Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2021 Ben Schwarzer

Illustrationen: Ksenia Sizyakova

Satz, Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7534-9279-7

Inhalt

Die Schubkarre

Die Erinnerungen von Ben, eigentlich Benjamin, aber niemand nannte ihn so, beginnen mit circa vier Jahren.

Er war schon immer ein recht aufgewecktes Kind. Mit dem Stillsitzen hatte er es nicht so. Und er fand viele Dinge interessant, die die Erwachsenen vormachten.

Sein Vater hat stets viel gewerkelt, gebaut und im Garten gearbeitet. Und Ben wollte überall mitmachen. So ergab es sich, dass er eine Kinderschubkarre aus Metall bekam. Sie hatte weiße Holme und eine rote Wanne. Es gab Zeiten, da ging ohne dieses Gefährt gar nichts. Ben belud das Ding mit allem, was es gab. Da die Karre aber nicht allen Gewichten und Unwägbarkeiten gewachsen war, riss irgendwann eine Verbindung zwischen Holm und Wanne.

Was nun tun? Es gab großes Theater, denn er war darüber sehr traurig. Sein Vater war auf Arbeit und konnte nicht helfen und seine Mutter meinte, Ben solle warten, bis der Papa heimkäme.

Das wollte er aber nicht, also ab zu Opa. Der wohnte zwei Häuser weiter und musste einfach sein Retter sein.

Aber Opa dachte gar nicht daran.

Frust machte sich in ihm breit, und sein Opa sank in seiner Beliebtheitsskala ziemlich tief. Doch dann gab ihm Opa einen guten Rat: „Geh doch mal hoch zur MTS und lass sie dort schweißen.“

Ein guter Tipp – ein sehr guter sogar. Natürlich kannte Ben die MTS, die Maschinen – und Traktorenstation, schließlich war sein Vater, lange bevor Ben auf der Welt war, dort mal so etwas wie der Chef gewesen und viele Bekannte arbeiteten dort.

Allerdings war er sich als Vierjähriger völlig im Klaren darüber, dass er ganz einfach Schiss hatte. Trotzdem musste die Karre repariert werden. Also Augen zu und durch.

So fasste sich Ben ein Herz und stiefelte mit seinem kaputten Spielzeug los. Etwas verängstigt auf dem Reparaturhof angekommen, sah er auch gleich ein paar gute Bekannte, einige dort arbeitende Dorfbewohner, etliche Treckerfahrer und auch Erntekapitäne. Er traute sich aber nicht, sie anzusprechen.

Irgendwann, er war schon kurz vorm Heulen, kam Uli auf ihn zu und fragte, was er denn hier mache. Ben klärte ihn auf:

„Meine Karre ist kaputt, Papa ist arbeiten, und Opa hat gesagt, ich soll mal hierher gehen, irgendeiner wird mir schon helfen können.“ Nachbarschaftshilfe, dachte Ben schon damals, wird schon gut gehen … Gerade jetzt, wo der Uli ihn gesehen und angesprochen hat. Ja denkste, der musste erst den Chef fragen.

Und der machte erst einmal eine Wissenschaft aus einer zwei Zentimeter langen Schweißnaht. Mann, war das ein Theater. So ein Knallkopp dachte Ben, als ob seinen Kindern noch nie etwas kaputt gegangen ist. Ben schwor sich ganz fest, alles seinem Vater zu erzählen!

Letztlich hat sich Uli durchgesetzt, Ben durfte beim Schweißen, natürlich mit Schutzbrille, zuschauen und war glücklich.

Auf dem Weg zurück zu Opa war er so stolz, dass er sich zwanzig Zentimeter größer fühlte. Und als sein Papa von der Arbeit kam und ihm Opa von der Sache erzählte – denn Opa war das Sprachorgan in ihrem 100-Seelendorf –, war auch er ganz stolz auf seinen Sohnemann und lobte ihn für seinen Mut.

Als ein Holm an der Karre einige Zeit später wieder einmal abriss, ging Ben gleich zu Uli mit einem Selbstbewusstsein, als wollte er die Schweißung selbst ausführen.

Im Übrigen hat die Karre noch viele Jahrzehnte gehalten. Sogar die Kinder der nachfolgenden Generationen haben damit noch gespielt.

Ein Riesensandkasten

Der beste Freund der DDR war die Sowjetunion. Warum das so war, hat sich Ben nie wirklich erschlossen – für ihn war das auch nicht so wichtig.

Im Nachbardorf war eine Kompanie der sowjetischen Streitkräfte stationiert. Diese meist sehr jungen Soldaten bekam man so gut wie nie zu sehen, es sei denn, sie mussten marschieren üben oder sonst irgendwelche Fußmärsche machen. Dann kamen sie schon mal in den umliegenden Orten vorbei.

Eines Tages aber fingen sie an, an ihrem Berg einen Schießplatz zu bauen.

