinen von ihnen von den anderen unterscheiden können.

»Die Regierung wird das regeln, oder?«, fragte Jared. »Oder die UN. Die schicken Hilfsgüter oder so.«

»Falls es noch jemanden gibt, der helfen kann …«, meinte Dave trocken. Seine Augen waren stur nach vorne gerichtet und mit seinen Händen klammerte er sich so fest ans Lenkrad, dass seine Knöchel weiß hervortraten.

Addy stand auf und blickte auf die Skyline von London – oder vielmehr auf das, was davon noch übrig war. Die Stadt lag in Trümmern. Nur hier und dort reckten sich noch die Überreste eines Gebäudes wie die gebrochenen Rippen eines Ungetüms aus dem Schutt. Von mehreren Brandherden stiegen dichte Rauchwolken auf und verdunkelten den Himmel.

Auch über den Hügel kamen die Überlebenden. Man hörte keine Feuerwehr- oder Polizeisirenen. Nur das Weinen und Schluchzen der Menschen.

Addy schluckte schwer. Der Anblick brannte sich ihr auf die Seele und nahm ihr die Luft zum Atmen.

»Okay, das reicht«, sagte Jared. »Damit haben wir genug gesehen.«

Das hatte Addy allemal. Sie hätten schon viel früher umkehren sollen. Keiner von ihnen konnte hier etwas ausrichten oder in Erfahrung bringen, was tatsächlich geschehen war.

Sie setzte sich wieder und Dave legte den Rückwärtsgang ein.

»Wartet!«, rief ihnen jemand zu. »Nehmt mich mit!«

Eine schmächtige Frau steuerte auf das Auto zu. In der einen Hand hielt sie ein Bündel fest an ihre Brust gedrückt, mit der anderen hangelte sie sich an Grasbüscheln den Hügel hinauf.

»Wir müssen ihr helfen«, sagte Addy.

Wenn sie nicht alles täuschte, trug die Frau ein Baby bei sich. Sie hatte eine klaffende Platzwunde an der Stirn und schien völlig entkräftet zu sein. Addy hätte es nicht über sich gebracht, sie zurückzulassen.

»Dann hilf ihr«, sagte Dave gehetzt. »Aber beeil dich. Wir können nicht allen helfen.«

Die Frau war nicht die Einzige, die das Auto bemerkt hatte und versuchte, es zu erreichen. Für mehr als eine weitere Person hatten sie in dem kleinen Cabrio aber keinen Platz.

Addy stieß die Beifahrertür auf und stürzte den Hügel hinab. »Geben Sie mir Ihre Hand«, bat sie und streckte der Frau die ihre entgegen.

Dankbar sah sie zu Addy auf. Das Blut, das ihr über die Schläfe lief, vermischte sich mit ihren Tränen. Sie zitterte und war kaum in der Lage, sich auf den Beinen zu halten. Wenn Addy zumindest ihr helfen könnte, wäre diese Fahrt nicht umsonst gewesen. Sie griff der Frau unter den Ellbogen und half ihr den Hang hinauf.

»Beeilt euch!«, drängte Dave.

Addy hatte selbst Schwierigkeiten mit dem Aufstieg. Die Erde war locker und rutschte ihr unter den Füßen weg. Mehrmals verlor sie den Halt. Es fühlte sich seltsamerweise so an, als würden die Blätter und Wurzeln sich unter ihr bewegen. Sie griff nach den Ästen eines Ginsterstrauchs, doch als Addy sie wieder loslassen wollte, hatten sie sich um ihre Finger gewickelt. Etwas stimmte wirklich ganz und gar nicht mit der Natur.

»Kommen Sie, steigen Sie ein«, forderte Addy die Frau auf und bot ihr den Beifahrersitz an.

Sie setzte sich und Addy konnte einen kurzen Blick auf das Baby werfen. Es lebte, scheinbar ging es ihm gut. Erleichtert atmete Addy durch und ein Lächeln huschte ihr über die Lippen.

»Spring rein!« Jared rutschte beiseite, um ihr Platz zu machen.

»Schnell!«, drängte Patti.

Addy wollte der Aufforderung gerade nachkommen, als sie jemand von hinten packte und vom Wagen wegzog. Sie stolperte zurück, hatte noch nicht richtig begriffen, was geschehen war, da traf sie ein Ellbogen im Gesicht. Der Schmerz betäubte ihre Sinne, sie wurde zur Seite gedrängt, gestoßen und weggeschubst. Sie war mit einem Mal inmitten eines Pulks von Menschen, die alle versuchten, einen Platz in Sarahs Cabrio zu ergattern.

Sie hörte Dave fluchen und sah Jared, der aufgestanden war und nach ihr suchte.

