Helena Petrovna Blavatsky: Isis Entschleiert
© Aquamarin Verlag 2020
Copyright der amerikanischen Original-Ausgabe
der „Isis entschleiert“:
Theosophical Publishing House,
Wheaton, Ill., USA 1997
Umschlaggestaltung: Annette Wagner
ISBN 978-3-96861-102-0
INHALT
Vorwort von John Algeo
Einleitung von Michael Gomes
Editorische Anmerkungen von Hank Troemel
Einführung von David Reigle
H.P. Blavatsky: ISIS ENTSCHLEIERT
Vorwort
I. TEIL WISSENSCHAFT
1.Altes Wissen unter neuen Namen
2.Phänomene und Energien
3.Theorien über psychische Phänomene
4.Äther oder das „Astrallicht“
5.Psychophysische Phänomene
6.Von Elementen, Elementalwesen und Elementargeistern
7.Geheimnisse der Natur
8.Das zyklische Evolutionsprinzip
9.Der innere und der äußere Mensch
10.Erstaunliches aus der Welt der Psyche und des Körpers
11.Ein „unüberwindbarer Abgrund“
12.Illusion und Wirklichkeit
13.Ägyptische Weisheit
II. TEIL: RELIGION
14.Indien, Ursprungsland der Menschheit
15.Die Kirche – wo ist sie?
16.Christliche Verbrechen und heidnische Tugenden
17.Uneinigkeit der frühen Christen
18.Kosmogonien des Ostens und biblische Erzählungen
19.Mysterien der Kabbalah
20.Verfälschte esoterische Lehren des Buddhismus im Christentum
21.Frühchristliche Häresie und Geheimgesellschaften
22.Jesuitentum und Freimaurerei
23.Die Vedas und die Bibel
24.Der Mythos vom Teufel
25.Ergebnisse unserer vergleichenden Studien des Buddhismus und Christentums
26.Schlussfolgerungen und Fallbeispiele
Quellen und Hintergründe Analysen und Interpretationen
Henry Steel Olcott:
Isis entschleiert – „ein revolutionäres Buch“
Jean-Louis Siémons:
Isis entschleiert und die „Theosophie“ der Meister
Jeanine Miller:
Die Philosophia perennis: Quelle christlicher Lehren und christlicher Wunder
Jeanine Miller:
Die altägyptische Weisheit
Hank Troemel:
Wege zur Wahrheit
H.P. Blavatsky:
Nachwort – Wahrheit und Wahrheiten
VORWORT
Diese gekürzte Ausgabe von H.P. Blavatskys erstem großen Werk soll dem Leser die Möglichkeit einer sinnvollen Annäherung an ihr schöpferisches und einflussreiches Gesamtwerk ermöglichen. Es soll und kann weder den kompletten Text des 1877 erstmals veröffentlichten Werkes noch die autoritative, von Boris de Zirkoff besorgte kritische Ausgabe (Wheaton 1972 und 1994) ersetzen. Vielmehr ist diese Ausgabe als Einführung zu Isis entschleiert und als Anregung gedacht, den kompletten Originaltext zu studieren.
Durch Michael Gomes` intelligente und einfühlsame Kürzung wird das zentrale Thema des Werkes gezielt hervorgehoben, indem die durch Blavatskys äußerst fruchtbaren Geist zustande gekommenen zahlreichen Abschweifungen von den jeweils behandelten Themen ausgeklammert wurden. Um dem modernen Leser den Zugang zum Text zu erleichtern, hat das Theosophical Publishing House (Wheaton, USA) außerdem in einigen wenigen Fällen überholte grammatische Konstruktionen des Originalwerks heutigen Sprachgewohnheiten behutsam angepasst. Diese Änderungen wurden vorgenommen, um die textlichen Aussagen deutlicher zu machen. Dabei war unser Hauptanliegen, weder die Darstellungen noch deren Bedeutungen zu verändern.
Unsere Ausgabe wurde in demselben Geist produziert, der auch das Original beflügelte. Isis entschleiert ist zwar Blavatskys eigenes Werk, beruht aber auf vielseitigen Quellen, ohne die die Arbeit der Autorin nicht möglich gewesen wäre. Der veröffentlichte Text lässt die Unterstützung mehrerer Mitarbeiter erkennen, die Blavatskys Werk bearbeiteten und in einigen Fällen eigene Texte – immer unter HPB‘s Aufsicht – beisteuerten. Vorrangig unter den Mitarbeitern war H.S. Olcott, aber auch A. Wilder und andere waren aktiv involviert. In späteren Jahren erkannte Blavatsky selbst die textlichen Mängel der Originalversion des Buches und äußerte ihre Unzufriedenheit darüber.
Wir geben uns nicht der Hoffnung hin, die von Blavatsky beanstandeten textlichen Mängel berichtigt zu haben; unser Anliegen war vielmehr, eine Version zu erstellen, die den bewunderungswürdigen, aktiven und schöpferischen Geist sowie das umfassende Gedankengebäude der Autorin einigen Lesern näher bringen soll. Für jene Bewunderer Blavatskys, die derartige Modifikationen ihrer Texte ablehnen, paraphrasieren wir den Rat, den Geoffrey Chaucer Lesern gab, die an einigen seiner Werke etwas auszusetzen hatten: „Und wenn jemand hier etwas findet, das ihm nicht gefällt, dann sollte er nicht unseren schlechten Willen dafür verantwortlich machen, sondern nur unser mangelhaftes Können.“
Ich bin mehreren Personen dankbar für die Überprüfung der Rechtschreibung, Namen und Fakten dieser Ausgabe, insbesondere Diana Dunningham-Chapotin, Michael Chapotin und Michael Caracostea.
John Algeo
Internationaler Vizepräsident der Theosophischen Gesellschaft Adyar, Indien
Michael Gomes
EINLEITUNG
des Herausgebers der englischsprachigen gekürzten Ausgabe von Isis entschleiert
„Ist die Überzeugung gerechtfertigt, dass der Mensch sich um neue Sensibilitäten gegenüber der Natur und damit um ein engeres Verhältnis zu ihr bemühen sollte?“ Diese Frage stellt H.P. Blavatsky ihren Lesern im Vorwort des ersten Bandes ihres Werkes Isis entschleiert und befasst sich auf über 1200 Seiten mit der Suche nach Antworten auf diese und andere Fragen zu „den Geheimnissen der Wissenschaften und der Theologie vergangener und moderner Zeiten“. In ihrem Werk versammelt sie eine Reihe prominenter Autoritäten, die eloquent und tiefgreifend Zeugnis von der Existenz einer uralten, universalen Weltsicht ablegen. Bei ihrem Versuch, „dem Lernenden das Auffinden jener ersten, wesentlichen Prinzipien zu ermöglichen, die den philosophischen Prinzipien vergangener Zeiten als Grundlage dienten“, wurden die Mythen und Legenden der Menschheit sorgfältig gesichtet und Vergleiche angestellt zwischen dem Stand der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts und den Entdeckungen des Altertums. Diese ursprünglichen und grundlegenden Prinzipien und Konzepte waren in der westlichen Welt längst dem Vergessen anheim gefallen, als ihr Buch 1877 erschien. Dass diese Konzepte nach der sehr positiven Rezeption des Werkes in unserer gegenwärtigen Kultur zu neuem Leben erwachen konnten, ist ein Beweis des unverminderten Einflusses, den Isis entschleiert ausübte und nach wie vor ausübt.
