Wenn mein Kranz verblüht,
Wenn mein Herz gebrochen,
Dann hab' ich Wiederkehr versprochen.
Hans Heiling
Der letzte Frühlingssturm raste über die Erde, er fuhr ächzend durch die Wälder und das niedere Gehölz und brach manche Spitze der Föhren, daß sie krachend zusammenstürzten ins weiche, grüne Moos, auf dessen unvergänglichem Teppich schon der Waldmeister seine zarten Blättchen ausbreitete und die Heidelbeere neben der Erdbeerstaude zu grünen begann. Denn Pfingsten stand vor der Tür, nach langem, hartem Winter sollte es endlich Frühling werden, Frühling auf Erden, Frühling im Herzen.
Das muß schon ein eisenhartes Herz sein, ein verdorrtes, erstorbenes Gemüt, das nicht weich wird und froh zugleich von dem wunderbaren, eisesschmelzenden, blütentreibenden Worte: Frühling, das nicht wunderbar bewegt wird durch das Wörtlein »Pfingsten«, das liebliche Fest, wenn die Veilchen blühen, die Vögel jubilieren und ein feuchter, warmer Hauch aus der Erde dringt.
Und wenn die Sonne sich senkt und die warme Luft durch das erste, lichte Blättergrün rauscht und den Veilchenduft zu uns herüberweht, ist's nicht ein eigener Zauber, der das Herz dann ergreift? Den Frühlingsabend zu schildern, wessen Feder vermöchte das? Einer hat's gekonnt, Emanuel Geibel, als er sang:
Frühlingsabend,
Wie hab' ich dich so gern,
Der Himmel wolkenverhangen,
Nur hie und da ein Stern.
Wie leiser Liebesodem
Hauchet so lau die Luft,
Es steigt aus allen Talen
Ein warmer Veilchenduft.
Ich möcht' ein Lied ersinnen,
Das diesem Abend gleich,
Und kann den Klang nicht finden,
So dunkel, mild und weich.«
Doch für solch einen Frühlingsabend war's heute noch viel zu früh. Der verdrängte Winter versuchte es noch einmal, seine unmögliche Herrschaft zu behaupten, und sandte seinen wildesten Sturm über die Erde, wenn auch nur, um den Baumkronen einen kleinen Denkzettel zu geben, dafür, daß sie schon vorwitzig ihre schwellenden Knospen oder wohl gar kleine, neue, lichtgrüne Blättchen zeigten. Und so wehte des Winters letzter Gruß stöhnend durch den weiten, dichten Forst und heulte klagend um die festen, alten Mauern des Forsthauses am Saume des Waldes.
Drinnen aber im warmen, behaglichen Zimmer lag der alte Oberförster Freiherr von Fels zurückgelehnt in seinem großen Lehnstuhl, schwer und tief atmend, und am Fenster, die Stirn an die kühlen Scheiben gedrückt, stand sein einziges Kind, seine Rose, das »Heideröslein«, wie er sie gern nannte, und horchte hinaus in den wilden Sturm.
»Wie das tobt und rauscht,« hatte sie vorhin zu der alten Wirtschafterin gesagt, »weißt du, Dore, das klingt wie das Flügelrauschen des Todesengels, der ums Forsthaus fliegt!« Und sie hatte recht – es mochte der Todesengel sein, denn der starke, kräftige Oberförster lag im Sterben. Der Sturm knickt eisenfeste Bäume, und der Ewige droben brach durch seinen Willen die unverwüstliche Lebenskraft und Gesundheit dieses Mannes. Seit Stunden hatte ihn ein tiefer, schwerer Schlaf übermannt, und Rose wartete mit ängstlicher Sorge auf das endliche Erwachen.
»Der Schlaf tut nimmer gut,« hatte die alte Dore kopfschüttelnd gesagt.
»Heideröslein« stand am Fenster, und es legte sich immer schwerer und banger auf ihr junges, frohes Herz. Der erste Schmerz, die erste Sorge sollte sie treffen, denn als die Mutter starb, war sie noch zu jung gewesen, um es recht zu fühlen, kaum, daß sie damals verstand, was man ihr sagte. In dem alten Forsthause hatte sie ihre Kindheit, ihre Jugend verlebt, frei wie ein Vogel war sie in Wald und Heide aufgewachsen, sie kannte jeden Baum, jeden Strauch, jeden Vogel im Revier, und die Rehe kamen zutraulich, ihr die Leckerbissen aus der Hand zu nehmen. Und neben diesem freien Emporblühen und Wachsen legten treffliche Lehrer den Grund gediegener Bildung in das leicht empfängliche Gemüt des Mädchens, dessen geweckter Verstand alle Schwierigkeiten des Lernens spielend überwand.
So war sie denn aufgewachsen, kräftig, schön und blühend in der frischen Waldluft. Ihre Gespielen waren die Tiere des Forstes, sie war höchstens bis in die nächste Stadt gekommen, und die Nachbarfamilie drüben auf dem Lande hatte keine Kinder. Rose hatte zwar viel mit ihr verkehrt und war ein stets gern gesehener Gast auf Hochfelden, denn sie fühlte sich sehr zu der sanften, leidenden Gutsherrin hingezogen, aber eine Gespielin konnte ihr die bedeutend ältere, stets an ihren Rollsessel gefesselte Frau nicht sein.
Der Oberförster liebte sein Kind und war stolz auf sie. Es war ihm freilich mitunter der Gedanke gekommen, was aus ihm werden sollte, wenn sich eines schönen Tages ein Märchenprinz durch den dichten Wald arbeitete, um Rose im Sturm davonzuführen, wie weiland Dornröschen. Aber der Gedanke war ihm nie gekommen, daß ihm einst das große Halali geblasen werden würde und er seinen Liebling allein zurücklassen müßte, denn im Bewußtsein seiner strotzenden Kraft dachte er nicht an einen Zusammenbruch, bis vor einer Woche plötzlich eine Schwäche über den Riesen kam und eine höhere Macht ihm die Flinte aus der Hand nahm. Und das an dem Tage, da ein besonders gnädiges königliches Schreiben ihn zum Forstmeister ernannte. Das hatte den Freiherrn recht wehmütig gestimmt, und zum ersten Male dachte er daran, was aus seinem Heideröslein ohne ihn werden sollte. In den ersten Stunden seiner Krankheit waren ihm trübe Gedanken durch den Kopf gezogen; es fiel ihm ein, daß die Welt schlecht und sein Kind jung sei, erst achtzehn Jahre alt, und am Ende gar noch hübsch – wahrhaftig, er hatte gar nicht gewußt, daß sie hübsch war; er wünschte nun fast, sie möchte häßlich sein in dieser nichtsnutzigen Welt, die doch auch wieder so schön ist. Verstohlen prüfte er Roses Züge und Gestalt – er fand, trotzdem er es nicht recht glauben wollte, daß ihr Wuchs vollkommen und dabei leicht und biegsam wie eine junge Tanne war, und was ihre Züge anbetraf, so mußte er sich stolz und doch wieder staunend gestehen, daß sie regelmäßig und wunderlieblich waren: die schöne, weiße Stirn mit der Fülle rötlichgoldblonder krauser Löckchen darüber, die feine, gerade Nase mit den schön gezeichneten Nüstern, der rosige, leicht aufgeworfene Mund, die zarten, pfirsichfarbenen Wangen mit den Grübchen, endlich die sonnigen Augen von solch lichtem Braun, daß es goldig aussah, und darüber die feinen, dunklen Brauen.
