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Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel
»Ett vakande öga«
im Verlag Wahlström & Widstrand, Stockholm
Übersetzung aus dem Schwedischen
von Kerstin Schöps und Annika Ernst
ISBN 978-3-492-967352-6
Mai 2017
© Fredrik T. Olsson 2015
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 2016
Published by arrangement with Partners
in Stories Stockholm AB, Sweden
Covergestaltung und -illustration: Cornelia Niere, München
Datenkonvertierung: psb, Berlin
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Er dachte vor allem an sein Aussehen.
Und das lag nicht an seiner Eitelkeit. Im Gegenteil: Sein Gesicht war rau und nachlässig gepflegt, und so hatte es schon immer ausgesehen. Jetzt war es außerdem noch wund, und unter den sorgfältig getrimmten Bartstoppeln spannte die rot gefleckte Haut, obwohl die Rasur schon mehrere Tage zurück lag.
Es war so ungewohnt, dieses Gesicht. So ungewohnt, sich darum zu kümmern, es herzurichten, auszustaffieren, als wäre es ein Schaufenster und die übrige Welt bestände aus potenziellen Kunden, die angelockt werden sollten.
Sein Aussehen und das der anderen hatte ihn bisher einfach nicht interessiert. Was ihn faszinierte, war die Innenansicht. Nicht in der küchenpsychologischen Version, der zufolge die wahre Schönheit von innen kommt, sondern im wortwörtlichen Sinn: Alle bedeutenden Dinge kamen von dort, Ideen, Gedanken, alles, was ein Individuum erst zu einem Individuum werden ließ.
Und natürlich das andere. Das Dunkle, die vielen negativen Kräfte, die er im Laufe der Zeit sorgfältig studiert und erfasst hatte und für die er mittlerweile fast so etwas wie Bewunderung empfand. Ausgerechnet diese Dinge waren jetzt in sein Leben getreten und hatten an Bedeutung gewonnen.
Reglos saß er einen Moment in der Stille. Er hörte nur seinen eigenen Puls und den trommelnden Rhythmus der Regentropfen auf dem Wagendach.
Dieses Trommeln hörte er. Und ein schwaches Zischen, das nur eines bedeuten konnte.
Er hatte aufgehört, am Türgriff zu zerren. Er hatte aufgehört, sich mit der Schulter gegen die Innenseite der Wagentür zu stemmen, weil er eingesehen hatte, dass es keinen Sinn machte. Der Wagen war verschlossen und würde ihn niemals freigeben. Ihm blieb nur noch eine Möglichkeit, nämlich den Sicherheitsgurt zu öffnen, sich quer über die Sitze zu legen und mit aller Kraft gegen die Fensterscheibe zu treten. Wobei auch diese seinem Kraftaufwand vermutlich standhalten würde.
Er war entdeckt worden.
Das war die einzige Erklärung, obwohl es genau genommen gar nichts erklärte. Niemand konnte wissen, dass er hier war, noch nicht einmal er selbst hatte es vorher gewusst. Erst vor zwei Tagen hatte er sich entschieden, er hatte mehrere Reisen zu unterschiedlichsten Zielen gebucht, die Transportmittel ständig geändert und Tickets abgeholt, die er niemals benutzen würde. Mit Bedacht und Absicht hatte er jede Entscheidung in allerletzter Sekunde getroffen. Trotzdem konnte er das Gefühl nicht abschütteln, dass jemand die ganze Zeit seine Gedanken gelesen hatte.
Natürlich war das unmöglich. Wer, wenn nicht er, hätte das wissen sollen, und trotzdem jagte ihm die Vorstellung einen Schauer über den Rücken.
Er hatte sich von seinem hellgrauen, zotteligen Bart verabschiedet. Er hatte die Geheimratsecken frei rasiert, um einen spärlichen Haarwuchs zu suggerieren, obwohl er eigentlich mit seiner Frisur noch ganz zufrieden war. Die Augenbrauen, die im Laufe der Jahre zu einem einzigen grauschwarzen Balken zusammengewachsen waren, hatte er gezupft, sodass sie sich nun als zwei dünne, schmale Striche zeigten. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Stunden damit verbracht, sich mit seinem Gesicht zu beschäftigen. Am Ende war er sich nicht sicher, ob er sich in einer Menschenmenge noch selbst wiedererkannt hätte.
Den uralten BMW hatte er in einer Kfz-Werkstatt gemietet, die allenfalls als fragwürdig bezeichnet werden konnte. Bezahlt hatte er in bar und ohne irgendeinen Ausweis vorzuzeigen. Niemand, niemand konnte ihn dabei beobachtet haben, niemand konnte wissen, wohin er fuhr. Er war in Sicherheit.
Und trotzdem.
Vielleicht hätte er es ahnen können.
Vielleicht noch nicht, als die Schranke am Bahnübergang ihm die Weiterfahrt versperrte, da vielleicht noch nicht, obwohl ihn die Angst bereits gepackt hatte, als er um die Ecke bog. Als er auf die leuchtende Schranke zufuhr, die plötzlich im Dunklen auftauchte, sich quer über die Fahrbahn legte, und als das klagende Hämmern des Signals in seine Ohren drang.
Er hatte angehalten, stand direkt vor dem roten, blinkenden Auge der Schranke. Ein einsamer Wagen in einer dunklen Nacht. Warten. Eine Minute, vielleicht zwei.
Spätestens da, wenn nicht schon früher. Da hätte er es begreifen müssen.
Als das Signal verstummte, ohne dass ein Zug die Stelle passiert hatte.
Eine erneute Welle des Unbehagens durchströmte ihn: diese plötzliche Stille, als das Signal ausblieb, die Bewegung der Schranke, die sich wie von selbst aufrichtete. Zurück blieben nur der Bahnübergang und er, zwei einsame Individuen in einer stillen Winternacht irgendwo in der südschwedischen Provinz Schonen.
Um ihn herum nur Dunkelheit. Dunkelheit und die weiten Felder auf der anderen Seite der Schienen. Leere Äcker aus steinhartem Lehm, die sich weit erstreckten, bis sie in einem dunklen Nebel am Horizont verschwanden. Hoch oben im Himmel die roten Punkte der Windkraftanlagen, die unsichtbar in der trostlosen Einsamkeit rotierten.