Der erste Teil befasst sich mit der Fähigkeit der Gelehrten alter Zeiten, anhand ihrer Voraussicht und ihres Wissens über das Wesen des Menschen und des Universums, den Weg für unsere modernen Wissenschaftserkenntnisse zu bereiten. Unter dem Titel Theologie präsentiert Blavatsky im zweiten Teil den Siegeszug des Christentums und die darauf folgende Unterdrückung rivalisierender Gruppen, wie der Mysterienschulen. Mit ihren Erkenntnissen über die Gnostiker war sie ihrer Zeit weit voraus; ihr Wissen beruhte zu großen Teilen auf Kontakten mit den Nachfolgern frühchristlicher Gruppierungen, wie den Drusen, die sie auf ihren Reisen durch Palästina und Ägypten kennengelernt hatte.
Die beiden Bände stellen eine bemerkenswerte Leistung dar. Es ist das Werk einer Autorin, die erst drei Jahre vor seinem Erscheinen begonnen hatte, Englisch zu schreiben, und die nach eigenem Bekunden nie eine Hochschule absolviert oder Gelegenheit zu wissenschaftlichen Studien gehabt hatte. Trotzdem wurden die beiden Bände bei Erscheinen durchaus nicht etwa als ein literarisches Kuriosum angesehen, sondern die Rezensionen jener Zeit hoben vielmehr die große Gelehrsamkeit der Autorin hervor. Die Öffentlichkeit reagierte ebenso begeistert: Schon zwei Monate nach dem Erscheinen, im September 1877, musste Isis entschleiert in zweiter Auflage nachgedruckt werden – und seither hält die Popularität des Werkes unvermindert an; es ist in zahlreichen Neudrucken und Übersetzungen erschienen und war zu keiner Zeit vergriffen.1
Blavatsky ließ sich von einer großen Zahl von Autoren inspirieren, von den Werken der philosophischen Klassiker, besonders Platon und den Neuplatonikern – wahrscheinlich unter dem Einfluss Professor Wilders – bis zu Darwin, Huxley und Max Müller. Sie führte im englischen Sprachraum verschiedene europäische Autoren ein, darunter Eliphas Lévi. Dass sie auch eigene Quellen besaß, ist aus dem Augenzeugenbericht ihres Kollegen H.S. Olcott ersichtlich (S. 419 in der vorliegenden Ausgabe). In der Tat war die Vielfalt und der große Umfang des zu ihrer Verfügung stehenden Materials so überwältigend, dass die behandelten Themen gelegentlich durch reichhaltige Zitate und andere literarische Hinweise erweitert wurden. So litt die Übersichtlichkeit der Hauptthemen des Buches gelegentlich unter eingefügten Exkursen und ausführlichen Anmerkungen zu Fragen, die die damalige Zeit bewegten, z.B. ihr Eingehen auf verschiedene Theorien zur Erklärung spiritistischer Phänomene, mit denen sich Europa und Amerika in den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts befassten. Ihr beweglicher Geist ließ scheinbar keine Gelegenheit aus, jedes verfügbare Beweisstück zu nutzen und auf jede mögliche Argumentation einzugehen. Als Resultat überlebte Isis entschleiert gleich einem der im Buch beschriebenen uralten Heiligtümer – als ein bewundertes, aber wenig erforschtes Zeugnis der Größe vergangener Zeiten.
Welche Schätze wären bei der Lektüre zu entdecken, wenn die Struktur des Werkes herausgeschält und klarer erkennbar würde durch Ausgliederung des reichhaltigen, aber gelegentlich ohne strikte Einhaltung thematischer Zusammenhänge angeführten Zusatzmaterials? Der Herausgeber hofft, dass der Zugang zum Werk durch die vorliegende Kürzung des Textes erleichtert wird. Es ist keine leichte Aufgabe, mehr als zwei Drittel eines literarischen Werkes auszusondern und zu entfernen. Aber sobald lange Zitate aus den Schriften anderer Autoren, umfangreiche Erklärungen über die Namen der verschiedenen Gottheiten und sich wiederholende Kommentare ausgeklammert werden, leuchtet eine klare Linienführung und bemerkenswerte Kontinuität des Textes auf, und die Grundkonzepte, die Blavatsky erklären wollte, werden hervorgehoben und leichter verständlich.
Blavatsky war sich der Mängel ihres Buches bewusst und hatte vor, eine überarbeitete Neuausgabe der Isis herauszugeben. Die Geheimlehre, ihr zweites Werk, war anfänglich als „eine neue Version von Isis entschleiert“ angekündigt worden. Aber ihr viel zu früher Tod, am 8. Mai 1891, verhinderte eine tatsächlich überarbeitete „neue Version“ ihres ersten Werkes. Obwohl der hier nun vorliegende Bearbeitungsversuch nicht in jeder Beziehung den Vorstellungen Madame Blavatskys entsprechen kann, hebt er doch die Grundstruktur des Werkes klar hervor. Ich habe dem Text nichts hinzugefügt und keine Veränderungen vorgenommen, habe aber sehr viel entfernt. (Die Kapitel 3 und 4 des Wissenschaftsteils mit Theorien des 19. Jahrhunderts über Tischrücken und ähnliche spiritistische Phänomene wurden so weitgehend gekürzt, dass sie zusammengefügt wurden.) Die bei Zitaten anderer Autoren eingefügten Parenthesen stammen generell von Blavatsky. Die Schreibweise von Sanskritwörtern wurde vereinheitlicht und vereinfacht.
Am Ende des einführenden Kapitels des ersten Bandes erklärt Blavatsky die intendierte geistige Reichweite ihres Werkes wie folgt: „Es ist nicht sein Anliegen, der Öffentlichkeit unsere persönlichen Ansichten und Theorien aufzuzwingen, und es erhebt auch nicht den Anspruch, eine wissenschaftliche Arbeit mit dem Ziel einer Umwälzung gewisser Denkrichtungen zu sein. Es ist vielmehr eine kurze Zusammenstellung der Religionen, Philosophien und weltweiten Überlieferungen der Menschheit und deren Exegese im Geist jener Geheimlehren, von denen keine einzige – dank Vorurteil und Fanatismus – die Christenheit in einem für ihre faire Beurteilung nötigen Mindestmaß an Unversehrtheit erreicht hat.“
1(In Nazideutschland allerdings war die Theosophische Gesellschaft und Blavatskys Gesamtwerk verboten. H.T.)