Wenn man an etwas gewöhnt ist, fällt es einem nicht mehr auf, darum hatte der Oberförster auch gar nicht gewußt, daß Rose so hübsch war. Tagtäglich nahm er sich vor, mit ihr über die Zukunft zu sprechen, und tagtäglich schob er es wieder auf – er mochte wohl nicht glauben, daß es wirklich zu Ende gehen sollte. Heute, während der Sturm um das Forsthaus heulte, träumte der Kranke irre, wirre Träume durcheinander, und als er endlich erwachend die fieberhaft glänzenden Augen aufschlug und Rose herbeieilte, ihm das Kissen unterm Kopfe gerade zu rücken und sein sonnverbranntes, wettergefurchtes Antlitz zu küssen, da seufzte er tief auf.
»Jetzt ist's bald aus, Heideröslein,« sagte er matt, »der da droben hat das Halali geblasen, und da muß ich schon kommen, mag ich wollen oder nicht!«
»Aber Papa, lieber, lieber Papa,« flüsterte Rose erstickt.
»Ja, ja, 's ist bitter für dich, armes Kind,« entgegnete er, »um allein zu stehen in der Welt, bist du eigentlich noch viel zu jung, – brr, wie das draußen heult und stöhnt! Der Sturm wird mich mitnehmen von hier. Na, schade ist's nicht um mich alten morschen Stamm, aber was machst du ohne Stütze, junges Bäumlein? Armes Heideröslein, mir wird das Scheiden von dir recht schwer! Mir bangt um deine Zukunft. Aber ich denke, du hast meinen Charakter geerbt, und da weiß man wenigstens, was man will – gut, gut! Konnte diese anschmiegenden Efeucharaktere mein Leblang nicht leiden, mögen recht gut sein fürs Haus, taugen aber in der Welt gar nichts. Ja, was wollte ich gleich sagen, Heideröslein?«
»Ruh' dich doch aus,« bat Rose.
»Ruhen? Werde bald für immer ruhen, Kind! Nein, heut muß ich reden, sonst wird's zu spät – meine Frist ist abgelaufen. Der Sturm draußen, das ist nach altem Jägerglauben der Todesengel, der mit den Flügeln rauscht, und gegen den Tod ist kein Kraut gewachsen, wenn auch die alte Dore meint, mir mit ihren greulichen Tees wieder aufhelfen zu können. Sag', Heideröslein, was wirst du tun ohne mich – ich lasse dich arm und verwaist zurück, allein auf dieser großen, öden Welt!«
Rose war unfähig, zu antworten. Mit überströmenden Augen kniete sie neben dem Sterbenden nieder und lehnte sich auf seinen Arm.
»Na, weine nicht, Kind,« sagte er, »geschieden muß einmal sein, und leicht wird's mir, weiß Gott, nicht! Aber der da droben wird dich schützen, und ich will über dir wachen. Nimm dich in acht, Heideröslein, auf deiner Wanderung durchs Leben, du bist jung, unerfahren und hübsch! – Aber sie wird nicht verderben und untergehen,« setzte er leise hinzu, »denn sie hat meinen Charakter.«
Es war eine Weile still in dem Gemach, dann hob der Freiherr wieder an: »Ich hinterlasse dir nichts, Kind, aber du hast dein Kapital im Kopf und Herzen. Ich mag freilich schlecht gewirtschaftet haben, nun, auf das Geldzusammenscharren hab' ich mich mein Lebtag nicht verstanden. Sei du die Erbin meiner Liebe, der Liebe überhaupt, kleine Rose! Ich, ich habe nichts geerbt als Haß. Deine Mutter war ein gutes Geschöpf, aber geliebt habe ich sie nicht so, wie ich gesollt hätte. Du hast ja von Romeo und Julia gelesen; nun, ehe ich deine Mutter heiratete, hatte auch ich meine Julia, aber ein alter Streit trennte unsere Häuser, und an meines Vaters Sterbebett mußte ich schwören, diesem Mädchen zu entsagen – ich wurde der Erbe seines Hasses! Sei du also die Erbin der Liebe, Rose, und wenn du ihr einst begegnest, meiner Julia, dann vergelte ihr durch Liebe das Böse, das Herzeleid, das ich ihr zufügen mußte. Liebe und Vergebung ist edler und vornehmer als Rache und Haß – aber freilich, das Herz läßt sich nicht zwingen.«
»Wer ist sie, wie heißt sie, lieber Vater?« fragte Rose. Aber der Freiherr war in sein Kissen zurückgesunken, seine Augen sahen stier und verglast vor sich hin.
»Ihr Name –« stammelte er, »sag' ihr – ich hätte sie – ewig geliebt! –Sag' ihr – Rose, Heideröslein – es ist – aus – behüt' – dich Gott!«
Er fiel zurück. Rose warf sich über ihn, angstvoll seinen Namen rufend, und dazu klirrte und rasselte der Sturm an den Scheiben.
Der Freiherr wandte seine Augen seinem Kinde zu, ein Lächeln irrte über seine Lippen, und mit erlöschender Stimme sagte er nur ein Wort noch: »Heideröslein!«
Dann war es vorbei, er war tot.
Und in dem Augenblick, der diese Seele himmelwärts führte, legte sich der Sturm – es war tiefe Stille geworden in der Natur.
Als die alte Dore nach einer Weile mit einer dampfenden Tasse Tee ins Zimmer trat, fand sie die tränenlose Waise in stummem Jammer neben der Leiche ihres Herrn, und leise mit der Schürze über die Augen fahrend, sagte sie mit bebender Stimme: »Also ist's doch der Todesengel gewesen.« –
Es war nun alles vorüber. Der Oberförster lag in der kühlen Erde, und seines Kindes Hand legte die ersten Veilchen auf den frischen Hügel. Sie kniete nieder an dem Grabe und breitete ihre Arme darüber aus, als wollte sie es umarmen, und endlich löste sich ihr starrer Schmerz, eine heiße Tränenflut stürzte ihr aus den Augen.
Es war schon spät, als die alte Dore kam, sie abzuholen.
»Kommen Sie heim, Kindchen,« sagte sie, »es tut nicht gut, wenn der Frühlings-Abendtau auf einen fällt, der taugt nur für Pflanzen!«
Rose erhob sich von den Knien, und ehe sie ging, strich sie noch einmal mit der Hand über das Grab, als ob der Tote drunten dies Zeichen ihrer Liebe fühlen könnte.
An der Kirchhofstür blieb sie stehen und sah zurück; es dämmerte schon stark, und ein feiner Nebel senkte sich wie ein Schleier auf die Gräber des Gottesackers am Waldessaum.