Er hatte sich gezwungen, die aufsteigende Angst abzuschütteln. Es gab keinen Grund dafür. Wahrscheinlich war der Zug schon durchgefahren, bevor er die Schranke erreicht hatte. Oder die Lokomotive hatte einen Defekt und war dadurch zu einem frühzeitigen Halt gezwungen worden. War ja auch egal.
Wichtig war nur, dass er nicht dort stehen blieb. Er befand sich in einem fremden Land und hatte es außerdem eilig. Vor ihm lag eine lange Reise, und er durfte keine Zeit verlieren.
Er startete den Motor.
Langsam rollte er über die Schienen.
Und genau in diesem Moment geschah es. Alles ging mit einem Schlag aus. Alles im Wagen. Die Armatur, die Lampe am Zündschloss, alle Schalter und Knöpfe, alles. Das Abblendlicht, das die Fahrbahn vor ihm beleuchtete. Die Rücklichter, deren hellroter Schein die Heckscheibe umrahmte. Und vor allem – der Motor.
Er drehte den Schlüssel im Zündschloss. Nichts. Ein zweites Mal und ein drittes. Jetzt spring endlich an, verdammt, hörte er sich brüllen, er hämmerte aufs Lenkrad ein, aber das änderte nichts.
Als er den Türgriff packte, hatte er eigentlich schon alles begriffen. Wie sehr er auch daran reißen und zerren würde, die Türen würden fest verschlossen bleiben, und nichts und niemand würde daran etwas ändern können. Dasselbe galt für die Fenster. Wie sehr er auch auf die armen Türknöpfe einschlug, der Wagen blieb verschlossen und dunkel und tot.
Da senkten sich die Schranken wieder, mit dem klagenden Hämmern des Signals.
Da hörte er auch das zischende Geräusch. Und er verstand.
Da war es schon zu spät.
Er hatte sich quer über die vorderen Sitze gelegt, als er die Lichter sah.
Er trat wie besessen mit den Schuhsohlen gegen die Scheibe, sein Blut pochte hinter den Schläfen, er hatte Blutgeschmack im Mund, den Geschmack von Angst und Eisen, obwohl es erst in ein paar Sekunden so weit sein würde.
Er spürte die Vibration der Glasscheibe unter seinen Füßen, aber das hatte keine Konsequenzen. Die Scheibe blieb heil, und die Türen blieben verschlossen. Dann sah er, wie die dreckige Scheibe von den an Strahlkraft zunehmenden Scheinwerfern des Zuges erfasst wurde. Er schloss die Augen, und alles, was er hörte, waren Geräusche.
Das Zischen der Schienen.
Sein Herzschlag im Hals.
Und dann hörte er das Tuten, als der Lokführer den dunklen Wagen auf dem Bahnübergang sah. Ein lautes beharrliches Warnsignal. Das Letzte, was er hörte, war das durchdringende Knirschen von Eisen, das sich in anderes Eisen bohrte, und das Kreischen der Bremsen, obwohl es schon längst zu spät war.
Er dachte vor allem an sein Aussehen.
Nicht, weil er eitel war.
Sondern weil er wusste, dass niemand herausbekommen würde, wer er war.
Ich habe keine erste Erinnerung.
Ich erinnere mich an keine Geburt.
Ich erinnere mich an keinen Ort.
Ich weiß nur, dass ich jetzt lebe und dass es hinter mir eine Vergangenheit gibt.
Tage, an denen sich das Leben verändert, beginnen wie alle anderen Tage auch.
Es weckt einen niemand morgens und verkündet einem, dass der heutige Tag ein wenig anstrengend werden könnte und man sich darum eine Extrastulle schmieren und den Kaffee besonders lange genießen sollte, weil es nämlich eine ganze Weile dauern könnte, bis man dazu wieder Gelegenheit hat. Niemand legt seinen Arm um deine Schultern und bereitet dich auf das Kommende vor.
Alles ist so wie immer.
So lange, bis es das nicht mehr ist.
Als die Nachmittagsdämmerung sich an diesem Montag über Stockholm senkte, an diesem 3. Dezember, da wusste niemand, dass die nationale Sicherheitsstufe in aller Verschwiegenheit von »Friedenszeit« auf »erhöhte Gefahr« geändert worden war.
Niemand wusste, dass in dem großen Backsteingebäude im Stadtteil Gärdet Frauen und Männer in Uniformen saßen und das Schlimmste erwarteten.
Und niemand wusste, dass der große Stromausfall, der um exakt sechs Minuten nach vier eintreten sollte, nur der Anfang von etwas viel Größerem war.
Die Männer in dem weißen Lieferwagen auf dem Klarabergsviadukt hatten keine Ahnung, worauf sie warteten.
Das heißt, sie hatten natürlich eine Ahnung, was geschehen sollte, aber sie wussten nicht, auf wen genau sie warteten. Sie wussten nicht, was er machen würde, wen er treffen würde, wie es im Detail aussehen würde. Und sie wussten nicht, warum sie dort warten sollten, und das machte ihnen am allermeisten Sorgen.
Die Stille in dem engen Lieferwagen war beklemmend. Von außen sah der Wagen aus wie jeder beliebige Transporter, was selbstverständlich beabsichtigt war, vor langer Zeit war er wahrscheinlich einmal angeschafft worden, weil das Modell als geräumig und großzügig gegolten hatte. Die Meinung darüber hatte sich im Laufe der Zeit diametral geändert. Jemand hatte einem Stab von Technikern viel zu freie Hand gelassen und ein viel zu hohes Budget gezahlt, und jetzt war der Wagen so vollgestopft mit Monitoren und technischen Geräten, dass er nicht wie ein Arbeitsplatz, sondern vielmehr wie das kostspielig ausstaffierte Jungenzimmer im Haus einer außerordentlich beengt lebenden Familie aussah.
Der Raum hinter der Fahrerkabine war auf ein Minimum beschnitten und mit Regalen bestückt worden, die mit Rechnern und Elektronik gefüllt waren. Reihenweise Maschinen, die bestimmt etwas Wichtiges ermittelten, aber eigentlich die meiste Zeit nur rot und grün blinkten. An einer der Seitenwände hingen zwei Reihen mit Flachbildschirmen, und an die Arbeitsfläche, die sich unter diesen Monitoren erstreckte, zwängten sich vier Männer – mindestens zwei zu viel. Die beiden, die an den Tastaturen saßen, waren nicht derselbe Jahrgang, aber unglücklicherweise dieselbe Gewichtsklasse wie die beiden, die hinter ihnen standen und das Kommando hatten: Der eine war der, den alle »Lassie« nannten, sobald er außer Hörweite war, und der andere war der IT-Experte, sehr schweigsam und hoffentlich älter, als er aussah. Sie standen mit gesenkten Köpfen in dem zu niedrigen Innenraum, Schulter an Schulter. Ihre Blicke klebten an den Monitoren.
