Cover

Ulrich Wendel – Alltagsbeter | Beten – auch wenn das Leben laut ist – SCM R.Brockhaus

SCM | Stiftung Christliche Medien

SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-417-22897-7 (E-Book)
ISBN 978-3-417-26825-6 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth

Wilhelm Bruners: Ergebnis © Wilhelm Bruners, Mönchengladbach

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Weiter wurden verwendet:
Das Buch. Neues Testament – übersetzt von Roland Werner. © 2009 SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten. (DB)
Elberfelder Bibel, © 1991, 2006 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten (ELB)
Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, © 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart ()
Hoffnung für alle® Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis – Brunnen Basel (HFA)
Lutherbibel, revidierter Text 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (LUT)
NeÜ bibel.heute © 2001–2012 Karl-Heinz Vanheiden, www.kh-vanheiden.de. Alle Rechte vorbehalten. (NEÜ)

© 2017 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: info@scm-brockhaus.de

Umschlaggestaltung und -illustration: Vitalli Peters, Hannover, www.vita-grafik.de
Satz: Christoph Möller, Hattingen

Inhalt

Über den Autor

Vorwort

I. Abgelenkt

1. Auf der Suche nach dem Fokus

Melancholie vorm Kaminofen

Einen Bogen um das rote Sofa

2. Was steht auf dem Spiel?

Energien in Kains Leben

Zerriebene Seele, zerbröckelndes Gebet

Der Fußballer und der Bischof

Die Elifas-Falle

3. Ein Leben im Gebet: Hiob

Zugriff auf viele Varianten

Konsequenzen für Abgelenkte

Mit einem Beter kann Gott etwas anfangen

4. Abgelenktsein im Spiegel der Bibel

Der Mantel, die Bücher und die Vergebung

Das Lebensgefühl zu biblischen Zeiten

Eine Frage der richtigen Wahl

Verpflichtungen und Zerstreuungen des Lebens

5. Gott verliert keins meiner Gebete

Brücke über 500 Jahre

Schall und Rauch

II. Gesammelt

6. Vom Segen der kurzen Gebete

1000 : 35

Jabez und Jesus

Ein kräftiges Befreiungsgebet

Pattex, Jona und Paulus

„Ich habe es dir doch gesagt!“

Kurze Gebete: Vorrecht und Pflicht

7. Beten bei Gelegenheit.
Teil 1: Im Tageslauf

Wappentier: Glaskopffisch

Mein Gebetsnotizbuch

Gebet im stillen Kämmerlein

Gebetsstationen auf dem Fahrradweg

Das Gebet des Loslassens

8. Beten bei Gelegenheit.
Teil 2: Irgendwann zwischendurch

Die Hand festhalten und Beeren pflücken

Notiz auf der Kachel

Automodell-Fürbitte

Wenn die Glocke läutet

Gebet nach dem Mobilgerät

Nebenher segnen

Mein Herzensgebet

In einer anderen Sprache

Stoßgebete – durch nichts zu ersetzen

Bete so, wie du kannst …

9. Beten mit der Bibel

Was man uns über Gottes Wohnung verschwieg

Die Psalmbrücke

Mein Morgengebet

Biblisch getränkte Gebete 1: Ankerworte suchen

Biblisch getränkte Gebete 2: Geländer-Gebete suchen

Der passende Psalm zur Situation

Schriftworte „ausbeten“

Psalmen als Landkarten meines Lebens

Gott mit neuen Namen anreden

Eine persönliche Gebetsbibel gestalten

10. Zeit im Gebet verbringen

3000 Kilometer bis Epaphras

Mich zu den Füßen von Jesus setzen

Mein Treffpunkt mit Gott

Entspannte Konzentration: Spaziergänge mit Gott

Noch einmal die Gebetslandkarte

„Wer bin ich, wer bist du?“

Meine Gebetskreise

Und wenn nichts passiert?

11. Anbetung für Anbetungsmuffel

Kleine Galerie des Unbehagens

In der Menge meinen eigenen Weg gehen

Alles hat seine Zeit

Wechselwirkungen mit dem Alltag

III. Ermutigt

12. Wie Beten den Beter verändert

Debatte im Religionsunterricht

Die Erfahrung der Bischöfe

Wenn Gegen-Bitte zur Für-Bitte wird

Linienbus und Heißluftballon

Veränderung: nicht nur innerlich!

Die „Quelle des Rufenden“

Der Veränderung eine Chance geben

13. Wie viel Glauben brauche ich zum Gebet?

Glaube als Fliehkraft?

Seltsame Glaubenshelden

Der Unterschied zwischen Glauben und Hoffnung

Glauben, dass ich es schon empfangen habe

14. Du betest öfter, als du denkst

Wieder zu wenig gebetet?

Israel in Ägypten

Die verstoßene Sklavin in der Wüste

Gründe für Gebetsarmut

Der Geist betet, wenn ich es nicht kann

Eine falsche Schlussfolgerung

Eine richtige Schlussfolgerung

Zum Schluss:
Sei wie ein Seemann auf offenem Meer!

Anhang

1. Der passende Psalm oder Psalmvers zur Situation

2. Biblische Gebete außerhalb des Psalters

3. Wer bin ich in Gottes Augen?

4. Namen und Ehrentitel von Jesus

Anmerkungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über den Autor

Ulrich Wendel Ulrich Wendel war Pastor in zwei freikirchlichen Gemeinden und Lehrbeauftragter für Neues Testament an der Evangelischen Hochschule Tabor. Jetzt ist er Redakteur des Magazins „Faszination Bibel“ und Programmleiter für Bibel und Theologie bei SCM R.Brockhaus.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Vorwort

Drei Dinge würde ich im Alltag gern besser können.

Schöner schreiben: Meine Handschrift ist ziemlich ungleichmäßig und nicht besonders schön. Nicht jeder kann sie sofort lesen. Gern hätte ich eine vorzeigbarere Handschrift.

Ordnung halten: Mein Schreibtisch sieht meist wild aus und mein Arbeitszimmer ebenso. Blätter und Bücher liegen in Schichten übereinander. Es geht zu wie bei einer archäologischen Ausgrabung – je älter eine Angelegenheit ist, desto tiefer muss ich buddeln. Ich wäre froh, wenn es mir leichter fiele, diese Berge gar nicht erst anwachsen zu lassen.