»Tot,« sagte sie mit zuckendem Munde, »tot, und ich, ich bin verwaist und allein!« Es war eine böse Nacht für die Heiderose, unruhig warf sie sich auf den Kissen umher, und fieberhafte Träume verfolgten sie.
»Das kommt vom Abendtau,« murmelte die alte Dore, die am Bett ihrer jungen Herrin wachte und oft liebevoll die brennend heißen Hände drückte und die goldroten Löckchen von Roses Stirn strich.
Gegen Morgen wurde sie ruhiger, und ein erquickender Schlaf stärkte die abgespannten, erregten Nerven. Als sie erwachte, schien die Sonne hell in ihr Stübchen, und schnell war sie angekleidet und hinausgeeilt in den taufrischen, grünen Wald, dessen leises Rauschen ihr so vertraut und lieb war.
Langsam schritt sie dahin auf dem schmalen Waldweg, frei wehte die Frühlingsluft um ihre Stirn, und mit durstigen Zügen sog sie den würzigen Tannenhauch ein. Die Welt lag da wie in Gold getaucht, so ruhig, so friedlich wie eine Verheißung – leise, unmerklich fast wich der verzweifelnde Schmerz aus Roses jungem Herzen, und an seiner Stelle kehrte die sanfte, tiefe und wahre Trauer in ihr ein, die nicht mit dem schwarzen Gewand wieder ausgezogen wird, sondern unvergessen dem Menschen bleibt.
Ruhiger geworden, trat Rose aus dem Wald hinaus und schritt nun querfeldein, die blauen Veilchen pflückend, die ihr zu Füßen überall sproßten, und nach kurzer Wanderung gelangte sie an eine lange Lindenallee, an deren Ende ihr die freundlichen weißen Mauern des Hochfeldener Herrenhauses entgegenblinkten. Herr und Frau von Hochfelden saßen in der Gartenhalle, zurückgeschobenes Frühstücksgerät zeigte, daß sie den schönen Morgen dazu benutzt hatten, den Kaffee im Freien zu nehmen. Der Hausherr eilte Rose entgegen, als er ihrer ansichtig wurde, und seine Frau reichte ihr schon von weitem die Hand zum Gruße entgegen, – sie war durch eine Lähmung seit Jahren an ihren Rollstuhl gefesselt.
»Willkommen, Heideröslein,« rief sie freundlich, »tausendmal willkommen. Ich hatte dich erwartet, denn ich kann ja nicht zu dir kommen! Armes, armes Kind!«
»Ich war im Wald,« sagte Rose, »und die frische Luft hat mir wohlgetan! Gottlob, daß es Frühling ist, im Winter wär's schwerer zu tragen gewesen. Es tat mir so wohl und wehe zugleich, die Wege zu gehen, die ich so oft mit dem Vater gewandert bin. Bald werden Fremde sie gehen,« setzte sie leise hinzu.
»Das ist der Lauf der Welt,« sagte Hochfelden in tröstendem Ton. »Diese Fremden sollen dich nicht sehr belästigen, Rose,« rief Frau von Hochfelden herzlich, »höre unseren Plan: Wir wollen dich bei uns haben, Kind, du sollst ganz zu uns übersiedeln. Wir wollen schon dafür sorgen, daß das Heideröslein wieder blüht wie früher.«
»Ja, schlag ein,« rief Hochfelden freundlichen Blicks, »wir bieten dir gern unser Haus als Heimat, und daß wir deine besten Freunde sind, davon bist du überzeugt, nicht wahr?«
Rose war blaß geworden. Sie lehnte, mit den Händen das Gesicht bedeckend, an dem Gitter der Gartenhalle. Ein schwerer Kampf war's, aber sie bedachte sich nicht lange.
»Ich weiß,« sagte sie langsam und fest, »ich weiß, daß ihr meine Freunde seid, und danke euch von ganzem Herzen für eure Güte – aber ich kann sie nicht annehmen. Ich bin arm, mein Vater hat mir nichts hinterlassen, das mich in die Lage setzen könnte, zu leben, wie es mir beliebt! Ich muß mir folglich mein Brot verdienen.«
»Rose, wenn du bei uns bist, brauchst du durchaus keine Sorgen zu haben, und –«
»Aber ich würde müßig gehen, und das will ich nicht,« erwiderte Rose ruhig und fest, »mein Vater pflegte stets zu sagen, daß er Müßiggänger wie die Sünde hasse, und er hatte recht. Eure Güte würde mir wie ein Almosen vorkommen, und – ich, ich bin zu stolz, um das anzunehmen.«
»Aber was willst du tun, Rose? Überlege es wohl, du bist ein verwöhntes Kind!«
»Nein, das bin ich nicht,« entgegnete das junge Mädchen ernst, »verwöhnt durch Liebe bin ich wohl, aber nicht in dem Sinne, in dem ein verwöhntes Kind betrachtet wird. Ich kam heute zu euch, um zu fragen, ob ihr mich für fähig haltet, die Stelle einer Gesellschafterin und Vorleserin in fremdem Hause auszufüllen. Antwortet mir ohne Rückhalt, ich bitte darum.«
Sie sah fast flehend auf die zarte Dame herab, die sie voll Teilnahme betrachtete.
»Ja,« sagte Frau von Hochfelden nach einer Pause, »ja, ich denke, das könntest du schon, du sprichst zwei Sprachen mit Gewandtheit, und dein Vortrag ist angenehm. Doch bedenke, daß es nicht leicht ist für ein junges, lebhaftes Mädchen, wie du es bist, sich freundlich in jede Laune einer Dame zu finden. Das Brot der Dienstbarkeit ist ein sehr hartes, doppelt hart aber für die, welche stolz sind.«
»Ich werde es nicht mehr sein, wenn ich's nicht mehr sein darf,« erwiderte Rose so zuversichtlich, daß Hochfelden vor sich hinmurmelte: »Kleiner Eisenkopf – die setzt durch, was sie sich vornimmt.«
Rose hatte diese Worte verstanden. »Ich hoffe, du beurteilst mich richtig,« sagte sie mit leisem Lächeln.
»Nun wohl,« meinte Frau von Hochfelden, »gesetzt also, du wirst dies harte Brot ertragen mit der Kraft, welche Gott denen verleiht, die es mit dem ›feindlichen Leben‹ aufnehmen müssen. Für dich gibt es aber noch andere Bedenken. Erstens bist du sehr jung –«
»Dieser Fehler bessert sich mit jedem Tage,« fiel Rose ein.
