EIN BISSCHEN CHARME, BITTE!

 

 

SASKIA LOUIS

Impressum

 

Copyright © 2021 by Saskia Louis

Erstausgabe März 2021

Lektorat: Marie Weißdorn

Korrektorat: Klaudia Szabo

 

Coverdesign: Sarah Buhr - www.covermanufaktur.de  

unter Verwendung von Bildmaterial von _fla/ Depositphotos sowie zolotons; iamabduss; MicroOne/ Adobe Stock und white snow/ Shutterstock

 

 

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden.

Handlungen und Personen dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

 

Saskia Louis

Wegemanns Feld 16

45527 Hattingen

saskia.louis@web.de

 

www.saskialouis.com

 

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Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Epilog

Na, schon fertig?

Weitere Bücher der Autorin

Du kriegst von humorvollen Liebesromanen nicht genug?

Kapitel 1

Kapitel 2

 

 

 

 

 

 

 

 

Für alle, die gerne etwas charmanter wären:

Vergesst den Mist einfach und bleibt ihr selbst!

Kapitel 1

 

Ich finde, Lesen ist ein bisschen wie Sex.

Nur besser, weil ich mich auf gleich mehrere Höhepunkte verlassen kann und mich niemand verurteilt, wenn ich nebenbei Schokolade esse.

 

– Skylar, Archivarin und Mitglied des »Bücherliebe«-Clubs Eden Bay.

 

Skylar Walker konnte Füßen nicht allzu viel abgewinnen.

Sie fand sie auch nicht eklig, aber ihrer Meinung nach waren es einfach Körperteile, über die niemand etwas Nennenswertes sagen konnte oder sagen sollte.

Die Füße jedoch, die gerade in ihrem Sichtfeld erschienen, waren um einiges faszinierender als andere Exemplare. Denn sie hingen von dem über ihr liegenden Balkon.

Mit gerunzelter Stirn lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück, legte ihr Buch in den Schoß und musterte die wackelnden, nackten Zehen, die auf die Brüstung ihres eigenen Balkons zielten.

Hm. Das könnte interessant werden.

Eine Weile ruderten die Füße in der Luft und rutschten immer weiter runter, weshalb sie hastig das Weinglas vom Tisch fischte und die Kerzen an den Rand rückte, bevor die fliegenden Körperteile sie umschmeißen konnten. Kurz darauf folgten zwei lange, in Jeans verpackte Beine – doch die waren uninteressant im Vergleich zu dem, was dann kam.

Ein nackter, männlicher Oberkörper erschien auf ihrer Augenhöhe.

Definierte Bauchmuskeln, schöne Brustmuskeln, starke Schultern – allesamt von einer Menge Tattoos bedeckt, die Skylar in der Dunkelheit nicht ganz erkannte. Waren das Bilder, willkürliche Muster oder doch Schriftzüge?

Sie verengte die Augen und unterdrückte den Drang, eine der brennenden Kerzen zu heben und mit ihr den Körper des Überraschungsgastes entlangzuwandern. Daraufhin würden nur unangenehme Fragen folgen, wie: »Warum hast du meine Brusthaare abgefackelt?« oder »Wieso zählst du mein Sixpack?«

In diesem Moment fanden die Füße ihre Balkonbrüstung und keine Sekunde später sprang der Mann vor ihr auf den Boden.

Er war etwas größer als ein Meter achtzig und hatte zu seinem Oberkörper passende, beeindruckend muskulöse Oberarme. Außerdem trug er einen fantastisch konfusen Gesichtsausdruck, der in dem schummrigen Licht nur halb so gut zur Geltung kam, wie Sky es gern hätte. Es war offensichtlich, dass er nicht mit einem Beobachter gerechnet hatte.

Sie lächelte breit, schob ihre Brille höher die Nase hinauf und konzentrierte sich zum ersten Mal nur auf das Gesicht des Mannes. Er hatte kurze, braune Haare, dunkle Augen und einen Fünftagebart, den ihre Mutter als entzückend flegelhaft beschrieben hätte.

Sie rückte eine der Kerzen vor und erkannte erst jetzt, dass doch kein Fremder vor ihr stand. Sie kannte den Mann. Es war Jax Kavanagh.

Sie hatten dieselbe Schule besucht, allerdings war er eine Stufe und sechs Ligen über ihr gewesen. Während sie ihre Zeit in der Bibliothek oder versteckt unter einem knorrigen Baum auf dem Schulhof verbracht hatte, war er einem dummen Ball auf dem Sportfeld hinterhergerannt, hatte mit Cheerleadern im Gang rumgemacht oder dreckige Bilder in seinen Spind gehängt.

Sky ordnete Leute nicht gern in Klischeeschubladen ein, aber … nein, das war eigentlich gelogen. Sie liebte Klischees und Jax war eines. Er war der tätowierte Bad Boy, vor dem die Eltern ihre tugendhaften Töchter warnten.

Der Einzige, der ihm seinen Rang als Schwerenöter Eden Bays hatte ablaufen können, war Jared Sullivan gewesen, doch der war mittlerweile glücklich vergeben – die Klischeeschublade gehörte also Jax Kavanagh ganz allein.

Sie bezweifelte jedoch, dass er dazu fähig war, ihr Gesicht zuzuordnen. Der Stirnfalte nach zu urteilen, die zwischen seinen Augenbrauen entstanden war, überlegte er wohl fieberhaft.

Skylar hob eine Hand, bevor sie »Hey« sagte.

»Hey«, erwiderte er verwirrt und verschränkte die Arme vor der Brust, als könne er sich so bedecken. Das war lächerlich, seine Muskeln waren viel zu … präsent.