Ausdauernd beten: Gern würde ich intensive Gebetszeiten erleben, die mir Freude machen und aus denen ich regelmäßig mit neuer Wegweisung herauskomme, erfüllt mit Gottes Gegenwart.

An meiner Handschrift werde ich nicht mehr grundsätzlich etwas ändern können. Ordnung halten bekomme ich nur kurzfristig hin – es steckt einfach nicht in mir drin. Doch beim dritten Thema, dem Gebet, ist noch Veränderung möglich. Mein Alltag ist zwar fast nie besinnlich. Aber mitten in diesem Alltag ein Beter werden – ich glaube, das kann ich. Und dieses dritte Lebensfeld ist auch mit Abstand am wichtigsten. Mit krakeliger Handschrift und Schreibtischchaos werde ich irgendwie durchs Leben kommen. Aber ich möchte um keinen Preis darauf verzichten, ein Alltagsbeter zu sein.

Wenn Ablenkungen und Gegenkräfte kommen, ist es wichtig, dennoch zu beten, denn ein Leben im Gebet hat große Kraft. Deshalb gebe ich in diesem Buch auch eine Fülle von praktischen Tipps und Erfahrungen, die sich für mich bewährt haben. Außerdem erzähle ich davon, was mich zum Beten ermutigt und wie leicht Gott es mir oft macht, im Alltag mit ihm zu reden.

Dabei sind mir für dieses Buch zwei Quellen wichtig. Zum einen ist das meine eigene Erfahrung. Ich betrachte mich keineswegs als vorbildlichen Beter. Ich muss es mir erkämpfen, ein Alltagsbeter zu werden. Aber wahrscheinlich fliegt den meisten die Ausdauer beim Beten nicht einfach so zu. Deshalb möchte ich meine Leser mitnehmen auf meine eigene Reise. Zum anderen wende ich mich sehr oft in diesem Buch der Bibel zu und ziehe aus ihr Möglichkeiten und Verheißungen für das Gebet. Denn die Bibel ist für mich das große Lebensbuch und das große Gottesbuch. Sie hat für mich einen weiten Vorsprung vor allen menschlichen Erfahrungen und Einsichten. Deshalb knüpfe ich meine Gedanken immer wieder an die Bibel an.

Die ersten Notizen zu diesem Buch habe ich in meiner unordentlichen Handschrift gemacht, auf einem mit Blättern übersäten Schreibtisch. Beides, Schrift wie auch Schreibtisch, sieht immer noch so aus wie zu Beginn dieses Buchprojektes. Doch mein Beten hat sich verändert. Ich habe neue Möglichkeiten entdeckt, das Gespräch mit Gott in meinem oft so vollgepackten Alltag zu verankern.

Ich wünsche mir, dass dieses Buch vielen Menschen hilft, Alltagsbeter zu werden und zu sein.

Ulrich Wendel

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

I. Abgelenkt

I. Abgelenkt

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

1. Auf der Suche nach dem Fokus

Ich lebe gern in der Informationsgesellschaft. Ich schätze es, schnell Bescheid zu wissen, wenn beim Tischgespräch eine Frage aufkommt. Was sind eigentlich Pastinaken? (Eine Frage, die meine Frau neulich gestellt hat.) Seit wann gilt Pluto nicht mehr als richtiger Planet, sondern bloß noch als Zwergplanet? (Solche Fragen tauchen eher im Gespräch mit meinem Sohn auf.) Gern greife ich dann zu meinem Mobilgerät und schaue bei Wikipedia nach. Manchmal passiert das schon beim Frühstück – und sei es nur, dass ich den Wetterbericht checke, um zu sehen, ob heute Fahrradwetter ist. Und schon hat der Tag begonnen mit Informationen und mit Entscheidungen, die daraus folgen.

Beides prägt den weiteren Verlauf fast jeden Tages: Ich nehme Informationen auf und muss sie sortieren. Ich muss Entscheidungen treffen, zumindest darüber, ob ich eine Sache sofort entscheiden will oder erst später. Vermutlich täuscht der Eindruck nicht: Im Laufe der Jahre hat sich der Kreislauf beschleunigt. Immer mehr Informationen und Entschlüsse drängen sich in eine einzelne Stunde.

Wie gesagt, ich mag die Möglichkeit, einen schnellen Einblick zu bekommen. Aber damit kaufe ich mir natürlich zugleich auch etwas anderes ein: Ablenkung. Mangelnde Konzentration. Meine Aufmerksamkeit ist meist verzweigt. Meine Gedanken scheinen wie von Magneten umringt zu sein und werden in alle möglichen Richtungen gezogen. Gespräche, Broschüren, Hintergrundmusik, Webseiten, Telefonnotizen, Nachrichten, Zeitschriften, Pausenplaudereien, Werbung, Arbeitsaufträge, erzählfreudige Kinder, Bildschirme (Rechner, Smartphone und Fernseher), Anrufe – all das gehört in verschiedener Mixtur und Dosierung zu jedem Tag. Bei anderen Menschen sind es andere Dinge, aber ebenfalls eine Vielzahl an unterschiedlichen Impulsen. Alles nicht schlecht, aber oft ist es so dicht, dass es schwerfällt, sich zu fokussieren. Und der Umgang damit – was lasse ich wann an mich heran? – erfordert dann schon wieder Entscheidungen. Diesen Ablenkungen und Gegenkräften ist der erste Hauptteil dieses Buches gewidmet.

Klar, dass dies nicht nur das Leben an sich betrifft, sondern auch das Leben mit Gott. Es ist fast immer eine Art innerer Sammlung nötig, um zu beten. Und weil diese Sammlung nie von allein kommt, kommen auch Gebets-Gelegenheiten kaum automatisch. Wie man dennoch fokussiert beten kann, darum geht es in diesem Buch. Ich glaube, dass man kein besonders „begabter“ Beter sein muss, um sich im Alltag auf Gott auszurichten. Man muss auch nicht seine Wochenarbeitszeit reduzieren oder regelmäßig einen Tag im Kloster verbringen. Der Gesprächsfaden mit Gott lässt sich mitten im Alltag finden. Ich zeige im zweiten und größten Hauptteil dieses Buches viele praktikable Wege, um während eines gewöhnlichen Tageslaufes mit Gott zu reden. Dabei haben auch kurze Gebete schon eine beträchtliche Wirkung, und man sollte die Gebete, die nur aus wenigen Worten bestehen, nicht unterschätzen. Ich berichte davon, wie Unlust beim Gebet ihre Kraft verlieren kann. Ich persönlich habe durch die kleinen und größeren Schritte, von denen ich erzählen werde, deutlich mehr Freude am Beten gewonnen. Ich werde auch von den Kraftquellen sprechen, die ein lebendiges Gebetsleben beflügeln. In der Bibel habe ich viele Beispiele dafür gefunden, was mit Menschen passiert, die am Gespräch mit Gott festhalten.

