Cover

Johanna Reiss

Und im Fenster der Himmel

Eine wahre Geschichte

Aus dem Englischen von Nina Frey

Deutscher Taschenbuch Verlag

Über Johanna Reiss

© Mark Berghash

Johanna Reiss, 1932 als Johanna (Annie) de Leeuw im niederländischen Winterswijk geboren, erzählt in ›Und im Fenster der Himmel‹ ihre eigene Lebensgeschichte. Ihre Erlebnisse während des Zweiten Weltkriegs wollte sie eigentlich nur für ihre beiden Töchter zu Papier bringen. »Ursprünglich dachte ich, das habe ich in einer Woche geschafft«, meinte sie. »Erst, als ich anfing zu schreiben, merkte ich, an wie viel ich mich erinnerte, an Dinge, über die ich niemals gesprochen hatte, weil sie zu weh taten.«

Das Buch wurde zu einem großen, unter anderem mit der Newbery Honor und dem Buxtehuder Bullen ausgezeichneten Erfolg; zwei weitere Bände mit Erinnerungen sind seitdem gefolgt. Die ehemalige Lehrerin lebt in New York und spricht bis heute regelmäßig als Zeitzeugin vor Schülern auf der ganzen Welt.

 

 

Nina Frey studierte Anglistik und Germanistik und arbeitete lange im Kunsthandel. Heute lebt sie als Übersetzerin in Wien.

Über das Buch

Frühjahr 1940: Als die Deutschen die Niederlande besetzen, geraten die achtjährige Anni und ihre Schwester in große Gefahr - weil sie Juden sind. Hilfreiche Bauern verstecken die beiden Schwestern in einer Kammer im Dachgeschoss. Sie leben dort in drangvoller Enge, sehnen sich nach frischer Luft und Bewegung und wissen nicht, wie lange sie sich noch verbergen müssen. Und jederzeit können sie entdeckt werden …

 

Die berührenden Kindheitserinnerungen einer Zeitzeugin.

 

Erstmals vollständig und werkgetreu übersetzt.

Impressum

Diese Übersetzung wurde mit einem Arbeitsstipendium des Deutschen Übersetzerfonds und einem Übersetzerstipendium der Stadt Wien gefördert.

 

Zu diesem Band gibt es ein Unterrichtsmodell unter www.dtv.de/lehrer zum kostenlosen Download.

 

 

Neuübersetzung 2015

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 1972 Johanna Reiss

Titel der amerikanischen Originalausgabe:
›The Upstairs Room‹,

1972 erschienen bei Thomas Y. Crowell Co., New York, published by arrangement with HarperCollins Children’s Books, a division of HarperCollins Publishers

© der deutschsprachigen Ausgabe:

2011 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlaggestaltung: buxdesign und Carla Nagel, München

unter Verwendung eines Fotos von Plainpicture

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (02)

 

eBook ISBN 978-3-423-42786-9 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-78285-2

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423427869

 

 

 

 

Jim zum Gedächtnis

Dieses Buch handelt von meinem Leben, oder vielmehr von einem Teil meines Lebens – jenem Teil, der sich während des Zweiten Weltkriegs in Holland ereignete. In diesem Buch bin ich zu jenen Jahren zurückgekehrt, als ich ein Kind war, und Jüdin, und daher unerwünscht, als ich mich vor den Deutschen verstecken musste.

Ich habe nicht versucht, ein Buch über die Geschichte dieser Zeit zu schreiben, auch wenn es einen gewissen geschichtlichen Wert haben mag. Was ich zu schreiben versucht habe, war ein schlichtes, menschliches Buch: darüber, wie meine Schwester und ich litten und klagten und manchmal etwas auszusetzen fanden an der nichtjüdischen Familie, die uns einige Jahre bei sich aufnahm; eines, in dem die Mitglieder dieser Familie keine Helden waren, sondern Menschen, mit Stärken und Schwächen.

JOHANNA REISS

 

 

 

 

Viele der im Buch beschriebenen Orte in Winterswijk
und Usselo sind äußerlich unverändert noch heute
zu sehen, darunter das Haus der Oostervelds.
Die Stiftung »Vrienden van Kolle Kaal«
(www.stichting-kolle-kaal.org)
bietet dazu Unterrichtsmaterialien und Führungen an.