»Bist du ein Einbrecher?«, wollte sie freundlich wissen. »Oder hast du den Glauben an Haustüren verloren und gehst nur noch alternative Wege?«

Jax kratzte sich am Kinn. »Ähm, nichts von beidem. Ich war bei deiner Nachbarin und musste … frühzeitig nach Hause.«

»Ah.« Ja, das ergab Sinn. »Du hattest Sex mit ihr und wolltest nicht den Eindruck vermitteln, dass es mehr als ein One-Night-Stand war. Deswegen durftest du auf keinen Fall zusammen mit ihr aufwachen.«

Er zog eine Grimasse, nickte jedoch. »Ja, genau.«

»Heldenhaft«, sagte sie und unterdrückte ein Lächeln. »Aber warum hast du nicht die Haustür genommen?«

»Sie hat uns eingeschlossen und ich hab den Schlüssel nicht gefunden.«

»Aha. Und was ist mit deinem T-Shirt passiert?«

»Das hab ich auch nicht gefunden und da dachte ich, ich lasse es ihr einfach als Souvenir da.«

Skylar nickte verständnisvoll. »Wie überaus sensibel von dir.«

»Ja, fand ich auch. Sie kann es dann für ein paar tausend Dollar auf Ebay verkaufen.« Seine Mundwinkel zuckten. »Ich bin übrigens Jax.« Er streckte die Hand aus.

Skylar seufzte, ignorierte die Hand und schüttelte den Kopf. »Ich weiß, wer du bist. Wir kennen uns, Jax.«

Er runzelte die Stirn und musterte sie argwöhnisch. »Wirklich?«

»Ja«, erwiderte sie trocken und versuchte, sich nicht in ihrem Stolz verletzt zu fühlen. Ihr hätte klar sein müssen, dass er sich nicht an sie erinnerte. Die Jax Kavanaghs dieser Welt merkten sich nur die hübschen Frauen mit den großen Brüsten und dem naiven Lächeln. Genervt schob sie die Brille höher ihre Nase hinauf. »Ich bin drei Jahre mit dir auf eine Schule gegangen. Ich war eine Klasse unter dir.«

Er kratzte sich an der Schläfe und schüttelte den Kopf. »Nee. Kann nicht sein.«

»Doch!«, beharrte sie. »Jetzt arbeitest du bei der Feuerwehr und hast mir vor ein paar Wochen sogar noch zusammen mit Nathan geholfen, meine neue Waschmaschine in mein Auto zu laden.«

»Hm. Bist du sicher, dass ich das war?«

Sie verdrehte die Augen. »Ja!«

Er zuckte die Achseln. »Ich helfe einer Menge Leuten.«

Natürlich. Und er behielt wohl nur die, mit denen er ins Bett sprang. »Kein Problem«, sagte sie dennoch höflich, denn sie mochte Konfrontationen in etwa so gern wie stinkende Turnschuhe. »Ich heiße Sky.« Diesmal war sie es, die die Hand ausstreckte – und diesmal war Jax es, der sie ignorierte.

Sein Gesicht erhellte sich und er ließ die Arme sinken. Offenbar hatte er vergessen, dass er halbnackt war. »Ah, natürlich! Du bist Jonathans Schwester, richtig? Er war während der Highschool der beste Freund meines Bruders Ethan.« Er grinste. »Mann, wie konnte ich die Walker-Geschwister vergessen? Sky Walker und Jonny Walker. Die Kinder der Star Wars- und Whiskey-Fans.«

Skylar seufzte schwer und fragte sich, wie der Typ, der sich gerade wie Tarzan auf ihren Balkon geschwungen hatte, sich nun über sie lustig machen konnte! »Ja, diesen Witz habe ich noch nie gehört«, bemerkte sie tonlos.

Ihre Eltern hatten wirklich einen bewundernswert schamlosen Humor gehabt. Ihr Vater war der Meinung gewesen, dass sie ihren so langweiligen 08/15-Nachnamen mit gut gewählten Vornamen für ihre Kinder besser in Szene setzen sollten. So waren sie und ihr Bruder die Witzfiguren der Schule geworden.

Ihrem älteren Bruder Jon hatte das nie viel ausgemacht, weil er die Statur, das gewinnende Lächeln und die offene Art eines natürlicherweise coolen Jugendlichen besessen hatte. Sie jedoch, mit der Figur eines hübschen Bretts, dem gewinnenden Zahnspangenlächeln eines schicken Maschendrahtzauns und der schüchternen Art einer Vogelscheuche auf Cinderellas Ball, hatte ein paar mehr Schwierigkeiten gehabt. Sie hatte ihre Jugend nur mithilfe ihrer besten Freundin Laura und einer Menge Bücher überstanden.

Über die Jahre hinweg hatte sich ihre Situation deutlich gebessert. Nach der Highschool waren Klugheit und Schlagfertigkeit plötzlich wichtiger als Aussehen, Körbchengröße und athletische Fähigkeiten gewesen. Trotzdem: Es wurmte sie, dass Männer wie Jax, die in der genetischen Lotterie gewonnen hatten, sie nur als Jons Schwester kannten. Als wäre sie es nicht wert, als eigene Person betrachtet zu werden.

»Mann, ich hatte keine Ahnung, dass ihr – du – überhaupt noch hier wohnt«, bemerkte Jax verblüfft. »Ich erinnere mich nicht daran, dich jemals im Sullivan’s gesehen zu haben.«

Das Sullivan’s war Eden Bays einziger Pub und der angesagte Treffpunkt aller Kleinstadtbewohner. Was genau der Grund war, warum Sky ihn die letzten fünf Jahre über gemieden hatte. Im Gegensatz zu Jax kannten sie nämlich doch eine Menge Bewohner. Vor allem die ältere Generation, die noch Eden Bays Bibliothek benutzte, weil sie einen E-Reader für ein überteuertes Schneidebrett hielt.

Also hatte sie den Pub und die Innenstadt gemieden und war öfter in Brentwood unterwegs gewesen, wo Laura noch immer wohnte.

»Ich bin nicht so der Pubgeher«, meinte sie leichthin und winkte ab. »Und Jonathan ist erst seit ein paar Wochen wieder hier. Er ist jetzt aus der Navy raus, also wirst du zumindest ihn wohl öfter sehen.«

»Verstehe.« Jax nickte, auch wenn er sie mit einem skeptischen Blick bedachte. Es war offensichtlich, dass er Leute, die nicht gern in den Pub gingen, merkwürdig fand.