EDITORISCHE ANMERKUNGEN
Isis entschleiert, H.P. Blavatskys erstes Werk, erschien 1877 im New Yorker Verlag J.W. Bouton und im gleichen Jahr in London bei Bernard Quaritch unter dem Titel Isis Unveiled: A Master-Key to the Mysteries of Ancient and Modern Science and Theology. Als Titel hatte Blavatsky ursprünglich The Veil of Isis (Der Schleier der Isis) gewählt, musste sich jedoch der Entscheidung Boutons beugen, der aus Titelschutzgründen eine etwas andere Wortwahl bevorzugte und den „Schleier“ der Isis in eine „entschleierte“ Isis verwandelte. Die Autorin hatte nie den Anspruch erhoben, Isis, die Hüterin der Geheimnisse der Natur, zu entschleiern, d.h. all ihre Geheimnisse offenzulegen, sondern wollte diesen Schleier nur „anheben“, um zumindest einige der verlorengegangenen, einst in der alten Welt aber bekannten anthropologischen, Natur- und kosmischen Gesetze und wissenschaftlichen Erkenntnisse darzustellen bzw. anzudeuten. Dies ist ihr gelungen, die Rezeption ihres Werkes war bemerkenswert positiv – die Zeit, Ende des 19. Jahrhunderts, war offensichtlich reif für neue Einsichten oder, besser gesagt, für die Offenlegung uralter wissenschaftlicher und religiöser Erkenntnisse. Es war eine Epoche, die festgefahren schien in der Polarität einer fundamentalistischen Religionsauffassung einerseits und einer zwanghaften Wissenschaftsgläubigkeit andererseits.
Diese Studienausgabe stellt weder eine Geschichte noch ein fertiges System der okkulten Wissenschaft dar. Sie ist vielmehr propädeutisch angelegt, um zusammen mit der bereits erschienenen Adyar Studienausgabe der Geheimlehre1 den Leser in die bedeutendsten Grundfragen und Ziele der Theosophie einzuführen. Dazu wurden in der Bearbeitung des Werkes Isis entschleiert zwei wesentliche strukturelle Ziele verfolgt: Erstens hat M. Gomes, der Bearbeiter der amerikanischen Isis-Ausgabe von 1997, eine Kürzung des Originaltextes vorgenommen, um dessen zentrale Themen herauszuschälen (siehe dazu Gomes Vorwort), und zweitens wurden der deutschen Übersetzung des Primärtextes neue Forschungsbeiträge internationaler theosophischer Autoren beigegeben, die durch Erläuterungen der geschichtlichen und philosophischen Hintergründe, durch Quellenkritik und in Textanalysen Blavatskys Darstellungen erhellen und als Wegweiser zu einem sinnvollen weiterführenden Studium der Materie gedacht sind.
Blavatsky selbst hatte in einer Antwort auf kritische Hinweise zu Isis entschleiert „so bald wie möglich eine editorische Neubearbeitung, Korrekturen und eine Kürzung des Textes“2 befürwortet. Sie war sich gewisser Mängel ihrer Darstellung bewusst und stellte sich der Kritik. Das Diktum „In großen Dingen allen zu gefallen – das ist schwer“ (Solon, Distichen) traf auch und besonders auf sie zu, denn sie stand bei der Erfüllung ihrer Aufgabe, d.h. beim Zusammenstellen unterschiedlichster Text- und Informationsbruchstücke für Isis entschleiert wegen der strengen Maßstäbe und Anforderungen ihrer Meister unter ständigem Leistungsdruck. Für Blavatsky und ihre Meister, die Mahatmas, bildeten ausgewählte erste Veröffentlichungen eines bisher unbekannten Wissens den Konstitutionsrahmen für Isis entschleiert. Ausgangspunkt der Lehre ist ein idealistischer Monismus, der die einzelnen Themen des Buches durchdringt – die Einheit des Göttlichen, die Unsterblichkeit des Geistes, kosmische und Reinkarnationszyklen sowie der Glaube an Erlösung von den Fesseln der Materie allein durch unsere Werke, d.h. „Belohnung“ und abzutragende Schuld, die durch unsere Taten im Rahmen eines unerbittlichen Karma-Gesetzes festgehalten werden, eines Gesetzes, das in vielen ursprünglichen Philosophie- und Glaubenssystemen des Ostens die Stelle Gottes einnahm.
ZU DEN AUTOREN DES STUDIENMATERIALS
In „Isis entschleiert – ‚ein revolutionäres Buch‘“ beschreibt Henry Steel Olcott, Blavatskys engster Vertrauter und Mitarbeiter zur Zeit der Arbeit an Isis, die ungewöhnlichen Umstände und Schwierigkeiten beim Verfassen des Manuskripts sowie die Arbeitsweise der Autorin unter dem maßgeblichen Einfluss ihrer wichtigsten Informationsquellen, durch Diktat und andere Übermittlungsmethoden der Mahatmas.
Olcotts sechsbändiges Tagebuch Old Diary Leaves, dem unser Beitrag entnommen ist, ist eines der klassischen Geschichtswerke über die Anfänge der modernen theosophischen Bewegung.
Hilfreiche Studienhinweise zum Auffinden der in Blavatskys Werk verstreuten Details, die zu den „grundlegenden Glaubensartikeln der Weisheitsreligion“ gehören, gibt Dr. Jean-Louis Siémons in seinem Beitrag „Isis entschleiert und die ‚Theosophie‘ der Meister“. Wer Siémons Anregungen folgt, wird feststellen, dass hier eine einfache, aber wirkungsvolle Methode zum Auffinden und Einprägen der Grundsätze der Weisheitstradition angeboten wird. Dr. Siémons ist emeritierter Professor der Biophysik (er lehrte am Institut National Agronomique, Paris), ist Leiter der United Lodge of Theosophists in Paris und ein international aktiver Dozent der Lehren Blavatskys. Seine zahlreichen Veröffentlichungen beschäftigen sich hauptsächlich mit den Prinzipien der Reinkarnation und der Erforschung und Klärung nachtodlicher Erfahrungen. Siémons neueste Arbeit ist „Mourir pour Renaitre – l‘Alchimie de la Mort et les Promesses de l‘Après-Vie“ („Sterben zur Wiedergeburt – die Alchemie des Todes und die Versprechungen eines Lebens nach dem Tod“).
Der Tibetologe David Reigle ist deutschen Lesern bereits bekannt durch Veröffentlichungen in Theosophie und Buddhismus3 und durch seine fünf Forschungsbeiträge zur Adyar Studienausgabe der Geheimlehre4. Er genießt internationale Anerkennung für seine wissenschaftlichen Arbeiten text- und quellenkritischer Natur über hinduistische, jainistische, buddhistische und theosophische Schlüsseltexte. Das Archiv seines „Eastern Tradition Research Institute“ in Cotopaxi enthält die wohl weltweit umfangreichste Sammlung theosophisch relevanter altindischer und buddhistischer Urtexte. Zusammengefasst stellen Reigles Veröffentlichungen, zum Teil in Zusammenarbeit mit seiner Frau Nancy, ein einmaliges Dispositionsschema für zukünftige Forschungsarbeiten im Bereich der Verifizierung und wissenschaftlichen Akzeptanz theosophischer Quellen dar (siehe David & Nancy Reigle, Blavatsky‘s Secret Books, Twenty Years‘ Research, San Diego 1999). Davids und Nancys Lebensziel in diesem Zusammenhang ist die aktive Teilnahme an der Suche nach einem Original des Buches des Dzyan und/oder des Buches der Goldenen Regeln und an deren Veröffentlichung.