Der Ältere sah es als Erster.
Zwei Minuten vor der vereinbarten Zeit.
»Was zum Teufel macht er da?«
Seine Stimme war nicht mehr als ein Ausatmen, aber alle hatten ihn gehört, und als sie begriffen, worauf sich seine Äußerung bezog, da konnten sie es ebenfalls sehen.
Vielleicht war es die Art, wie er sich bewegte. Vielleicht die Angestrengtheit seiner Schritte oder etwas ganz anderes. Was auch immer es war, es sorgte dafür, dass eine Welle der Aufmerksamkeit durch den aufgeheizten Raum zog: dieselbe Wachsamkeit, die einen erfasst, wenn man in der Theaterpause im Augenwinkel eine alte Liebe entdeckt, die man schon seit Jahren nicht mehr gesehen hat, die aber so sehr aus der Menschenmenge heraussticht, dass man seine Augen nicht von ihr lassen kann.
Dort am Rand des Bildausschnitts. Graublauer Mantel über graublauer Kleidung, verschwommene Kontraste, ähnlich der Bildauflösung insgesamt, die übermittelt wurde von den Überwachungskameras. Aber es gab keinen Zweifel. Er war es.
Der Mann zögerte einen kurzen Augenblick vor den Drehtüren am Eingang des Hauptbahnhofs in der Vasagatan. Sah sich um, obwohl er sich gut auskannte, zögerte, bevor er seinen Weg über den graublauen Marmorboden fortsetzte und sich an den anderen graublauen Menschen mit ihren graublauen Reisetaschen vorbeidrängte.
Er hatte sich verändert.
Er rannte nicht, er schlenderte eher. Seine Haare standen in alle Richtungen, als wäre er gerade eben erst aufgestanden, obwohl es schon Nachmittag war. Oder als hätte er dem Wind und der Feuchtigkeit sein Styling überlassen. Er war immer gut angezogen gewesen, scharfzüngig und durchtrainiert, jemand, der bei allen Verwunderung hervorrief, wenn er erzählte, er sei fünfzig geworden – zum wiederholten Mal, ein Witz, der sich bei den vergangenen drei Geburtstagen etabliert hatte. Letztes Mal hat es so viel Spaß gemacht, da dachte ich, ich werde dieses Jahr wieder fünfzig.
Aber in den letzten drei Monaten schien ihn sein wahres Alter eingeholt zu haben. Und nicht nur das: Es sah aus, als hätte ihn sein Alter überholt, als wäre es rechts an ihm vorbeigezogen. Er sah müde aus, gebrochen und alt, seine Jeans klebte schwer von Schnee an seinen Beinen, und als er sich in der Bahnhofshalle umsah, machte er ruckhafte, vogelartige Bewegungen, seine Konzentration wirkte angestrengt, als könnte sie jederzeit in sich zusammenfallen.
Er tauchte auf den Monitoren auf und verschwand gleich wieder, er war auf dem Weg in die gewölbte Haupthalle, lief an den Wandgemälden vorbei und hinüber zu den neuen Rolltreppen, von denen niemand wusste, warum sie besser sein sollten als die alten.
Es konnte unmöglich er sein, auf den sie warteten.
Aber warum war er dann ausgerechnet jetzt dort?
»Was machen wir?«, fragte das Jungengesicht.
»Wir warten ab«, sagte der, der nicht Lassie hieß.
Und das taten sie dann. Zwei lange Minuten lang wurde in dem weißen Lieferwagen kein einziges Wort gesprochen.
Es war nach wie vor erst sieben Minuten vor vier, als das knallgelbe Taxi an der Vasagatan hielt und William Sandberg in den Schneematsch und die Nachmittagsdunkelheit an diesem Montag entließ. Es war der 3. Dezember.
Dicke Schichten aus dunkelgrauen Wolken hingen wie ein tonnenschwerer Topfdeckel an der Stelle, wo eigentlich der Himmel hätte sein sollen. Die Luft war so feucht, dass die Geräusche von Verkehr und Bauarbeiten zu einem einzigen dumpfen Grollen verschmolzen. Überall in den Straßen kämpften die Baustrahler und Straßenlaternen sich mühsam durch die Feuchtigkeit, an alle Fassaden klammerten sich Baugerüste, als hätte jemand die Stadt mit einer gigantischen Zahnspange versehen, in der Hoffnung, dass sie nun richtig weiterwuchs.
Er war müde. Heute so müde wie gestern und wie vorgestern. Wenn er tiefer in sich hineingehört hätte, wäre ihm auch sein Hunger aufgefallen, aber wenn er sich eine Sache nicht zugestand, dann war es dieses In-sich-Hineinhören. Er hatte damit aufgehört, als er begriff, dass seine Gefühle ihn auffraßen, und zwar buchstäblich: auffraßen. Sie fraßen ihn von innen auf, mit großen gierigen Bissen. Von dem ursprünglichen William Sandberg waren mindestens zehn Kilo verschwunden. Diese Diät war noch von keinem Magazin vorgeschlagen worden. Man muss sich nur etwas zulegen, das einem so richtig Sorgen macht.
Er versuchte sich zu konzentrieren. Überquerte den Platz mit großen Schritten und mit so wenig Kontakt wie möglich zu der hauchdünnen Schneedecke, die sich unter seinen Füßen sofort in Wasser verwandelte. Er lief durch die große Haupthalle, in der aus dem Schnee ein spiegelglatter, zimtbrauner Matsch wurde und wo sich der Geruch von Dreck und feuchter Kleidung mit den Gerüchen von superteurem Latte macchiato und dem Atem von Zigtausenden Menschen mischte, die auf dem Heimweg waren.
Aber all das bemerkte William Sandberg nicht. Er nahm weder die Gerüche wahr noch die Hitze auf seinem Gesicht, als der eisige Wind von der Wärme im Inneren des Gebäudes ersetzt wurde, auch nicht die genervten Ellenbogen, die ihn erwischten, als er sich zwischen den Menschen auf seinem Weg zum nördlichen Ausgang hindurchzwängte.