Es wurde Zeit, das Thema zu wechseln. »Wie hast du Cherry überhaupt abgeschleppt?«, wollte sie wissen und nickte zu dem Balkon über ihr. »Sie wurde gerade erst von ihrem Freund verlassen. Sie hasst Männer zurzeit.«

Jax lächelte scheinheilig und kratzte sich verlegen die nackte Brust, die vor Tattoos kaum noch zu erkennen war. Schriftzüge und Bilder, allerdings allesamt schwarz. »Ach, man muss einer Frau nur die richtigen Argumente bieten, um sie von seinem Standpunkt zu überzeugen.«

»Und was ist dein Standpunkt?«

»Dass Sex Spaß macht und man nicht auf ihn verzichten sollte, nur weil manche Männer Arschlöcher sind.«

Sky schnaubte, musste aber lächeln. »Ich nehme an, du bist nicht manche Männer?«

»Nein. Man munkelt, ich wäre etwas Besonderes«, sagte er bescheiden. »Zumindest erzählt mir meine Mutter das immer.«

Sie lachte.

Warum auch nicht? Er war witzig und sie nicht nachtragend.

»Ich bin beeindruckt«, gab sie zu.

»Ja, das sagen die meisten.«

»Nein, die meisten sagen, dass du schon einmal eine Frau mithilfe deiner Katze, einer Packung Tampons und einer Zwangsjacke aufgerissen hast.«

Er legte den Kopf in den Nacken und lachte. Es war ein angenehmes Lachen. Ein ehrliches, lautes und freies Lachen. »Das ist Blödsinn: Es war eine Warnweste, keine Zwangsjacke.«

»Natürlich. Wie dumm von mir, von etwas anderem auszugehen.«

Er kratzte sich im Nacken. »Gott, ich hätte Ava die Geschichte nie erzählen dürfen. War klar, dass sie bald die ganze Stadt kennt.«

»Oh bitte, tu dir keinen Zwang an und erzähl sie ruhig noch einmal«, sagte Skylar unschuldig. »Ich bin neugierig. Ich benutze meine Tampons nur auf die konventionelle Art und Weise – und das scheint die falsche zu sein.«

Er grinste und lehnte sich gegen die Balkonbrüstung. »Ein anderes Mal vielleicht.«

Ach, wem machte er etwas vor? Es würde kein anderes Mal geben. Jax lebte in einem völlig anderen Universum als sie und ihre Pfade würden sich kaum noch mal kreuzen. Es sei denn, er entwickelte plötzlich ein unglaubliches Interesse an Eden Bays Historie.

»Warum bist du noch wach?«, wollte er wissen und warf einen Blick auf seine Uhr. »Es ist kurz nach vier. Menschen, die nicht vom Balkon ihres One-Night-Stands klettern, sollten schon im Bett liegen.«

Sie hob das Buch von ihrem Schoß. »Konnte nicht aufhören, zu lesen.«

»Ah«, machte er, so als verstünde er sie – auch wenn sie fast sicher war, dass er es nicht tat. Jax Kavanagh sah nicht aus wie ein Mann, der sich abends in die Badewanne legte, um ein Buch zu verschlingen. Er sah aus wie ein Mann, der zu einer Frau in die Badewanne stieg, um sie zu verschlingen. Andererseits sollte Skylar ihre Vorurteile vielleicht überdenken. Es war nicht fair, einen Mann nur nach seiner Hülle zu beurteilen. Sie wollte ja auch nicht, dass ein Typ sie ansah und für eine prüde Bibliothekarin hielt – dass sie eine Archivarin war, die seit fünf Jahren keinen Sex mehr gehabt hatte, war zwar ein unglücklicher Zufall, aber dennoch!

Jax neigte den Kopf und starrte auf den Tisch. Zuerst dachte Skylar, er sähe ihre Hände an, doch dann bemerkte sie, dass er den Titel des Buches studierte.

Schließlich grinste er. »Du fängst jetzt an, Sakrileg zu lesen? Das Buch ist seit fast zwanzig Jahren draußen! Und ich hoffe, du hast mit Illuminati begonnen, sonst wird das Ganze noch ein Stückchen peinlicher.«

Sie stöhnte innerlich und hasste ihn in diesem Moment ein wenig. Natürlich. Er las auch! Er hatte den Körper einer blöden Marmorfigur, den Charme von George Clooney und Köpfchen besaß er auch. Kein Wunder, dass er Frauen so leicht die Höschen abschwatzte. Er musste sich wahrscheinlich nicht einmal viel Mühe geben, sie warfen ihm ihre Unterwäsche doch gleich hinterher.

Mann, seine Mutter hatte recht: Er war etwas Besonderes. Ein gut aussehender, intelligenter und witziger Mann, der sogar halbwegs freundlich war! Wobei … davon schien es in Eden Bay verdächtig viele zu geben. Laura war davon überzeugt, dass irgendein Chemielabor den Männern aus Eden Bay etwas ins Wasser mischte.

»Ich hab nur den Film gesehen«, gab sie zerknirscht zu.

Kopfschüttelnd, mit gespielt ernster Miene sah Jax sie an. »Du musst ein furchtbarer Mensch sein, wenn du solch frevlerische Dinge tust.«

Sie hob einen Mundwinkel. »Ich weiß, ich sollte mich schämen. Aber ich hatte keine Zeit, mit Illuminati anzufangen. Ich lese es für meinen Buchclub, der nächstes Wochenende stattfindet.«

»Eden Bay hat einen Buchclub?«, bemerkte er überrascht.

Ja, Eden Bay hatte einen Buchclub – wenn auch erst seit ein paar Wochen. Laura hatte es für eine gute Idee gehalten, einen zu gründen, um Sky langsam wieder in die Gesellschaft zu integrieren. »Du brauchst ein Hobby, Sky!«, hatte sie mit mitleidiger Miene festgestellt, als sie ihre Freundin dabei erwischt hatte, wie sie ihre Wattepads nach der Flauschigkeit sortiert hatte. »Du hattest die letzten fünf Jahre über kein Privatleben, du musst einiges nachholen. Wenn du schon dabei bist, kannst du dir auch ein paar neue Männerbekanntschaften zulegen, die mit dir all die coolen Sachen machen, die du in den letzten fünf Jahren verpasst hast!«

Sie hatte Sky angesehen, als wäre sie ein Alien, das die Sitten und Eigenarten der menschlichen Spezies erst studieren müsste … und wenn sie ehrlich war, fühlte Sky sich manchmal exakt so.

