Quaeris quare te fuga ista non adiuvet? Tecum fugis.
Warum Flucht nichts hilft? Weil Du Dich mitnimmst.
Seneca
Psychologische Grundmuster und Diagnosen
Test auf abhängige Verhaltensmuster
Test auf emotional-instabile Verhaltensmuster
Test auf depressive Verhaltensmuster
Test auf dissoziale Verhaltensmuster
Test auf histrionische Verhaltensmuster
Test aus narzisstische Verhaltensmuster
Test auf paranoide Verhaltensmuster
Test auf schizoide Verhaltensmuster
Test auf ängstlich-vermeidende Verhaltensmuster
Test auf zwanghafte Verhaltensmuster
Test auf ADHS-Merkmale
Test auf Alkoholgefährdung
Test auf autistische Verhaltensmuster
Test auf Burnout-Syndrom
Test auf Helfersyndrom
Test auf Soziale Phobie
Wie selbstbewusst sind Sie?
Literaturangaben
Band 5 schließt die Reihe Seele und Gesundheit ab. Thematisch befasst er sich mit den Heilmethoden seelischer Erkrankungen. Außerdem stellt er psychologische Tests zur Verfügung mit deren Hilfe man grundlegende psychologische Strukturen und Probleme erkennen kann.
Heilmethoden und Tests in einem Band zusammenzufügen, macht Sinn. Zunächst mag man meinen, dass Tests diagnostische Methoden, aber keine Heilmittel sind. Das ist jedoch nur eine Seite der Medaille, denn die Erkenntnis des Problems und das Verständnis der innerseelischen Zusammenhänge, die zu ihm führen, gehören in Psychiatrie und Psychotherapie zu den wichtigsten Bausteinen der Heilung. Daher kann die Durchführung psychologischer Tests durch den Betroffenen zu Recht bereits als heilende Maßnahme aufgefasst werden.
Da die einzelnen Kapitel der Webseite www.seele-und-gesundheit.de als jeweils eigenständige Abhandlungen ihres Themas konzipiert sind, habe ich in den ersten vier Bänden der Einfachheit halber die alphabetische Reihenfolge beibehalten, auch wenn dadurch die Möglichkeiten einer weiterführenden Gliederung unberücksichtigt blieben. Die sehr differenzierte Strukturierung der Kapitel selbst scheint mir genügend Ordnung für den Leser zu gewährleisten. Im vorliegenden Band erschien mir eine bloß alphabetische Reihenfolge nicht angebracht. Daher werden hier zunächst eigentliche Heilmethoden und danach psychologische Tests dargestellt sowie der Abschnitt über die Heilmethoden in psychologische und biologische Verfahren aufgeteilt.
Bei den psychologischen Heilmethoden nimmt die Regulation des Selbstwertgefühls eine zentrale Rolle ein. Das gilt sowohl für die interaktionell gestützte Heilung durch einen Psychotherapeuten als auch für Heilungsschritte, die der Kranke im Rahmen einer Selbsthilfe durch eigenständige Reflexion unternimmt. Überraschen mag es, dass der Humor als Heilmittel bei seelischen Erkrankungen aufgeführt wird. Bedenkt man jedoch, welch große Rolle er bei der Regulation des Selbstwertgefühls spielen kann, braucht einen das nicht mehr zu verwundern.
Als besonders heilsam wird außerdem die Meditation hervorgehoben. Der Wert der Methode ist kaum zu überschätzen. Zum einen kann sie jederzeit von quasi jedermann verwendet werden, zum anderen bietet sie ein solches Potenzial heilsamer Erkenntnisse, dass jeder, der sie links liegen lässt, darauf verzichtet, einen großen Schatz zu heben.
Ein weiterer Punkt unterscheidet Band fünf von den ersten vier. Er enthält nicht alle Kapitel, die auf der Webseite zugänglich sind. Die Kapitel über die Wechselwirkungen und die Kontraindikationen der Psychopharmaka fehlen. Dafür meine ich zwei gute Gründe anführen zu können: Zum einen geht die Auflistung der Wechselwirkungen und der Kontraindikationen so ins Detail, dass davon auszugehen ist, dass die meisten Käufer des Buches damit kaum etwas anfangen könnten. Zum anderen bieten die interaktiven Darstellungsmethoden des Internets Möglichkeiten, die dem Printformat abgehen. Dort können durch Mausklicks Fenster geöffnet werden, die zusätzliche Informationen enthalten. Das geht im Buch nicht. Hätte ich all die Listen und Tabellen der entsprechenden Webseiten ins Buch übertragen, tauchten dort 50 Seiten auf, die auf den ersten Blick den Fahrplänen sämtlicher Nahverkehrsverbindungen Gesamtdeutschlands glichen. Wem könnte das gefallen?