Im dritten Hauptteil teile ich einige Entdeckungen, die mir großen Mut gemacht haben. Wo meine Gebetsmöglichkeiten begrenzt sind, ist Gott viel größer und macht mehr aus meinem Beten, als ich selbst es je könnte.

Wenn jemand, nachdem er dieses Buch gelesen hat, eine Menge Ideen für das eigene Gebetsleben bekommen hat und zugleich ermutigt ist, viel von seinem Gebet zu erwarten, auch wenn es oft kümmerlich erscheint – dann hat das Buch sein Ziel erreicht.

Melancholie vorm Kaminofen

Unser Alltag hat oft eine große Geschwindigkeit und ist mit vielerlei Eindrücken gefüllt. Schnell kommt man ans Rotieren, und wer rotiert, ist Fliehkräften ausgesetzt. Was nach innen gehört, wird nach außen gezogen. Deshalb ist es nicht leicht, sich zu sammeln.

Es wäre verwunderlich, wenn das Leben in der Gemeinschaft mit Gott davon nicht betroffen wäre. Zweifellos: Es ist betroffen. Das spüre ich vor allem, wenn ich bete. Sehr schnell bin ich mit meinen Gedanken ganz woanders. Die Konzentration hält wenige Minuten an, aber danach ist es ein Pingpongspiel. Ein Kampf darum, dass ich zurück zu meinem eigentlichen Vorhaben komme: beten. Die Freude an ausgedehnten Zeiten der Stille mit Gott ist mir auf diese Weise abhandengekommen.

Natürlich gibt es Wege, um gegenzusteuern. Einen davon praktiziere ich seit vielleicht acht Jahren: Ich schreibe morgens vor dem Frühstück, noch nicht ganz wach, auf, was ich Gott sagen will. Einfach damit ich weiß: Diese Gedanken, diese Bitten und dieser Dank sind jetzt in Buchstaben gegossen und konnten mir nicht wegfliegen. Das sind zumeist ganz unfeierliche kleine Gebetssätze. An vielen Tagen sind es die gleichen Anliegen. Originell ist da nichts. Aber ich bete in den zehn Minuten vor dem Frühstück auf diese Weise schon allein mengenmäßig mehr klare Gedanken, als wenn ich sie nur still denken würde.

Letzten Winter fand ich, dass die Gebetsnotizbücher der vergangenen Jahre nun wirklich nicht mehr in meinem Regal stehen müssten. Der Inhalt hatte ja ohnehin meist nur Tagesbedeutung. Fürs Altpapier waren sie mir dann aber doch zu persönlich. Also setzte ich mich vor den Kaminofen, trennte die Buchumschläge ab und warf die Buchblöcke ins Feuer. Dabei überfiel mich ein wenig Melancholie. Einerseits war klar: Gelesen hätte ich das Allermeiste davon sowieso nie mehr. Andererseits: War mein Beten wirklich so flüchtig? Einmal notiert, dann jahrelang unbesehen im Regal gestanden, und nun ein Raub der Flammen – was ist mit all dem, das ich Gott gesagt habe? Ist es einfach weg? Und abgesehen von den Gebeten, die ich hier mit dem Stift festgehalten hatte: Was ist mit all den kurzen Gesprächen und Gesprächsfetzen zu Gott hin, die ich am selben Tag schon wieder vergessen habe? Wie soll ich von Gott erwarten, dass mein Gebet vor ihm gegenwärtig ist, wenn es bei mir selbst schon nicht mehr präsent ist?

Solche Fragen und Selbstzweifel lähmen natürlich die Lust am Gebet. Der Kaminofen, in dem meine Gebete vom Feuer verzehrt wurden, ist für mich irgendwie ein Symbol dafür – für die Sorge, es könnte doch alles schnell verpufft sein.

Es gibt noch einen weiteren Vorbehalt, der mich vom Beten oft wegzieht. Auch dafür steht ein Symbol: mein Sofa.

Einen Bogen um das rote Sofa

Zu Beginn meines Berufslebens als Pastor bekam ich ein rotes Sofa. Kein direktes Geschenk, sondern es fiel uns aus Restbeständen eines Möbelhauses zu. Ein rotes Sofa aus echtem Leder – das fand ich ziemlich cool. Seitdem war es die Zierde meines Pastorenbüros und der Platz, den ich morgens zum Beten aufsuchte, zumindest an den Tagen, die ich im Gebet beginnen wollte. Mich dazu an den Schreibtisch zu setzen, wäre dumm gewesen. Er war voll mit Notizzetteln, aufgeschlagenen Büchern, Fotokopien und meinem Kalender. Alles Ablenkungen, die ich auch mit geschlossenen Augen hätte schreien hören.

Also Abstand nehmen. Einen besonderen Platz nur fürs Gebet haben – mein rotes Sofa! Bloß: Die Gedanken kamen mit aufs Sofa. Ich wusste, was auf meinen Notizzetteln stand. Ich wusste, was der Kalender von mir wollte. Das Telefon klingelte meist nicht in dieser Viertelstunde, aber in meinem Kopf klingelten tausend Gedanken. Und der Trick, alle diese Gedanken schnell zu notieren, um mich dann innerlich wieder auf Gott auszurichten, funktionierte bei mir nicht.

Leise und schleichend zog ich eine Schlussfolgerung, ohne es gleich zu merken: Es hat keinen Sinn, sich täglich Zeit und Stille fürs Gebet zu nehmen. Diese Zeit ist nur äußerlich still, innen aber sehr laut. Ich werde sowieso abgelenkt sein – das weiß ich mittlerweile schon vorher.

