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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74092-073-9
Es sollte ein geruhsamer, entspannter Abend werden. Das hatte die junge Ärztin Doktor Roberta Steinfeld sich bereits am Morgen vorgenommen. Und bislang sah es sehr gut aus, war alles perfekt gelaufen, angefangen von dem köstlichen Essen, das Alma für sie zubereitet hatte, eines ihrer Lieblingsgerichte Ochsenbrust mit Meerrettichsauce, dazu Wirsinggemüse und Bratkartoffeln.
Ihre Freundin Nicki sagte dann immer, dass es zum Niederknien sei. Das würde Roberta glatt unterschreiben.
Alma war ein Schatz, und Roberta konnte dem Himmel immer wieder danken, dass Alma Hermann auf ihren Weg gekommen war.
Das hatte wirklich so sein müssen. Alma schmiss ihren Haushalt nicht nur perfekt, sie war außerdem ein liebenswerter, sehr umgänglicher Mensch, und sie konnte einfach alles, ganz egal, ob in Haus oder Garten.
Roberta hatte es ja nicht so mit den Wundern, den Vorbestimmungen, den Zeichen. Dafür war ihre Freundin Nicki zuständig.
Doch dass sie damals einen Umweg genommen und Alma, obdach- und mittellos im Wald gefunden hatte, genau zu der Zeit, als in ihrem Haus alles über ihr zusammengebrochen war, dass war …, nun ja, schon sehr ungewöhnlich gewesen.
Es hatte einfach so kommen müssen. Und für beide war es eine Win-Win-Situation gewesen. Beide hatten sie ihre Probleme mit einem Schlag gelöst.
Jetzt hatte es sich Roberta auf ihrer Couch gemütlich gemacht. In eine feine camelfarbene Cashmeredecke eingehüllt, lauschte sie entspannender Musik und ließ ihre Gedanken wandern.
Sie war im Sonnenwinkel angekommen, mehr noch, sie war glücklich hier, anerkannt, beliebt. Sie hatte Freunde gefunden, und ihre Praxis florierte so gut, dass sie nicht alle Patienten annehmen konnte, die zu ihr wollten.
Wenn sie an ihre Anfänge dachte …
Als ihr alter Studienfreund Enno Riedel ihr die Praxis angeboten hatte, weil er mit seiner Familie nach Philadelphia auswandern wollte, hatte sie, ohne lange zu überlegen, zugegriffen. Ihr Leben lag damals in Scherben, sie hatte eine hässliche Scheidung hinter sich, bei der sie viele Federn lassen musste. Max hatte skrupellos beinahe alles an sich gerissen, sogar die große gut gehende Arztpraxis, die von ihr aufgebaut worden war und in der er nur hier und da aufgetreten war, um sich als Halbgott in Weiß zu präsentieren. Gearbeitet hatte sie, während er das von ihr verdiente Geld mit vollen Händen, zusammen mit seinen ständig wechselnden Gespielinnen, ausgegeben hatte. Wie dumm sie doch gewesen war, das so viele Jahre hinzunehmen. Er hatte sich ja wirklich an jede gut aussehende Frau herangemacht, die bei drei nicht auf den Bäumen war, und da hatte er selbst nicht vor Patientinnen halt gemacht. Ach Max, sie wollte nicht mehr an ihn denken, und wenn sie es tat, dann nicht mehr voller Schmerz, sondern voller Nichtbegreifen, wie es möglich gewesen war, auf diesen Blender hereinzufallen. Warum nur hatte sie ausgerechnet ihn genommen? Weil er sie als Erster gefragt hatte? Sie hatte an eine gute kameradschaftliche Gemeinschaft gedacht, er hatte sie offensichtlich als die gesehen, die das Geld nach Hause brachte.
Vorbei, warum dachte sie denn ausgerechnet jetzt an ihren Ex?
Weil das Ende mit ihm ihr Anfang hier im Sonnenwinkel gewesen war?
Vermutlich.
Anfangs hatte sie ja schon ihre Zweifel gehabt, ob dieser Schritt, hierher zu kommen, der richtige gewesen war, denn es waren keine Patienten gekommen, weil die dem guten Doktor Riedel nachtrauerten.