»Klar hat Eden Bay einen Buchclub. Wir haben stolze sechs Mitglieder.«

»Wow. Das ist ja fast eine ganze Baseballmannschaft.«

Sie lächelte breit. »Ich weiß. Die kriegen wir dieses Jahr bestimmt noch zusammen. Nächsten Monat fangen wir hoffentlich mit Shakespeare an – wer kann einem süßen Engländer mit Spitzbart und Halbglatze schon widerstehen?«

»Oh, Gott, Shakespeare?« Jax verzog das Gesicht. »Wessen dumme Idee war das denn?«

»Meine natürlich«, sagte sie fröhlich und legte eine Hand auf die Brust.

»Shakespeare schwafelt!«

»Shakespeare ist der Meister des Wortspiels.«

»Er ist der Meister des Gähnspiels. Man muss sich durch jede Seite quälen!« Er schüttelte den Kopf. »Ich hab dich wirklich nicht für eine Masochistin gehalten.«

»Du hast mich für gar nichts gehalten«, erwiderte sie trocken. »Denn bis vor fünf Minuten wusstest du nicht, wer ich bin und dass ich noch immer existiere.«

Jax seufzte schwer und kreuzte die Hände über dem Herzen. »Ich mag Frauen, die vergeben und vergessen können. Denn sie akzeptieren mich so, wie ich bin, mit all meinen Fehlern und Macken.«

Sie grinste breit. »Ich werde dir schon vergeben, aber das mit dem Vergessen ist eher dein Bereich der Expertise, oder?«

Er lachte leise. »Touché. Tut mir leid, dass ich dich nicht direkt erkannt habe, Sky Walker. Ich verspreche dir, das passiert mir nicht noch einmal, junger Padawan.« Er verbeugte sich mit einer albernen Handbewegung vor ihr – sah jedoch nur lächerlich attraktiv dabei aus, weil er seine Bauchmuskeln anspannte und sein Bizeps im Kerzenlicht schimmerte.

Großer Gott. Sky wandte den Blick ab, damit Jax nicht sah, wie ihr die Röte in den Kopf schoss. »Hinfort mit dir«, sagte sie und wedelte mit der Hand in seine Richtung. »Nicht mehr willkommen du bist, weil dummen Star-Wars-Witz du hast gemacht.«

Sie sah Jax aus den Augenwinkeln grinsen. »Alles klar. Danke, dass ich deinen Balkon benutzen durfte und du mich nicht erschossen hast, sobald du meine Beine in deinem Gesicht hattest.«

»Ach, ich halte nicht viel von Leichen auf meiner Brüstung. Sie stehlen mir das Sonnenlicht.«

»Guter Punkt.« Er lächelte und hob die Hand … bevor er sich über besagte Brüstung schwang und fast zwei Meter in die Tiefe fiel.

Erschrocken stand sie auf – Leichen auf ihrem Rasen gefielen ihr nämlich ebenso wenig –, doch Jax war offenbar auf den Füßen gelandet und lief bereits über das vertrocknete Gras zur Straße, an der ein dunkelgrüner Ford stand.

Skylar schnaubte. Unglaublich. In seinem früheren Leben musste er eine Katze gewesen sein. Eine definitiv nicht kastrierte Katze.

Liebe Güte, wer tat so etwas? Schlief mit einer fremden Frau und stieg nachts von ihrem Balkon, um nicht neben ihr aufwachen zu müssen?

Leute mit einem Privatleben, Sky, antwortete sie sich selbst.

 »Oh, bitte«, murmelte sie. »Ninjas mit einem Privatleben vielleicht.«

Sie leerte ihr Weinglas, blies die Kerzen aus, nahm ihr Buch und trat durch die angelehnte Balkontür zurück ins Wohnzimmer.

Ihr Golden Retriever Newton hob kurz den Kopf von seiner Schlafdecke. Als er bemerkte, dass sie weder eine Bockwurst noch ein neues Kissen oder etwas anderes Essbares in den Händen hielt, ließ er ihn jedoch enttäuscht wieder sinken. Glas und Papier waren selbst ihm zu viel.

Sie schüttelte den Kopf. Was für ein großartiger Wachhund er doch war. Jemand hatte praktisch versucht, über den Balkon in ihre Wohnung einzubrechen, und er war nicht einmal aufgestanden. Newton war einfach zu freundlich. Er würde einem Dieb auch noch ihre Zeitung bringen und dann seine Füße sauberlecken, damit er bloß keine Fußspuren hinterließ.

Sie stellte das Weinglas in die Spüle, legte das Buch auf den Couchtisch und schlenderte in ihr Schlafzimmer.

Sie würde es morgen früh bereuen, dass sie die Zeit vergessen und fast das ganze Buch beendet hatte, doch jetzt gerade machte es ihr nichts.

Ihr gefielen die Ruhe und die Freiheit, die die Nacht mit sich brachte. Tagsüber musste sie arbeiten, dafür sorgen, dass Edna genug trank, mit lauter Menschen telefonieren, andere Aufgaben erledigen und immer erreichbar sein. Doch nachts, wenn alle anderen schliefen, war sie nur für sich selbst verantwortlich. Alle Aufgaben waren erledigt oder konnten warten. Nachts gehörte das, was von ihrem eigenen Leben noch übrig war, ihr.

Ach, wie melancholisch. Kein Wunder, dass sie Shakespeares Tragödien so mochte.

Seufzend zog sie sich um, warf dem Bild auf ihrem Nachttisch eine Kusshand zu und legte sich ins Bett.

Als sie die Augen schloss, tauchte sofort Jax‘ nackter und mit Tattoos übersäter Oberkörper in ihren Gedanken auf.

Sie lächelte. Jaja, sie sollte Jax nicht objektifizieren – aber er hätte auch nicht halbnackt auf ihren Balkon springen sollen.

Es gab also gar keinen Grund, sich schuldig zu fühlen …

Kapitel 2

 

Ich lese gern. Buchstaben. Worte. Einfach toll!

Besonders gefallen mir aber die Bilder.