Knapp zwei Wochen waren seit der ersten Mail vergangen, und in exakt sieben Minuten sollte er am Gleis vom Flughafenexpress sein.
Exakt, so hatte es in der Mail geheißen.
Das Einzige, was er empfand, war Hoffnung.
Hoffnung und die Angst, die damit einherging.
Er hatte bereits fünf Minuten am Ticketautomaten gestanden, als er begriff, dass er nach der falschen Sache gesucht hatte.
Das Gleis war voller Geschäftsreisender gewesen, die ihre Rollkoffer hinter sich herzogen, Menschen mit leeren Blicken, die tief in ihrem Inneren überwinterten und auf einen Zug warteten, der sie an einen Ort bringen würde, an dem sie auch wieder nicht sein wollten. William hatte nach denen Ausschau gehalten, die eben nicht gesehen werden wollten. Menschen in schmuddeligen Jacken, die schwere, prall gefüllte Plastiktüten herumschleppten und sich mehrere Lagen Schals um den Hals gewickelt hatten, darüber rastlose frierende Augen. Menschen, die sich unter ihrer ausgebeulten Kleidung versteckten, dicke Schutzschichten trugen gegen die Kälte und gegen den Kontakt zum Rest der Welt.
William Sandberg hatte auf diese Menschen gehofft.
Er hatte gehofft, dass vielleicht einer von denen sich bei ihm gemeldet hätte. Jemand, der etwas zu erzählen hatte, der mit ihm Kontakt aufgenommen hatte, um ihm den Weg zu weisen, ihm eine Adresse zu geben oder irgendetwas.
Hätte er nicht auf diese Menschen gesetzt, wäre ihm der Mann auf dem anderen Gleis schon viel früher aufgefallen.
Er war ein gutes Stück über dreißig, vielleicht sogar schon in den Vierzigern. In einem Ohr ein Headset, der Blick scheinbar geistesabwesend und die Kleidung so bemüht durchschnittlich, dass er, wenn man ihn erst einmal wahrgenommen hatte, aus der Menge herausstach wie ein Kind, das sich hinter einer Gardine versteckte.
Sein Anzug war mattgrau, und darüber trug er eine No-Name-Jacke, die so sorgfältig zugeknöpft war, dass sein Sakko darunter wie ein plissiertes Kleid hervorschaute. Am Ende seiner Anzughose steckten zwei farblose Sneaker. Zusammengefasst schrie diese ganze Aufmachung so lauthals diskret! wie nur möglich – weshalb in gewisser Weise also das genaue Gegenteil dabei herauskam.
Aber was William überzeugte, war das Telefonat, das der Mann führte.
Es schien mehr aus Schweigen denn aus Konversation zu bestehen. Minutenlang hing das Kabel nutzlos vom Ohr des Mannes herunter. Dreimal ertappte sich William bei dem Gedanken, dass er eventuell einen altmodischen Radiosender eingestellt hatte, auf Mono. Und jedes Mal sah er dann, wie der Mund des Mannes sich öffnete und kurze abgehackte Sätze formulierte. Das war alles. Ansonsten stand er unruhig wartend da, legte den Kopf von einer auf die andere Seite, so, als würde er ins Leere sehen. Aber seine Augen erfassten ohne Zweifel jede kleine Regung um ihn herum.
Langsam spürte William, wie eine Bereitschaft in seinem Körper erwachte.
War es ein Fehler gewesen hierherzukommen?
Ehrlich gesagt, wusste er nicht genau, warum er gekommen war. Er hatte mehrere Warnsignale erkannt, sich aber bewusst dafür entschieden, ihnen kein Gehör zu schenken. Er hatte seinem Wunschdenken die Regie überlassen, und darum war er gekommen. Unvorbereitet und vollkommen schutzlos. Vielleicht war er in etwas hineingeraten, das er noch gar nicht überblicken konnte.
Oder aber er war nur ein misstrauischer alter Idiot und sollte sich mal entspannen. Es war weder verboten, einen schlechten Kleidungsstil zu haben, noch war es verboten zu telefonieren, obwohl man beide Verbote vielleicht ernsthaft hätte diskutieren können. William war zu einem geheimen Treffen beordert worden, und ganz offensichtlich hatte sich die Person verspätet. Was war daran besonders auffällig oder sonderbar?
Als der Flughafenexpress in den Bahnhof einrollte, wurde ihm klar, dass er seiner ersten Intuition hätte Glauben schenken sollen.
Der Zug hielt mit seinen tonnenschweren und kreischgelben Wagen am Gleis, zischend und tropfend, während die Reisenden sich aneinander vorbeizwängten, um aus- oder einzusteigen. Zaghaft bildeten sich mehrere Ströme von kleineren Volkswanderungen, die sich in die verschiedensten Richtungen bewegten, mit dem Ziel, ins Hauptgebäude, zu den Taxiständen oder zu einem der anderen Gleise zu gelangen. Und gleichermaßen zaghaft wurde offenkundig, das einige nicht auf dem Weg zu einem neuen Ziel waren.
Zum einen der sehr diskrete Mann mit dem Headset.
Zum anderen aber noch ein weiterer Mann.
Er stand auf derselben Gleisseite wie William, am hinteren Ende. Auch er trug ein Headset im Ohr, auch er war überdeutlich diskret gekleidet und führte offenbar eine ganz ähnliche Unterhaltung. Kurze abgehackte Sätze.
Und wenn man es sich genauer ansah, gab es auch keinen Zweifel mehr.
Sie unterhielten sich miteinander.
Seine Müdigkeit war schlagartig wie weggeblasen. Irgendetwas stimmte hier nicht. William hatte genaue Anweisungen erhalten, sich exakt um vier Uhr einzufinden. Das Wort exakt irritierte ihn, zumal es jetzt fünf Minuten nach vier war und niemand aufgetaucht war. Niemand außer diesen beiden Männern.
Die auf dieselbe Person warteten wie er?
Oder schlimmer noch: die auf ihn warteten?
In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass er denselben Fehler beging wie die beiden. Das Gleis hatte sich zunehmend geleert, wer nicht in den Zug einstieg, der war gerade ausgestiegen und hatte sich zu seinem Ziel aufgemacht. Verdammt. William waren diese beiden Männer ja nur deshalb aufgefallen, weil sie dort standen, wo sie eben standen. Und er verhielt sich jetzt exakt genauso.
Er zögerte nicht länger als zwei Sekunden, dann hatte er einen Entschluss gefasst.
