Schlacht der Identitäten

Hamed Abdel-Samad

Schlacht der Identitäten

20 Thesen zum Rassismus – und wie wir ihm die Macht nehmen

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Hamed Abdel-Samad

Hamed Abdel-Samad, geboren 1972 bei Kairo, studierte Englisch, Französisch, Japanisch und Politik. Er arbeitete für die UNESCO, am Lehrstuhl für Islamwissenschaft der Universität Erfurt und am Institut für Jüdische Geschichte und Kultur der Universität München. Abdel-Samad war Mitglied der Deutschen Islam Konferenz und zählt zu den profiliertesten islamischen Intellektuellen im deutschsprachigen Raum. Wegen seiner Tabubrüche wurde 2013 eine offizielle Fatwa gegen ihn verhängt, seither lebt er unter permanentem Polizeischutz. Seine Bücher sind allesamt Bestseller.

Über das Buch

Hamed Abdel-Samad hat Rassismus erlebt: In Ägypten wurde er als hellhäutiger Kreuzritterbastard denunziert, in Deutschland ist seine Haut manchen zu dunkel, sein Name anderen zu muslimisch.

Dieses erfahrungssatte Buch ist kein Bericht der Betroffenheit. Es ist die Analyse eines durch Globalisierung, Migration und Vorfälle in den USA auch hierzulande angeheizten Themas. Die Radikalität der Debatte, die in Deutschland weit über das Thema Rassismus hinaus Fragen von Identität, Zugehörigkeit, Rederecht und Redeverbot behandelt, droht die Gesellschaft tief zu spalten. Abdel-Samad sucht die Auseinandersetzung zu rationalisieren und zeigt im Individualismus einen Ausweg aus der zwanghaft identitätsfixierten Zugehörigkeitsdebatte.

Impressum

Originalausgabe

© 2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

Umschlaggestaltung und -illustration: hißmann, heilmann, hamburg unter Verwendung eines Motivs von Arnaud Boukalala / Getty Images

 

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eBook-Herstellung: Fotosatz Amann, Memmingen (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43887-2 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-28275-8

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website http://www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423438872

 

Begriffsdefinition der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz

Der Kampf gegen Rassismus sollte eine Gesellschaft eigentlich einen, nicht spalten. Denn diese menschliche Krankheit ist nicht nur für die Opfer von Rassismus, sondern auch für die Rassisten selbst und vor allem für die Gesamtgesellschaft extrem schädlich. Die Opfer verlieren durch rassistische und diskriminierende Erfahrungen oft das Vertrauen in das Gemeinwesen, in ihre Mitmenschen und – was noch schlimmer wiegen dürfte – sie verlieren das Vertrauen in sich selbst. Wenn Menschen in der Schule, im Alltag oder im Berufsleben nicht nach ihren Talenten und Fähigkeiten beurteilt werden, sondern nach ihrer Hautfarbe, ihrem kulturellen Hintergrund, ihrer Sexualität oder ihrer Religion, dann verlieren am Ende wir alle. Die Rassisten selbst berauben sich in ihrem Furor der Möglichkeit, am Wissen der anderen teilzuhaben und sich für deren Erfahrungsschatz zu öffnen. So schneiden sie sich ein Stück weit selbst von der Vielfalt dieser Welt ab und bleiben sowohl menschlich als auch geistig arm. Und eine Gesellschaft schließlich, die das Rassismusproblem nicht in den Griff bekommt, droht wie ein Körper zu werden, dessen Organe nicht mehr harmonisch zusammenarbeiten, sondern einander gegenseitig blockieren. So schwächt der Körper sich selbst und läuft Gefahr, sich mit der Zeit Stück für Stück von innen heraus zu zersetzen.

Doch die Art und Weise, wie wir in Deutschland über das Thema Rassismus diskutieren, legt – wie schon bei den Themen Migration und Integration – offen, dass in unserem Land etwa schiefläuft. Und zwar nicht nur in Bezug auf unsere Streitkultur. Die längst fällige Debatte wird ideologisch aufgeladen und emotional geführt, von den unterschiedlichen Lagern gekapert, instrumentalisiert oder relativiert. Hier Moralismus und Betroffenheitsrhetorik, dort Abwehr und Leugnen. Man bleibt nicht auf der Sachebene, nicht bei der wissenschaftlichen Definition von Rassismus, sondern verengt den Begriff auf eine Weise, wonach Rassismus offenbar nur ein Privileg des »weißen Mannes« zu sein scheint. Nach dieser ideologischen Ausrichtung des Begriffs gilt bereits die harmlose Frage nach der Herkunft eines Menschen als rassistisch und damit als indiskutabel.