Hattingen, Januar 2021
Die Seele drängt zur Ganzheit, weil sie dem Ganzen entspringt. Heilung ist nur möglich, wenn man Teile einfügt. Alles, was man an sich nicht wahrhaben will, alles was man verdrängt, sucht seinen Weg zurück in die Mitte. Je mehr man etwas zurückweist, desto mehr beherrscht es das Geschehen. Heilen kann nur, was sich selbst bejaht. Das gilt für das Heilwerden ebenso wie für das Heilmachen.
Viele sind psychisch normal, aber seelisch krank. Normal heißt: einer Norm zu entsprechen. Normal heißt nicht gesund. Gesund heißt: die ganze Kraft zum Ausdruck bringen.
Verwandtschaftliche Beziehungen des deutschen Begriffs heil bestehen zu ähnlichen Wörtern in germanischen, keltischen und slawischen Sprachen.
Sprache | Begriff | Bedeutung |
Englisch | whole | ganz, vollständig |
hale | gesund, rüstig | |
heal | heilen | |
Althochdeutsch | heil | gesund, unversehrt |
Schwedisch | hel | ganz |
Russisch | целый celyj |
ganz |
Gotisch | hails | gesund |
Walisisch | coel | günstiges Vorzeichen |
Die Tabelle zur Etymologie des Begriffs Heilung vermittelt einen Überblick. Sie verdeutlicht, dass heil Gesundheit und Ganzheit bezeichnet. Der Begriff heilig entspringt derselben Sprachfamilie. Er verweist auf eine Ganzheit, die über allem Aufgeteilten steht. Das Verb heilen kommt in zwei Varianten vor: heil werden und heil machen. Die Wunde heilt. Der Arzt heilt. Heilung heißt Ganzwerdung.
Sucht man den Ursprung des Begriffs gesund, stößt man auf die germanische Wurzel sunda-im Sinne von stark, kräftig. Heilung ist Ganzwerdung, der Kraft und Stärke entspringen. Wer gesund ist, kann seine ganze Kraft zum Ausdruck bringen. Seine Kraft nicht zum Ausdruck zu bringen, ist ungesund.
Kraft resultiert aus dem Miteinander unterscheidbarer Teile, die ihren jeweils passenden Platz im Ganzen einnehmen. Folglich ist Heilung ein integrativer Prozess. Dabei wird Fehlendes von Unfertigem angenommen.
Heilende Erkenntnis besteht aus zwei Schritten:
Das Motiv der Ganzheit kommt in der Psychiatrie auf vier grundsätzlichen Ebenen vor.
Diesen vier Ebenen entsprechen vier Möglichkeiten, die Ganzheit zu verfehlen.
körperlich | Ungestörte Funktion neuropsychologischer Vermögen |
personal | Das Ich erlebt die Elemente des relativen Selbst als ihm zugehörig. |
psychosozial | Die Person erlebt sich im sozialen Umfeld eingebettet. Sie erlebt sich zugehörig. |
spirituell | Das Ich erlebt sich als Repräsentant der Wirklichkeit. |
Alle mentalen Funktionen bedürfen eines intakten Zentralnervensystems (ZNS). Das ZNS ist ein modular aufgebauter Funktionskomplex, bei dem bestimmte Hirnareale Schlüsselfunktionen für die Ausführung neuropsychologischer Leistungen bereitstellen. Sind solche Hirnareale anlagebedingt ungenügend oder werden sie im Verlauf des Lebens geschädigt, können spezifische Funktionen nicht ausgeführt werden oder sie funktionieren nur auf vermindertem Niveau. Daraus ergeben sich neuropsychologische Funktionsstörungen:
Ursachen struktureller Störungen des ZNS
Sind neuropsychologische Funktionen gestört, liegt eine geistige Behinderung, eine Teilleistungsstörung oder ein organisches Psychosyndrom vor.
Der umgangssprachlich normale Mensch - also der, der nicht an einer Psychose erkrankt ist - erlebt die Elemente seines relativen Selbst als zusammengehöriges Ganzes. Er sagt: Meine Gedanken, meine Gefühle, meine Impulse, meine Erinnerungen, meine Urteile, meine Sinneswahrnehmungen und mein Körper sind die Elemente meiner Person, die als sie selbst ein Ganzes ist. Dieses Ganze nennt der Normale Ich.