»Dann bist du wirklich zu – zu hübsch für eine solche Stellung. Der Schutz, den der Mensch sich selbst gewährt, ist zwar der beste, und von Leuten, die nur tugendhaft bleiben, wenn sie ständig überwacht werden, halte ich nicht viel, aber dennoch –«
»Vater nannte mich nicht umsonst ›Heideröslein‹. Ich habe meine Dornen und kann stechen.«
»Endlich, liebe Rose, ist das schwerste Hindernis für dich dein Titel. Wer wird sich eine Baronesse ins Haus nehmen! Man knüpft daran gleich die Vorstellung einer anmaßenden Person, man möchte ihr besondere Rücksicht gönnen, und man will doch nicht, man fühlt sich neben der Gesellschafterin beengt und gezwungen, besonders, wenn man selbst dem Adel nicht angehört, und ist dies der Fall, so ist die arme Standesgenossin, die man bezahlt, stets eine Art von Vorwurf, ein Stein des Anstoßes – ich kenne das aus Erfahrung.«
»Ich habe auch daran gedacht,« erwiderte Rose, »ich kann aber in einem fremden Hause die ›Baronesse‹ ablegen und einen einfachen bürgerlichen Namen annehmen. Habe ich nun eure Bedenken alle beseitigt?«
»Du hast sie nur bekämpft, liebes Kind! Aber wir sind nicht überzeugt.«
»Und wenn ich,« setzte Hochfelden hinzu, »wenn ich nun, als der von deinem Vater für dich ernannte Vormund, Einspruch einlege?«
»Das wirst du nicht, ich weiß es,« sagte Rose freundlich, »denn ich will ja nur im Sinne meines Vaters handeln. Wäre ich ein einfaches, bürgerliches Mädchen, so müßte ich eben hinaus in die Welt, um meine Schwingen zu versuchen, während ich jetzt freiwillig tue, was mich eben dieser Stolz, den ihr mir vorwerft, zu tun heißt.«
»Ach, Rose, du weißt nicht, was du tust,« rief Frau von Hochfelden ängstlich. »Rudolf,« wandte sie sich an ihren Mann, »Rudolf, lege doch Einspruch ein, ich bitte dich!«
Hochfelden klopfte erst seine kleine, eben ausgebrannte Pfeife aus, steckte sie sorgfältig in ihr Futteral und sagte dann bedächtig: »Nein, ich werde das nicht tun. Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Mag unser liebes Mündel ihre jungen Schwingen probieren, wie weit sie tragen. Werden ihr die Flügel matt und wollen die vielgerühmten Dornen des Heiderösleins nicht mehr ordentlich stechen, dann mag das kecke Vöglein zurückfliegen in unser Nest, wir wollen es stets mit offenen Armen empfangen!«
Rose trat mit glänzenden Augen vor Hochfelden hin und reichte ihm beide Hände.
»Herzlichen Dank!« sagte sie fast fröhlich, »herzlichen Dank für die guten Worte! Aber fürchtet nichts, ich bin nicht so zag, daß der erste beste Windstoß mich zurückführen könnte ins warme Heim.«
»Ei wie tapfer, Heideröslein.«
»Tapfer?« sagte sie lächelnd, »nun, ich bin ja meines Vaters Tochter! ›Nulla me terrent‹ ist der Wahlspruch unseres Wappens. Nein, nein, gewöhnliche Widerwärtigkeiten des Lebens werden mich nicht verscheuchen – es müßte etwas sehr, sehr Ernstes sein.«
»Wenn mein Kranz verblüht,
Wenn mein Herz gebrochen,
Dann hab' ich Wiederkehr versprochen,«
zitierte Frau von Hochfelden leise und setzte schnell hinzu: »Nun, soll es nur unter dieser Bedingung geschehen, dann mag ich dich niemals wiedersehen, liebes Heideröslein.«
Indes näherte sich ein Diener der Gartenhalle mit eben angelangten Postsachen. Hochfelden nahm ihm gleich die Zeitung ab und las daraus rasch hintereinander vor.
»Gesucht werden Bonnen, Kindergärtnerinnen, Kutscher, verheiratet und unbeweibt, Gärtner, Erzieherinnen, Köche, Kammerjungfern, Küchenjungen – das ist nichts für dich, Rose. Alles nichts. Wir müssen dich in die Zeitung rücken lassen: Eine junge Dame von angenehmem Äußeren usw.«
»Muß das dabei stehen?« fragte Rose verwundert.
»Hm, ja, ich denke,« sagte Hochfelden und rief dann aus: »Ah, ah, hört, hier steht's mit gesperrter Schrift: »Für eine ältere Dame wird unter vorteilhaften Bedingungen eine Gesellschafterin gesucht, welche neben der Kenntnis der englischen und französischen Sprache auch angenehm vorzulesen versteht. Persönliche Vorstellung bei Frau von Willmer in St. erwünscht.«
»Das ist was für mich,« rief Rose lebhaft.
»Willmer – Willmer –,« sagte Hochfelden sinnend, »wo habe ich denn den Namen gehört? Ein Willmer stand bei meinem früheren Regiment, es müßte seine Witwe sein, denn er ist tot. Nun, meinetwegen, Rose, versuche es mal damit.«
* * *
Es war zwei Tage später; der Ort der Handlung ist eine kleine, aber elegante Wohnung der schönen Residenzstadt St« zwar nicht prunkvoll, doch hübsch eingerichtet, und die wenigen, aber wertvollen Stiche und Gemälde an den Wänden, sowie die reichen Topfgewächse auf eleganten Blumentischen machen sie ausgesucht behaglich.
Die Inhaberin dieses angenehmen Heims war Frau von Willmer. Ihr Taufschein gab ihr dreißig Lebensjahre, aber ihr Aussehen ließ höchstens auf fünfundzwanzig schließen, – eine schlanke, große Gestalt, ein blasses, regelmäßiges Gesicht, von glattem, tiefschwarzem Haar umrahmt, tiefdunkle Augen, sanft und madonnenhaft, das war der erste Eindruck ihrer Erscheinung. Um den etwas zu schmalen Mund fliegt mitunter ein hochmütiger Zug, aber sonst ist alles an ihr wellenförmig, anschmiegend und sanft. Seit drei oder vier Jahren Witwe, lebte Frau von Willmer in St. und gern versammelte sie die bedeutendsten Künstler, Gelehrten und Diplomaten um sich.
Man kam gern zu ihrem Empfangsabend, denn sie verstand die Kunst, eine liebenswürdige Wirtin zu sein, sie war sogar beliebt bei den Frauen, was viel sagen will, denn unsere lieben Mitschwestern vertragen es schwer, wenn es einem weiblichen Wesen einfällt, für etwas anderes Interesse zu haben als für selbstgestopfte Strümpfe, Küchengeheimnisse und Klagen über Dienstboten. Es war sogar unter den Damen bekannt, daß Frau von Willmer heimlich ästhetische Aufsätze schrieb, die in gelesenen Zeitungen gedruckt wurden – und doch war sie in Frauenkreisen beliebt, also ein noch blaueres Wunder als das andere.
Eine Frau, die schreibt, ist für andere weibliche Wesen ein Gegenstand mindestens des Mißtrauens; eine, die sich den ganzen Tag putzt, reitet, über alle Hecken setzt, bis zum Wahnsinn tanzt, malt, Flügel spielt, singt, raucht und vielleicht sogar das Cello streicht, ist ein wahrer Engel gegen eine Frau, die schreibt. Man sieht sie von der Seite an, forscht, ob sie Schuhe mit niedergetretenen Absätzen trägt, ob die Nähte ihrer Handschuhe und Kleider geplatzt sind, ob der Mittelfinger ihrer rechten Hand den bedeutungsvollen Tintenfleck zeigt, und trifft dies alles einmal zu, dann zuckt man die Achseln – es ist einmal so und nicht anders. Ist aber ganz das Gegenteil der Fall – dann wehe dir erst recht, armes Opfer!