Mit einer Debatte, in der nur vorgeworfen und verteidigt wird, schützt man weder die Opfer von Rassismus noch erreicht man die Rassisten selbst. Eine solche Debatte wird

Was als gut gemeinter Weg gedacht war, um die Bevölkerung für die Befindlichkeit der Opfer von Rassismus zu sensibilisieren und den Opfern ein Forum zu bieten, endete leider in vielen Fällen genau damit. Der Leser oder Fernsehzuschauer verspürte wahlweise Schuld oder Mitleid, oder wies die Tatsache, dass wir ein Rassismusproblem haben, vehement zurück. Doch weder Schuld noch Mitleid noch Leugnen helfen irgendjemandem. Schuldgefühle und Betroffenheit täuschen manchmal sogar vor, man habe dadurch bereits seinen Beitrag geleistet. Solidaritätsbekundungen, Sonntagsreden und Lichterketten reichen jedoch längst nicht mehr aus. Wir brauchen eine Debatte, die in die Tiefe geht. Doch diese wird – der vergleichsweise großen Präsenz des Themas in Politik und Medien zum Trotz – noch immer nicht geführt. Das hat auch damit zu tun, dass Antirassismus ideologisch oft mit Anti-Amerikanismus und Anti-Kapitalismus verflochten ist; und nicht selten wird der Rassismusvorwurf benutzt, um alte Rechnungen zu begleichen. Die Leidtragenden sind auch hier die Opfer von Rassismus, die ein zweites Mal zum Opfer gemacht werden: Weil ihnen keine Instrumente an die Hand gegeben werden, die sie selbst ermächtigen würden. Oder, wie eine afroamerikanische Freundin aus den USA einmal zu mir sagte: »Mir ist ein Trump-Anhänger, der mich ›Nigger‹ nennt, lieber, als ein Demokrat, der mich paternalistisch wie ein kleines Kind behandelt, das immer einen weißen Anwalt braucht, der seine Rechte sichert und verteidigt.«

Berichte von Betroffenen sind wichtig, weil sie uns zeigen, was Rassismus bei den Opfern und in der Gesellschaft

Viele, die sich als Kämpfer gegen Rassismus inszenieren, bedienen sich letztlich der gleichen Mittel wie die Rassisten selbst: Sie unterteilen die Welt in Schwarz und Weiß, in Gut und Böse, sie betrachten Menschen nicht als Individuen, sondern als Vertreter von Ethnien und Gruppen. Sie polarisieren, kategorisieren und ordnen ein. Sie vereinfachen, indem sie die Gesellschaft spalten: Wer nicht für uns ist, muss gegen uns sein. Wenn Debatten aber nur eindimensional geführt werden, wenn es nur darum geht, die eigene Ideologie bestätigt zu sehen oder sie anderen überzustülpen, gelangen wir nicht zum Kern des Problems. Wir werden der Komplexität des Themas nicht gerecht und bedienen die gefährliche Sehnsucht nach einfachen Antworten. Und irgendwann wird der Druck, sich zu einer Seite bekennen zu müssen, so groß, dass gar kein Diskurs mehr möglich ist.

Die verkrampfte Debatte über Rassismus ist auch ein

Genau das aber lässt sich bei der Rassismusdebatte beobachten: Sie gerät sofort in diesen fatalen Identitätskampf und wird von der Öffnungspolitik der Linken und der Angst vor Unterwanderung oder gar »Umvolkung« der Rechten in die Zange genommen. Dabei ist Rassismus ein viel zu wichtiges Thema, um es den ideologischen Grabenkämpfen zwischen rechts und links zu überlassen. Denn das führt letztlich auch dazu, dass diejenigen schweigen werden, die sich nicht auf die eine oder die andere Seite schlagen wollen. Und darin liegt eine große Gefahr für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft und den Fortbestand unserer Demokratie.