Unvollendete Ebene | Funktionsniveau |
körperlich | behindert |
personal | psychotisch |
psychosozial | neurotisch |
spirituell | normal |
Beim Verlust der personalen Ganzheit geht das Erleben der Ganzheit des Ich verloren. Die Psychiatrie spricht von Ich-Störungen.
Geht die personale Ganzheit verloren, spricht die Psychiatrie von einer Psychose.
Nach schulmedizinischer Interpretation werden Halluzinationen nicht den Ich-Störungen zugeordnet, sondern als eigenständige psychopathologische Kategorie aufgefasst. Da aber davon auszugehen ist, dass Halluzinationen Gedanken und Vorstellungen des Kranken entsprechen, die dieser nicht als ihm selbst zugehörig erlebt, ist zu diskutieren, ob man sie nicht als einen Ausdruck des Verlusts der personalen Ganzheit und damit als eine Variante der Ich-Störung auffassen kann.
Der dritten Ebene der Ganzheit entspricht die Einbettung der Person in den sozialen Kontext. Der Gesunde erlebt den Ereigniszusammenhang des jeweiligen Geschehens und seine persönliche Reaktion darauf als ein psychosoziales Gefüge, mit dem sein inneres Erleben übereinstimmt. Er hat das Gefühl, dass sein Verhalten der Situation, in der er sich befindet, entspricht. Der Dualismus zwischen Ich und Nicht-Ich ist passend aufeinander eingestimmt. Die psychosozial angemessen eingebettete Person verhält sich so…
Ist die psychosoziale Ganzheit unvollendet, besteht zwischen der kranken Person und dem Umfeld ein Riss. Statt angemessen und emotional stimmig auf das jeweilige Jetzt zu reagieren, erlebt der Kranke Ängste, Impulse, Hemmungen und Stimmungsanomalien, die verhindern, dass sich Psyche und Kontext in eine kongruente psychosoziale Dynamik verzahnen. Die zwei Pole des psychosozialen Gefüges sind nur zum Teil in ein Ganzes verlötet.
Isolierte Störungen der psychosozialen Ganzheit können dem Spektrum der neurotischen Erkrankungen zugeordnet werden. Statt spontan mit dem Umfeld umzugehen, ist der neurotisch Kranke überwertig mit der Frage beschäftigt, wie er den Umgang gestalten soll.
Störungen der psychosozialen Einbettung werden durch Verlustängste verursacht. Fünf Themenfelder sind auszumachen: Verlust der/des…
Nicht nur der manifeste Verlust von Ganzheit macht krank, sondern auch die überwertige Befürchtung, Ganzheit zu verlieren. Das sieht man bei Erkrankungen, die durch Ängste hervorgerufen werden, die um den Verlust der körperlichen Unversehrtheit kreisen.
Der Verlust der personalen Ganzheit kann als drohende Möglichkeit gefürchtet werden. Die Angst, verrückt zu werden, ist mit verschiedenen Krankheitsbildern verschwistert:
Beim Entfremdungssyndrom erscheint die Außenwelt oder Teile der eigenen Innenwelt so verändert, dass der Kranke fürchten kann, bereits von einer Vorstufe der Verrücktheit befallen zu sein.
Bei der Panikstörung kann der Schrecken der Symptome so massiv sein, dass der Kranke glaubt, die Angst sei kurz davor, die Integrität seines Erlebens endgültig zu sprengen.
Patienten mit Zwangsstörung können im Verlust selbst eines Quäntchens Kontrolle über die Ordnung ihrer Gefühle oder über die Ordnung ihres nächsten Lebensumfelds eine so große Gefahr sehen, dass auch sie sich unmittelbar vom Wahnsinn bedroht fühlen.
Zugehörigkeit ist das primäre psychologische Grundbedürfnis des Menschen. Auch ungeachtet psychologischer Bedürfnisse bietet sie so viele Vorteile, dass kaum jemand gegen soziale Verlustängste vollständig gefeit ist. Das Verhalten vieler wird jedoch so umfassend von entsprechenden Ängsten geprägt, dass ihre psychosoziale Einbettung gerade dadurch gefährdet ist; oder nur Einbettungen möglich sind, deren Qualität die Erfüllung anderer Bedürfnisse verhindert.