Jeanine Millers Beitrag „Die altägyptische Weisheit“ ist durchdrungen von ihrer Bewunderung der altägyptischen Esoterik und ihren tiefgreifenden Erkenntnissen über dieses noch weitgehend unbekannte Spezialgebiet. Millers Essay ist eine faszinierende Darstellung der von der konventionellen Ägyptologie ignorierten, vom alten Ägypten ausgehenden Weisheitsströmung und deren Einflussnahme auf das Denken östlicher und westlicher religiöser Traditionen. Sie stützt sich dabei auf eigene Forschungsergebnisse und die Einsichten einiger weniger Wissenschaftler zu Hieroglyphen- und Textinterpretationen der klassischen ägyptischen Toten- und Jenseitsliteratur.
In ihrem zweiten Beitrag über die Philosophia perennis geht die Autorin von Blavatskys Darstellungen zur Gnosis in Isis entschleiert aus und erläutert in vergleichenden Textanalysen die Einflüsse gnostischer, pythagoräischer, neuplatonischer und indischer Lehren auf das abendländische christliche Denken – Einflüsse, die ebenso wie eine Vielzahl nahöstlicher Schriften (Apokryphen) aus dem Umfeld des Wirkens Jesu auf mehreren Konzilien der ersten Jahrhunderte von führenden ekklesiastischen Persönlichkeiten aus politischem Machtkalkül unterdrückt und als nicht-kanonisch aus der sich etablierenden Kirche ausgeschlossen wurden. Hervorgehoben aus Millers Materialfülle sei hier nur ihre bewegende und von tiefem Einfühlungsvermögen zeugende Darstellung der Person und „hochentwickelten Seele“ Jesu.
Jeanine Miller absolvierte die Universität von Sydney mit einem Studium der Philosophie, der Anglistik und Romanistik. In England erhielt sie den Grad eines M. Litt. in vedischer Literatur von der Durham Universität. Neben ihrer zwanzigjährigen Mitarbeit in der Abteilung für Buchdrucke der Bibliothek des Britischen Museums veröffentlichte sie mehrere wichtige Werke, darunter, zusammen mit Georg Feuerstein, A Reappraisal of Yoga (1971), Neuausgabe unter dem Titel The Essence of Yoga, Rochester 1998. In den folgenden Jahren (bis 1990) erschienen von Jeanine Miller: The Vedas: Harmony, Meditation and Fulfilment (1974); The Vision of Cosmic Order in the Vedas (1985); „The Myth of the Churning of the Ocean of Milk (Matter)“ in Perspectives on Indian Religion, Delhi 1986.; „Predestiny and Evil in Hindu Myth“ in K. Werner, Hg., Symbols in Art and Religion, Indian and Comparative Perspectives, London 1990; „Bhakti and the Rigveda,“ in K. Werner, Hg., Love Divine: Studies in Bhakti and Devotional Mysticism, London 1993 (erweiterte Buchausgabe: Miller, Does Bhakti Appear in the Rigveda?, Mumbai (Bombay) 1996); „The Shining Ones of the Vedas“ in „Angels and Mortals, their co-creative power“, Wheaton 1990. Jeanine ist langjähriges Mitglied der Theosophischen Gesellschaft und war als internationale Dozentin über eine Vielzahl theosophischer Themen und mit den Spezialgebieten Vedas und altägyptische Weisheit für die englische Sektion in Großbritannien, den USA, Australien, Neuseeland, Frankreich und Spanien tätig.
ZUR DEUTSCHEN ÜBERSETZUNG
Im 90ger Krieg, als der Rhein auf jener Seite
von französischen Schildwachen, auf dieser
Seite von schwäbischen Kreis-Soldaten besetzt war,
rief ein Franzos zum Zeitvertreib
zu der deutschen Schildwache herüber:
Filu! Filu! Das heißt auf gut deutsch: Spitzbube.
Allein der ehrliche Schwabe dachte an nichts
so Arges, sondern meynte, der Franzose frage:
Wieviel Uhr? und gab gutmüthig
zur Antwort: Halber vieri.
( J. P. Hebel)
Der Weg zur Wahrheit ist, laut H.P. Blavatsky, „ein steiler Fußmarsch“, ein durch „fremde Markierungen“ und „kaum erkennbare Inschriften“ gekennzeichneter schmaler Pfad. Den meisten deutschen Lesern theosophischer Literatur wird dieser Weg schon gleich zu Beginn besonders schwer gemacht, wenn sie den zum größten Teil mangelhaften Übersetzungen der Originalliteratur vertrauen. Die seit Jahrzehnten vorliegende und immer wieder nachgedruckte einzige (fast) ungekürzte deutsche Übersetzung von Isis entschleiert ist im Verlag Esoterische Philosophie in Hannover erschienen. Sie erinnert an des Dichters Satire vom naiven Duttlinger, jenem Schwaben, der, ebenso arglos wie der Wache schiebende Kreis-Soldat unseres Mottos, durch sprachlich bedingten „Irthum“ zur Erkenntnis (s) einer Wahrheit kommt. Man kann nur hoffen, dass die Leser dieser zweibändigen Übersetzung trotz des wegen zahlreicher sprachlicher Mängel zurückgelegten Umwegs ihr Ziel irgendwie erreichen.
Die Übersetzer A.K. und K.W. der „revidierten Gesamtausgabe“ des Verlags Esoterische Philosophie sind in Blavatskys Text über so viele für sie offensichtlich „fremde Markierungen“ und „kaum erkennbare Inschriften“ gestolpert, dass dem arglosen deutschsprachigen Leser ihrer grobschlächtigen Übersetzungskünste alles andere als ein äquivalentes Bild des Originals geboten wird. Ich weiß nicht, ob A.K. und K.W. an nichts Arges dachten, als sie sich über Isis entschleiert hermachten, jedenfalls haben sie streckenweise von Blavatskys Text nicht mehr verstanden, als Hebels ehrlicher Schwabe vom Zuruf des Franzosen.