Frau von Willmer besaß, wie gesagt, trotz aller Ungewöhnlichkeiten den Vorzug, bei ihren Mitschwestern beliebt zu sein, selbstverständlich mit Vorbehalt, denn in den Kaffeekränzchen, dem Eldorado aller Klatschbasen, behauptete man auch mitunter, Frau von Willmer kleide sich allzu elegant, und die madonnenhafte Sanftmut, in die sie sich hülle, sei auch nur »so so«.
Olga von Willmer saß in ihrem Wohnzimmer und las. Sie stützte den klassisch kleinen Kopf in ihre weiße, wohlgepflegte Hand, und nur ein kurzer Aufblick verriet hin und wieder, daß sie über das Gelesene nachdachte. Das Buch, das ihre Aufmerksamkeit fesselte, war kein Roman, auch keine ästhetische oder wissenschaftliche Abhandlung – es war einfach ein Kontobuch mit Linien und Ziffern und schien auf mehrere Jahre zurückzuführen; die Posten, Ziffern und Tage waren von Olgas eigener zierlicher und runder Handschrift eingetragen. Sie las langsam Zeile für Zeile dieses zur Unterhaltung wenig geeigneten Buches, und mit der größten Genauigkeit prüfte sie die deutlichen Ziffern. Zuweilen machte sie auch mit einem Stift einzelne Vermerke und war gerade damit beschäftigt, als sich leise die Tür öffnete und ihr Stubenmädchen hereintrat und meldete, daß eine Dame sie zu sprechen wünsche, »von wegen der Anzeige in der Zeitung«. Olga nickte mit dem Kopf und erhob sich.
Während das Mädchen hinaus ging, schloß Frau von Willmer ihr Buch in ein Fach ihres Schreibtisches und blieb davor so lange stehen, bis ein erneutes Auf- und Zugehen der Zimmertür ihr verriet, daß sie nicht allein sei. Nun wendete sie sich mit einer unbeschreiblich hochmütigen Bewegung des Kopfes um und stand der in Schwarz gekleideten Gestalt eines jungen Mädchens gegenüber – Rose von Fels.
»Ich komme, um mich für die von Ihnen ausgeschriebene Stelle einer Gesellschafterin anzubieten, gnädige Frau,« begann Rose etwas beklommen, denn Olga musterte sie so von oben herab, daß sie am liebsten wieder umgekehrt wäre.
»Nicht ich suche eine Gesellschafterin,« sagte Frau von Willmer, »sondern ich bin beauftragt, eine solche für meine Tante, Frau van der Lohe, zu verpflichten. Leider konnte ich keine der bisherigen Bewerberinnen annehmen, ihr Französisch war schlecht und ihr Englisch abscheulich. Sie sprechen beides?«
»Ja,« entgegnete Rose einfach.
»Bitte, lesen Sie mir etwas vor,« fuhr Olga fort und reichte Rose das erste beste Buch, das auf dem Tische lag.
Rose öffnete es, las den Titel und die ersten Sätze der ersten Seite, etwas leise anfangend, aber dann sicherer werdend, bis sie unterbrochen wurde.
»Gut, recht gut,« sagte Frau von Willmer, »ich möchte nun aber auch Ihr Englisch hören.«
Rose nahm stumm das ihr dargereichte Lederbändchen entgegen – Longfellows Gedichte, schlug das Buch aufs Geratewohl auf und fand das reizende Gedicht: »The open window«»das sie bis zum Schluß vortragen durfte.
Olga von Willmer fand es für gut, diesmal ihren Beifall nicht auszusprechen. Sie nickte anerkennend und fragte: »Sie haben jedenfalls Empfehlungen bei sich, Fräulein – wie war doch gleich Ihr Name?«
»Ich heiße Rose Eckhardt.«
Sie war mit ihrem Vormund übereingekommen, den Mädchennamen ihrer Mutter anzunehmen.
»Und was meine Empfehlungen anbetrifft, so habe ich nur eine,« setzte Rose hinzu und reichte Frau von Willmer ein Schreiben, das diese genau zu prüfen begann. Herr von Hochfelden hatte seiner Mündel dies Empfehlungsschreiben mitgegeben, das ein Zeugnis über ihre Fähigkeiten sowie ein paar warme Worte über ihren Charakter enthielt.
»Ihre Empfehlung genügt, Fräulein Eckhardt,« sagte Olga nach einer Pause, »Sie gestatten, daß ich sie meiner Tante zusende, von der Sie selbst Antwort erhalten werden. Wohl nach Hohlfelden?«
Rose sagte zu und befand sich nach wenigen Minuten auf der Straße. Sie zweifelte kaum, daß Frau van der Lohe sie annehmen würde, aber dennoch schlich plötzlich in ihr junges Herz ein leises, unnennbares Bangen vor der weiten, großen, fremden Welt, in die sie mit einemmal gedrängt wurde, doch dieses natürliche Gefühl konnte ihren festen Entschluß und ihren Mut nicht erschüttern.
Während sie zurück nach Hochfelden fuhr, schrieb Frau von Willmer folgende Zeilen an ihre Tante:
»Nachdem ich die seltsamsten Gestalten, die sich um die Stelle einer Gesellschafterin bei Dir beworben haben, abgewiesen hatte, meldete sich heute ein junges Mädchen, dessen Zeugnis ich Dir mitsende. Die Kleine scheint mir ganz annehmbar, ihre Aussprache der fremden Sprachen ist gut. Willst Du wissen, wie sie aussieht? Ich glaube, sie ist eher klein als groß, hat rötlichblondes Haar und dunkle Augen. Ich kann wirklich nicht sagen, ob sie hübsch oder häßlich ist, sie war sichtlich befangen, und das beeinträchtigt immer etwas. Die Stimme dieses Fräuleins Eckhardt ist sanft, klar und musikalisch. Wenn Du befiehlst, bringe ich sie gleich mit, wenn ich nach Eichberg komme.
Wen treffe ich dieses Mal bei Euch? Ich vermute den unvermeidlichen Leßwitz! Ist die kleine Carola auch bei Dir? Ich habe sie recht gern, obgleich sie sehr vorlaut sein kann. Liebste Tante, ich wollte, Du wüßtest, wie sehr mein Herz mich nach Eichberg zieht! Es ist nicht das prächtige Landhaus, nicht die landschaftlich so schöne Umgebung – es ist ein unnennbares Etwas! Grüße die kleine Carola und meinetwegen auch Herrn Leßwitz, von Herzen grüße mir aber Vetter Jo! Ich küsse Dir die Hand, teure Tante, und bin stets Deine Dich herzlich liebende und verehrende Nichte
Olga von Willmer.«
Mondbeglänzte Zaubernacht,
Die den Sinn gefangen hält.