Das zweite psychologische Grundbedürfnis ist Selbstbestimmung. Selbstbestimmung ist zweierlei:
Die Angst, Selbstbestimmtheit zu verlieren, kann bei schizoiden Persönlichkeiten dazu führen, dass ihnen psychosoziale Ganzheit als zu riskant erscheint.
Das Selbstwertgefühl ist für das Wohlbefinden von zentraler Bedeutung. Vereinfacht kann man sagen…
Im Verhältnis zur Bedeutung, die sie tatsächlich haben kann, macht sich die Person vermessen wichtig. Im Verhältnis zur Position, die es wirklich hat, nimmt sie ihr Selbst kaum jemals ernst. Die Person sieht sich als Teil und macht sich groß. Sie übersieht, dass das Selbst zu groß ist, um in einem Teil enthalten zu sein.
Das Selbstwertgefühl ist das Resultat eines Urteils, das mehr oder weniger bewusst vollzogen wird. Je nachdem, welche Güter, Fähigkeiten, Erfolge, Positionen und soziale Ränge das Individuum für unverzichtbar hält, um sich für vollwertig zu halten und je nachdem, wie viel es davon zu haben glaubt, fällt das Urteil positiver oder negativer aus. Das Selbstwertgefühl fließt nahtlos in die Haltung ein, aus der heraus das Individuum dem Umfeld begegnet.
Körperliche Unversehrtheit, personale Ganzheit, Zugehörigkeit und Selbstbestimmung sind die vier Faktoren, denen das Individuum entscheidende Bedeutung bei der Beurteilung seines Selbstwerts zumisst. Entsprechend groß ist die Angst, auf diesen Feldern dem eigenen Maßstab nicht zu genügen.
Ist die psychosoziale Ganzheit verwirklicht, erlebt sich der Mensch als normal-gesunde Person. Er deutet sich als separates Ich, das passend in eine Außenwelt verfugt ist, die nicht zum Ich gehört, sondern kategorisch davon zu unterscheiden ist. Das Selbst- und Weltbild des normalen Erlebens ist dualistisch. Für das normale Bewusstsein ist das Feld des Daseinsvollzugs kein Ganzes, das Ausdruck eines Ganzen ist, sondern ein Ganzes, das aus zwei Hälften besteht.
Einem derart gesunden Dasein ist ein latenter Unfrieden beigemengt, der vorübergehend durch Erfolg, Erwerb oder bereichernde Erfahrung beigelegt werden kann. Das Bewusstsein um die Vergänglichkeit der Person und die Erkenntnis, dass selbst der Begeisterung über den größten Gewinn Ernüchterung folgt, verhindern, dass der normale Mensch auf Dauer glücklich in sich ruht.
Stets scheint ihm ein Teil zum Glück zu fehlen. Immer wenn er das scheinbar Fehlende gefunden hat, erweist sich der Fund zuletzt als ungenügend. Was ihm tatsächlich fehlt, ist spirituelle Ganzheit; also die Erfahrung, dass er selbst die Trennlinie zwischen Ich und Welt übersteigt und es ein Trugschluss ist, dass ihm überhaupt ein Teil der Welt zur Ganzheit fehlt. Verkennt die Person ihre spirituelle Ganzheit, ist sie normal. Erlebt sie sie, ist sie im Wortsinn der Heilung vollständig geheilt. Die Erfahrung des ungeteilten Selbst kann nur machen, wer die Illusion des separaten Ich als feststehende Einheit überwindet. Der Fluss fließt. Das Ich ist ein Strudel, der unterwegs entsteht und vergeht. Sich daran festhalten zu wollen, ist ein Griff ins Leere. Leere kann man nicht greifen, sondern nur lassen.
Der normale Mensch sucht Fehlendes im Außen, der spirituelle entfernt Überflüssiges im Inneren. Der eine addiert. Der andere subtrahiert. Der eine belädt sich. Der andere wird frei.
Entsprechend den vier Ebenen der Ganzheit sind vier Arten der Heilung zu nennen:
Typ | Ansatzpunkt | Ziel |
organisch | Hirnstruktur | Wiederherstellung neuropsychologischer Funktionen |
personal | Hirnstoffwechsel | Wiederherstellung eines funktionalen Transmitterstoffwechsels |
psychosozial | Ego | Stärkung des Egos zur Verbesserung der Handlungsfähigkeit als Mitspieler im sozialen System |
spirituell | Selbst | Befreiung aus den Grenzen des Egos durch Ablösung von dessen Selbstbild |
Warum uns der Mut fehlt, wir selbst zu sein? Weil in uns die Zeit stillsteht, wir aber glauben, in ihrem Verlauf etwas gewinnen oder verlieren zu können.