Treffen oder nicht, von seiner Seite aus war die Aktion jetzt abgeblasen. Er wandte sich zum Gehen, mischte sich unter den Strom der Reisenden, die ins Hauptgebäude wollten.
Er kam nur einen Schritt weit.
»Amberlantz?«
Der Mann versperrte William den Weg und hatte einen so beeindruckenden Brustkorb, dass es in jeder anderen Situation zum Brüllen komisch gewesen wäre. Aber jetzt hatte es nur etwas sehr Beunruhigendes. Und er war viel zu dicht bei ihm. Er war mit dem dritten Exemplar des diskreten Anzuges ausgestattet – vielleicht hatten sie einen Mengenrabatt bekommen – und stand breitbeinig und massiv vor ihm. Die Arme hingen wie in Bereitschaft an seinem Körper herunter. Aber bereit für was?
»Und Sie sind?«, fragte William.
Er biss sich in Gedanken auf die Zunge. Hätte er nicht vielmehr so tun müssen, als wüsste er von nichts? Natürlich hätte er das tun sollen.
»Ganz ruhig bleiben«, antwortete der Mann anstatt einer Antwort. Nordschwedischer Dialekt, ein kalter und präziser Befehl, und doch hatte er eine Nuance gehört. War es Angst? »Folgen Sie uns, dann passiert auch nichts.«
Uns?
»Wenn Sie andeuten, dass mir nichts passieren wird«, entgegnete William, um Zeit zu gewinnen, »könnten Sie präzisieren, was es denn sein wird, das mir nicht passiert?«
Der Nordschwede hob mit einer leichten Geste die Seite seines Mantels an.
Und mehr Information benötigte William nicht.
Später konnte er nicht mehr rekonstruieren, was ihn zu seiner Entscheidung bewogen hatte. Die Waffe war es eigentlich nicht gewesen. Was da unter dem Sakko in einem schwarzen Nylonholster steckte und seiner Meinung nach eine Sig Sauer sein musste, war zum einen die gewöhnlichste Dienstwaffe der schwedischen Polizei, zum anderen auch beunruhigend häufig in der Unterwelt vertreten.
Aber sie war nicht der Auslöser. Auch nicht das Headset. Das William in seinem Misstrauen bestärkte, dass dieser Mann zu den beiden anderen gehörte und er keine Chance hatte zu entkommen. Nein, auch das hatte ihn nicht zur Flucht bewogen.
Es war der Zufall, der alles entschied.
Der Zufall, das Timing und die Dunkelheit.
Tage, an denen sich das Leben verändert, beginnen wie alle anderen Tage auch.
Alles ist wie immer, bis es das nicht mehr ist.
Als sechs Minuten nach vier durch einen totalen Stromausfall in großen Teilen Schwedens plötzlich tiefschwarze Dunkelheit herrschte, war es noch ein Tag wie jeder andere. Ein feuchtkalter Nachmittag in einem jahreszeitlichen Grenzland, das weder Herbst noch Winter sein wollte.
Im Stockholmer Hauptbahnhof verschwand alles Licht, die Loks verloren an Kraft und versanken in tiefe Stille, Monitore und Anzeigetafeln erloschen.
In den Krankenhäusern und auf dem Flughafen sprangen sofort die Notstromaggregate an, aber auf den Straßen, in den Tunneln und auf den Eisenbahntrassen gingen die Lampen und Lichter aus und sorgten für Stau und Verwirrung.
Das war nervig und unpraktisch und ein verdammter Skandal. Man muss sich nur einmal vorstellen, wie es ist, stundenlang mitten auf der Bahntrasse stecken zu bleiben oder in einem Aufzug. In was für einem Land leben wir eigentlich?
Aber für die meisten war das auch schon alles.
Nicht für William Sandberg.
Für ihn war das der Anfang des Abends, an dem sein Leben seinen Sinn verlor.
Für den Mann in dem weißen Lieferwagen auf dem Klarabergsviadukt war es die Bestätigung dessen, dass die Sache im Begriff war, sich unkontrolliert auszuweiten.
Die Innenstadt war als Erstes betroffen.
In der U-Bahn erloschen die Motoren und alle Lichter gleichzeitig. Die Passagiere fielen wie Kegel um, als die Notbremsen automatisch aktiviert wurden und der Zug nach nicht einmal zehn Metern zum Stillstand kam.
Überirdisch gingen die Straßenlaternen und die Reklameschilder aus. Aufzüge und Rolltreppen blieben abrupt stehen, Espressomaschinen brachen ihr Tun auf halber Strecke ab. Überall waren Flüche und Wutausbrüche zu hören. Innerhalb weniger Augenblicke bildete die Dunkelheit wachsende, konzentrische Kreise, ausgehend von der Innenstadt, dann von Viertel zu Viertel und hinaus zu den Vororten, bis die ganze Stadt zu einem bleigrauen Labyrinth an einem ebenso bleigrauen Nachmittag geworden war.
Alles stand still.
Und mitten auf der Kreuzung vom Sveavägen und der Rådmansgatan saß Christina Sandberg fest.
Sie war miserabler Laune, und das war etwas, wofür sie im Moment weder Verwendung noch Zeit hatte.
Sie saß auf dem Rücksitz eines schwarzen Mercedes, in eine Ecke gegen die Fensterscheibe gepresst, und klammerte sich krampfhaft an Türgriff und Nackenstütze. Aber das half natürlich überhaupt nichts. Wer bitte schnallte sich heutzutage noch in einem Taxi an? Das waren doch Profis, die da fuhren. Außerdem wollte man zumeist nur eine kurze Strecke zurücklegen.
Aber just dieser Profi hatte auf dem Weg von Sollentuna in die Innenstadt sowohl ihr als auch sein Leben mehrfach aufs Spiel gesetzt. Er hatte seinen Blick auf das monochrome gelbe Taxameter geheftet und frenetisch mit den Fingerkuppen auf den Knöpfen herumgehämmert, ununterbrochen auf der Jagd nach der nächsten Tour. Gleichzeitig verfügte er über ein beeindruckendes Repertoire an Flüchen und Schimpfwörtern, das großzügig den anderen Verkehrsteilnehmern zugedacht wurde, die ihn bei seiner Arbeit störten.
Sie hatten gerade die Birger Jarlsgatan verlassen und waren in die Rådmansgatan gebogen, als Christina tatsächlich überlegt hatte, sich anzuschnallen. Aber schon im nächsten Augenblick war es zu spät gewesen.