Tieck
An einem schönen, sonnenhellen Maitage sagte Rose von Fels der Heimat Lebewohl, und schwer genug wurde ihr das Scheiden! Ehe der Hochfeldensche Wagen sie zur Eisenbahn brachte, durchschritt sie noch einmal den geliebten Wald in seiner frischen, neuen Blätterpracht und nahm Abschied, trocknen, brennenden Auges, und tapfer biß sie die Zähne zusammen, um den hervorbrechenden Tränen zu wehren. Doch als sie zu der uralten Eiche kam, unter deren Schatten sie so oft mit ihrem Vater gesessen und hinein ins blühende, grünende Land geschaut, da warf sie sich nieder ins Moos und weinte leise vor sich hin.
Allgemach versiegte die Flut dieser Tränen, die ihr das schwere Herz erleichtert hatten, und als drunten im Dorf die Kirchturmuhr die Stunde schlug, die ihre letzte in der alten Heimat war, da sprang sie entschlossen auf, strich sich das wirre Haar aus der Stirn und vertilgte die verräterischen Spuren in ihren Augen – dann lief sie schnell hinab nach Hochfelden. Vom Forsthaus hatte sie schon gestern Abschied nehmen müssen, denn der Nachfolger ihres Vaters war eingezogen und hatte Besitz ergriffen von den lieben, alten, vertrauten Räumen.
Unten angelangt, wartete schon der Vormund auf sie, wortlos nahm sie Abschied von Frau von Hochfelden, die, so ungern sie Rose vermißte, schließlich doch nicht anders konnte, als den Entschluß des jungen Mädchens zu billigen. Die Schule des Lebens muß durchgemacht werden, sie allein macht den Menschen brauchbar, und Rose zwingen zu wollen, in Hochfelden ein Leben des Müßigganges zu führen, dazu waren Hochfeldens zu einsichtsvoll. Es wäre vielleicht nicht schwer gewesen, Rose eine Stiftsstelle zu verschaffen, allein Frau von Hochfelden hatte vor ihrer Verheiratung eine solche besessen und schlug heute noch drei Kreuze, wenn sie der Tage gedachte, die sie in der Gesellschaft eines Viertelhunderts zänkischer, neidischer und launenhafter Damen verlebt hatte – ein Martyrium, umgeben von Wohlstand und Glanz, schlimmer als das harte Brot, das die ärmste Lehrerin brechen muß.
Darum ließ das treffliche Paar seine Schutzbefohlene ziehen. Sie hatte eine ausgezeichnete Erziehung und gründlichen Unterricht genossen, ihr Charakter hatte sich entwickelt unter der liebevollen, aber auch strengen Leitung ihres Vaters; sie war also tausendmal besser daran trotz ihrer Armut als viele andere Töchter gebildeter Familien, die, wenn sie sich plötzlich allein stehen sehen, nicht wissen, was sie beginnen sollen und mit ihrer »Höheren Töchterschulen-Bildung« knapp die Prüfung einer Kindergärtnerin bestehen können.
Über Roses Augen legte sich aber doch ein leichter Flor, als der letzte Streifen des geliebten Waldes ihrem Blick entschwand. Sie zog den schwarzen Schleier über ihr blasses Gesicht und kämpfte mutig das bange Gefühl der Verlassenheit nieder, das sich, je weiter sie der Zug trug, um so mehr ihrer bemächtigte.
Nach ein paar Stunden war der Bahnhof Eichberg erreicht, sie war am Ziel, denn vor einigen Tagen hatte sie einen Brief erhalten, der auf feinem, glatten Papier die wenigen Worte enthielt:
»Fräulein Rose Eckhardt wird ersucht, sich am 20. Mai um 7 Uhr abends auf der Haltestelle Eichberg einzufinden, wo ein Wagen sie erwarten wird.
Clementine van der Lohe
geb. Reichsgräfin von und zum Stahleck.«
Rose stieg aus und sah sich um, aber schon trat ein Diener an sie heran und fragte, den Hut lüftend:
»Fräulein Eckhardt?«
Sie nickte; der Diener nahm ihr Handtasche und Reisedecke ab und führte sie zu einem halbgedeckten Wagen, der sofort mit ihr davonfuhr. Mit erwachendem Interesse betrachtete sie die Gegend um sich. Es war hügeliges, reiches und fruchtbares Land mit rebenbepflanzten Anhöhen, durch das sich das breite Silberband des Flusses wand. Rechts ab vom Wege sah Rose gewaltige Fabrikgebäude liegen, deren Essen dampften, und ehe sie noch fragen konnte, teilte ihr der Diener auf dem Kutscherbock nicht ohne einen gewissen Stolz mit, daß dies die van der Loheschen Eisenwerke seien.
Nach kurzer Fahrt bog der Wagen in eine lange, prächtige Kastanienallee ein und hielt dann vor dem Portal eines großen, in italienischem Stil erbauten Landhauses.
Eine ältliche, in Schwarz gekleidete Frau kam die Treppe der Vorhalle herab und half Rose beim Aussteigen.
»Ich bin die Wirtschafterin, Fräulein Eckhardt,« sagte sie, »die gnädige Frau hat mich beauftragt, Sie zu empfangen und auf Ihr Zimmer zu führen.«
Rose folgte ihr durch lange Flure und über teppichbelegte Treppen in den zweiten Stock, wo Frau Peters eine Tür öffnete und Rose in ein geräumiges, freundliches Zimmer mit grüner Tapete führte, dessen hübsche Möbel, mit blauem, blumenbestreutem Stoff überzogen, den Raum recht wohnlich machten. Eine tiefe Nische, die mit dichten Vorhängen von dem Zimmer geschieden war, diente als Schlafstube. Frau Peters zog die Rolladen auf, und Rose trat an das offene Fenster.
»Wie schön,« rief sie unwillkürlich und betrachtete entzückt die prächtige Aussicht, die sich ihr bot. Dicht hinter dem Fenster lag der parkähnliche Garten mit reichen Anlagen, eine hohe Linde stand unter dem Fenster, und im Hintergrunde schimmerte zwischen mächtigen Baumgruppen der leichtbewegte Spiegel eines Sees, den in der Ferne ein Wald begrenzte.
»Ja, die Aussicht ist hübsch,« sagte Frau Peters beistimmend, »Herr van der Lohe wohnt auch auf dieser Seite des Hauses. Die gnädige Frau zieht die Abendseite vor, denn sie mag die viele Sonne nicht leiden, und dann stört sie das Flimmern des Sees – es tut ihren Augen weh.«
»Oh, – leidet sie an den Angen?« fragte Rose teilnehmend.
»Das nicht, aber die gnädige Frau hat oft Kopfweh,« erklärte Frau Peters und fügte hinzu: »Wünschen Sie den Tee hier zu nehmen, Fräulein Eckhardt? Frau van der Lohe läßt Ihnen sagen, wenn Sie von der Reise angegriffen seien, so möchten Sie heute nur ruhen.«
»In der Tat,« sagte Rose zögernd, »mein Kopf schmerzt etwas, wenn aber Frau van der Lohe wünschen sollte, daß ich mich ihr heute noch vorstelle, so werde ich gewiß –«
»Nein, nein, Fräulein Eckhardt,« wandte Frau Peters ein, »Sie müssen ausruhen. Wenn man Kopfweh hat, kann man schlecht Musik vertragen, und Herr Leßwitz spielt allemal nach dem Essen mindestens zwei Stunden lang. Ich werde Ihnen den Tee heraufschicken.«
»Nun, dann bitte ich darum,« sagte Rose, die sich nach der Fahrt und dem Abschied von der Heimat nach Ruhe sehnte und die Rücksicht darauf dankbar empfand.