So unterschiedlich die angesprochenen Instanzen, so unterschiedlich sind die Methoden, die zur Erlangung der Ganzheit auf den vier Ebenen anzuwenden sind.
Für viele strukturelle Defizite und Schäden am ZNS sind keine grundsätzlichen Heilungsmöglichkeiten bekannt. Schwerpunkte der therapeutischen Bemühungen sind daher…
Schaden verhindern und durch Üben beheben.
Das wesentliche Werkzeug zur Heilung organisch bedingter Leistungsstörungen des ZNS sind neuropsychologische Übungsprogramme, die defizitäre Funktionen möglichst bis zur vollen Wiederherstellung ergänzen.
Beim derzeitigen Stand der Wissenschaft ist davon auszugehen, dass das Erleben der personalen Ganzheit wesentlich von intakten Stoffwechselprozessen im Zentralnervensystem abhängt. Dafür spricht vieles:
Ich bin Herr von Leib und Sinnen.
Das wesentliche Werkzeug, das heute zwecks Wiedererlangung der personalen Ganzheit eingesetzt wird, ist die Psychopharmakologie. Parallel dazu sind psychotherapeutische Hilfen zielführend, die vor allem projektive Abwehrmuster abschwächen.
Manifest zerbrochen ist die personale Ganzheit beim psychotisch erkrankten Menschen. Oben wurde aber darauf hingewiesen, dass die Erfahrung der personalen Ganzheit auch bei Menschen geschmälert sein kann, die nicht an einer Psychose erkrankt sind; wenn auch nur unbewusst und unterschwellig: nämlich durch den Gebrauch projektiver Abwehrmanöver, die Eigenschaften oder Funktionen der eigenen Person anderen Personen zuordnen.
Da die personale Ganzheit dabei in der Regel formal erhalten bleibt, ist das wichtigste Mittel zur Behebung solcher Störungen aber keine Medikation, sondern die psychotherapeutische Arbeit an der persönlichen Reifung. Der Zielpunkt einer solchen Arbeit liegt nicht in der personalen, sondern in der psychosozialen Heilung, um die Störungen, die projektive Muster bei der Einbettung verursachen, aufzuheben. Die Festigung der personalen Ganzheit ist hier ein beiläufiger Effekt.
Ist die personale Ganzheit intakt, liegt der Schwerpunkt der Behandlung psychiatrischer Erkrankungen auf der psychosozialen Heilung. Psychosoziale Heilung bedeutet, dass all jene Faktoren beseitigt werden, die einer unbefangenen Einbettung des Patienten in den Ereigniskontext des Umfelds im Wege stehen. Die Befangenheit des neurotischen Menschen wird durch fehlendes Selbstvertrauen und daraus resultierende Verlustängste verursacht. Fehlt das Selbstvertrauen, orientiert sich der Kranke zu wenig an seinem inneren Prozess. Er legt stattdessen übermäßig Wert auf Bestätigung von außen und macht sein Selbstwertgefühl von schwankenden Bedingungen abhängig, auf die er keinen oder keinen zuverlässigen Einfluss hat. Das führt zu…
Ich spiele unbefangen meine Rollen.
Als Ursache des fehlenden Selbstvertrauens sind pathogene Kommunikationsmuster, traumatisierende Erfahrungen und realitätsfremde Selbsteinschätzungen auszumachen. Störungen, die auf solche Ursachen zurückzuführen sind, können durch Einsicht und gezielte Verhaltensänderungen aufgehoben werden. Die wesentlichen Werkzeuge zur Wiedererlangung der psychosozialen Ganzheit sind Psycho- und Verhaltenstherapie.
Wer versteht, wozu seine Symptome dienen, kann besser Methoden entwickeln, als krank zu sein.
Der Begriff weist darauf hin: Bei der psychosozialen Heilung spielt das soziale Umfeld eine große Rolle. Es gibt Bedingungen vor und setzt heilender Ganzwerdung Grenzen.