Alle Übersetzungsfehler des Duos A.K. und K.W. aufzuzählen, wäre hier aus Platzgründen nicht möglich. Eine kleine symptomatische Auswahl aus der Vielzahl sinnentstellender Fehlübersetzungen folgt: Item: Blavatsky: „(T)here is not a cosmogonical fragment, to whatever nation it may belong, but proves by this universal allegory of water and the spirit brooding over it, that no more than our modern physicists did any of them hold the universe to have sprung into existence out of nothing …“ (Alle existierenden kosmogonischen Fragmente … beweisen durch die universell benutzte Allegorie vom Wasser und dem darüber brütenden Geist, dass damals niemand glaubte – genauso wie heutzutage unsere modernen Physiker nicht glauben –, das Universum sei aus dem Nichts entstanden). In der A.K. und K.W.-Übersetzung wird über die modernen Physiker das Gegenteil behauptet, und das angeblich ex nihilo entstandene Universum wird zum angeblich einst aus dem Nichts bestehenden Universum: „… dass niemand anders als unsre modernen Physiker daran festhalten (sic), dass das Universum aus dem Nichts bestand“. Item: Blavatsky: „… why, we ask, if the surface-waters of certain mineral springs have such virtue in the cure of disease and the restoration of physical vigor, is it illogical to say that if we could get the first runnings from the alembic of nature in the bowels of the earth, we might, perhaps, find that the fountain of youth was no myth after all?“ (Wenn es uns gelänge, die der Retorte der Natur tief im Innern der Erde entströmenden ersten, unverfälschten Absonderungen zu finden und anzuwenden …). Dagegen A.K. und K.W.: „… (was würde daraus folgen,) wenn wir imstande wären, die ersten, aus dem kosmischen Destillierkolben zum Herzen des Planeten strömenden Abflüsse zu regulieren?“ Item: Blavatsky: „Physiology can divide man ad infinitum, as physical science has divided the four primal and principal elements into several dozen others; she will not succeed in changing either.“ (Die Physiologie mag den Menschen ad infinitum aufteilen, wie auch in der Physik die vier ersten, die Urelemente, in mehrere Dutzend andere eingeteilt wurden, aber es wird der Wissenschaft nicht gelingen, den Menschen oder die Urelemente zu ändern). Dagegen A.K. und K.W.: „Der Physiologe kann den Menschen unendlich oft teilen, so wie der Physiker die vier ersten und Hauptelemente in mehrere Dutzend andere geteilt hat; er wird, wenn er nicht umkehrt, zu keinem Erfolg kommen.“ Item: Blavatsky: „When broke the dawn of (the Egyptian) civilization … .“ (Wo liegen die zeitlichen Anfänge der (ägyptischen) Zivilisation …?). A.K. und K.W.: „Wann brach der Niedergang (der ägyptischen) Zivilisation an …?“ Item: Blavatsky über Altägypten: „Proudly secluding herself within her enchanted domain, the fair queen of the desert created wonders as if by the sway of a magic staff.“ (Zurückgezogen und auf sich selbst gestellt, lebten die Ägypter in ihrer zauberhaft schönen Heimat, dieser Königin der Wüste, und vollbrachten Wunder, als besäßen sie magische Kräfte). A.K. und K.W.: „Sich stolz in ihrem Zauberland abschließend, schufen die Könige der Wüste Wunder über Wunder wie mit schwingendem Zauberstabe.“
Und so weiter, und so fort. Da wird aus einem Binnenmeer bei A.K./K.W. schon mal ein Binnenland; das „Vorrücken (dt. Präzession) der Tagundnachtgleichen“ („Precession of the equinoxes“) verwandeln A.K. / K.W. in die „Präzision“ derselben; wo Blavatsky von der aus Elementen gestalteten Astralseele spricht, die sich beim bösen Menschen ohne zuvor erlangte „Erlösung“ in ihre Bestandteile auflöst, geschieht dies bei A.K./K.W. ohne zuvor erlangte „Wiederauferstehung“; wo bei Blavatsky die Märtyrer der Geheimlehre Jahrhunderte lang das Schicksal des symbolischen „Schmerzenmannes“ (Jesaja) teilten und von Generation zu Generation die Frage wiederholten, wer ihren Verkündigungen geglaubt habe, schreibt das Übersetzer-Duo: „Wer hat ihre Märchen (!) von Geschlecht zu Geschlecht wiederholt?“ Glauben wir den Übersetzern, dann sind das die Märchen der Geheimlehre. Aus einem belebten oder beseelten („animate“) Wesen wird bei ihnen ein „tierisches“ Wesen, denn das Wort „animal“ sieht ja so ähnlich aus; und auch von ihnen wird, wie von Froebe in dessen Übersetzung der Geheimlehre, Manifestation mit Offenbarung verwechselt; Blavatskys „conceivable bounds of the cosmos“ verwandeln A.K. und K.W. in die „unfassbaren“ Grenzen des Kosmos. Und warum haben diese Übersetzer ein Wort, ein arisches Wort sozusagen, in Blavatskys Text eingeschmuggelt? Blavatskys Erwähnung der „hermetischen, orphischen und pythagoräischen kosmogonischen Lehren“ haben sie flugs „die arischen“ noch hinzugefügt.
Aus Blavatskys „geheiligten Tabernakeln“ machen sie „ausgehöhlte Tabernakel“, und wo der Apostel Paulus in Blavatskys Text mit „unzweideutigen“ Worten spricht, tut er das in der deutschen Übersetzung mit „zweideutigen“ Worten. Wo Blavatsky vom sich entwickelnden, aufblühenden Frühchristentum („budding Christianity“) spricht, meinen A.K. und K.W. ohne jegliche kontextuale Rücksichten, das müsse „das verkümmernde Christentum“ heißen. Schreibt Blavatsky, die frühesten Christen hätten sich in Opposition zur Synagoge zusammengeschlossen, dann ändern die Übersetzer das ins Gegenteil um: „Alle vereinigten sich in der Synagoge.“ (Schön wär‘s, wenn‘s stimmte.) Die „tyrannischen“ Besonderheiten (oder religiösen Förmlichkeiten, die „technicalities“) der Pharisäer verwandeln die Übersetzer in „tyrannische Sittengebräuche“, wohl weil das so schön anrüchig klingt. Wo in Blavatskys Text die Christen den Kindsopfer verschlingenden Moloch des alten Israel durch ihren eigenen „Gott der Gnade“ ersetzten, steht in der deutschen Übersetzung, die Christen hätten diesen schrecklichen Moloch „an Stelle ihres Gottes der Gnade“ wiedereingesetzt! Letzterer ist zwar auch ein zorniger Gott, aber er ärgert sich eher über ungetaufte Kinder, die er verdammt, ohne sie gleich zu verschlingen. Letztlich haben Blavatskys vergleichende Ausführungen über indische Quellen und kabbalistische Sichtweisen des 1. Buches Mose und deren Kommentierungen im kabbalistischen Sohar das Übersetzerduo wohl so verunsichert, dass sie den „kabbalistischen Autor des Buches Genesis“ zum „katholischen Autor des Buches Genesis“ machten. Wenn der Autor des ersten Buches des Alten Testaments kein Kabbalist war, dann war‘s wohl doch der Katholik Moses oder gar der katholische liebe Gott selber … ? Fragen über Fragen an A.K. und K.W.