EINLEITUNG

Der Zweite Weltkrieg begann 1939 mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen, doch angebahnt hatte er sich schon viele Jahre, vielleicht zwei Jahrzehnte lang – seit die Deutschen den Ersten Weltkrieg verloren hatten und gezwungen gewesen waren, einen Friedensvertrag zu unterschreiben, den sie als grob unbillig und demütigend empfanden. Besonders übel nahmen sie die Tatsache, dass ihnen nicht mehr als eine auf ein symbolisches Maß beschränkte Armee zugestanden worden war. Viele Kriegsheimkehrer fanden keine Arbeit und suchten in ihrem Zorn nach einem Ventil für ihre Enttäuschung.

Adolf Hitler war im Ersten Weltkrieg leidenschaftlicher Soldat im deutschen Heer gewesen, und als Deutschland den Krieg verlor, war er noch bestürzter als die meisten. Er beschloss, Politiker zu werden und seinem Land wieder Ruhm zu verschaffen. Er nährte einen unvorstellbaren Hass auf Juden und machte sie für Deutschlands Niederlage verantwortlich. Auch anderen machte er diesen Vorwurf, doch nie den deutschen Soldaten. Diese, so sagte er, seien tapfer gewesen und tüchtig und hätten niemals den Krieg verloren. Viele unzufriedene Deutsche – darunter die frustrierten Kriegsveteranen – stimmten Hitlers Ideen aus vollem Herzen zu und traten seiner jungen Nazipartei, der NSDAP, bei. Sie waren überzeugt, dass unter seiner Führung Deutschlands Demütigung und Niederlage ausradiert werden würden. Er hatte es versprochen.

Im Jahre 1933, nachdem Hitler Reichskanzler geworden war, wurde die NSDAP zur einzig rechtmäßigen Partei erklärt. Hitler begann, die Armee wieder aufzubauen, was ihm der Friedensvertrag eigentlich nicht erlaubte, aber die Welt war gerade dabei, sich von einer schweren Finanzkrise zu erholen, und hatte zu viele eigene Probleme, um sich um Hitler kümmern zu können. Die meisten Deutschen wünschten sich ein militärisch starkes Deutschland und waren über seine Maßnahmen hocherfreut. In den Schulen lernte man von der Herrlichkeit militärischer Macht, und wie – nach Hitler und den Millionen ergebenen Anhängern seiner Partei – die Juden an praktisch allen Übeln der Welt schuld waren, und dass man sie dafür bestrafen sollte. Das deutsche Radio, die deutschen Zeitungen und Filme erzählten der Öffentlichkeit dasselbe. Der Hass auf die Juden wuchs, und schon bald wurden Gesetze erlassen, Juden aus ihren Berufen zu entlassen, ihnen ihr Eigentum wegzunehmen, sie zu schlagen und zuletzt – sie umzubringen.

Hitlers Pläne, Deutschland zur beherrschenden Weltmacht zu machen, waren schon weit fortgeschritten, als seine Armee am ersten September 1939 Polen überfiel. Zwei Tage später erklärten England und Frankreich Deutschland den Krieg, und fast sofort traten diesen beiden alliierten Ländern andere bei, darunter Kanada und Australien. Davon keineswegs entmutigt, pflügten sich die Deutschen im Frühjahr und Frühsommer 1940 durch fast ganz Nordwesteuropa. Dänemark nahmen sie als Erstes ein, dann folgten Norwegen, Holland, Belgien, Luxemburg und Frankreich. In jedem Land, das sie besetzten, führten die Deutschen ein straffes System zur »Bestrafung« der Juden ein.

Im April 1941 griffen Hitlers Soldaten in Nordafrika an, um dem deutschen Bündnispartner Italien im Kampf gegen die dortige britische Streitmacht beizustehen, und im Juni 1941 marschierten die Deutschen in Russland ein. Hitlers Erfolg versetzte ihn in einen wahren Freudentaumel. Doch noch bevor seine Truppen russischen Boden betraten, hatte Hitler gegenüber Japan ein Versprechen abgegeben. Sollte es zum Zusammenstoß zwischen Japan und den USA kommen, würde er jener Nation beistehen. Der Zusammenstoß erfolgte im Dezember 1941, und Hitler erklärte den USA den Krieg, nur Stunden, bevor die USA ihrerseits Deutschland und Italien den Krieg erklärten.