Die Zugehörigkeit zum sozialen Umfeld bildet einen der beiden Pfeiler, die das Leben als Ausgestaltung des Psychologischen Grundkonflikts bestimmen. Außerdem hängt die Deutung eines Verhaltens als gesund oder krank von den Maßstäben des sozialen und kulturellen Umfelds ab. Beides führt dazu, dass die Zugehörigkeit zum Umfeld oft eine Anpassung des Einzelnen an Erwartungen erfordert, die seiner Identität widerspricht. Um Spannungen zu vermindern, die daraus entstehen, passt der normale Mensch sein Selbstbild dem tatsächlichen oder vermeintlichen Erwartungsdruck des Umfelds an. Er hält sich für etwas anderes als das, was er ist.
Die Anpassung des Selbstbilds erfolgt durch Verleugnung von Teilaspekten des tatsächlichen Selbst. Neben der Verleugnung kommt die übrige Palette der Abwehrmechanismen zum Einsatz. Je mehr Aspekte angepasst werden, desto mehr wird das Selbstbild verfälscht. Es bildet nicht mehr ab, was der Einzelne ist, sondern das, was er entgegen seinem tatsächlichen Wesen sein soll.
Selbstverständlich ist der Einzelne bei der Verfälschung seines Selbstbilds nicht nur Opfer jener Umstände, die ihn von außen bedrängen. Die Verfälschung des Selbstbilds ist ebenso Resultat eigener Ansprüche; je nachdem, welche Rollen er im Umfeld für sich einfordert.
Die spirituelle Heilung geht über die psychosoziale hinaus. Obwohl sie ihr teils widerspricht, umfasst und vertieft sie sie zugleich. Die Übergänge sind fließend.
Ich bin, der ich bin.
Bei der psychosozialen Heilung spielen Bewertungen und Urteile eine große Rolle. Im Dienste der psychosozialen Heilung wird das eigene Verhalten und Empfinden mit einem Soll verglichen. Was dem Ziel der Einbettung ins Umfeld entgegensteht, wird durch Abwehrmechanismen aus dem Bewusstsein entfernt. Dadurch werden Qualität und Umfang des Selbstbewusstseins vermindert. Die psychosoziale Heilung legt den Schwerpunkt auf die Einbettung einer als separate Einheit definierten Person in ihr Umfeld. Sie geht nicht über die Polarität Ich/Nicht-Ich hinaus.
Der Kranke sagt: Das bin ich nicht.
Der Gesunde sagt: Das bin ich auch.
Der Kranke sagt: Das bin ich.
Der Gesunde sagt: Das bin ich nicht.
Bei der spirituellen Heilung treten Urteile und Wertungen in den Hintergrund. Stattdessen versucht das Individuum, sämtliche Aspekte seiner selbst wahrzunehmen und sie so sein zu lassen, wie sie sind. Dabei erfüllt die Akzeptanz der sogenannten negativen Gefühle eine Schlüsselfunktion. Unangenehme Gefühle vermitteln Einsichten in das eigene Wesen, gegen die man sich sträubt. Gerade diese Einsichten sind es jedoch, die man auf dem Weg zur Heilung braucht. Sie sind das Fehlende am Unfertigen. Wer gesund wird, sagt: Das bin ich auch. Er nimmt sich vollständig an.
Spiritualität birgt das Risiko, vor dem Minderwertigkeitsgefühl in billige Lösungen auszuweichen. Deshalb wird man in der Meditation ständig an sein Unvermögen erinnert, über sich selbst zu bestimmen. Der scheinbar kurze Weg erweist sich als lang. Ich bin keine Person zu denken, ist leicht. Zu dem zu werden, was keine mehr ist, ist schwer.
Während die psychosoziale Heilung jedoch die Identifikation mit den Erscheinungen des relativen Selbst beibehält und sie zur Stärkung eines handlungsmächtigen Egos verwendet, betreibt die spirituelle Heilung eine Des-Identifikation von allem Erkannten. Der spirituell Gesunde sagt: Das bin ich nicht. Gelingt die Des-Identifikation, wird das absolute Selbst, also das Subjekt aus den Begrenzungen freigesetzt, die der Einbindung in die dualistische Interaktion zwischen Person und Welt eingewoben sind.
Ein Zugewinn an Selbsterkenntnis ist nicht nur Addition. Es ist der Verzicht auf Subtraktion. Das normale Bewusstsein wehrt Unliebsames ab, das spirituelle gesteht es sich ein. Ein Eingeständnis ist der Mut, solange in einer Wirklichkeit zu stehen, bis sie sich verändert hat.
Die wesentlichen Werkzeuge zur spirituellen Heilung sind absichtslose Achtsamkeit, Meditation und die Ablösung des Subjekts von allen selektiven Identifikationen mit Objekten oder objektivierbaren Konstruktionen. Das vorläufige Ich bleibt Objekt, das endgültige ist Subjekt.