Es war letztlich nicht die Tatsache, dass ich abgelenkt war, die mich am Beten hinderte. Sondern es war die Angst davor, abgelenkt zu sein. Noch bevor ich im Beten scheitern konnte, hatte ich mir die Niederlage bereits eingestanden und einen Bogen ums rote Sofa gemacht. Damit war ich bereits vor dem Gebet gescheitert. Ich hatte keine Lust, den Kampf zu verlieren, also trat ich ihn nach einiger Zeit kaum noch an. Eine fatale Konsequenz, die verborgen und harmlos daherkam.

Natürlich lebte ich nicht gebetslos. Ich habe mir andere Formen, Orte und Zeiten gesucht; davon werde ich noch erzählen. Aber das tägliche Gebet in der Stille entfiel zu oft und damit auch die Möglichkeit, von Gott her Impulse mit in den Tag zu nehmen. Gott musste mich anders erreichen und hat es auch oft getan. Doch mein Beten war arm.

Was passiert, wenn das Beten eines Menschen, der mit Gott lebt, arm wird? Das folgende Kapitel zeigt zweierlei: Letzten Endes wird Gottes Güte nicht ausgebremst. Gott hat viel Gnade für Menschen bereit, die das Gespräch mit ihm versäumen. Doch zuvor kann durchaus eine Menge verloren gehen. Wer zulässt, dass sein Beten verstummt, tut sich damit keinen Gefallen.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

2. Was steht auf dem Spiel?

Manchmal verdichtet sich alles in einem Moment. Es gibt Schlüsselsituationen, in denen sich entscheidet, wie die nächste Zukunft aussehen wird – so oder so. In solchen Momenten hat es eine große Tragweite, ob jemand betet oder nicht. Die Tage, an denen meine innere Sammlung zum Gebet ausfiel, die Tage, an denen ich mich nicht aufs rote Sofa traute – sie waren nicht alle verpfuscht. Doch in der Summe kann es Folgen haben, wenn das Gebet entfällt. Und manchmal kommt es dann doch auf den einen Augenblick an.

Gottes Wort erzählt auf seinen ersten Seiten davon. Der Bericht über Kain (1. Mose 4) ergibt ein aufschlussreiches Bild. Kain ist – im Verlauf der biblischen Erzählung – der dritte Mensch auf der Erde. Er ist also ganz ursprünglich und lässt erkennen, wie es mit dem Menschen an sich bestellt ist. Kain muss etwas typisch Menschliches erfahren und aushalten: Das Leben ist ungerecht. Die Segnungen Gottes sind ungleich verteilt. Kains Bruder Abel ist bei Gott gut angesehen. Gott lässt es sich gern gefallen, dass Abel seine Nähe sucht. Kain selbst dagegen erfährt diese Nähe nicht. Die biblische Erzählung begründet diese Ungleichbehandlung mit keiner Silbe, sie stellt nur heraus: So ist es nun einmal im Leben.

Energien in Kains Leben

Es ist nur natürlich, es erscheint uns geradezu folgerichtig, dass Kain wütend wird. Jetzt sind schon zwei starke Energien in sein Leben getreten: von außen die Ungleichheit und von innen die Wut. Alles spricht dafür, dass die Sache eskaliert, dass Kain explodiert. Doch so muss es nicht kommen, denn plötzlich macht sich eine dritte Energie stark. Gott spricht Kain an und fragt ihn: „Warum bist du so zornig? … Warum blickst du so grimmig zu Boden? Ist es nicht so: Wenn du Gutes im Sinn hast, kannst du frei umherschauen. Wenn du jedoch Böses planst, lauert die Sünde dir auf. Sie will dich zu Fall bringen. Du aber sollst über sie herrschen!“ (1. Mose 4,6-7). Gott tritt dazwischen – zwischen Kain einerseits und die Kräfte um ihn herum sowie in ihm andererseits.

Wenn man angesprochen wird, soll man antworten, klar. Werde ich angeredet, soll ich meinerseits reden. Und Kain redet auch. Allerdings nicht mit Gott, sondern mit seinem Bruder. Was er sagt, berichtet der Grundtext, auf dem die meisten heutigen Bibelausgaben basieren, nicht. Warum nicht? Weil es offenbar gar nicht auf den Inhalt ankommt, sondern auf die Richtung: auf die bloße Tatsache, dass Kain jetzt – gerade jetzt! – mit seinem Bruder spricht, dass seine Rede sich an einen Menschen richtet. Und das heißt: Er richtet sie nicht an Gott! Der von Gott Angesprochene greift den Gesprächsfaden nicht auf. Mit anderen Worten: Das Gebet, das sich gerade jetzt aufdrängen würde – es fällt aus.

Der Bibelausleger Michael Rohde macht darauf aufmerksam, dass es eben dieses ausgebliebene Gebet ist, das so tragische Folgen hat.1 Vor dem Übergang zur Tat hätte es seinen Platz gehabt. Diese Antwort an Gott hätte ganz unterschiedlich gelagert sein können: „Denkbar wäre eine Verteidigung, ein Gebet oder eine Klage gewesen. Dem doppelten ‚Warum?‘ “ – Warum bist du zornig, warum blickst du zu Boden? – „hätte widersprochen werden können, ähnlich wie Sarah auf die Warum-Frage Gottes an Abraham, warum sie gelacht habe, widerspricht.“2 Doch Kain redet nicht mit Gott, sondern mit Abel, dem Ziel seiner Wut. Das Gebet entfällt. Der Mord passiert.

Das ist umso widersprüchlicher, als Kain danach sehr wohl seinem Gott Rede und Antwort stehen kann. Gott fragt im Anschluss an den Mord: „Wo ist dein Bruder Abel?“ (1. Mose 4,9). Kain sagt, er könne doch wohl nicht ständig auf ihn aufpassen. Und dann entspinnt sich ein regelrechter Dialog: Gott fordert Auskunft und verhängt eine Strafe, Kain erhebt Einspruch und versucht, ein wenigstens ansatzweise besseres Ergebnis zu erzielen (1. Mose 4,10-15). Plötzlich kann er wieder mit Gott reden. Und er darf auch so mit Gott reden, so trotzig, so um sein eigenes Fortkommen besorgt. All das ist letztlich Gebet. Jetzt geht es. Aber zuvor gab es eine Leerstelle. Ein Gebet zu wenig im entscheidenden Moment. Und das bestimmte die Biografien der beiden Männer – die paar Minuten, die Abel noch zu leben hatte, und Kains Jahre weitab von seiner Heimat.