Das hatte zum Glück nicht lange gedauert, und sehr geholfen hatte ihr dabei, dass zufällig im Bild festgehalten worden war, wie sie einem kleinen Kind das Leben rettete.
Kaum zu glauben, wie lange das nun schon wieder her war. Auf jeden Fall war das der Durchbruch gewesen. Und von da an war es nur noch bergauf gegangen, und sie hatte es niemals bereut, sich hier niedergelassen zu haben.
Nun, ganz so stimmte das nicht.
Ihre Gedanken wanderten zu Kay Holl, wenn sie an den dachte, tat es immer noch ein wenig weh, auch wenn ihr längst klar war, dass es mit ihnen nichts geworden wäre.
Kay, dieser unverschämt gut aussehende, vollkommen in sich ruhende Mann, der alles hinter sich gelassen hatte, eine glänzende Karriere, sein altes etabliertes Leben, um ein freies, selbstbestimmtes Leben führen zu können. Im Sommer mit dem Bootsverleih am See, in der übrigen Zeit dort, wohin es ihn zog.
Er war ein Aussteiger, allerdings einer mit genügend Geld im Rücken.
Obwohl er jünger war als sie, hatte sie sich sofort in ihn verliebt, und auch ihm war es nicht anders ergangen. Und als sie in dieser unglaublichen Nacht voller Magie mit ihm geschlafen hatte …
Roberta seufzte, trank einen Schluck von dem köstlichen Rotwein.
Es war unbeschreiblich gewesen, und dennoch hatte sie sich davongeschlichen und ihm ein paar Zeilen hinterlassen. Dafür schämte sie sich noch immer. Sie hätte mit ihm reden sollen, doch dazu war sie zu feige gewesen, und jetzt war eh alles zu spät, denn Kay war gegangen, hatte den Bootsverleih einfach abgeschlossen, und auch wenn sie wusste, dass er sie ebenfalls liebe, hatte sie nichts mehr davon. Sein Brief, den er ihr zurückgelassen hatte, war schon ganz zerknittert.
Wenn sie daran dachte, wie vollkommen fertig sie gewesen war, diese Zeit mochte sie nicht noch einmal durchleben. Und jetzt sagte sie sich, dass es richtig gewesen war. Das mit ihr und Kay hatte ganz einfach keine Basis, und wenn die nicht stimmte, dann konnte man das auch nicht mit aller Liebe der Welt ausgleichen.
Sie liebte ihren Beruf über alles, und sie liebte auch ihr geordnetes, etabliertes Leben. Auch als Studentin hatte sie ihre Urlaube lieber geplant, statt einfach loszufahren.
Kay würde sie immer in ihrem Herzen behalten als eine wundervolle Erinnerung, beinahe als einen Traum.
Auch wenn es eine schmerzhafte Erfahrung gewesen war, so wusste sie jetzt auf jeden Fall, dass es sie wirklich gab, die ganz große Liebe …
Sie seufzte erneut.
Auch wenn es nicht für immer gewesen war, ein wenig länger hätte es schon dauern können.
Doch wären die weiteren Treffen ebenfalls so magisch gewesen?
Sie trank erneut einen kleinen Schluck Wein, dann kuschelte sich in ihre Decke ein, schloss die Augen.
Kay …
Sie sah ihn vor sich, hörte sein unbekümmertes Lachen.
Sie glaubte, seine Berührungen zu spüren, seine unglaubliche Nähe.
Ein forderndes Klingeln an ihrer Haustür ließ sie zusammenzucken und in die Wirklichkeit zurückfinden.
Wer mochte das sein?
Das Klingeln ignorieren, das ging nicht. Bei ihr brannte Licht, man konnte sehen, dass sie zu Hause war. Außerdem …, sie war Ärztin, es konnte ein Notfall sein, auch wenn sie nach dem Ärzteplan keinen Notdienst hatte.
Und da Alma nicht da war, sie hatte heute Proben beim Gospelchor musste sie selbst die Tür öffnen. Außerdem wäre Alma um diese Zeit längst in ihrer eigenen Wohnung, die sich im Seitentrakt des Hauses befand, was natürlich auch sehr vorteilhaft war.