 

– Ethan, Feuerwehrmann, aus gutem Grund kein Mitglied des »Bücherliebe«-Clubs Eden Bay.

 

»Wo warst du gestern?«, wollte Harper ungläubig wissen und schlug Jax zur Begrüßung mit der Faust auf die Schulter. »Wir haben beim Pokern auf dich gewartet.«

Ah, Shit. Er war so übermüdet von seiner schlaflosen Nacht als Fassadenkletterer gewesen, dass er gestern vollkommen vergessen hatte, abzusagen.

»Wie wäre es, wenn du deinen Lieblingsbruder erst einmal freundlich begrüßt, bevor du ihm Vorwürfe machst?«, schlug Jax vor, schüttelte sich den Sommerregen aus den Haaren und trat in das Haus, in dem er die ersten zwanzig Jahre seines Lebens verbracht hatte.

»Oh, bitte. Rick ist mein Lieblingsbruder. Er hat bereits drei wundervolle Kinder produziert und hält Mom somit davon ab, mich jeden Tag danach zu fragen, wann es denn bei Adam und mir so weit ist. Abgesehen davon verstehe ich das Konzept von freundlich nicht.« Harper verengte die Augen. »Es bringt mich nicht an mein Ziel.«

»Und ich dachte, deine Beziehung zu Adam hat dich weicher gemacht«, bemerkte er gespielt enttäuscht und zog sich die Schuhe aus. Wenn er Schlamm auf dem sauberen Fußboden seiner Mutter hinterließ, würde er heute einen Kopf kürzer nach Hause gehen.

»Da hast du dich verhört. Sie hat mich reicher, nicht weicher gemacht. Das ist ein Unterschied. Könntest du mir jetzt endlich sagen, wo du gestern Abend warst? Wir mussten zu viert pokern.«

Warum waren eigentlich alle Leute in seinem Leben … nein, alle Leute in Eden Bay so furchtbar neugierig? Konnte ein Mann nicht ein paar Geheimnisse für sich behalten und von seinem Recht Gebrauch machen, ein Mysterium zu sein?

Er runzelte die Stirn und tippte sich langsam mit dem Zeigefinger ans Kinn. »Poker? Gestern wollten wir Poker spielen? Tut mir leid, muss ich vergessen haben. War beschäftigt damit, eine Jungfrau vor einem Opferungsritual zu retten.«

Harper schnaubte und schloss die Tür hinter ihm. »Alles klar, du hast eine Frau aufgerissen und uns vergessen.«

»Hab ich doch gesagt«, meinte er zufrieden. »Die Jungfrau war nach dem Vorfall eben sehr dankbar.«

»Du widerst mich an, Jax«, sagte Harper sachlich, nickte ihm mit zusammengepressten Lippen zu und verschwand im Wohnzimmer.

Jax‘ Mundwinkel zuckten, während er auch noch die Jacke auszog. Ihm war es lieber, dass Harper ihn zwanzig Minuten lang keines Blickes würdigte, als dass sie die Wahrheit kannte. Denn die Wahrheit benötigte Fingerspitzengefühl, einen Plan – und eine Menge Zeit.

»Du hast gestern Abend keine Frau aufgerissen.«

Erschrocken zuckte Jax zusammen und stieß sich den Ellenbogen an der Wand. Fluchend richtete er sich auf und rieb über die schmerzende Stelle. Neben der Tür zum Wohnzimmer, aus dem bereits unheilvolles Kinderjauchzen und die hektische Stimme seiner Mutter drangen, lehnte Ethan.

Sein älterer Bruder hatte die Arme verschränkt und die Augen verengt. Eine Menge Frauen hätten jetzt wohl gesagt, dass er mit diesem Blick und seinem zu langen Bart aussah wie ein sexy, grüblerischer Einsiedler. Zumindest hatte er das mal an der Bar im Sullivan’s überhört. Jax fand, er ähnelte eher einem kurzsichtigen Affen.

»Wovon redest du?«, wollte er wissen und hob die Augenbrauen.

»Na, von gestern Abend. Dem Abend, an dem du keine Frau aufgerissen hast. Davor die Nacht, ja, aber gestern … gestern warst du um halb elf zu Hause.«
Das hatte er davon, mit seinem älteren Bruder in einem Haus zu wohnen.

»Was?«, stellte er sich dumm.

»Um halb elf lagst du im Bett, Jax.«

»Was?«

Ethan schnaubte – wahrscheinlich, weil er es war, der die Was-Taktik erfunden hatte, als seine Mutter hatte wissen wollen, warum sie ein Kondom im Mülleimer des damals Sechzehnjährigen gefunden hatte.

»Du hast Harper angelogen.«

»Nein«, log er. »Alter, du bist paranoid. Kann man nicht auch vor halb elf mit einer Frau schlafen?«

»Doch, aber ich war den ganzen Abend im Pub – und du warst es nicht. Und es gibt einfach keinen anderen Ort in Eden Bay, an dem man eine Frau aufgabeln kann.«

Jax hob eine Schulter. »Du vielleicht nicht, weil sie betrunken sein muss, um dir einen zweiten Blick zu schenken. Ich hingegen agiere in einer anderen Liga, Brüderchen.« Er klopfte Ethan auf die Schulter und schob sich dann an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Dort war er vor dämlichen Fragen wie: Warum lügst du? in Sicherheit.

Die Vorbereitungen zum Affenessen … ähm, Abendessen waren bereits im vollen Gang, was in etwa bedeutete, dass der ganze Raum nur noch aus Töpfen, Tellern, kichernden Kindern und schwenkenden Gliedmaßen zu bestehen schien. Normalerweise genoss Jax das Chaos seiner Familie, doch er schlug sich schon den ganzen Tag mit Kopfschmerzen herum und das Geschrei von Toby und Tessa – seinem Neffen und seiner Nichte – erreichte eine Frequenz, die Delfine sehr unglücklich gemacht hätte.

Dennoch begrüßte er seine Mutter mit einem Kuss auf die Wange, hob für den Rest der Anwesenden die Hand und fragte, was er noch tun konnte.