Zwecks besserer Anschaulichkeit kann die Darstellung von Ganzheit und Heilung auf vier Themenbereiche aufgeteilt werden. Ganzheit heißt aber auch, dass die vier Bereiche nicht isoliert voneinander zu betrachten, sondern ganzheitlich ineinander verzahnt sind. Das wird in der Praxis deutlich.
Eine umfassende Betrachtung des seelisch kranken Menschen wird den Blick bei der Wahl ihrer Ziele und Mittel nicht auf einzelne Ebenen beschränken. Je nach individueller Konstellation, kann Heilung parallel auf allen vier Ebenen angestrebt werden.
Das Streben nach Ganzheit ist ein grundsätzlicher Impuls. Er wirkt auf personaler, psychosozialer und kultureller Ebene. Er ist Grundprinzip aller Spiritualität.
Eingrenzung und Ausgrenzung sind dialektische Kräfte. Wer auf gesellschaftlicher Ebene den Bogen beim Eingrenzen überspannt, riskiert so viel Bestehendes auszugrenzen, dass Ganzheit nicht erreicht wird, sondern in Zersplitterung verlorengeht.
Das Bedürfnis nach psychosozialer Ganzheit bezieht sich nicht nur auf den Horizont unmittelbarer Bezugspersonen, sondern auch auf den des kulturellen Umfelds. Ganzheit heißt Überwindung von Grenzen. Streben nach Ganzheit heißt auch, von außen Neues aufzunehmen. Von außen Neues in ein kulturelles Umfeld aufzunehmen, kann jedoch in dessen Innerem neue Grenzen setzen. Die Eingrenzung von Neuem kann zur Ausgrenzung von Bisherigem führen.
Breitbandmedizin
Was zur Heilung des Einzelnen unentbehrlich ist, ist es auch zur Heilung von Gemeinschaften: die Anerkennung der Wahrheit. Wahrheit ist die einzige Basis, auf der sich alle treffen können, weil sie niemandem gehört. Nichts heilt Gemeinschaften mehr, als sich darauf zu einigen, was als wahr überprüfbar ist.
Kultur ist alles, was Gemeinschaften als Organisationsprinzip hervorbringen um ihre Binnenstruktur zu regeln oder um ihre Vorstellungen von der Wirklichkeit abzubilden. Da Vorstellungen falsch sein können und soziale Strukturen ungerecht, ist keineswegs alles, was als Kultur bezeichnet wird, zu begrüßen. Auch der Zufluss kultureller Formen von außen ist nicht immer bereichernd. Gegebenenfalls gilt: Je mehr die Formen das tiefere Wesen des Menschen missachten, desto problematischer können sie sein. Die unreflektierte Anpassung an gesellschaftliche Normen und das soziale Umfeld, das sie repräsentiert, kann zu einer Entfremdung des Einzelnen von sich selbst führen. Daraus resultiert ein Defizit innerer Ganzheit, das erst durch eine spirituelle Heilung behoben werden kann. Spirituelle Heilung ist ein Projekt, das sich nur eine Minderheit nachhaltig zum Ziel setzen wird.
Integration im Sinne der Ganzwerdung einer gemeinschaftlichen Struktur nur als politische Frage zu betrachten, greift zu kurz. Sie ist vor allem ein psychologisches Problem; und als solches nicht beliebig steuerbar. Das Wohl vieler hängt in großem Umfang von gesellschaftlichen Bedingungen ab. Dazu gehört, innerhalb der Gesellschaft nicht auf Gruppengrenzen zu stoßen, die die Kompensationsmechanismen des individuellen Zugehörigkeitsempfindens überfordern. Die Aufspaltung der Gesellschaft in ein Patchwork paralleler Untergruppen, führt bei vielen zu einer Störung der psychosozialen Einbettung, die ihr Wohlergehen nachhaltig stört und den sozialen Frieden gefährdet.
Andererseits wird die Heilung des Einzelnen erschwert, wenn ihm sein jeweils abweichendes Sosein gesellschaftlich nicht zugestanden wird. Starre Normen aufzustellen, die die Pluralität der Gesellschaft beschränken, um einer gefürchteten Zersplitterung Einhalt zu gebieten, ist der dialektische Gegenpol zur unreflektierten Entgrenzung. Das eine schadet. Das andere auch.