Zuerst hatte sie gar nicht begriffen, was passiert war. Es hatte sich angefühlt, als wären sie in einen Tunnel gefahren – aber hier gab es doch gar keinen Tunnel? –, und sie hob verwundert den Blick. Sie sah in eine pechschwarze Version ihrer Heimatstadt: ohne Schaufenster, ohne Weihnachtsdekoration, ohne Ampelanlagen. Den Lastwagen hatte sie aus dem Augenwinkel gesehen, er kam von links auf sie zugeschossen, ohne die geringste Absicht zu bremsen. Vermutlich hatte der Fahrer das Verschwinden der roten Ampel als ein Umspringen auf Grün gedeutet. Aber wie sehr man sich auch über den Fluchkönig da vorn am Steuer auslassen mochte, an seinen Reaktionen gab es nichts zu bemängeln.
Mit einer einzigen Bewegung stieg er in die Bremsen und riss gleichzeitig das Steuer herum, Christina wurde quer über die Rückbank geschleudert, spürte, wie der Wagen kurz abhob und über den Schneematsch rutschte. Dem Lastwagenfahrer, ob aus Geschicklichkeit oder Panik, gelang es, in einer Entfernung von wenigen Millimetern an der Motorhaube vorbeizurauschen.
Sie hatte nicht einmal Luft holen können, bevor der Bus von der anderen Seite auf sie zukam.
Er tauchte hinter dem Lastwagen auf, mit vollem Tempo. Es war unmöglich gewesen, ihn vorher zu sehen, und dieses Mal gab es keine Gelegenheit oder Zeit zu reagieren. Er traf das Taxi am rechten Kotflügel, wie eine Kricketkugel eine andere, und Christina segelte wie schwerelos und in Zeitlupe über die Rückbank, widerstandslos wie ein ungewöhnlich gut geschminkter Crashtest-Dummy in Jeans und Sakko.
Und jetzt saß sie also dort in der Ecke vom Wagen.
Mitten auf der Kreuzung vom Sveavägen und der Rådmansgatan, am Leben zwar, aber in die Ecke des Rücksitzes gepresst. Vor sich sah sie die Motorhaube, in die sich der Linienbus wie ein riesiger roter Archäologe vergraben hatte, und dahinter ein ebenfalls in Dunkelheit getauchtes Café, aus dem die Zeugen des Unfalls gestürzt kamen, um im Licht der Autoscheinwerfer das Geschehen in Augenschein zu nehmen.
Die Stille war überwältigend.
Sie hörte nur das Geräusch ihres eigenen Atems, das sich mit dem Atemgeräusch vom Fahrersitz mischte und begleitet wurde vom leisen Rauschen aus dem Radio, das sie von Sollentuna bis eben mit Musik versorgt hatte, jetzt aber zwischen zwei Sendern stecken geblieben zu sein schien.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte sie.
Sie sah einen nickenden Kopf und zwei vor Angst geweitete Augen im Rückspiegel.
»Und Ihnen?«, fragte der Fahrer. Als sie versicherte, dass es ihr gut gehe, murmelte er etwas von Endstation und bitte aussteigen und bot ihr sogar an, auf die Bezahlung zu verzichten.
Als sie ausstieg, wurde sie von der Nacht förmlich verschluckt. Die Dunkelheit in den Straßen wurde nur durch das kalte Abblendlicht der Autos durchbrochen, die angehalten hatten. Hier und da war hinter dem feinen Nieselregen das hellblau erleuchtete Gesicht von einem der Autofahrer zu sehen, der in seinem Wagen saß und vom Licht der Armatur beschienen wurde.
Am nördlichen Ende des Sveavägen standen die Hötorg-Hochhäuser, am südlichen das Wenner-Gren-Center. Aber beide Komplexe waren unsichtbar.
Irgendwo da oben hingen die Straßenlaternen, auch sie unsichtbar und dunkel, und am Boden erstreckten sich in alle Richtungen bleigraue Hausfassaden und verschwanden im nebeligen Nichts.
Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass ihr das Angst machte.
Wie sich die Dunkelheit bedrohlich näherte und sie spürte, wie ihr Unbehagen darüber wuchs, dass die Wirklichkeit plötzlich aufgehört hatte zu funktionieren. Als hätte jemand den Hauptstromschalter für die ganze Welt umgelegt, und das Leben würde ab jetzt für immer so sein.
Sie kam ihr bekannt vor. Diese Angst.
Und sie zwang sich dazu, sie abzuschütteln.
Es war nur ein Stromausfall, beruhigte sie sich, irgendwo war ein Kabel bei Bauarbeiten zerschnitten worden, oder jemand hatte die falsche Sicherung eingebaut, es gab keinen Grund, sich der Flut ihrer Emotionen hinzugeben.
Sie schob die Gefühle beiseite und versuchte, an etwas anderes zu denken. Eine kurze Einschätzung der Situation in Bezug auf ihre Verwertbarkeit. Stockholms Innenstadt versinkt in Dunkelheit. War das nicht eine gute Schlagzeile?
Natürlich war es das. Sie holte ihr Handy hervor, um gleich in der Redaktion anzurufen. Als sie auf das Display sah, änderte sie ihre Meinung. Das hier war mehr als nur eine gute Schlagzeile.
Kein Netz.
Erneut wurde ihr schwindelig vor Angst, aber dieses Mal war sie besser vorbereitet, sie zwang sich dazu, über die entsprechenden Meldungen nachzudenken.
Also war auch das Mobilfunknetz außer Betrieb – was hatte das zu bedeuten? Und wie viele Menschen waren davon betroffen? Die gesamte Innenstadt? Oder noch mehr?
Das hier war eine Eilmeldung – breaking news. Wenn die Bewohner von Schwedens Hauptstadt ohne Strom dasaßen, ohne die Möglichkeit, Hilfe zu rufen, und dieser Zustand womöglich anhalten würde, dann wurde das Ganze zu einer nationalen Sicherheitsfrage. Da ging es um die schwedische Gesellschaft. Und das erforderte Druckerschwärze.
Christina Sandberg sah sich um.
Sie hob ihr Handy hoch in die Luft und schoss wahllos ein paar Fotos, die Kreuzung mit den Autos, hier und da kleinere und mittelgroße Blechschäden, hier und da Verkehrsteilnehmer, die mithilfe der Taschenlampenfunktion ihres Telefons die Kotflügel und die entstandenen Schäden begutachteten.