Denn wenn er all das nicht getan hätte, hätten sie ihn gefragt, was los mit ihm war. Er hätte von seinen Kopfschmerzen berichtet. Sie hätten wissen wollen, warum er Kopfschmerzen hatte. Er hätte wieder von der Jungfrau und dem Opferungsritual erzählt. Seine Mutter hätte ihm mit einem Holzlöffel gegen die Schläfe geschlagen und seine Kopfschmerzen wären schlimmer geworden.

Es war also besser, wenn er sich weiterhin unauffällig verhielt.

Fünf Minuten, zwei Ellenbogenstöße von Harper und drei nachdenkliche Blicke von Ethan später saßen sie alle zusammen im Wohnzimmer. Mittlerweile war es ziemlich eng bei den Familienabendessen.

Harper war seit einiger Zeit mit Adam zusammen. Ava, ihr adoptiertes Familienmitglied, hatte Wyatt und seine Tochter Riley mitgebracht. Sein ältester Bruder Rick war mit seiner Frau Sharon und seinen drei Kindern hier und dann gab es ja noch ihre Eltern, den kurzsichtigen Affen Ethan und Jax selbst.

Nur Benji, der jüngste Kavanagh-Bruder, fehlte heute. Er war in Boston, bei dem Aufnahmetest der Polizeiakademie, an der er ab Herbst ausgebildet werden wollte. Nichtsdestotrotz: Zehn Erwachsene, einen Teenager, zwei Kinder und ein Baby um einen einzigen Tisch herumzubekommen, hatte sich als unmöglich herausgestellt. Somit hatte seine Mutter entschieden, dass in der Küche ein Zusatztisch für die Kinder und zwei Aufsichtspersonen aufgestellt wurde. Den Kindern erzählten sie natürlich, dass sie sich jede Woche darum stritten, wer bei ihnen am Tisch sitzen durfte – die harte Realität war jedoch, dass es einfacher war, Tessa und Toby dazu zu überreden, ihr Lieblingskuscheltier abzugeben, als ihnen etwas Grünes schmackhaft zu machen. Es war einfach eine undankbare Aufgabe, sie von der magischen Kraft des Gemüses zu überzeugen, weshalb ein Hut, in dem Sharon und Rick die Namen aller sammelten, und der Zufall die zwei glücklichen Aufsichtspersonen bestimmten.

Jax vermutete stark, dass die beiden Eltern keine eigenen Zettel mit hineingaben. Zumindest waren weder Rick noch seine Frau innerhalb der letzten sechs Wochen gezogen worden. Jax hingegen hatte sich schon dreimal vom Baby bespucken und von Tessa mit Brokkoli bewerfen lassen.

Heute jedoch hatte er Glück.

Die Losfee hatte Wyatt und Riley zu Gemüseschutzheiligen bestimmt.

»Das ist unfair«, murrte Riley. »Ich bin doch fast selbst noch ein Kind!«

»Ach ja? Heute Morgen hast du mir erzählt, dass du eigentlich schon Auto fahren dürfen solltest, weil Erwachsensein doch eher ein Gefühl als eine Zahl wäre«, erwiderte Wyatt interessiert und schob sie an den Schultern durch die Küchentür.

»Na ja, ich kann ja nicht immer recht haben, oder?«, hörte Jax sie noch missmutig sagen, bevor die Tür hinter ihr zufiel.

Jax lächelte müde und schloss kurz die Augen, um sich zu entspannen.

Er wusste nicht, wie lang er die Scharade noch aufrechterhalten konnte. Das letzte Jahr war die Hölle gewesen. Die ganzen Superhelden im Fernsehen ließen ein Doppelleben so einfach aussehen. Doch sie wurden ja auch meistens mit einer Menge Geld oder ihrer Traumfrau belohnt. Er hingegen hatte keine Freizeit mehr, schlief nur noch fünf Stunden die Nacht und war damit beschäftigt, sich eine Ausrede nach der anderen auszudenken. Das war verdammt anstrengend und nervenaufreibend. Und je länger er sein Geheimnis für sich behielt, desto schlimmer würde es werden! Er hätte gar nicht erst damit anfangen dürfen. Er hätte schon vor drei Jahren über seinen Schatten springen und seiner Familie die Wahrheit sagen sollen … doch er war zu verdammt unsicher und feige gewesen. So wie noch heute.

»… wir treffen uns bei Sky, falls du doch noch dazustoßen willst, kann ich dir gern die Adresse geben«, wehte in diesem Moment von seiner Rechten eine andere Stimme an sein Ohr.

Jax‘ Kopf schnellte in die Höhe und abrupt wandte er sich zu Ava, die gesprochen hatte. »Redet ihr über Skylar Walker?«, wollte er wissen.

Ava nickte.

»Du kennst sie?«, fragte er, auch wenn er sich im selben Moment gern auf die Zunge gebissen hätte. Was für eine dumme Frage. Ava kannte nicht nur den Namen jedes einzelnen Bewohners dieser Stadt, sondern auch seine Blutgruppe.

»Natürlich kenne ich sie«, sagte sie verblüfft. »Du kennst sie auch.«

Ja, darauf war er vorgestern schon sehr deutlich aufmerksam gemacht worden. »Klar. Wir sind mit ihr zur Schule gegangen, sie war eine Klasse unter mir«, sagte er leichthin und räusperte sich. »Ich wusste nur nicht, dass sie noch immer in Eden Bay wohnt.«

Ehrlich gesagt hatte es ihn ein wenig gewurmt, dass er sich vorgestern so zum Deppen gemacht hatte. Er schuldete es der Frau, deren Balkon ihn vor einem sehr unangenehmen Gespräch am Morgen bewahrt hatte, sich zumindest an sie zu erinnern!

Doch Sky war immer eher eine graue Maus gewesen, die ihr Gesicht hinter einem Buch versteckt hatte. Er war nicht stolz darauf, aber das wusste er auch nur, weil sich ein paar Jungs zu seiner Schulzeit darüber lustig gemacht hatten.

Sky hatte aufgrund seiner dummen Fragerei verletzt ausgesehen und er machte es sich nicht zur Gewohnheit, Frauen zu verletzen. Deswegen schlief er ja auch nur eine Nacht mit ihnen und sah sie dann nie wieder.