»Aufhören!«, schrie sie vergebens.

Die Menschen kämpften sich verzweifelt mit Händen und Füßen voran. Addy ignorierte ihre Tritte und Schläge und schaffte es, zwischen ihnen hindurchzuschlüpfen und den Wagen zu erreichen.

Jared hatte alle Mühe, die Menschen zurückzudrängen. Als Addy ihre Hand nach ihm ausstreckte, versuchte er, sie zu ergreifen, doch jemand drängte Addy erneut zur Seite und sie stürzte zu Boden.

Was danach geschah, blieb ihr nur bruchstückhaft im Gedächtnis. Sie wurde niedergetrampelt und zur Seite gedrängt. Es gelang ihr, wieder auf die Füße zu kommen, doch die Menschen stießen sie zurück, sodass sie den Halt verlor und den Hügel hinabstürzte.

Sie landete weich in hohem, seidigem Gras. Es war merkwürdig, aber ihre Panik verschwand, als sie die Halme unter ihren Fingern spürte, obwohl sie die Reifen quietschen hörte. Um sie herum drehte sich alles und sie glotzte benebelt zum grünen Teppich, auf dem sie gelandet war. Das Gras hatte einen lila Schimmer und war so fein wie das Fell eines Welpen. Es roch auch seltsam, irgendwie beruhigend. Irgendwie vertraut. Süßlich, elektrifizierend. Dieser Duft war es, der sie keine Angst verspüren ließ, ihr sogar die Schmerzen nahm – ein Duft, den sie vor der Schule schon einmal wahrgenommen hatte. Aber was hatte das zu bedeuten?

Mühsam stemmte sie sich hoch. Allmählich klärte sich ihr Geist wieder.

Sie war den Hügel hinab bis ins Tal gerollt. Erst als sie erkannte, dass die Menschen sich beruhigt hatten und weiterzogen, setzte ihre Panik wieder ein. Der Wagen war weg!

Addy begann den Aufstieg. Je weiter sie kam, desto schneller schlug ihr Herz. Sie wusste nicht, wovor sie mehr Angst haben sollte: davor, Dave und die anderen beiden ohnmächtig oder verletzt auf dem Hügelkamm vorzufinden oder zurückgelassen worden zu sein.

Oben angekommen, wusste sie, dass Letzteres der Fall war. Die Menschen hatten sich verteilt, nur noch die Reifenspuren im Gras zeugten von dem Wagen, der eben noch hier gestanden hatte – von ihm selbst und den Zwölftklässlern war nichts mehr zu sehen.

Addy fiel auf die Knie. Ein weiteres Mal bereute sie – diesmal aus tiefstem Herzen –, mitgefahren zu sein.

Sie vergrub ihre Finger im Gras, starrte zu Boden und versuchte, ruhig zu atmen. Sie musste einen klaren Gedanken fassen. Ihre Entscheidung zu bedauern, brachte sie auch nicht wieder nach Hause. Ihre Füße aber sehr wohl. Von hier aus waren es ungefähr zehn Meilen bis nach Orsett. Die würde sie laufen müssen, auch wenn es ein Marsch von mindestens drei Stunden war.

Sie stand auf, stieg den Hügel hinab und folgte der Straße Richtung Osten.

Die Flut der Flüchtenden hatte sich mittlerweile auf ein paar wenige verringert. Noch immer verließen Autos die Stadt, doch Hoffnung, von jemandem mitgenommen zu werden, machte Addy sich keine.

Vielleicht hatte Jared ja recht, vielleicht würde die UN Hilfsgüter schicken und in wenigen Monaten wären sie schon dabei, London wieder aufzubauen. Vielleicht war das alles ein Unfall, ein Missverständnis gewesen.

Wenn sie aber an all die Menschen dachte, die ihr Leben gelassen hatten, wusste Addy nicht, wie die Welt je wieder dieselbe werden sollte.

Ein Schauer ergriff sie bei diesem Gedanken und nach und nach spürte sie den Schmerz der vielen Schläge und Tritte. Ihr Schädel dröhnte und sogar das Atmen tat weh. Mühsam zog sie einen Fuß vor den anderen. Sie wollte jetzt nur noch eines: nach Hause gehen.

Addy hatte ihr Zeitgefühl verloren. Weit konnte sie noch nicht gekommen sein. Dennoch waren ihr schon seit einer Weile keine anderen Menschen mehr begegnet. Ihr tat jeder Knochen im Leib weh und ihre Verzweiflung wuchs mit jeder verstrichenen Minute.

Warum hatte Dave sie nicht einfach aussteigen lassen? Wegen ihrem bescheuerten Handy war sie in diese Lage geraten und das hatte nicht mal funktioniert und war letztendlich auch noch, zusammen mit ihrem Mut und ihrer Hoffnung, irgendwo auf diesem Hügel verloren gegangen.