Aber genug der (immer noch wenigen) Beispiele; neben ausgelassenen Zeilen und Sätzen bzw. ganzen Absätzen wimmelt es in den beiden Bänden nur so von Fehlern. Im zweiten Band sei hingewiesen auf zwei besonders folgenschwere Beispiele. Theosophen, die ihre Augen und ihren Verstand nicht vor der Wirklichkeit verschließen, wissen, dass Blavatsky besonders in Deutschland von kirchlichen und zumeist politisch links stehenden Kritikern des Rassismus und, implicite und expressis verbis, des Antisemitismus beschuldigt wird. Eine Hauptrolle spielt dabei die im 19. Jahrhundert und auch heute noch im englischen Sprachraum gebräuchliche Bezeichnung der Menschheit (Menschheiten bei Blavatsky) als Rasse(n), und die scheinbare Unfähigkeit der Kritiker, Blavatskys englische Originaltexte zu lesen. Sie zitieren und urteilen anhand der seit Anfang des 20. Jahrhunderts vorliegenden deutschen Übersetzungen Froebes (Geheimlehre) und des Übersetzerduos der Isis, A.K. und K.W. Wer Blavatsky Schriften kennt, weiß, dass sie die Juden und ihre Religion geachtet hat und vor Angriffen in Schutz nahm, wo andere dem zeitgenössischen Antisemitismus freien Lauf ließen; dass sie z.B. zu den wenigen nichtjüdischen religionskritischen Autoren des 19. Jahrhunderts gehörte, die die Religion und die gesellschaftlich verantwortliche Stellung der Pharisäer im alten Israel verstanden haben.
In der Nachfolge der Pharisäer stehen die „Rabbiner“. Dies ist eine Ehrenbezeichnung nicht nur der Gelehrten des heutigen jüdischen Gemeindewesens, sondern in der Geschichte des Judentums auch die Bezeichnung der Religionsphilosophen und direkten Nachfolger der Pharisäer, deren Tradition und Lehren das heutige Judentum bestimmen. Der absolute Monotheismus des Judentums ist Grundlage der beiden anderen abrahamischen Religionen, des Christentums und des Islam.
Gerade die Rabbiner des Heidentums oder des Materialismus zu beschuldigen, ist das Nonplusultra des Unverstandes. „Die Einheit Gottes“, schreibt Blavatsky in Isis entschleiert, „die Unsterblichkeit des Geistes, der Glaube an Erlösung allein durch unsere Werke, Verdienst und Verschulden – das sind die grundlegenden Glaubensartikel der Weisheitsreligion und das Fundament des Vedismus, des Buddhismus und des Parsismus. Und nachdem wir unsere Aufmerksamkeit auf das Studium der Bücher des Hermes … gerichtet haben, erkennen wir diese Grundsätze auch als die Basis des antiken Osiris-Glaubens und können deshalb den populären Sonnengott ohne weiteres dem Materialismus des Pöbels überlassen“ (S. 266 in dieser Ausgabe). A.K. und K.W. überlassen den Sonnengott dem „Materialismus der Rabbiner“. Hier liegt offensichtlich nicht etwa ein Irrtum vor, denn keine hundert Seiten später behaupten A.K. und K.W., die Autorin habe sich über das „polytheistische Heidentum der paganitischen Rabbiner“ ausgelassen. Vielgötterei der ersten Verfechter eines strikten Monotheismus? Für ihren Glauben an den einen Gott haben unzählige Juden Verfolgung und Tod erlitten. Eine größere Verleumdung ist nicht denkbar. Und Blavatsky hat nichts Derartiges geschrieben. Ihr Text: „Die von Petrus missionierten Menschen – ob das nun ehemalige Anhänger der Wiederauferstehungslehre der Pharisäer oder der nihilistischen Lehren der Sadduzäer waren oder ob sie zum polytheistischen Heidentum (‚polytheistic heathenism‘) des heidnischen (‚Pagan‘) Pöbels gehört hatten – diese Konvertiten hatten kein zukünftiges Leben nach dem Tod zu erwarten, sondern nur ein tristes Nichts…“ Welcher Unverstand hat A.K. und K.W. den Griffel geführt, als sie sich hier das „polytheistische Heidentum der paganitischen Rabbiner“ ausdachten?
Offensichtlich fehlten A.K. und K.W. die Einsicht in die Notwendigkeit und damit das stets nötige Bemühen verantwortungsbewusster Übersetzer, der Struktur der Gedankengänge einer Autorin/eines Autors zu folgen, diese sichtbar zu machen und bedeutungsadäquat wiederzugeben. Vielleicht waren A.K. und K.W. einfach unfähig. Und vielleicht überstieg es auch die Kapazität des verantwortlichen Lektorats, die Übersetzungsmängel zu erkennen. Was bleibt, ist ein Gefühl des Bedauerns über „Theosophen“, die sich dem traurigen Irrtum hingeben, keinerlei kritische Selbstbetrachtung nötig zu haben und im Vollbesitz der Wahrheit zu sein.
Unsere hiermit vorgelegte Neuübersetzung entspricht der von Michael Gomes gekürzten, 1977 in den USA erschienen Fassung von Isis entschleiert. Gomes folgt dem Text der von Boris de Zirkoff editierten zweibändigen Ausgabe des Werkes von 1972, und wir haben, zusätzlich zu dieser “revidierten und korrigierten Neuausgabe“, den Faksimiledruck (Los Angeles1982) des Originalwerkes von 1877 konsultiert.
BIBLIOGRAPHISCHE HINWEISE
Bibliographische Hinweise auf Blavatskys Hauptwerke Isis entschleiert und Die Geheimlehre sowie Zitate aus beiden Werken verweisen immer dann auf die englischsprachigen Originalausgaben bzw. sind diesen entnommen, wenn die entsprechenden Textstellen in den nun vorliegenden gekürzten deutschsprachigen Ausgaben nicht enthalten sind. Wie in der Adyar Studienausgabe der Geheimlehre gilt Entsprechendes für Zitate aus den Mahatma-Briefen: „Weil Nummerierung und Chronologie der Mahatma-Briefe in den verschiedenen englischsprachigen Ausgaben sowie in der dreibändigen deutschsprachigen Ausgabe sehr unterschiedlich gehandhabt wurden, haben wir in den Fußnoten und Anmerkungen … die Quellenhinweise unverändert übernommen. So wird ein schneller Zugriff auf die zitierten Briefe in den jeweils benutzten englischsprachigen Ausgaben sichergestellt.“
Hank Troemel
1H.P. Blavatsky, Die Geheimlehre, Adyar Studienausgabe, Satteldorf 1999.
2H.P. Blavatsky, Collected Writings, Bd. X, S. 217.
3Hank Troemel, Hg., Theosophie und Buddhismus, Satteldorf 1994.
4Blavatsky, Die Geheimlehre, Adyar Studienausgabe, op. cit., S. 540; 567; 621; 641.