Ein wenig unwillig stellte sie die Musik ab. Wer immer es auch war, der war ziemlich unverschämt und hörte mit der Klingelei nicht auf. Sollte sie zur Tür fliegen?
*
Roberta riss die Haustür auf, und dann …
Nein, sie glaubte nicht was, wen sie da sah. Sie hätte mit so ziemlich allem gerechnet, mit ihrem Exmann allerdings nicht.
Ganz am Anfang war er schon einmal hier gewesen, und sie hatte geglaubt, ihm deutlich gesagt zu haben, dass er sich im Sonnenwinkel nicht mehr blicken lassen sollte.
Sie starrte ihn an, als sie sich ein wenig von ihrer Überraschung erholt hatte, erkundigte sie sich: »Was willst du hier, Max?«
»Ist das eine Begrüßung?«, fragte er. Er war dreist wie immer.
»Was erwartest du von mir, dass ich dir um den Hals falle?«
»Wäre nicht schlecht«, grinste er. »Du siehst übrigens fantastisch aus, so gut aussehend hatte ich dich nicht in Erinnerung.«
Vor gefühlten hundert Jahren wäre sie vielleicht auf so etwas hereingefallen, jetzt doch nicht mehr. Max gehörte zu einem Leben, das sie zurückgelassen hatte und an das sie nicht mehr erinnert werden wollte.
»Also, Max, was willst du? Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Normalerweise nicht die Zeit, um Leute zu besuchen.«
»Aber du bist meine Frau, und ich …«
Sofort unterbrach sie ihn.
»Ich war deine Frau, Max Steinfeld, leider. Hör auf, herumzusülzen, das verfängt bei mir nicht mehr. Also, noch einmal, weswegen bist du hier. Ich zähle bis drei, und wenn ich es dann nicht erfahre, mache ich die Tür wieder zu. Hätte ich gewusst, dass du davorstehst, hätte ich sie überhaupt nicht erst aufgemacht.«
»Willst du mich nicht hereinlassen?«, fragte er.
Normalerweise hätte Roberta es nicht getan, doch gerade in diesem Augenblick ging draußen ein Paar vorbei, Leute, die in der Nachbarschaft wohnten und sich vermutlich auf einem späten Abendspaziergang befanden.
Er hatte Glück!
Unwillig trat sie beiseite, und er beeilte sich, ins Haus zu gelangen, ehe sie es sich anders überlegte.
Sie ging voraus, bat ihn nicht, seinen Mantel abzulegen, sie bot ihm nicht einmal einen Platz an, doch er setzte sich auch so hin. Typisch Max, da war er schmerzfrei.
»Oh, du trinkst Rotwein«, sagte er, deutete auf das Glas und die auf dem Tisch stehende Flasche.
»Ja, und er ist sehr lecker«, war ihre Antwort.
Er wartete jetzt doch wohl nicht darauf, dass sie ihm etwas zu trinken anbot?
Er war drauf und dran, sie zu fragen, doch an ihrem Gesichtsausdruck merkte er, dass sie das explodieren lassen würde.
Sein Charme verfehlte in der Tat jegliche Wirkung auf sie, schade. Damit hatte er sie früher um den Finger wickeln können, und das war auch jetzt seine Hoffnung gewesen, die allerdings dahinschwand.
»Also gut, Roberta, wie du weißt, war ich schon einmal hier, um dich zu bitten, wieder die Praxisleitung zu übernehmen, und wenn ich …«
Sie winkte ab.
»Stopp, Max, das Thema hatten wir, und meine Antwort war damals nein, und die wird auch heute nicht anders sein. Du hast dir mit allen Mitteln die Praxis unter den Nagel gerissen, und ich habe sie dir überlassen, weil du sonst die Scheidung länger hinausgezögert hättest. Du warst hinterhältig, gemein, und du hast deinen Zweck erreicht. Die Praxis gehört dir allein, obwohl du nichts dafür getan hast. Selbst das Geld für die Eröffnung kam von mir. Aber das ist Schnee von gestern, ich blicke nach vorn.«
Er antwortete nicht sofort.