Hitler ahnte nicht, wie stark Russland und Amerika sein würden. Viele Schlachten wurden die nächsten dreieinhalb Jahre lang geschlagen, und Stück um Stück mussten die deutschen Soldaten jedes Land, das sie besetzt hatten, wieder aufgeben. Sogar ihr eigenes Land wurde zuletzt zum Schlachtfeld, und im Frühjahr 1945 trafen die Russen und die anderen Alliierten in Berlin zusammen. Der Krieg war zu Ende.

Er war entsetzlich gewesen. Menschen auf der ganzen Welt hatten gelitten. Diese Geschichte erzählt vom Leiden der Juden in Holland.

1

1938 war ich noch nicht sehr groß, erst sechs, und ein ziemlicher Winzling. Winzig genug, um mich zwischen die Wand und Vaters Stuhl zu quetschen, der damals immer direkt vor das Radio gerückt stand. Dort saß Vater vornübergebeugt, die Arme auf die gespreizten Beine gestützt, damit er das Gesicht möglichst nah ans Gerät halten konnte. Und lauschte.

»Vater, schau mal.« Ich hielt ihm eine Zeichnung hin, die ich gemacht hatte.

»Psst!«

»Vater, kannst du …«

Er hörte zu. Allerdings nicht mir.

Wo lag dieses Österreich, das Hitler im Frühling an Deutschland angeschlossen hatte? Das war gar nicht nett gewesen, oder? So wütend, wie Papa dreingeschaut hatte.

Hitler. Im Radio sprachen sie nur noch von Hitler. Der musste ein wichtiger Mann sein in Deutschland. Warum konnte der die deutschen Juden nicht leiden? So musste es nämlich sein. Sonst würde er ihnen ja nicht das Leben schwermachen. Davon erzählten sie immer im Radio.

»Vater …«

»Psst!«

Oder warum sonst sollte er die Juden nur zu bestimmten Zeiten ihr Essen kaufen lassen? Oder sie verhaften und ins Gefängnis werfen? Nur dass das Gefängnis Lager hieß. Aber Holland war ja nicht Deutschland. Ich lächelte. Ein Glück! Wenn wir in Deutschland lebten, wäre er zu uns ja vielleicht genauso. Dieser Hitler musste auch der Mann sein, der den Deutschen gerade erlaubt hatte, den Juden ihre Sachen zu stehlen. Wenn sie etwas haben wollten, durften sie es sich einfach nehmen. Oder es verbrennen. Die Deutschen durften die Juden sogar verhaften, einfach so.

Im Radio hieß es, dass irgendwas passiert war. Ein jüdischer Junge hatte einen deutschen Mann umgebracht. Das war natürlich nicht nett. Aber den Leuten in Deutschland zu erlauben, die ganze Nacht lang durch die Stadt zu ziehen und den Juden all diese Dinge anzutun, das war auch nicht nett. Diese Nacht hatte sogar einen eigenen Namen: Kristallnacht.

»Vater, was heißt denn Kristallnacht

»Psst, Annie. Ich will das hier hören.«

Das sagte er dauernd in letzter Zeit. Und das passte mir gar nicht. Früher hatte er viel mehr mit mir gesprochen, ganz lieb. Sogar mit mir gespielt hatte er. Wie sollte ich je irgendwas herausbekommen, wenn er meine Fragen nicht beantwortete? Ich stand auf. Mutter würde es mir erklären. Ich ging zu ihr ins Schlafzimmer, um mich bei ihr zu erkundigen, was Kristallnacht bedeutete, doch sie hatte schon wieder Kopfweh. Wie kann man von kranken Nieren Kopfweh bekommen?

Wie auch immer, Deutschland war ja nicht Holland. Aber trotzdem. Winterswijk lag gleich an der deutschen Grenze, keine zwanzig Minuten entfernt. So nah war das. Einige Bauern lebten so dicht an der Grenze, dass ihre Kühe in Deutschland weideten, einfach ihrem Haus gegenüber, jenseits des Feldwegs. Das wusste ich, weil mein Vater Viehhändler war und mich oft mitnahm, wenn er Kühe kaufen ging.