»Was macht sie denn beruflich?«, hakte er weiter nach. Es erschien ihm nur fair, Ava über sie auszufragen. Sky hatte schließlich auch gewusst, dass er bei der Feuerwehr arbeitete – während er nur wusste, dass sie eine Brille brauchte und süß aussah, wenn sie mit unschuldiger Miene und Snoopy-Pyjama auf ihrem Balkon stand.

»Sie ist Archivarin und Bibliothekarin.«

Er runzelte die Stirn. »Wo?«

Ava verdrehte die Augen. »In Eden Bay, Jax! Wo sonst?«

»Wir haben ein Archiv? Und eine Bibliothek?« Das war ihm neu. Da lebte man dreißig Jahre in einer Stadt und hatte doch keine Ahnung von ihrem kulturellen Angebot.

»Jax, nur weil du mit Büchern nur Mücken erschlägst, gilt das nicht für die gesamte Stadt«, warf Rick ein.

Jax presste die Lippen aufeinander. Er las Bücher. Eine Menge sogar. Dass er sich seit der Schule ein paar Schritte weiterentwickelt hatte, war von den meisten Familienmitgliedern bisher unbemerkt geblieben.

»Ich hab mich nur gewundert, weil ich sie in den letzten Jahren nie bewusst in der Stadt gesehen habe«, bemerkte Jax nüchtern und ignorierte seinen Bruder. »Das ist alles.«

»Oh, sie war sehr eingespannt in eine Familienangelegenheit«, meinte Ava und hob die Schultern. »Deswegen wundert mich das überhaupt nicht.«

Er hob die Augenbrauen, öffnete bereits den Mund … und schloss ihn dann wieder. Er war viel zu interessiert an einer Frau, von der er gerade behauptet hatte, dass er sie kaum bis gar nicht kannte.

Wenn er nach diesen Familienangelegenheiten fragte, würde er viel zu begierig und auffällig wirken. Ava würde nachhaken, warum er das überhaupt wissen wollte und er würde ihr beichten müssen, dass er halbnackt auf ihren Balkon gesprungen war. Erfahrungsgemäß kamen solche One-Night-Stand-Geschichten bei der größten Romantikerin der Stadt eher schlecht an.

»Was interessiert dich das überhaupt?«, fragte Harper in diesem Moment prompt und reichte die Kartoffeln weiter an Ava.

Shit. Aber was war schon eine weitere Lüge? »Ach, tut es gar nicht«, meinte er vage. »Ich bin ihr nur letztens über den Weg gelaufen und wir haben kurz miteinander gequatscht.«

»Wehe, du schläfst mit ihr!«, sagte Ava alarmiert und sah ihn mit großen, warnenden Augen an. Da sie mit diesem Blick aussah wie eine bekiffte Disneyprinzessin, imponierte das Jax allerdings kein bisschen.

Er schnaubte nur und nahm ihr die Kartoffeln ab. »Ich habe mit ihr geredet, Ava. Keinen Striptease vor ihr hingelegt.«

»Aber sie ist süß und intelligent – also genau dein Typ.«

»Intelligent ist Jax‘ Typ?«, wollte Ethan stirnrunzelnd wissen. »Intelligent im Vergleich zu was? Einem Laib Toastbrot?«

Jax zeigte Ethan den Mittelfinger.

»Jax!«, rief seine Mutter sofort wütend. »Nicht am Esstisch.«

»Schön«, sagte er trocken. »Ethan, kommst du kurz mit raus? Ich muss dir was zeigen.«

Ethan grinste und Ava langte über den Tisch, um ihm verärgert auf die Schulter zu schlagen. »Jax steht auf intelligent! Er würde es nur nicht zugeben, weil es ihm peinlich ist. Deswegen schläft er mit all diesen nichtssagenden Frauen! Aber er ist emotional und intellektuell viel reifer, als ihr es ihm alle zugesteht. Er wünscht sich genauso sehr eine Familie, mehr Verantwortung und mehr Respekt wie jeder andere!«

Ach, so eine Scheiße. Da war man ein einziges Mal unvorsichtig und zeigte Ava, dass man sensibel und einfühlsam sein konnte, wenn man nur wollte – und sie posaunte das direkt herum! Dabei hatte er sie ausdrücklich darum gebeten, es für sich zu behalten. Obwohl sie natürlich vollkommen recht hatte und er sich tatsächlich wünschte, dass seine Familie vergaß, dass er den Großteil seines Lebens ein Schwachkopf gewesen war.

Verdutzt hob ebendiese Familie gesammelt die Augenbrauen und wandte sich erwartungsvoll zu ihm um.

Okay, es wurde Zeit, dieses Gespräch zu beenden. »Was ich mir zurzeit wünsche, ist der Brokkoli. Kann mir den mal jemand geben?«

Harper tat ihm den Gefallen und hatte den Anstand, ihm einen entschuldigenden Blick zu schenken. Doch die erwartungsvolle Stille hielt weiter an.

Er sah Ava wütend an. »Danke für nichts«, knurrte er.

Sie lächelte nur und bedachte ihn mit ihrem hübschesten Augenaufschlag.

»Ist doch auch egal«, sagte Harper laut. »Das ist Jax‘ Sache. Wo ist das Fleisch?«

Jap, Harper mochte er aus seiner Familie noch immer am liebsten. Egal, ob sie gerade wütend auf ihn war oder nicht – sie beschützten einander vor jeglicher Gefahr.

Aber manche Gefahren waren einfach zu bedrohlich, um gegen sie anzukämpfen.

Irene Kavanagh setzte sich aufrechter hin und sah ihren Sohn ernst an. »Jax, ist das wahr?«, fragte sie laut. »Schläfst du mit zu vielen Frauen?«

»Nein!«, sagte er, während Ava, Harper, Rick und Ethan zeitgleich mit »Ja« antworteten.

Ungläubig sah Jax zu Ethan.