Sie hatte schon die ersten Sätze im Kopf formuliert, als sie sich auf den Weg nach Kungsholmen ins Büro machte.
Als der Stromausfall auch den Hauptbahnhof traf, passierte alles auf einmal.
Wie unter einer hohlen Hand schloss sich die Dunkelheit über die Schienen und Gleise, und die Pupillen, die sich an das künstliche Licht im Inneren des Gebäudes gewöhnt hatten, kämpften mit der neuen Herausforderung. Mit einem Schlag waren alle Referenzen und Konturen verschwunden, einfach alles.
Aber hören konnte man noch.
Und was William hörte, war, wie der Stoff eines Mantels hochgeschoben wurde.
Keinen Meter vor ihm hatte der Nordschwede seine Waffe gezogen, William blinzelte, obwohl es keinen Unterschied machte. Er war überzeugt, dass er gleich sterben würde.
Allerdings, was hatte er schon zu verlieren?
Die Dunkelheit war seine Rettung, redete er sich ein. Er würde nur diese eine Chance bekommen. Er warf sich zur Seite in die umstehende Menschenmenge, fest entschlossen, diesen einen Fluchtversuch zu wagen, obwohl er gar nicht wusste, vor wem er eigentlich floh.
Er rannte in Richtung Hauptgebäude, stieß Passanten beiseite, denn wenn er die große Eingangshalle erst einmal erreicht hätte, dann würde er in der Menge untertauchen und davonkommen können. Er hörte den Mann hinter sich, hörte, wie er sich näherte, ihm nachbrüllte, dass er stehen bleiben solle, als würde er es sich tatsächlich anders überlegen und umdrehen, nur weil seine Verfolger es ausreichend oft und laut vorschlugen. Da vorn war schon die Halle.
Er sah vereinzelt schwache Lichtquellen, die phosphoreszierenden Schilder der Notausgänge, die ihm verhießen, dass er auf dem richtigen Weg war. Er erhöhte sein Tempo …
Die Glastür zur Eingangshalle war in der Dunkelheit unmöglich zu sehen gewesen.
Aber spüren konnte er sie umso deutlicher.
Der Schmerz war so intensiv, dass er zuerst dachte, er sei angeschossen worden. Er war auf seine Rettung zugestürmt, und dann war das Glas im Dunkeln vollkommen unsichtbar gewesen, keine Lichtreflexe waren darauf zu sehen, außerdem waren die Motoren ausgefallen, die für den Drehtürmechanismus zuständig waren.
Sein ganzer Körper schrie vor Schmerzen. Er hörte, wie es in seinem Nacken, im Gesicht und im Brustkorb knackte. Seine Zunge schmeckte nach Metall, vielleicht fühlte es sich so an, wenn man starb.
Er brauchte nur eine Sekunde, um zu begreifen, dass er noch lebte. Ansonsten hätte sich nämlich der Schmerz nicht verdoppelt, als sie ihn von hinten packten. Als sie ihm die Arme in einem Winkel auf den Rücken drehten, gegen den seine Muskeln sich wehrten, und sein Gesicht und die Brust fest gegen die Glasscheibe pressten. Er fühlte sich wie eine vakuumverpackte Version seiner selbst.
Hinter ihm standen drei unsichtbare Männer in diskreten Outfits. Was auch immer hätte geschehen sollen, dort am Gleis vom Flughafenexpress, exakt um vier Uhr – das hier hatte William Sandberg nicht erwartet.
Christina Sandberg hatte die Brücke Barnhusbro erreicht, als sie zum ersten Mal stehen blieb.
Ganz Stockholm lag vor ihr. Die City zur Linken, Södermalm dahinter und die schwarzen Stricke der Sendemasten in Nacka, die eigentlich deutlich sichtbare weiße Lichtimpulse hätten übertragen sollen. Aber das taten sie nicht. Wohin sie auch sah, nichts als Dunkelheit: Kungsholmen, Karlberg, Solna, Vasastan. Alles unsichtbar.
Für einen kurzen Moment begaben sich ihre Gedanken auf Wanderschaft. Wie aus dem Nichts meldete sich das Gefühl von Sehnsucht – nein, halt, von Schuld –, und sie schlang sich den langen schwarzen Mantel enger um ihren Körper, blieb mit verschränkten Armen stehen. Sie fror, dachte sie zumindest. Aber dann begriff sie, dass nicht die Kälte die Erklärung für ihre Armhaltung war.
Es war eine Übersprungshandlung, eine Geste von telepathischer Bedeutungslosigkeit.
Sie hatte den Mantel zugezogen, damit sie nicht fror.
Sie, die sich von ihnen abgewandt hatte, sie verlassen und im Stich gelassen hatte – ja: Sie hatte sie beide im Stich gelassen. Und – wenn sie schon dabei war, ehrlich zu sein – das hatte sie auch auseinandergetrieben, William und sie.
Es war verboten, so zu denken. Trotzdem konnte sie es nicht verhindern. Es war unmöglich, ihr selbst nicht wenigstens einen Teil der Verantwortung zuzuschieben. Aber allein schon der Gedanke daran erzeugte eine nagelneue Schicht von Schuldgefühlen, die sich auf die alten legte und das Gedankenkarussell in Gang setzte, bis es nicht mehr aufzuhalten war.
Irgendwo dort draußen musste sie sein. Er vermutlich auch, immer in Bewegung, auf der Flucht vor etwas, vor sich selbst, seinem Gewissen oder sogar vor ihr, Christina Sandberg? Eigentlich scheißegal.
Es war, wie es war.
Sie war die Chefredakteurin von Schwedens größter Abendzeitung, und nichts wurde bewegt, wenn man nur herumstand und vor Selbstmitleid zerfloss.
Die Stadt lag im Dunkeln.
Das hier, dachte sie, während sie ihren Weg fortsetzte, das hier hatte ganz große Nachrichtenqualität.
Es sollte sich herausstellen, dass sie damit mehr als recht hatte.
Das Mädchen, das nicht ahnte, dass es bald sterben würde, kämpfte gegen zwei Dinge an.
Zum einen gegen den eigenen Körper. Der sie nicht tragen wollte, sich nicht so schnell bewegen wollte wie sie, der rasant gealtert war, obwohl sie nicht älter als zwanzig war. Ein Körper, vor dem andere zurückwichen, obwohl sich das Mädchen das Gegenteil wünschte.