Ihr Blick haftete am Asphalt, sie schleppte sich weiter voran und sah erst auf, als Motorengeräusche zu hören waren.

Es war das Militär. Ein ganzer Konvoi fuhr die Straße entlang Richtung London und Addy wich zur Seite aus. Resigniert beobachtete sie die Wagen, wie sie an ihr vorbeifuhren. Ihr wurde schwindelig dabei. Noch immer dröhnte ihr der Schädel und in ihren Ohren rauschte es. Sie hatte das Gefühl, man hätte ihr Beton hinter die Stirn gekippt.

Auf den offenen Ladeflächen konnte sie auch Zivilisten erkennen. Verletzte, die wohl von den Soldaten aufgesammelt worden waren. Addy wollte gerade weitergehen, da fuhr einer der Wagen zum Straßenrand und hielt an. Zwei Männer sprangen von der Ladefläche.

Obwohl Addy eigentlich keinen Grund hatte, vor den Soldaten Angst zu haben, schlug ihr Herz schneller und sie wich vor ihnen zurück.

»Bist du verletzt?«, fragte der jüngere der beiden.

»Ich denke nicht«, sagte sie, obwohl sich ihr Körper anfühlte, als würde er aus einem einzigen blauen Fleck bestehen.

»Wie alt bist du?«, fragte der andere.

Addy konnte die Fragen der Männer gar nicht so schnell verarbeiten, wie sie gestellt wurden. »Ich …«

»In jedem Fall noch minderjährig«, meinte der jüngere.

»Was hat dir das verraten? Die Schuluniform?«, raunzte ihn der andere an und wandte sich dann Addy zu. »Komm, wir bringen dich erst einmal in Sicherheit.« Er legte ihr eine Hand in den Rücken.

»Es geht mir gut«, versicherte sie. Alles, was sie wollte, war, endlich heimzukommen.

»Du stehst unter Schock«, versuchte der Soldat, ihr weiszumachen, und schob sie zum Wagen.

Panik kam in ihr auf. Sie wollte nicht in Sicherheit gebracht werden. Das war sie auch zu Hause.

»Das tue ich nicht!«, widersprach sie und versuchte, von dem Soldaten wegzukommen. Der andere ergriff ihren Ellbogen und beide drängten sie zum Wagen.

»Ich will nur heim. Lassen sie mich einfach gehen!« Verzweifelt versuchte Addy loszukommen. Plötzlich packte der ältere sie an beiden Schultern und schüttelte sie so heftig, dass ihr schwindelig wurde.

»Komm zu dir, Kleine!«, schrie er sie an. »Dein Zuhause gibt es nicht mehr. Das hier ist jetzt die Realität, also hör auf, unsere Arbeit zu behindern, und steig auf den verdammten Wagen!«

Wenn sie vorher nicht unter Schock gestanden hatte, so tat sie es nach dieser Ansprache allemal. In ihren Ohren rauschte das Blut und ihre Gedanken überschlugen sich. Die Soldaten sprangen auf die Ladefläche und zogen Addy hinauf.

»Lasst mich!«, protestierte sie vergebens.

Ihr Puls raste und in ihrem Kopf hörte sie immer wieder dieses eine Wort. Realität. Was um sie herum geschah, war alles echt und nichts würde mehr so, wie es vorher war. Allein der Gedanke daran nahm ihr alle Kraft zur Gegenwehr.

»Ich komme nicht von hier«, sagte sie eindringlich und sah sich zwischen den Menschen auf der Ladefläche um. Neben den Soldaten, die wenig auf das zu geben schienen, was Addy behauptete, saßen auch Zivilisten auf den Sitzbänken. In Decken gehüllt, rußbedeckt und mit nur notdürftig versorgten Verletzungen starrten sie schweigend ins Leere. Der Schrecken über das, was geschehen war, hatte sie wohl noch fest im Griff.

Ein Soldat ergriff ungefragt Addys Gesicht und prüfte ihre Pupillen mit einer Taschenlampe. Das Kreuz an seinem Arm wies ihn als Sanitäter aus.

»Hast du Kopfschmerzen?«, fragte er, ohne auf das einzugehen, was Addy gesagt hatte.

Sie riss sich los, der Wagen fuhr im selben Moment an und sie landete auf dem Fußboden. Erschrocken sah sie zur Straße, während einer der Soldaten auch ihr eine Decke über die Schultern legte. Ihr wurde kalt und heiß zugleich, als sie begriff, was gerade geschah. Orsett rückte rasend schnell in die Ferne und sie fuhr genau auf London zu.