Zerriebene Seele, zerbröckelndes Gebet

Kain war sicherlich nicht abgelenkt oder in Gedanken woanders. Diese Erfahrung, die ich so gut kenne, finde ich bei Kain nicht, aber etwas Ähnliches: Kain war offenbar zerrieben. So viel stürmte auf ihn ein: Die Erfahrung, ungerecht behandelt worden zu sein. Die unausgesprochene Frage: „Warum?“ Der Zorn. Der Neid. Die Wut. Und auch die Anrede von Gott. Auch Gott hatte die Warum-Frage gestellt: „Warum bist du so zornig?“ Und er hatte Kain einen Auftrag gegeben: „Du sollst über die Sünde herrschen.“ Eine anspruchsvolle Berufung. Einiges von dem, was auf Kain einströmt, provoziert eigentlich ein Gebet. Gottes Frage zum Beispiel. Anderes übertönt jede aufkeimende Gebets-Regung. Kains Seele wird zerrieben und zwischen all dem zerbröckelt sein Gebet.

Der Mechanismus in meinem Leben ist ganz ähnlich. Ansprüche von außen strömen jeden Tag auf mich ein, dazu meine eigenen Ansprüche an mich selbst. Das, wovon ich vermute, dass Gott es von mir möchte. Sorgen. Verwirrende Erlebnisse, die ich nicht ganz deuten kann. Offene Fragen. Halb ausgebrütete Vorsätze, an denen ich selbst schon wieder zweifle. Und das ganze Bündel an tagesaktuellen Gedanken. Formulierungen, die ich mir zurechtlege, weil ich sie in einem Gespräch heute vielleicht brauchen kann. Die Vorfreude auf den Feierabend. Meine Aufmerksamkeit wird in alle Richtungen verzweigt, wo ich doch zum Gebet am nötigsten innere Sammlung brauchen würde.

Meine Aufmerksamkeit wird in alle Richtungen verzweigt, wo ich doch zum Gebet am nötigsten innere Sammlung brauchen würde.

Was passiert, wenn mein Gebet entfällt? Einen Mord wie Kain habe ich bisher nicht begangen. Aber bei Jesus wiegt der Groll im Herzen ja nicht leichter als der vollbrachte Mord. Dass ich das Ziel, das Gott heute für mich hat, nicht in den Blick bekomme, das steht auf dem Spiel. Und Zielverfehlung ist nichts anderes als Sünde. Genau das ist ja die Bedeutung des Wortes für Sünde im Neuen Testament: Zielverfehlung. Meine aktuelle Zielverfehlung kann jeden Tag eine neue Variante annehmen. Die Konsequenzen sind zum Glück nicht immer so dramatisch und tödlich wie bei Kain. Aber unterm Strich bleibt das Ergebnis: Ich verpasse das, was heute eigentlich mein Leben ausmachen sollte. Und das werde nicht nur ich merken, sondern die Menschen um mich herum ebenfalls. Manchmal werde ich eine Last für andere sein. Das steht auf dem Spiel.

Der Umkehrschluss lautet: Das Gebet kann die Unterbrechung sein, die ich dringend brauche, wenn ich in mir selbst verstrickt bin und meine Gedanken sich im Kreis drehen. Wie nötig so eine Unterbrechung sein kann, sehen wir an einem Fußballer. Und wie wirksam dann das Gebet ist, sagt uns ein Bischof.

Der Fußballer und der Bischof

Im Sommer 2014 wurde ein Wort populär, das vorher kaum zum Alltagswortschatz gehörte: die Eistonne. Das Achtelfinalspiel der deutschen Mannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien verlief ziemlich schwach. Letztendlich gewannen die Deutschen gegen Algerien zwar nach Verlängerung, aber es war eine Zitterpartie – und Algerien ist nicht gerade als Fußballnation bekannt. Unmittelbar nach dem Spiel wurde der Innenverteidiger Per Mertesacker vor laufender Kamera interviewt. Die Fragen nach dieser Hängepartie gingen dem völlig erschöpften und sichtlich entnervten Spieler ganz offenkundig gegen den Strich. „Was wollen Sie jetzt von mir, so kurz nach dem Spiel?“, blaffte er den Reporter schweißgebadet an. „Ich verstehe nicht, was Sie wollen. Wir haben es uns hundertzwanzig Minuten schwer gemacht und gekämpft bis zum Ende. Ich leg mich jetzt erst mal drei Tage in die Eistonne und dann sehen wir weiter.“ Das Video dieser Interview-Sequenz erzielte seitdem Hunderttausende von Aufrufen im Internet.

Die Eistonne schien wirklich dringend nötig zu sein: nicht nur, um den geschundenen Körper herunterzukühlen, sondern auch den flammenden Zorn über die Reporterfragen. Zu jeder anderen Gelegenheit wäre der Gedanke an ein Bad in der Eistonne abschreckend und der Versuch, jemanden hineinzusetzen, würde in gellendem Kreischen enden. Aber es gibt Momente, da ist die Eistonne der einzig richtige Ort.

Gehen wir von der WM 2014 ein paar Jahrhunderte zurück. Den französischen Bischof Franz von Sales, 1665 heiliggesprochen, stellt man sich kaum so aufbrausend vor wie einen schwitzenden Fußballspieler vor dem Mikrofon eines hartnäckigen Sportreporters. (Franz von Sales ist übrigens seit 1923 der Schutzpatron der Journalisten – was dem Reporter bei seinem Interview aber vermutlich nicht geholfen hat.) Der Bischof war für viele Gläubige ein geistlicher Begleiter. In seinem Buch „Philothea“ hat er seine Weisungen gesammelt. Über das Gebet sagt er da:

Das Gebet ist die segensreiche Quelle, deren belebende Wasser die Pflänzchen unserer guten Wünsche zum Grünen und Blühen bringen, jeden Makel von unserer Seele hinwegspülen und das von Leidenschaft erhitzte Herz abkühlen.3

Abkühlen! Wer betet, hat also einen Weg beschritten, Abstand von seinen Leidenschaften zu nehmen. Abstand vom Zorn zum Beispiel und von all dem, was ihn zerreibt. Was Franz von Sales sagte, hätte Kain nützen können, den es im Zorn ja „ganz heiß“ „überlief“, wie die Einheitsübersetzung es ausdrückt (1. Mose 4,5). Das Gebet wäre Kains Eistonne gewesen. Der Fußballer und der Bischof empfehlen ganz übereinstimmend Abkühlung, und was den Zorn angeht, weiß der Bischof, wo sie zu finden ist: im Gebet.