Ich war froh, dass wir mitten in Winterswijk wohnten, nicht so nah an Deutschland, dass man es vom Fenster aus sehen konnte. Aus meinem Fenster hatte ich eine viel schönere Aussicht: das Haus der Familie Gans, gleich auf der anderen Straßenseite. Die Gansens winkten mir oft zu, wenn ich mich abends aus dem Fenster lehnte – das alte Ehepaar und ihr großer Sohn. »Zurück ins Bett«, riefen sie, »oder wir erzählen’s deiner Mutter!«

Sollten sie ruhig. Solange sie es nur nicht meinen Schwestern erzählten. Von denen hatte ich zwei, Sini und Rachel. Große Schwestern, sechzehn und einundzwanzig. Und dann war da noch Marie, unser Hausmädchen, die fast so etwas wie eine Schwester war. Alle gemeinsam lebten wir in unserem Haus in der Innenstadt, weit weg von der Grenze.

 

Nach dieser schlimmen Nacht in Deutschland wurde in unserem Haus ein Treffen abgehalten. Die Familie Gans war dabei, alle drei, und Onkel Bram, der mit Vater den Viehhandel betrieb, und seine Frau. Onkel Phil war ohne seine Frau gekommen, weil Tante Billa und Mutter nicht miteinander sprachen. Das hatte irgendwas mit meiner Großmutter zu tun, die bei Tante Billa und Onkel Phil lebte, aber uns täglich besuchte, um sich über die beiden zu beklagen. Ich wusste Bescheid. Ich hatte sie gehört. Wenn ich oben auf dem Treppenabsatz saß, bekam ich eine ganze Menge mit, ob die Stimmen nun aus dem Schlafzimmer herunterdrangen oder aus dem Wohnzimmer herauf, wie jetzt. Die Stimmen klangen aufgeregt: »Wir müssen diesen deutschen Juden helfen, die über die Grenze nach Winterswijk kommen) … Alles haben sie in Deutschland zurückgelassen …« – »Sie brauchen unsere Hilfe. Mit ein paar von ihnen hab ich heute gesprochen …« – »… riesige, frische Narbe im Gesicht) … deutscher Soldat) … mit der Peitsche.«

»Aber wieso?« Das war Mutter.

»Weil er Jude war, Sophie.« Vater klang ungeduldig.

»So was wäre hier nicht möglich) … in Sicherheit) … das hier ist nicht Deutschland) … wir sind hier in Holland, das weißt du …« – »Dieser Hitler ist auf Krieg aus, Sophie) … und wir sind auch Juden …«

Da, Schritte. Ich lief zurück in mein Zimmer und stieg ins Bett. Die Decken zog ich mir über den Kopf.

 

Ein paar Monate später reisten Onkel Bram und seine Frau ab nach Amerika. Wir begleiteten sie zum Bahnhof, um uns zu verabschieden. Sie wollten wohl richtig lange fortbleiben. Sie hatten eine Menge Koffer dabei. Und weit weg musste es auch sein, denn Onkel Bram meinte, in Amerika könne Hitler ihnen nichts mehr anhaben.

»Sophie, warum fahren wir nicht auch?«, fragte Vater.

Aber Mutter sagte, sie hätte viel zu oft Kopfschmerzen, um Holland zu verlassen und irgendwo ganz neu anzufangen. Wir blieben auf dem Bahnsteig zurück und winkten, bis der Zug abgefahren war. Aufgebracht stapfte Vater zu seinem Auto und stieg ein. Er knallte die Tür hinter sich zu und fuhr davon, und wir mussten zu Fuß gehen.

Im Herbst 1939 hatte Rachel ihre Lehrerausbildung abgeschlossen und eine Stelle an einer Vorschule in Winterswijk gefunden. Sini hatte auf einem Bauernhof angefangen. Abends, wenn Vater und Mutter zur Familie Gans hinübergingen und sich zu ihnen vors Haus setzten, versuchte meine Mutter, das Gespräch auf meine Schwestern zu lenken. »Unsere Rachel) … eine ganz Tüchtige) … und Sini, die lernt ja für ihr Melkdiplom …« Aber von meinem Fenster aus merkte ich genau, dass ihr keiner zuhörte. Sie sprachen über die Deutschen, die Polen überfallen hatten.