Nachdem Frau Peters noch nach etwaigen Wünschen gefragt hatte, ging sie. Das junge Mädchen legte Hut und Mantel ab und setzte sich in Erwartung ihres Gepäcks ans offene Fenster. Drunten blühten schon die ersten Rosen, der süße Duft eines Heliotropbeetes zog zu ihr herauf, im Lindenbaum sangen die Vögel, und eine traumhafte Ruhe lag über der Landschaft.
Sicher, allein gelassen zu werden, löste sie die schweren Flechten und ließ ihr prächtiges Haar lang und in schweren Wellen über den Nacken fließen; sie hätte den Kopf am liebsten unter die sprühenden Wasserstrahlen gehalten, die drunten im Garten, von einem steinernen Oberon aus einem vergoldeten Horn geblasen, zu mächtiger Höhe emporsprangen und leise plätschernd in das muschelförmige Becken zurückfielen. Aber da das nicht gut anging, so begnügte sie sich damit, an das Fensterkreuz gelehnt, ins Grüne zu blicken, und dabei wurde es ihr immer friedlicher im Sinn und immer wohler zumut – das machte die Linde vor ihrem Fenster, denn eine solche hatte sie daheim auch gehabt, das Rauschen der Blätter klang ihr so lieb und vertraut. Hätte sie zwischen engen, düsteren Stadtmauern sitzen müssen, umtobt von dem rasselnden Lärm der Straßen, das Herz wäre ihr vor Heimweh und Trauer noch schwerer geworden, und dankbar dacht sie, daß das Schicksal es trotz allem doch mit ihr gut gemeint.
»Lorelei!« sagte plötzlich eine freundliche Stimme neben ihr. Sie fuhr zurück und stand einer noch jungen Dame gegenüber, deren Gestalt völlig verwachsen und sehr klein war. Ihr Gesicht war lang, schmal und blaß, mit blitzenden, dunklen Augen, während um ihren schmalen Mund ein halb spöttisches, halb gewinnendes Lächeln zuckte.
»Ich habe dreimal geklopft, aber Sie hörten mich nicht,« sagte die kleine Dame, »ein Pfennig für Ihre Gedanken! Na, da trat ich denn einfach ein und bin ganz versteinert über die goldige Pracht auf Ihrem Kopfe, ich glaubte gar nicht, daß es noch solches Loreleihaar in der Welt gäbe! Sie werden unsern Professor damit bis zur Verzückung begeistern! – Sie wollen heute nicht mehr herunterkommen? Frau Peters sagte, Sie wären sehr ermüdet!«
»Etwas bin ich's schon,« stammelte Rose, überrascht durch die ungezwungene Art und Weise der Unbekannten, »die Reise hat mir Kopfschmerz gemacht, und deshalb löste ich auch das Haar!«
»Sie sollen es nie anders tragen,« rief die Kleine.
»Ich glaube aber nicht, daß es passend ist, in meiner Stellung so herumzulaufen,« erwiderte Rose lachend.
»Ihre erste Pflicht ist, unsere Augen zu erfreuen, und zwar vom künstlerischen Standpunkt aus.«
»Diese Auslegung meiner Pflichten als Gesellschafterin ist mir freilich noch nicht eingefallen,« erwiderte Rose belustigt.
»Sehen Sie wohl?« triumphierte die Kleine, »nun ja, ich sagte es ja immer, daß die Mehrzahl der Menschen ihre Stellungen und Pflichten verkennt! Meine Tante ist eine begeisterte Prophetin der Schönheit und treibt Ästhetik, sie wäre über den Anblick einer garstigen Gesellschafterin in Ohnmacht gefallen. Aber über all dem habe ich mich Ihnen ja noch gar nicht vorgestellt! Sie werden einen sonderbaren Begriff von den Einwohnern dieses Hauses bekommen, wenn sie, wie ich, ohne weiteres bei Ihnen eintreten und schwatzen. Ich heiße Carola van der Lohe.«
In diesem Augenblick trat ein Stubenmädchen mit dem Teebrett ein, stellte es auf den Tisch vor dem Sofa und ordnete zierlich das kalte Abendbrot auf der weißen Damastdecke. Fräulein van der Lohe musterte prüfend den Inhalt der Schüsseln und sagte dann, zu Rose gewendet:
»Darf ich mich an Ihrem Abendbrot beteiligen? Vorausgesetzt natürlich, daß Sie nicht zu müde sind.«
Rose beeilte sich zu versichern, daß sie sich bereits wesentlich besser fühle, und bald saßen sich die beiden Mädchen gegenüber, und das Klappern der Bestecke deutete an, daß sie den Speisen alle Ehre erwiesen.
»Ist Ihnen irgend jemand hier im Hause bekannt?« fragte Carola.
»Nein, niemand.«
»Und Sie kennen nicht einmal unsere Familie?«
»Nein, ich weiß nur, daß eine Frau van der Lohe mich als Gesellschafterin verpflichtet hat.«
»Na, dann ist es ja Ehrenpflicht, Sie mit den gegenwärtigen Bewohnern von Eichberg bekannt zu machen! Lassen Sie mich die Tasse Tee austrinken, dann will ich Sie gern belehren.«
Es entstand eine kleine Pause, während welcher Rose ihr Gegenüber betrachtete und zu dem Ergebnis kam, daß Fräulein van der Lohe sicher von Herzen gutmütig sei, trotzdem ihre schwarzen Augen vor Spottlust funkelten. Carola betrachtete ihrerseits Rose ebenso verstohlen, aber die junge Dame hatte die Welt gesehen und schloß nicht so hastig ihr Urteil ab wie das unbefangene »Heideröslein«. Trotzdem gefiel ihr die »neue Gesellschafterin«, schon wegen ihres prachtvollen Haares, und sich nach beendeter Mahlzeit bequem in ihren Sessel zurücklehnend, begann sie:
»Fräulein Eckhardt, Sie sind wenig oder gar nicht unter die Menschen gekommen, denke ich, und deshalb leicht geneigt, alles für gut und schön anzusehen, was Ihnen in den Weg läuft. Deshalb möchte ich Ihnen eine kleine Skizze von den Bewohnern dieses Hauses entwerfen, damit Sie ein wenig Bescheid wissen – Sie brauchen darum noch kein Wort davon zu glauben. Aber ich meine es gut, wirklich gut, trotz meiner Spottlust und dem Höcker auf dem Rücken, den die Welt so gern zum Sitz der Bosheit macht – reden Sie nichts dagegen, Sie sehen mir danach aus, als ob Sie der buckligen Carola doch gut werden könnten! – Ja, was wollte ich doch gleich sagen –? Richtig, ich weiß es! Also über die Lohes im allgemeinen werden Sie doch schon gehört haben? Nicht? Nun also, die Familie stammt aus Holland, ist aber seit mehr als dreihundert Jahren in St. angesessen und hat nach und nach große Ländereien erworben. Die Eisenwerke, die größten in Europa, sagt man, sind gegenwärtig im Besitz meines Vetters, Johann van der Lohe. Er ist dreißig Jahre alt, von ernstem, etwas verschlossenem Charakter, übrigens ein hübscher Kerl, groß und stark, und führt bei seinen Verwandten und Freunden den Spitznamen ›Lohengrin‹, als Umschreibung unseres Namens sowohl, als auch, weil er blond ist und einen ganz netten Gralsritter abgeben würde. Ich rate Ihnen aber nicht, sich in ihn zu verlieben, Fräulein Eckhardt, denn sein Herz ist ganz unempfänglich. Er ist bis jetzt achtlos, mit verletzender Nichtachtung sogar, an den schönsten Mädchen vorübergegangen, ohne auf den guten Willen aller, die ihn in die süßen Rosenfesseln der Ehe schlagen wollen, einzugehen. Sonst ist er ein tüchtiger Geschäftsmann, die Beamten und Arbeiter seiner Werke verehren ihn gebührend, obgleich oder weil er unerbittlich streng ist.