Rassismus betrifft uns alle, er ist wie eine chronische

Rassismus im Spiegel von Geschichte und Gegenwart

Rassismus ist eine anthropologische Konstante

Der Mensch begann seine Karriere auf diesem Planeten in einer sehr feindseligen Umgebung, in der die Sicherung der Nahrung – und damit sein Überleben – immer mit einem Kampf verbunden war. Einem Kampf nicht nur gegen Naturgewalten und wilde Tiere, sondern auch gegen andere Angehörige der menschlichen Spezies, die ihm die knappen Ressourcen streitig machen wollten.

Dieser existenzielle Kampf hatte einen wichtigen Motor: Angst. Und diese Angst veranlasste den Menschen, sich in Gruppen zu organisieren. Ein enger Zusammenhalt innerhalb der eigenen Sippe, verbunden mit einer Arbeitsteilung etwa bei der Jagd, versprach deutlich bessere Überlebenschancen für alle, die dieser Gruppe angehörten.

Die archaische Sippenbildung der frühen Menschheitsgeschichte folgte schon damals dem Prinzip der Abgrenzung: Wir gegen die Anderen. Der Andere trat nicht als Freund und Helfer in Erscheinung, sondern als Bedrohung, als Konkurrent um Nahrung, Land und andere Ressourcen. Je größer diese Bedrohung, je härter der Kampf, umso größer wurde die Angst, umso wichtiger die Schutzfunktion der eigenen Gruppe.

So gesehen könnte man auch sagen, dass die Wurzel für die Entstehung von Rassismus nicht Ausdruck der Überlegenheit einer Gruppe oder einer Ethnie war, sondern existentielle Angst und Unsicherheit.

Die Begegnung mit anderen Kulturen verlief fast immer asymmetrisch. Mal war man der Eroberer, mal der Eroberte. Der Mächtige bestimmte die Spielregeln und ging selten fair mit den Unterlegenen um. Er kolonialisierte, tötete, versklavte und beutete die Ressourcen der eroberten Landstriche aus. Dieses Gebaren war kein Privileg des weißen Mannes, alle Hochkulturen in allen Weltgegenden verfuhren nach diesem Muster.

Die Schwachen hatten Angst vor den Stärkeren, aber auch die Starken waren nicht frei von Angst. Sie fürchteten die Rache der Unterjochten. Ein Teufelskreis aus Angst, Hass und Aggression, der eine lange Geschichte von Unterdrückung und gegenseitigem Misstrauen in Gang gesetzt hat, die bis heute die Beziehung der unterschiedlichen Kulturen, Ethnien und Religionen zueinander prägt. Viele alte Verletzungen, Vorurteile und sogar Hass gegenüber bestimmten Gruppen haben die zivilisatorische Weiterentwicklung des Menschen überdauert und sind heute in jedem gesellschaftlichen System der Welt zu Hause. Das habe ich in Ägypten, in den Golfstaaten, in Japan, in den USA und auch in Deutschland erlebt. Diese Elemente aus einem System zu entfernen ist beinahe unmöglich, denn sie sitzen oft ebenso tief wie unsere unbewussten Ängste.

Unsere Angst vor dem Fremden, dem anderen, reicht zurück bis zu den Anfängen. Unser Gehirn verfügt immer

In den vergangenen Jahrtausenden machte der Mensch kulturelle und zivilisatorische Quantensprünge. Er schuf beeindruckende Bauwerke und Kunst, brachte große Denker und Forscher hervor, er machte sich die Natur untertan, brachte Stahlkolosse zum Schwimmen und erreichte den Mond. Doch seine Triebe und Ängste blieben archaisch. Und das primitive Verständnis von Identität als Schutzschild gegen »die Anderen« blieb bestehen und mit ihm das Misstrauen gegenüber dem Fremden.

Wut, Hass und Aggression konnten zwar durch Gesetze, Spiritualität, Ethik, Musik, Kunst und Empathie gezügelt werden, doch wirklich davon befreien konnte sich der Mensch bis heute nicht. Das Streben nach Homogenität und die Abgrenzung zu anderen waren von Anfang an Bestandteil jeder Gesellschaft, auch, weil sie damals ihren Fortbestand sicherten.