David Reigle
EINFÜHRUNG
Es war nie H.P. Blavatskys Absicht, mit ihrem Buch Isis entschleiert die altägyptische Göttin Isis, hier als Personifizierung der Geheimnisse der Natur, zu entschleiern. Sie hatte ihr Manuskript mit dem Titel „Der Schleier der Isis“ an den Verlag geschickt, und erst als der Druck bereits begonnen hatte, wurde festgestellt, dass eine Publikation unter diesem Titel bereits erschienen war. Deshalb musste in aller Eile ein neuer Titel gefunden werden, und als der Verlag Isis entschleiert vorschlug, blieb Blavatsky nichts anderes übrig, als die Änderung zu akzeptieren.1
Blavatskys Buch sollte nicht die Geheimnisse der Natur entschleiern, sondern die Welt über die Existenz einer einst universalen, aber heute verborgenen Weisheitsreligion informieren. Diese Weisheitsreligion, symbolisiert durch die Göttin Isis, existiert in der Tat im Verborgenen, denn sie ist der Weltöffentlichkeit bereits vor vielen Zeitaltern verloren gegangen – aber es gibt sie noch! Diese allseits mit großem Erstaunen aufgenommene, aufregende Neuigkeit war der Grund für den rasanten Verkauf der ersten Auflage von eintausend Exemplaren des Buches in zehn Tagen.2
Was ist mit der Bezeichnung Weisheitsreligion gemeint? Blavatsky definiert sie in ihrem späteren Werk, der Geheimlehre, als die weltweit verbreitete Religion der Antike und prähistorischer Zeiten. Alle seither existierenden Religionen und philosophischen Systeme haben ihren Ursprung in dieser Universalreligion, und wenn eine Zeit kommt, die diese Tatsache erkennt, werden alle Mauern fallen, die Völker und Nationen trennen. Beizutragen zur Verwirklichung dieses Zieles war Sinn und Zweck der Veröffentlichung des Buches Isis entschleiert und entsprach einem der drei Grundsätze der Theosophischen Gesellschaft, der ihren Mitgliedern die aktive Mitarbeit an der Schaffung wahrer Brüderlichkeit unter allen Menschen der Welt als erstes erstrebenswertes Ziel setzte.
Blavatsky hatte eine zweifache Aufgabe zu bewältigen, wenn sie die moderne Welt zum ersten Mal mit dem Gedanken an die frühere Existenz einer universalen Weisheitsreligion vertraut machen wollte. Zum einen musste sie einer wissenschaftsgläubigen Öffentlichkeit beweisen, dass die modernen Naturwissenschaften keineswegs alle Antworten auf die Probleme und Fragen bereit hielten, die die Menschen bewegten, und dass die Gelehrten uralter, längst vergangener Zeitalter ein Wissen besaßen, das unserer heutigen Wissenschaft noch völlig fremd ist. Sie bewältigte diese Aufgabe im ersten Band von Isis entschleiert. Zum anderen musste sie darstellen, dass die Religionen in ihrem dogmatischen und praktizierten Separatismus die Nöte und Bedürfnisse der Menschen nicht mehr wahrnahmen oder befriedigen konnten. Dies ist der Themenbereich ihres zweiten Bandes.
In beiden Bänden führt Blavatsky eine Vielzahl von Zitaten aus Werken der Antike an, aus denen klar hervorgeht, dass ihre Autoren die Lehren der inzwischen verlorengegangenen Weisheitsreligion kannten. Sie begründet den Verlust dieses intellektuellen Allgemeinguts der alten Welt mit der Zerstörungswut fanatischer Anhänger der verschiedenen separatistischen Religionen, aber auch durch den Nachweis, dass es gleichzeitig Hüter der Weisheitslehren gab, die sie zum Schutz vor derartigen sektiererischen Gefahren geheim hielten und verbargen, um ihr Überleben sicherzustellen. Viele Jahrhunderte lang wurden ihre Literatur und andere Dokumente sorgfältig im Verborgenen behütet.
Aber woher hatte Blavatsky ihr Wissen über die Existenz dieser so sorgfältig geheimgehaltenen Universalreligion? Auf der Suche nach Weisheit hatte sie den Osten bereist und dort gewisse Individuen getroffen, von denen sich herausstellte, dass sie die Hüter eines uralten Geheimwissens waren. Sie war natürlich nicht die einzige Reisende auf der Suche nach Zeugnissen alter Weisheit, warum also wurde gerade sie fündig, wo andere erfolglos blieben? Nun, es war eher so, dass sie, die Suchende, auf sich selbst gestellt wahrscheinlich ebenso erfolglos geblieben wäre wie andere, dass aber gerade sie offensichtlich von den Hütern auserwählt wurde. Die Hüter der Weisheitsreligion sind in einer in Tibet und Indien beheimateten geheimen Bruderschaft vereint. Zwei ihrer Mitglieder, in der theosophischen Literatur als Mahatma K.H. (Koot Hoomi) und Mahatma M. (Morya) bekannt, waren Blavatskys Lehrer.
Im 14. Jahrhundert hatte Tsong-kha-pa, der große tibetische Gelehrte, den tibetischen Buddhismus reformiert und den Gelugpa-Orden gegründet. Von ihm wird berichtet, er habe auch die geheime tibetische Bruderschaft reformiert, deren Aufgabe die Bewahrung der Weisheitsreligion war. Durch eine dieser Reformen wurde die Bruderschaft dazu bestimmt, im letzten Quartal eines jeden Jahrhunderts zu versuchen, den Barbaren der westlichen Welt spirituelle Aufklärung und Erleuchtung zu bringen.3 Aber diese Bemühungen, so wird weiterhin tradiert, seien bis ins 19. Jahrhundert erfolglos geblieben. Ein neuer Versuch wurde im Jahr 1875 unternommen. Über die Wahl Blavatskys zur Verwirklichung dieses Plans schreibt der Mahatma K.H. in einem im Britischen Museum in London erhaltenen Brief:
„Nach fast einhundertjähriger erfolgloser Suche mussten unsere Oberen die einzige Gelegenheit wahrnehmen, die sich ihnen noch bot, indem sie nun einen europäischen Körper nach Europa schickten, der als Bindeglied zwischen jenem Land4 und unserem eigenen Land dienen konnte.“5
Es waren also die Hüter des Geheimwissens, die Blavatsky gezielt auswählten und sich ihr dann zur Verfügung stellten.
Nach einer gewissen Zeit der Unterweisung durch die Mahatmas gründete Blavatsky 1875 die Theosophische Gesellschaft und veröffentlichte zwei Jahre später Isis entschleiert. Und damit wurde die Existenz der im Osten bewahrten Weisheitsreligion zum ersten Mal auch in der westlichen Welt bekannt gemacht. Die ihr anvertraute Aufgabe bestand in der teilweisen, von ihr als „Theosophie“ bezeichneten Veröffentlichung der Lehren dieser Universalreligion. Als erste Folge und erste grundlegende Exposition ihrer Lehren diente das Buch Isis entschleiert, das damit gleichzeitig wegbereitend war für eine viel weitreichendere Darstellung in ihrem späteren Werk, der Geheimlehre.
Als wirkliche Pionierarbeit, als erste Veröffentlichung einer völlig neuen Sichtweise, musste ein großer Teil von Isis entschleiert der Enthüllung und Beseitigung von vorherrschenden Glaubenssätzen dienen, die der Akzeptanz der neuen Lehre im Wege standen. Diese Glaubenssätze resultierten erstens aus der bereits erwähnten umfassenden und dogmatischen Wissenschaftsgläubigkeit der westlichen Welt, wonach die modernen Naturwissenschaften in der Lage waren, alle wesentlichen menschlichen Probleme zu lösen, während sie sich doch in Wahrheit allein mit physischen Realitäten befassten. Und zweitens fußten die gesellschaftlich vorherrschenden Glaubenssätze auf der Überzeugung, die Religion allein sei im Besitz der Wahrheit, obwohl sie tatsächlich nur Bruchstücke davon besaß und lehrte. Somit wurde ein großer Teil des Werkes den inhärenten Unzulänglichkeiten von Wissenschaft und Religion gewidmet, während von den neuen Lehren über die Tatsache ihrer Existenz hinaus vorerst noch verhältnismäßig wenig dargestellt wurde. Eine wirklich umfassende, Gestalt gebende Exposition der Lehren selbst sollte später folgen. Wer Die Geheimlehre bereits studiert hat, darf also nicht erwarten, in Isis eine nochmalige Darstellung der Lehren der Geheimlehre zu finden. Isis entschleiert enthält in der Tat etwas anderes.