Seine Mutter ist nun eben jene Frau van der Lohe, die Sie hier unterhalten sollen. Seit fünf Jahren Witwe, verlebt sie die meiste Zeit im Jahre hier, nur im Winter sucht sie die hohen Kreise in St. auf, in denen sie eine nicht kleine Rolle spielt, denn sie ist eine geborene Reichsgräfin von und zum Stahleck. Daß sie zu den van der Lohes herabgestiegen ist, kann sie heute noch nicht vergessen, obgleich die Ehre für unsere Familie wirklich nicht so groß war, denn mein verstorbener Onkel riß die Stahlecks aus der größten Not, indem er meine Tante heiratete. Wodurch die Stahlecks verarmten, wird Ihnen Tante Clementine sicher mal erzählen – ich habe die Geschichte längst vergessen. Nun gut; nachdem also die Komtesse Stahleck der alten Patrizierfamilie der van der Lohes, aus der übrigens viele Gelehrte, hohe Offiziere und Staatsmänner hervorgegangen sind, einen ganz besonderen Glanz verliehen hatte und mein guter einfacher Onkel gestorben war, bildete sie sich einen Musenhof, das heißt sie versammelt Künstler, Gelehrte und so weiter um sich und ist vor lauter Ästhetik beinahe schon gar nicht mehr auf Erden.
Diese zwei Personen sind also die Herren des Hauses, nun will ich Ihnen die Gäste schildern. Da bin ich als Verwandte, und dann Olga von Willmer, geborene Gräfin Stahleck, als Nichte meiner Tante. Sie kennen sie ja, ihr schönes Madonnenantlitz begeistert alle Kenner. Natürlich ist auch ihr Wesen sanft, anschmiegend und hingebend, aber stille Wasser sind tief. Ich habe diese Engelssanftmut schon manchmal bedenklich erschüttert gefunden. Tiefer in ihren Charakter einzudringen ist nicht möglich – sie entschlüpft einem, man weiß nicht wie.
Außer uns beiden befinden sich noch vier Herren als Gäste im Hause. Da ist erstens Herr Richard Leßwitz; er ist Pianist aus der Weimarschen Schule, ein Mann von Talent, aber zerfahren und anmaßend. Es ist reizend zu hören, wie Jo – so kürzen wir statt des abgedroschenen ›Hans‹ meines Vetters Namen ab – ihn mitunter ›duckt‹. Dann ist Professor Körner da – nun, sein Name als Bildhauer ist berühmt über Deutschlands Grenzen hinaus, ein echter, rechter Künstler, tief ernst und doch wieder heiter; wir freuen uns allemal auf seinen Besuch, und Jo hat ihm eine reizende, kleine Werkstatt im Garten einrichten lassen. Er arbeitet an einer Marmorgruppe für die nächste Kunstausstellung. – Der dritte im Bunde ist Herr Theophil von Sonnenberg, unser aller Neckziel. Er hat etwas Vermögen und behauptet Maler zu sein, das heißt er verschwendet Unmassen von Farben auf riesigen Leinwandflächen. Ein solches mit Farben bedecktes Viereck nennt er dann ein Volks- oder Geschichtsbild. Daneben dichtet er – meist in Hexametern, ist in Italien gewesen und steht in dem hoffnungsvollen Alter von fünfundzwanzig Jahren. Was ihm an Talent abgeht, wächst als semmelfarbene Künstlermähne desto üppiger auf seinem Haupt, seine Genialität offenbart sich überdies in zu engen und zu kurzen Kleidungsstücken. Den Reigen der Gäste auf Eichberg schließt der heute früh angekommene Gesandtschafts-Attaché, Baron von Hahn, der liebenswürdig, gewandt und unterhaltend ist.
Dies sind die Menschen, denen Sie im Hause begegnen werden, doch auch Tiere spielen hier eine Rolle. Da ist zunächst Jos prächtige Ulmer Dogge, Lord genannt, und dann ein großer schwarzer Kater, den ich in dankbarer Erinnerung an den ›Trompeter von Säckingen‹ Hiddigeigei benamset habe. Lord und Hiddigeigei leben nicht wie ›Hund und Katze‹, sondern haben innige Freundschaft geschlossen. Beide genießen hier ein hohes Ansehen und haben Sitz und Stimme.
Nach diesen plastischen Schilderungen werden Sie ein schwaches Bild von den Bewohnern von Eichberg erhalten haben, das heißt mit meiner Auffassung. Bilden Sie sich immerhin Ihre eigene, aber ich bin überzeugt, daß Sie mir beistimmen werden. Doch es ist beinahe finster geworden, und Sie werden schlafen wollen. Ruhen Sie also aus und vergessen Sie nicht, sich Ihren Traum zu merken, denn Sie wissen, daß der Traum, den man in der ersten Nacht unter fremdem Dach träumt, in Erfüllung geht. Gute Nacht, Lorelei!«
Und ehe es Rose sich versah, war Carola van der Lohe hinausgeschlüpft, so schnell wie sie gekommen war. Rose war wirklich müde, aber sie hätte jetzt um kein Wunder zu Bett gehen können, sie mußte erst das Gehörte überdenken, und so trat sie denn, als sie allein war, an das offene Fenster. Der Mond war aufgegangen und goß sein Märchenlicht lieblich auf Park und See aus, und als Rose hinausschaute in die wunderschöne Mainacht, da war's ihr, als raunte ihr der Oberon in dem Springbrunnen leise zu: »Komm herab, verlaß die dumpfe Stube.« Da litt es das Kind des Waldes nicht länger in dem Zimmer, und ihrer Eingebung folgend, schlüpfte sie hinaus und entdeckte zum guten Glücke eine kleine Treppe dicht an ihrer Tür, die für die Dienerschaft bestimmt war und ins Freie führte.