Dazu waren mehrere Bauabschnitte notwendig, die die Kinder sehr genau unter die Lupe nahmen.

Zuerst wurde ein weitläufiger und sehr langer Schützengraben rund um den Platz ausgehoben, mit Maschinen, wie sie die Erwachsenen und erst recht die Kinder noch nie gesehen hatten. Als zweiten Schritt schoben die Raupen der Soldaten eine gerade Fläche frei, ähnlich einem Fußballfeld, nur dass jeweils seitlich ein rund fünf Meter hoher Wall errichtet wurde, mit dem Sand aus der Mitte. Auf der einen schmalen, langen Seite war „unser Berg“ – so nannten ihn die Kinder – und diente als „Fangschutz“. Auf der anderen Seite war das Feld offen.

Nachdem die Schieberaupen Feierabend hatten, wurde von den Kindern der Baufortschritt begutachtet. Damit verbunden war ein Test des an den Seiten des Areals aufgetürmten herrlichen, weißen Sandes. Es war wie an einem Strand. Manchmal waren die Kinder so quirlig, dass der Raupenfahrer am nächsten Tag alles noch einmal hochschieben musste.

Das Terrain war in diesem Sommer die bevorzugte Spielwiese.

Aber es kam, wie es kommen musste. Die Eltern ermahnten ihren Nachwuchs stets und ständig, nicht dort hinzugehen, es sei gefährlich, sie könnten geschnappt, die Eltern sogar in Haftung genommen werden. Denn es war Sperrgebiet, wenn auch ohne Stacheldrahtzaun und ohne Wachen. Aber was interessierte das Ben und seine Freunde?

Alle Drohungen und Ermahnungen der Erziehungsberechtigten halfen nichts. Sie ließen von ihrem Spielplatz nicht ab.

Kurz vor Beendigung der Baumaßnahmen hatten Bens Eltern eine Idee, die er ihnen niemals zugetraut hätte. Sie zogen sich lockere Kleidung an und sagten zu ihm und seiner Schwester:

„Kommt, wir gehen spazieren“. Das war jetzt nichts Neues. Aber sie gingen zu viert zielstrebig zum Schießplatz, ließen sich in den weichen, weißen Sand fallen und erlaubten den beiden, so viel zu toben, wie sie wollten. Im ersten Augenblick wussten sie gar nicht, wie ihnen geschieht. Das hätten die beiden Kinder nie von ihren Eltern gedacht – echt cool. Würde man heute sagen.

Nachdem Ben und seine Schwester lange wild und frei herumgetollt hatten, bis fast der aufgehäufte Sand wieder abgetragen war, wurden sie langsam müde und traten den Rückweg an. Beide waren über so viel Coolness, ihrer Eltern immer noch überrascht. Ben hat sich ungefähr tausend Mal für den gemeinsamen Ausflug bedankt, der für ihn wie Weihnachten, Ostern und Geburtstag zusammen war.

Nach dem anschließenden Duschen fiel er ins Bett und schlief ein, bevor das zweite Bein unter der Decke war.

Die Pointe dieser Geschichte: Seit diesem unvergesslichen Nachmittag mit seiner Schwester und seinen Eltern gingen sie nie wieder auf den Schießplatz, um dort umher zu toben. Seine Eltern hatten erreicht, was sie wollten.

Ostern

Ostern ist wie fast wie Weihnachten, nur ohne Schnee, dafür mit versteckten Geschenken. Außerdem gibt es keinen Entenbraten, sondern gefärbte Eier, und es kommt auch kein älterer Herr mit weißem Bart, sondern ein imaginäres schnell laufendes Säugetier mit langen Ohren.

Trotzdem fand Ben Ostern immer ganz angenehm. Er verband damit immer die Auferstehung zum Spielen in der freien Natur.

Das war nach den langen Wintermonaten und den kurzen Sonnenstunden eine echte Wohltat.

An einen seiner ersten Osterfeiertage erinnerte er sich besonders gern. Auch wenn der ursprüngliche Anlass nicht so erfreulich war. Denn seine zwei Jahre jüngere Schwester war erkrankt und seine Mutter übernahm die Krankenversorgung.

Sein Vater und er dagegen waren fit und wollten oder sollten sich nicht anstecken. Außerdem war wunderschönes Frühlingswetter. Vater und Sohn wollten raus und die Natur genießen. Damals gab es nicht so viele Geschenke, wie das heute der Fall ist, neben den gefärbten Eiern noch ein paar Süßigkeiten und das wars. Das reichte aber auch völlig aus, denn das Suchen und Verstecken war ein richtig aufregendes Erlebnis, das viel Spaß brachte. An diesem besagten Osterfest kam es für den kleinen Ben sogar noch besser.

Da das Wetter sehr angenehm war, nahm Bens Vater seinen Sohn am Nachmittag an die Hand, und sie gingen spazieren.