Die Elifas-Falle

„Kain, du hättest beten sollen!“ Wenn so viel auf dem Spiel steht, ist das ein völlig richtiger Rat. Zugleich klingt es – aus der sicheren Distanz heraus gesprochen – aber auch ein wenig altklug. Die Elifas-Falle tut sich auf.

Elifas ist einer der drei Freunde von Hiob – dem Mann, der in zwei Wellen von unfassbarem Unglück überrollt wurde. Hiobs Freunde kommen zu ihm und bleiben bei ihm. Sie halten seine Qual mit ihm aus. Das schaffen sie. Danach beginnt Hiob seine Klage. Das auszuhalten schaffen sie nicht. Hiob ergreift ausführlich das Wort, aber danach schalten seine Freunde sich ein, Elifas zuerst. Sie wollen ihm klarmachen, wie die Dinge ihrer Ansicht nach liegen: Hiob muss seine Schuld eingestehen und sich Gott unterwerfen, dann wird Gott ihm auch wieder Gutes tun.

Argument um Argument reiht Elifas aneinander, und bald kommt er zu dem klugen Rat:

An deiner Stelle würde ich mich an Gott wenden und meine Sache in seine Hände legen.     (Hiob 5,8)

Elifas empfiehlt Hiob, zu beten. Im Strom seiner Tipps und Darlegungen schwimmt auch diese gute Einsicht mit. Später werden es die beiden anderen Freunde, Bildad und Zofar, ähnlich sagen (Hiob 8,5; 11,13). Wenn man sich das Ausmaß von Hiobs Unglück und die Tiefe seiner Verzweiflung vor Augen führt, ist das wohl die beste Empfehlung, die man Hiob geben kann. Und wenn man das Schicksal von Kain kennt, wird der Rat umso dringlicher: „An deiner Stelle würde ich jetzt beten.“

Nur eins stimmt an der Sache nicht. Elifas und die anderen beiden Freunde bieten ihre gesamte Lebenserfahrung und das Beste aus ihrer Theologie auf und dazu gehört auch das Thema Gebet – doch eins tun sie nicht: Sie beten nicht!

Sie reden über Hiob und über das Leben und über Gerechtigkeit und über Demut und über Gott, aber sie reden nicht mit Gott. Deshalb scheitern sie am Ende (mehr dazu im nächsten Kapitel). Sie setzen sich und ihre ganze richtige Theologie ins Unrecht, denn es sind gebetslose Gedanken und es ist eine gebetslose Theologie.

Eine Falle: Schlaues über das Reden mit Gott zu sagen, anstatt mit Gott zu reden.

Das ist die Elifas-Falle: Schlaues über das Reden mit Gott zu sagen, anstatt mit Gott zu reden. (Deshalb ist es für mich auch ein wenig heikel, gerade vor dem Bildschirm zu sitzen und an einem Buch über das Beten zu schreiben …) Das Ergebnis ist unter dem Strich dasselbe wie bei Kain: Wo ein Gebet im Herzen hätte entstehen und zu Gott hingelangen können, tut sich eine Leerstelle auf. Und die Folgen sind ähnlich gravierend wie bei Kain: Elifas, Bildad und Zofar haben zum Schluss verloren. Gott lehnt sie mitsamt ihrem Gerede ab! Ihre Lebenserfahrung und Gotteserkenntnis hat keinen Bestand. So viel steht auf dem Spiel, wenn man betet oder eben nicht betet.

Zum Glück haben sie noch eine weitere Sache mit Kain gemeinsam: Sie erleben Gnade. Kain hatte das Leben seines Bruders ausgelöscht und seine eigene Zukunft verpfuscht, doch Gott schenkte ihm eine Schutzmarkierung und ließ ihn – weit weg, aber immerhin – weiterleben. Er konnte noch etwas Bedeutendes schaffen im Rest seines Lebens; er wurde der erste Städtebauer (1. Mose 4,17). Gottes Gnade übertrumpfte Kains Versagen. Die Katastrophe, die entstand, nachdem er es am Gebet fehlen ließ, war nicht die letzte Erfahrung in seinem Leben. Er bekam doch noch eine Zukunft.

Genau das erfahren auch Hiobs gebetslose Freunde: Am Ende überwiegt Gottes Gnade. Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

3. Ein Leben im Gebet: Hiob

Wenn es jemanden gibt, dem das Gebet im Halse stecken bleiben könnte, dann ist das Hiob. Das Leben hat so dermaßen auf ihn eingeschlagen, dass seine Seele völlig in Trümmern liegen müsste. Alle Dimensionen, die den Menschen ausmachen – Körper, Seele und Geist – sind geschunden. Seine Freunde erreichen ihn nicht mehr und selbst seine Frau und seine Brüder zeigen – wenn überhaupt – nur noch die allernötigste Nähe.

Wenn es jemanden gibt, dem das Gebet im Halse stecken bleiben könnte, dann ist das Hiob.

So kennen wir Hiob: als die Zielscheibe von Gottes Pfeilen. Als Spielball eines satanischen Planes und eines unverständlichen Gottes, der sich auf diesen Plan einlässt. Als tapferen Dulder. Als Kämpfer mit Gott, der sich keine Schuld einreden lässt, wenn er keine sieht. Als jemanden, der es wagt, mit Gott um sein Recht zu streiten. All das ist der Hiob, wie er im Neuen Testament und in Predigten und in literarischen Werken geschildert wird.

Doch es gibt noch ein weiteres Lebensthema, das die Geschichte Hiobs wie ein roter Faden durchzieht. Oder besser: wie ein weißer Faden – denn man sieht dieses Thema nicht sofort hervorleuchten. Aber es ist da und es macht den entscheidenden Unterschied: Hiob ist ein Beter.

Und das, obwohl ihm das Beten so schwer gemacht wird. Es muss schwer sein, seine Gedanken zusammenzuhalten, wenn das Leben Fetzen um Fetzen aus ihnen herausreißt. Wenn Hiob plötzlich unter die Armutsgrenze herabstürzt. Wenn seine Kinder alle auf einen Schlag umkommen und die Trauer in ihm wühlt. Wenn sein Körper derartig von Krankheit zerfressen wird, dass er sich schon fast in Auflösung befindet. Wenn er sagen muss: „Meiner Frau ist mein Atem zuwider und meinen Brüdern ekelt vor meinem Gestank“ (Hiob 19,17). Wenn Gott selbst sich offenbar kalt von ihm abwendet. Hiob als Person ist quasi zerlegt. Wie soll man sich da noch zum Gebet sammeln?