Um herauszufinden, worum es der Autorin in Isis entschleiert ging, seien einige Bemerkungen Blavatskys und ihrer Lehrer erwähnt:
„… (E)s handelt sich um den ersten vorsichtigen Versuch, einen vorerst nur schwachen Strahl aus dem Licht des esoterischen Ostens in den Westen eindringen zu lassen …“6
„Beim Schreiben der Isis war es uns nicht erlaubt, Einzelheiten preiszugeben, deshalb so manche Vagheiten und Gemeinplätze.“7
Der Mahatma K.H. schreibt in seinen Briefen:
„Die Autorin war angewiesen worden, nur allgemeine Hinweise zu geben und generell den richtigen Weg zu weisen, es war nicht ihre Aufgabe, darzustellen, was die Dinge in Wirklichkeit sind, sondern was sie nicht sind.“8
In Isis werden viele Themen angesprochen, mit denen selbst H.P.B. nicht allzu vertraut gemacht werden durfte … 9
„Sie werden gemerkt haben, dass alles in Isis entschleiert nur angedeutet, nur skizziert ist, aber in keiner Weise vollständig enthüllt wird.“10
„Isis“ wurde nicht enthüllt, aber es wurden genügend Risse in ihren Schleier gemacht, um dem Leser gewisse Einblicke zu erlauben, die er anhand seiner eigenen Intuition erweitern kann.11
Nicht nur war Blavatsky untersagt worden, Details zu veröffentlichen, sie war außerdem gezwungen, die Dinge, die sie darstellen durfte, in einer Sprache auszudrücken, die ihr fremd war. Sie sagte dazu:
„Ich hatte gesprochenes Englisch zwar in meiner Kindheit formlos erlernt, aber als ich im Jahr 1873 nach Amerika kam, hatte ich es seit dreißig Jahren nicht mehr gesprochen. Ich verstand, was ich las, konnte mich aber kaum unterhalten … . Bis 1874 hatte ich nicht ein einziges Wort auf Englisch geschrieben …“12
Sie überließ deshalb ihrem Mitarbeiter Col. Olcott die fertiggestellten Manuskriptseiten zur Korrektur. So wurde der größte Teil des Textes gemeinsam neu geschrieben, außer den Passagen, die ihre Lehrer ihr diktiert hatten. Sie erklärte:
„Ich verdanke ihm (Olcott) den englischen Text der Isis. … Die Sprache in Isis ist nicht meine Sprache, sondern – mit Ausnahme der Teile des Werkes, die mir, wie ich betont habe, diktiert wurden – kann nur als eine Art Übersetzung meiner Fakten und Ideen ins Englische bezeichnet werden.“13
Dass Olcott jedoch nicht in der Lage war, Irrtümer in der Darstellung der Lehren zu korrigieren, konnte Blavatsky wegen ihrer begrenzten englischen Sprachkenntnisse nicht auffallen.
„Es war mein erstes Buch, geschrieben in einer fremden Sprache, in der ich keine Fertigkeit besaß. Und für gewisse asiatische Philosophen, die mir halfen, war der Gebrauch dieser Sprache sogar noch ungewohnter als für mich. Außerdem besaß Col. Olcott, der das Manuskript bearbeitete und während der ganzen Zeit – von 1875 bis 1876 – mein Mitarbeiter war, damals kaum Kenntnisse der Philosophie der Aryas, war also nicht in der Lage, die Fehler zu erkennen und zu korrigieren, die mir bei dem Versuch unterliefen, meine Gedanken ins Englische zu übertragen.“14
In der Tat konnte Olcott nicht korrigieren, wovon er nichts verstand, und Blavatsky konnte nicht formulieren, was sie verstand.
„Ich befinde mich in der 47. Straße in New York, arbeite am Isis-Manuskript und höre, was Seine Stimme mir diktiert. In jenem Traum, in jener retrospektiven Vision, schrieb ich nochmals die gesamte Isis neu und konnte nun zwar all die Seiten und Sätze identifizieren, die Mah. K.H. diktiert hatte, aber mit meinem schlechten Englisch brachte ich Olcott bei dem Versuch, zu verstehen, was gemeint war, schier zur Verzweiflung.“15
In dieser Situation waren Fehler in Isis entschleiert praktisch vorprogrammiert. Ein besonders schwerwiegender betraf Blavatskys Verwendung des Wortes „Gott“. Im Vorwort zu Isis schreibt sie:
„Vor Jahren, als wir zum ersten Mal den Osten bereisten und das Allerheiligste vieler längst verlassener Tempel untersuchten, waren wir besessen von zwei quälenden, immer wiederkehrenden Fragen: Wo, wer, was ist GOT? Wer hat jemals den unsterblichen GEIST des Menschen gesehen und konnte sich somit seiner eigenen Unsterblichkeit sicher sein?
Im Verlauf unserer verzweifelten Suche nach Antworten auf diese perplexen Fragen begegneten wir Menschen, die eine geheimnisvolle Kraft ausstrahlten und ein derartig tiefgründiges Wissen besaßen, dass man sie mit Sicherheit als die Weisen des Orients bezeichnen konnte. Bereitwillig ließen wir uns von ihnen unterrichten und lernten so, dass anhand einer Synthese von Wissenschaft und Religion die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit des menschlichen Geistes gleich einer Euklidischen Problemlösung bewiesen werden können. Zum ersten Mal wurde uns glaubhaft versichert, dass die gesamte Philosophie des Ostens auf nur einer einzigen wirklichen Grundlage aufbaut, nämlich auf dem absoluten, unerschütterlichen Glauben an die Omnipotenz des dem Menschen eigenen Selbst, das unsterblich ist. Diese Omnipotenz, so lehrte man uns, beruht auf der Verwandtschaft des menschlichen Geistes mit der Universalseele – Gott! Und nur durch den Menschengeist, so lehrten die Weisen, kann die Existenz der Universalseele bewiesen werden. Menschengeist beweist Gottesgeist wie ein Tropfen Wasser das Vorhandensein einer Quelle beweist, der er entsprungen sein muss. … Beweise die Existenz der menschlichen Seele anhand ihrer wunderbaren Kräfte, und du beweist die Existenz Gottes!“
Als Blavatsky Isis schrieb, war sie sich der Bedeutungen des Wortes „Gott“ nicht bewusst und benutzte es immer dann, wenn sie in Wirklichkeit das unpersönliche Universalprinzip meinte, das im Hinduismus, unter den Advaita Vedantins, als Parabrahman bezeichnet wird.
Isis entschleiert16