Die psychiatrische Therapie kann auf allen Ebenen des Individuums und seiner Einbettung ins Umfeld ansetzen. Je nachdem, welche Ebene sie fokussiert, wendet sie verschiedene Heilmittel an. Folgende Tabelle gibt einen Überblick:
Therapeutische Ansatzpunkte | ||
Grundebene | Unterteilungen | Therapieansatz |
Soziales Umfeld | Beruf, soziale Absicherung | Sozialpsychiatrie |
Familie, Partnerschaft | Paartherapie, Systemische Familientherapie | |
Individuum | Körper | Psychopharmaka, EKT, MKT |
Verhalten | Klassische Verhaltenstherapie, Psychoedukation | |
Bewusstsein, Selbstbild, relatives Selbst, Selbstwertgefühl | Aufdeckende Verfahren: Kognitive Komponente der Verhaltenstherapie, Tiefenpsychologie, Psychoanalyse, Aufdeckende Verfahren der humanistischen Psychologie (Gestalttherapie, Transaktionale Analyse, Psychodrama), Meditation |
|
Transpersonale Ebene | Absolutes Selbst | Spiritualität, Meditation |
Die verschiedenen Ebenen des Daseins und die ihnen zugeordneten Therapiemethoden sind theoretisch gut zu unterscheiden. Faktisch sind die Ebenen ineinander verzahnt. In der Praxis wird in der überwiegenden Zahl der Fälle eine Kombination verschiedener Ansätze angewandt. Außerdem ist zu bedenken, dass viele Therapiemethoden ihrerseits bereits eine Mischung anderer Ansätze beinhalten. Das gilt zum Beispiel für die systemischen Therapien und die kognitive Verhaltenstherapie (KVT), die sowohl am Verhalten als auch am Bewusstsein der Beteiligten ansetzen.
Viele psychiatrische Symptome werden wesentlich durch äußere Lebensbedingungen mitbedingt. Das gilt vor allem für Ängste, Depressionen, Suchterkrankungen, Schlafstörungen, Burnout- oder Boreout-Syndrome. Es gilt aber auch für Psychosen, deren aktueller Symptomdruck durch ungünstige Umfeldfaktoren verstärkt werden kann.
Andere Erkrankungen werden zwar nicht durch Umfeldfaktoren verursacht, sie führen jedoch ihrerseits zu einem sozialpsychiatrischen Handlungsbedarf. Zu nennen sind: Demenzerkrankungen, Autismus und andere schwerwiegende Entwicklungsstörungen sowie angeborene Minderbegabungen. Selbst bei Persönlichkeitsstörungen können sozialtherapeutische Therapiekomponenten angezeigt sein.
Pathogene Umfeldfaktoren
Alles, was die Kompensationsmechanismen einer Person überfordert, kann zu einem pathogenen, also einem krankmachenden, Umfeldfaktor werden:
Die wesentliche Methode der Sozialpsychiatrie ist die konkrete Unterstützung bei der alltagspraktischen Bewältigung der genannten Probleme. Die höchste Kompetenz liegt dabei in den Händen von Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Die notwendige Hilfe kann ambulant gewährt werden oder quasi stationär in einem sozialtherapeutischen oder schützenden Wohnheim. Zu den ambulanten Hilfen zählen:
Schwerpunkte
Problematisches Verhalten wichtiger Bezugspersonen kann sowohl systemisch, einzelpsychotherapeutisch als auch sozialpsychiatrisch Thema werden. Ist eine Patientin mit dem aggressiven Verhalten eines Partners konfrontiert…
Nicht nur das soziale Umfeld kann Quelle pathogener Kräfte sein, sondern auch das persönliche. Zum persönlichen Umfeld gehören: Freundeskreis, Partner und Familie. Hier setzen systemische Therapieformen an.
Anders als bei nicht-systemischen Therapien werden Bezugspersonen bei der systemischen Therapie unmittelbar in den therapeutischen Prozess einbezogen. Es werden Paaroder Familiengespräche durchgeführt. Zielsetzungen systemischer Ansätze sind zunächst:
Beiläufig kommt es dabei auch zu aufdeckenden Effekten, also zu Erkenntnissen der Beteiligten bezüglich ihrer persönlichen innerseelischen Dynamik. Solche Erkenntnisse verändern das Selbstbild der Beteiligten und das veränderte Selbstbild wirkt seinerseits auf die Kommunikationsstruktur des gesamten Systems ein.
Therapieformen, die unmittelbar am Körper ansetzen, gehören zur biologischen Psychiatrie. Die wichtigsten Methoden sind…