Was ich in meinem eigenen Alltag als störend empfinde, was mich vom Beten abhält und meine Konzentration raubt, ist ein Witz gegen das, was Hiob erlebt. Mein Tagesgeschehen lenkt mich ab und das behindert mein Gebetsleben, na gut – aber Hiob wäre froh gewesen, nichts weiter als meine Luxusprobleme zu haben.

Doch wenn Hiob ein Beter ist und ein Beter bleibt in all dem, was ihn zerlegt, dann müsste er auch mir etwas zu sagen haben, wenn ich mit meinen Ablenkungen und meinen flatternden Gedanken kämpfe. Ich als Unkonzentrierter will von ihm als Gequältem lernen, wie man ein Beter bleibt.

Zugriff auf viele Varianten

Hiob betet. Immer wieder – während seine Freunde nur auf ihn einreden. Klar, in weiten Teilen seiner Reden zahlt Hiob es ihnen mit gleicher Münze zurück. Auch er argumentiert, er verteidigt sich, er stöhnt, er spottet über seine Freunde. Er spricht ebenfalls über Gott und redet sich dabei fast um Kopf und Kragen. Er schleudert Gott Dinge entgegen, die er später bereuen wird: „Darum widerrufe ich, was ich gesagt habe, und bereue in Staub und Asche“ (Hiob 42,6). Aber immer wieder im Buch Hiob ist zu beobachten, wie seine Reden in Gebete umbrechen. An zehn Stellen passiert das.4 Von der Menge der Worte her sind die Gebete klar in der Unterzahl. Aber diese paar Gebete wenigstens gelingen Hiob – und damit ist später dann alles gewonnen.

Regelmäßig

Es fängt an, als die See seines Lebens noch glatt ist. Da folgt Hiob seiner Gewohnheit und betet regelmäßig. Immer dann, wenn seine Söhne eine Geburtstagsparty geben, sucht Hiob danach Gott und bringt ihm ein Opfer. Er betet vorsichtshalber, damit Gott es nicht straft, falls jemand auf der Feier Gott gelästert hat. Diese Gebetsgewohnheit sieht eher nach Besorgnis und Sicherheitsdenken aus als nach Leidenschaft. Aber sie zeigt: Wenn Hiob später wild und rebellisch mit Gott redet, dann nicht, weil er ihn sowieso nie ganz ernst genommen hätte, sondern Hiob ist von tiefer Ehrfurcht erfüllt.

Ergeben

Diese Ehrfurcht zeigt sich auch, als ihn das Unglück zum ersten Mal trifft. „Der Herr hat mir alles gegeben und der Herr hat es mir wieder weggenommen. Gelobt sei der Name des Herrn!“ (Hiob 1,21). Ach Hiob, so viel innere Sammlung, so viel Einverständnis in Gottes Wege, das kommt mir sehr überirdisch vor! Auch als du mit Geschwüren übersät bist, sprichst du so ergeben mit deinem Gott! Ist es das, was ich lernen soll? Es tut mir leid, aber so allem Irdischen enthoben bin ich nicht.

Schweigend

Hiob kennt noch eine andere Art des Gebets. Sie scheint mir einerseits dem Leiden angemessener, andererseits aber nicht weniger schwierig: Hiob schweigt (Hiob 2,13). Und wenn er, als jemand, der bewusst von Gott herkommt, schweigt, dann wird das ein Schweigen vor Gott sein. Es ist mit Schmerz gefüllt – aber in Gottes Gegenwart. Der Beter benötigt keine Worte. Vielleicht ist dieses Schweigen seine Vorbereitung auf das, was kommt, nämlich sein Ringen mit Gott. Und nachdem er seinen Freunden und Gott alles gesagt hat und nachdem Gott Hiob endlich angesprochen hat, da schweigt er wieder (40,4-5). Hiob braucht nicht immer Worte, um Verbindung mit Gott zu halten.

Wild

Zwischendrin ruft Hiob seine schroffen, herben Gebete:

Lass mich in Ruhe, denn von meinem Leben ist nicht mehr viel übrig.     (7,16)

Schau weg von mir, damit ich mich wenigstens für einige Augenblicke freuen kann, bevor ich mich auf den Weg ins Land der Dunkelheit und Verzweiflung mache, um nie wieder zurückzukehren.     (10,20-21)

Du machst mich zu einem Gefangenen. Du überwachst mich auf Schritt und Tritt und lässt mir keinen Freiraum zum Gehen.     (13,27)

Ich schreie zu dir, Gott, aber du antwortest mir nicht. Ich stehe vor dir, aber du schenkst mir keinen Blick. Du verwandelst dich vor mir in einen grausamen Gegner. Du verfolgst mich mit deiner großen Macht.     (30,20-21)

Warum kann Hiob so beten? Warum kann er ein Beter bleiben? Wohl auch deshalb, weil er Zugriff auf viele Varianten hat. Nach Kalender geplant und explosiv spontan. Mit befremdlicher Demut und in heftiger Auflehnung. Wortreich und schweigend. Hiob geht das Gebet nicht aus. Wenn er an dem einen Ende seiner Seele ins Leere greift und kein Gebet zu fassen bekommt, kann er zu anderen Gegenden seines inneren Menschen gehen und dort ein Gebet schöpfen.

Konsequenzen für Abgelenkte

Was sagt mir das als abgelenktem Beter?

• Eine regelmäßige Gewohnheit ist nicht zu verachten. Selbst wenn die Angst dahinterstehen mag, dass etwas Böses passiert, sobald ich einmal zu wenig bete – die Gewohnheit bereitet doch einen Nährboden. Wenn ich regelmäßig zu beten versuche und Gott dabei fürchte, dann kann ich später vielleicht besser spontan beten, wenn ich Gott liebe oder mich gegen ihn auflehne oder an ihm zweifle. Ja, ich verliere schnell den Faden, aber das Vorhaben, es auch mit Regelmäßigkeit zu versuchen, sollte ich nicht zu schnell abhaken.