»Max, du bist doch wegen der Praxis hier, oder?« Etwas anderes konnte sie sich auch nicht vorstellen.
Ihm war anzusehen, dass ihr Verhalten ihn irritierte. Roberta war eine ganz ausgezeichnete Ärztin, da konnte ihr niemand etwas vormachen. Doch als Frau hatte er sie immer unterbuttern können, mit ihrem neuen Selbstbewusstsein konnte er noch nicht umgehen.
Sie warf ihm einen herausfordernden Blick zu.
»Ich habe recht, es geht um die Praxis, nicht wahr, Max?«
»Wenn ich dir jetzt sagen würde auch, aber dass ich auch deinetwegen gekommen bin, weil ich mittlerweile eingesehen habe, dass ich große Fehler gemacht habe. Der größte Fehler war die Scheidung, etwas Besseres als dich hätte ich nicht bekommen können.«
Oh Gott!
So sollte er jetzt wirklich nicht anfangen. Ihre Reaktion auf seine Worte zeigte ihr, wie weit sie sich schon von ihm entfernt hatte, dass sie mit ihm fertig war.
Sie blickte ihn an.
Er sah schlecht aus, übermüdet, doch das war es nicht allein. Er wirkte verlebt, sein Lotterleben zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Fast konnte er einem schon leidtun. Er war kein schlechter Arzt, doch der Beruf war ihm nie wichtig gewesen, auf den Putz zu hauen, Frauen aufzureißen, das war für ihm stets wichtiger gewesen.
»Möchtest du etwas trinken, Max?«, erkundigte sie sich, weil sie so nicht sein konnte. Schließlich waren sie einmal verheiratet gewesen, und anfangs hatte es auch recht gute Zeiten gegeben. Ihm nichts anzubieten wäre unhöflich, selbst Fremden bot man doch etwas an.
Sie bot ihm Verschiedenes an, doch auch er wollte ein Glas Rotwein trinken, und so musste sie nur noch ein Glas für ihn holen.
Sie saßen sich gegenüber wie zwei Fremde, und wieder einmal fragte Roberta sich, was sie an diesem Mann gefunden hatte.
Er trank gierig von dem Rotwein, sagte ihr, dass er eine ganze Weile gebraucht hatte, um bei ihr zu klingeln, und sie sagte ihm, wie sehr sie das doch wunderte, weil das überhaupt nicht seine Art war. Er war es gewohnt, einfach vorzupreschen und seine Bedürfnisse zu erfüllen.
Sie hatten sich nichts zu sagen, und Roberta hatte sich diesen Abend anders vorgestellt, also erkundigte sie sich noch einmal, diesmal in einem schärferem Tonfall, was er denn nun von ihr wolle.
Da erfuhr sie zu ihrem größten Entsetzen, dass es mit der Praxis immer weiter den Bach hinuntergegangen war, dass Kollegen gekündigt hatten und dass er zwei Prozesse wegen Behandlungsfehlern am Hals hatte.
»Roberta, die Praxis ist dein Baby, du hast sie mit deinem Geld aufgebaut, das gebe ich ja zu. Du kannst doch nicht wollen, dass alles in die Binsen geht. Wenn du zurückkommst, reicht eine Anzeige, und schon strömen die Patienten wieder in die Praxis. Und sie kann zu altem Glanz erstrahlen. Du gehörst in eine Hightech-Praxis, nicht hier auf das platte Land, das ist doch keine Herausforderung für dich. Ich bin ja auch bereit, sie dir wieder zu überschreiben und nur als Partner dazubleiben. Aber ohne dich bricht alles zusammen. Das kannst du doch nicht wollen, oder?«
Sie antwortete nicht sofort, weil es ihr insgeheim wehtat, was er aus einer großen, angesehenen, gut gehenden Praxis gemacht hatte.
Prozesse wegen Behandlungsfehlern!
Das konnte einem den Magen umdrehen, doch sie konnte es sich bei Max vorstellen. Wahrscheinlich hatte er wieder irgendwelche Frauen im Kopf gehabt, und das war ihm wichtiger gewesen, als ordentlich seinen Job zu machen. So war es immer gewesen. Und wie sagte man so treffend – »die Katze lässt das Mausen nicht«.