Ihr Körper, der sich unter größter Kraftanstrengung nur in Zeitlupe durch die menschenüberfüllte Dunkelheit im U-Bahnhof unter dem Hötorg kämpfte.
Dieser Körper war der eine Gegner.
Der andere war die aufsteigende Panik. Was zum Teufel ging hier vor?
Stromausfall. Die einzigen Lichtquellen waren die phosphoreszierenden Schilder der Notausgänge, die in zartem Grün an den Wänden leuchteten. Sie hatte den Eindruck, dass Tausende von Daunenjacken in unterdrückter Panik in alle Richtungen durcheinanderrannten. Es war undenkbar, dass sie das alles verursacht hatte. Vollkommen undenkbar. Oder doch nicht?
Sie hätte eigentlich gar nicht dort sein dürfen. Sie hätte zu Hause bleiben sollen – was immer zu Hause auch bedeutete –, dort, wo sie sich und ihre Habseligkeiten verstecken konnte. Zumindest, bis man sie entdeckte und sie ihr Versteck ohnehin würde aufgeben müssen.
Der Vergnügungspark hatte seit September seine Tore für die Winterpause geschlossen. Schon seit August hatte er nur noch am Wochenende geöffnet gehabt, und wenn man den Wachen aus dem Weg ging und wusste, welche Ecken nicht regelmäßig bewacht wurden, wenn man vorsichtig war und clever, dann konnte man dort sechs Monate lang relativ ungestört wohnen, eingezäunt, beheizt und mit einem Dach über dem Kopf. Was hätte man sich sonst wünschen können?
Ihr Zuhause, sollte sie jemand danach fragen, war auf Djurgården.
Aber es fragte niemand.
Ihr Zuhause war der Ort, den sie schon als Kind geliebt hatte, wo die runden Lichter in grellen Farben blinkten, die Waggons über die Achterbahnschienen ratterten und Freudenschreie zu hören waren. Darunter auch ihre.
Aber jetzt waren die Lichter erloschen. Die Schienen, Wagen und glitzernden Glasfiberkörper lagen unter Schutzbezügen verborgen. Manchmal lief sie an den Wagen vorbei und dachte, dass sie waren wie sie. Wie die Reste eines Festes, nachdem alle nach Hause gegangen waren. Und irgendwo zwischen den dünnen Bretterverschlägen und dem kalten korrodierenden Blech war ihr Zuhause. Sie empfand so etwas wie Stolz, ohne das genauer erklären zu können. Sie hatte ihr eigenes Leben, ein Scheißleben zugegebenermaßen, aber es war ihr Scheißleben, nicht deren Scheißleben, und das war das einzig Wichtige.
Zumindest hatte es sich immer so angefühlt.
Aber die Dinge änderten sich.
Und darum war sie nun in diesem pechschwarzen U-Bahnhof und kämpfte sich die stehende Rolltreppe hinauf, hinaus in die feuchtkalte Abendluft.
Erst draußen vor dem Bahnhof bemerkte sie, dass es dort genauso dunkel war. Sie wusste, dass es noch Tag war, und trotzdem herrschte Nacht. Auf dem Platz standen Gemüse und Blumen unter jetzt unbeleuchteten Markisen, und auf der anderen Seite der lichtlosen Markisenreihe erhob sich die große Glasfassade des Kinos wie ein leerer, schwarzer Kubus. Eingerahmt von leblosen Gebäuden mit schlafenden Firmennamen und Schaufenstern.
Aber inwiefern konnte sie daran schuld sein?
Vielleicht wurde sie allmählich paranoid.
Sie versuchte sich zu beruhigen.
Vielleicht überdrehte ihre schräge Auffassung der Wirklichkeit einfach alles: Sie hatte seit mehreren Tagen nichts mehr genommen, vielleicht spürte sie nur den Entzug. Vielleicht war diese Unruhe ein weiteres Symptom, eine Version dieser schwitzenden Rastlosigkeit, die sie ständig befiel, gepaart mit einer übergroßen Angst, wegen der sie früher oder später immer wieder rückfällig wurde.
Aber nicht dieses Mal, das hatte sie sich geschworen.
Sie setzte ihren Weg fort, entfernte sich von dem Platz, immer wachsam, ob Rufe, Stimmen oder Schritte sie verfolgten.
Früher oder später würden sie nach ihr suchen. Da war sie sich sicher. Wahrscheinlich gab es Aufnahmen von ihr – die Überwachungskameras verfügten garantiert über Sicherungskopien –, und solange sie sich in dieser Verfassung durch die Stadt bewegte, verdreckt, mit Entzugserscheinungen, zitternd und mit einem dünnen Nylonrucksack über der Schulter, in dem sich ein 2.000 Euro teurer Laptop befand, so lange brauchte man kein ausgewiesener Kriminologe zu sein, um sie in der Menge auszumachen.
Aber was hatte sie für eine Wahl gehabt?
Sie hatte den Stromausfall hervorgerufen, denn – wie sollte es sonst gewesen sein? Warum und vor allem wie, das wusste sie nicht, aber sie war noch immer in der Lage zu beurteilen, ob etwas real war oder nicht. Und das hier war auf jeden Fall real. Es war wirklich passiert.
Wobei die Wirklichkeit ihr bei Weitem nicht die größten Sorgen bereitete.
Weder die Dunkelheit noch ihre Tat oder die Angst, wegen des Diebstahls gestellt und verhaftet zu werden. Das alles machte ihr keine Sorgen.
Was sie quälte, war das, was nicht geschehen war. Das, was sie hätte tun sollen.
Es war zehn Minuten nach vier am Nachmittag des 3. Dezember.
Alles lag in tiefer Dunkelheit, der Schnee fiel vom Himmel und wurde zu Wasser.
Und durch dieses Dunkel rannte Sara Sandberg, das Mädchen, das bald sterben würde. Und irgendwo in dieser ungastlichen Feuchtigkeit, dieser bleigrauen Hölle namens Stockholm, die sie ihr Zuhause nannte, irgendwo dort war der Mann, der sich ihr Vater nannte.
In ihrem Rucksack hatte sie eine Warnung für ihn.
Diebesgut, das auf Diebesgut gespeichert war und in Diebesgut herumgetragen wurde.
Und sie allein war schuld daran, wenn diese Warnung ihn nicht rechtzeitig erreichte.