• Gebete voller Glauben und Ergebung sind nicht unbedingt wertvoller als an Gott gerichtete Widerworte. Ja, es ist beeindruckend, wie groß Hiobs Zustimmung zu seinem von Gott gegebenen Schicksal ist. Später lehnt er sich gegen Gott auf, als er betet. Ganz am Ende wird es das Miteinander beider Sorten von Gebet sein, das von Gott gewürdigt wird.

• Ich muss mit dem Beten nicht warten, bis meine Gedanken einigermaßen geordnet sind. Hiobs Gedanken sind in völligem Aufruhr. Wer die Ausdauer aufbringt, Hiobs Reden ganz durchzulesen, wird merken, dass Hiob sich an vielen Stellen selbst widerspricht. Von klaren Einsichten ist er weit entfernt – und umso weiter von einem perfekten Gebet. Doch er tut es einfach: Er haut seine Gebete raus.

• Ich muss mein Beten nicht dahin trimmen, dass es eine Entwicklung nimmt oder dass ich Lernerfolge zeige. Bei Hiob ist es keineswegs so, dass seine eingestreuten Gebete immer „besser“ werden, dass sie etwa immer länger werden und seine Argumentationsgänge im Gegenzug immer kürzer. Es ist auch nicht so, dass nach seinen Gebeten ein wenig Ruhe einkehren würde, sondern das Wechselspiel von Anklage und Verteidigung geht sofort und wild weiter. Dennoch lässt Hiob es sich nicht nehmen, immer wieder aufs Gebet zurückzukommen.

• Zweifel können das Beten lähmen. Auch Hiob kennt das: „Und auch wenn ich ihn anklagte und er mir antwortete, könnte ich doch nicht glauben, dass er mich wirklich anhört“ (9,16). Doch die Zweifel dürfen nicht zu einer falschen Schlussfolgerung führen, nämlich dass ich erst nach den Zweifeln wieder ins Gebet finden könnte. Besser ist es, wenn ich schon in den Zweifeln bete, solange es nur irgend geht.

• Ich verliere die Legitimation nicht, Gott anzusprechen, wenn ich aus einer gebetsarmen Zeit komme. Wie gesagt – die Gebete Hiobs sind in der Unterzahl verglichen mit seinen anderen Worten. Einmal liegen im Buch Hiob volle zwölf Kapitel zwischen zwei Gebeten; zwölf Kapitel, in denen nur über Gott geredet wird und nicht mit ihm. Aber dann geht Hiob beiläufig und selbstverständlich wieder ins Gebet über (30,20).

Mit einem Beter kann Gott etwas anfangen

Hiob betet, während seine Freunde das Beten nur empfehlen. Es ist ganz deutlich: Die Lehrsätze der Freunde tragen Hiob nicht durch. Die erlernten Richtigkeiten können die Seele nicht zusammenhalten, wenn es hart auf hart kommt. Dazu sind nur Gebete imstande.

Was die Freunde alles vortragen, versagt aber nicht nur vor Hiobs Leid. Es ist nicht nur zu kraftlos, um Hiob zu helfen. Es ist auch zu kraftlos vor Gott. Das ist die große Überraschung am Ende des Buchs Hiob: Gott gibt Hiob recht! Und das, obwohl er ihm vorher seine Grenzen so deutlich aufgezeigt hat. Er hat Hiob ja endlich, endlich angeredet. Doch es war eine demütigende Antwort. Gott hat seine völlige Überlegenheit herausgestellt. Er hat Hiob das Recht bestritten, ihn so zur Verantwortung zu ziehen: „Will der Tadler mit dem Allmächtigen streiten? Der Mann, der Gott zurechtweist, soll nun antworten!“ – „Willst du mir etwa meine Gerechtigkeit absprechen, mich für schuldig erklären, nur damit du recht behältst?“ (40,2.8). Falls die drei Freunde Hiobs diese Worte Gottes gehört haben (es ist im Bericht unklar, ob sie dabei gewesen sind), haben sie sich vermutlich im Stillen die Hände gerieben. Haben sie nicht genau das immer wieder gesagt?

Aber die Freunde Hiobs sind keineswegs im Recht!

Nachdem der Herr seine Rede an Hiob beendet hatte, sagte er zu Elifas aus Teman: „Ich bin zornig auf dich und deine beiden Freunde, denn ihr habt nicht richtig von mir gesprochen, im Gegensatz zu meinem Diener Hiob. Nehmt sieben junge Stiere und sieben Widder und geht zu meinem Diener Hiob und bringt ein Brandopfer für euch dar. Mein Diener Hiob soll für euch beten. Nur seinetwegen will ich euch eure Unbesonnenheit nicht anrechnen, denn ihr habt nicht richtig von mir gesprochen, im Gegensatz zu meinem Diener Hiob.“     (Hiob 42,7-8)

Was für eine Abfuhr! Und was für eine geradezu unlogische Würdigung Hiobs! Er hat also offenbar doch richtig von Gott gesprochen. Aber nicht das ist entscheidend, was er über Gott gesagt hat, sondern jetzt hängt alles daran, dass Hiob stellvertretend für seine Freunde bittet. Hiob hat eine gewaltige äußere und innere Achterbahnfahrt hinter sich. Am Ende musste er zugeben, dass er vor Gott kein Wort mehr zu seinen eigenen Gunsten sagen kann. Aber dann betraut Gott ihn mit einer Aufgabe. Er setzt ihn nicht als leuchtendes Beispiel für Geduld ein, auch nicht als aufrechten Bekenner, der sich von Gott niemals losgesagt hat, sondern er setzt ihn als Beter ein.

Mit einem Beter beginnt Gott, Segen auf andere Menschen zu legen.

Durch einen Beter erzielt Gott Wirkungen. Mit einem Beter beginnt Gott, Segen auf andere Menschen zu legen. Und ein Beter ist es, durch den die drei Freunde Gnade erfahren. Gnade für Menschen, deren Leben eine Leerstelle hat, wo ein Gebet hingehört. Mit einem Beter kann Gott etwas anfangen. Selbst wenn es ein so aufgeriebener und zerrissener Beter ist wie Hiob.

Wenn das so ist, dann kann Gott auch etwas mit sprunghaften, vom Alltag abgelenkten Betern anfangen. Auch sie können Segen auslösen. Auch sie können von Gott mit einer Aufgabe betraut werden: mit der Aufgabe zu beten.