»Na, was denn?«, meinte der unschuldig. »Ich bin es leid, deinen Eroberungen morgens Rührei zu machen und ihnen sanft beizubringen, dass du zur Arbeit gegangen bist und wohl erst zurückkommen wirst, wenn sie weg sind.«

»Ich finde, es gibt nicht zu viel oder zu wenig Sex«, bemerkte Adam und hob die Schultern. »Es sind doch auch nur Zahlen. Zahlen sollten nicht so eine Macht über unser Leben haben.«

Harper sah ihn düster an. »Oh, ich kann dir gern die nächsten Monate lang zeigen, was zu wenig bedeutet.«

»Jax! Bist du unglücklich?« Besorgt sah seine Mom ihn an, die Hand auf der Brust. »Geht es dir nicht gut und du musst deine Stimmung mit bedeutungslosem Beischlaf heben?«

»Oh Gott«, stöhnte er und legte den Kopf in den Nacken, beide Hände auf die Augen gepresst. »Wo ist Benji? Wenn er hier wäre, könnte Dad sich darüber aufregen, dass er zur Polizei und nicht zur Feuerwehr will.«

»Polizei«, murmelte sein Vater wie auf Kommando griesgrämig. »Die Hampelmänner in Blau, die mit Waffen spielen und nicht mehr bereit sind, sich die Hände schmutzig zu machen! Ich sag euch, die Polizei ist nichts weiter als der moderne Hipster-Neandertaler.«

Jax unterdrückte ein Lächeln. Wer hätte ahnen sollen, dass sein Dad das Wort Hipster kannte? »Das ist doch ein Gespräch, das wir alle führen wollen!«, sagte er laut. »Erzähl uns mehr, Dad.«

»Da gibt es nicht mehr!«, sagte er mit düsterer Miene. »Feuerwehrmann zu sein, ist ein ehrbarer Beruf! Die Kavanagh-Männer und -Frauen …« Er nickte Harper stolz zu. »… sind für ihn geboren! Rick, Ethan, Harper und Jax machen mich jeden Tag aufs Neue stolz. Es ist eine Schande, dass Benji nicht denselben Weg einschlagen will!«

Jax‘ Kopfschmerzen wurden sofort schlimmer und er rieb sich den Nacken. Er war es gewesen, der dieses Thema angestoßen hatte. Jetzt durfte er sich auch nicht darüber beschweren, was sein Vater dazu zu sagen hatte.

Er wusste das alles ja ohnehin schon. Feuerwehrmann zu sein, war in den Augen seines Vaters das einzig Richtige! Was sein Leben zurzeit wirklich nicht leichter machte.

»Na ja, wenigstens muss man bei der Polizei noch Mut beweisen«, lenkte sein Vater überraschend ein. »Das ist teilweise ehrenwert.«

Jax stöhnte innerlich. Na klasse.

»Jax, du lenkst vom Thema ab«, rügte seine Mutter ihn. »Du hast mir nicht geantwortet: Bist du unglücklich?«

»Nein!«, sagte er sofort genervt … auch wenn er sich im Stillen dachte, dass er vielleicht ein wenig unglücklich war. Aber nur ein kleines bisschen.

Die Sache war die: Er hatte zurzeit das Gefühl, nicht vorwärts zu kommen und stattdessen rückwärts zu gehen. Er war einfach zu spät dran! Er war dreißig Jahre alt, wohnte wieder mit seinem Bruder zusammen, erkannte zu viele Frauen an ihrer Unterwäsche und hing viel zu oft in Bars herum.

Rick hingegen war seit Äonen verheiratet und hatte bereits drei Kinder. Harper hatte ihren Internet-Heini und würde bald ihre eigene Search and Rescue-Einheit leiten. Benji verfolgte seinen Traum, Polizist zu werden. Ethan ... nun, Ethan war noch unglücklicher als er, auch wenn er das nicht zugeben würde. Aber immerhin hatte er sich das Haus seiner Träume gekauft – das Jax ihm gerade mitfinanzierte.

Und er? Er mochte sein Leben zurzeit nicht wirklich. Sein Job langweilte ihn und was die Frauen anging … Es machte ihn zum Arschloch, aber sie waren tatsächlich eine Ablenkung.

Doch das störte ihn nicht einmal wirklich. Er wollte nicht heiraten – denn dazu müsste er sich verlieben und mit dem Thema hatte er schon vor langer Zeit abgeschlossen. Sich einmal wie ein vollkommen abhängiger Vollidiot zu fühlen, hatte ihm gereicht. Das würde einfach nicht noch einmal passieren. Aber er wollte trotzdem … mehr. Irgendetwas, was ihn morgens voller Energie aufstehen ließ.
Aber er hatte es zu spät gemerkt!

Er versuchte zwar, etwas zu ändern … aber was, wenn er schlichtweg zu alt dafür war, neu anzufangen?

»Okay, lassen wir ihn in Ruhe«, meldete sich Ava auf ein Neues zu Wort. »Nur noch eine letzte Sache.« Sie fixierte ihn mit ernstem Blick. »Ich möchte Skylar zu meiner neuen Freundin machen, also lass einfach die Finger von ihr.«

»Hast du nicht schon genug Freunde?«, bemerkte er zweifelnd. Ava kannte mittlerweile so viele Leute, die ihr beim Umzug helfen würden, dass sie mit geballter Kraft ein ganzes Haus anheben könnten.

»Man kann nie genug Freunde haben«, belehrte sie ihn mit erhobenem Finger. »Wir beide besuchen denselben Buchclub. Ich möchte nicht, dass sie aussteigt, weil ich sie an den Dummbatz erinnere, der mit ihr geschlafen und sie dann nie wieder angerufen hat.«

»Jaja«, sagte er und winkte ab. »Alles klar.«

Ava machte sich völlig unnötig Sorgen. Eine Frau wie Skylar würde nie auf die Idee kommen, mit ihm ins Bett zu springen. Sie war vollkommen außerhalb seiner Liga. Sie war klug, witzig, selbstständig, emotional stabil, hübsch und keine Idiotin. Sie war die Art von Traumfrau, die mit einem gut aussehenden, erfolgreichen Arzt zusammenkommen würde. Nicht mit dem tätowierten Dummkopf, der vergessen hatte, wer sie war. Jax war eine schlechte emotionale Investition, die eine intelligente Frau wie Sky nie tätigen würde.

Und er konnte es ihr nicht einmal übelnehmen.