Das war schlimm von ihnen gewesen, hatte Rachel mir erklärt. So schlimm, dass England und Frankreich zu Deutschland gesagt hatten: »Schafft eure Soldaten aus Polen raus, sonst passiert was.« Aber Hitler hatte nur gelacht, und jetzt hatten England und Frankreich Deutschland den Krieg erklärt. Geschah ihm ganz recht.

Warum musste ich nur so früh schlafen gehen? Draußen war es noch hell. Schließlich war ich inzwischen schon in der zweiten Klasse. Morgen würde ich mich einfach weigern. Ich streckte den Kopf noch weiter aus dem Fenster. Keiner blickte hinauf, um mich ins Bett zurückzuschicken, noch nicht mal Frau Gans. Sie waren zu sehr ins Gespräch vertieft.

In jenem Winter verbrachte Familie Gans beinahe jeden Abend bei uns vor dem Radio. Zu Hause hatten sie kein eigenes. Polnische Juden schien Hitler auch nicht zu mögen. Er schien sie sogar noch weniger zu mögen als deutsche Juden. Ein paar von ihnen hatte er so fest prügeln lassen, dass sie gestorben waren, und dabei hatten sie noch nicht mal was verbrochen. Wie konnte er das wagen? Oft war ich froh, wenn Mutter mich ins Bett schickte. Unter den Decken konnte ich das Radio nicht hören.

»Sophie«, sagte mein Vater, »wir können nicht länger hierbleiben. Wir müssen nach Amerika, unbedingt. Eben habe ich gehört, dass die deutsche Wehrmacht in Dänemark und Norwegen steht. Das ist nicht weit, Sophie! Hörst du mir zu? Uns bleibt keine Wahl! Wir sind Juden!«

»Du weißt doch, dass es mir nicht gut geht, Ies. Wie soll ich von hier weggehen? Von deinem Gebrüll bekomme ich nur noch mehr Kopfweh. Annie, geh und spiel in der Küche.«

Widerwillig machte ich mich auf. Warum musste Mutter nur ständig Kopfweh haben?

 

Vater begann, außerhalb von Winterswijk ein Haus zu bauen, wo wir Mutters Meinung nach praktisch ebenso sicher sein würden wie in Amerika. Vater wurde wütend, wenn sie das sagte. Aber das Haus baute er trotzdem. Es würde nicht in der Nähe der Grenze stehen. Nein, weit weg würde es sein, ganz auf der anderen Seite von Winterswijk. Dort würden uns die Deutschen in Ruhe lassen.

Und dann kam der zehnte Mai 1940. Mitten in der Nacht wachte ich auf. Was für ein Krach. Ich sprang aus dem Bett. Wo waren denn alle? Sie waren schon auf dem Weg nach unten. Ich rannte ihnen nach.

»Was ist denn da los?«, fragte ich. »Ich höre Flugzeuge. Was machen die denn da?«

»Das sind bestimmt deutsche Flugzeuge«, sagte Rachel.

»Vielleicht ist hier jetzt auch Krieg«, sagte Sini.

»Das war’s«, murmelte Vater. »Jetzt sind wir an der Reihe.«

»Woher wollt ihr wissen, dass das deutsche Flugzeuge sind?«, fragte Mutter.

»Weil sie von Osten kommen. Hörst du das nicht?«, schnauzte Vater sie an.

Im Osten verlief die Grenze. Warum war das neue Haus nur immer noch nicht fertig? Dort wären wir in Sicherheit. Mutter hatte es gesagt.

Vater schaltete das Radio an. Es klingelte an der Tür, und die Familie Gans kam hereingestürzt. »Was sagt das Radio?« – »Krieg, oder? Haben wir es doch gewusst.« – »Was, in Belgien und Luxemburg sind die Deutschen auch?«

»Sophie, was machst du da?«, fragte Vater.

Mutter kramte das Silberbesteck aus einer Schublade. »Das müssen wir verstecken«, sagte sie. »Die kommen und nehmen es uns weg.«

»Zurück in die Lade damit, verdammt noch mal!«

»Ich geh jetzt zu Bett«, sagte Rachel, »und da bleib ich, bis der Krieg vorüber ist.«

»Wie lang wird das dauern?«, wollte ich wissen.

»Kann sich nur um Tage handeln«, erwiderte Rachel.

Vater lachte. Aber sein Gesicht war zum Fürchten.

 

Als es hell geworden war und der Lärm aufgehört hatte, traten wir hinaus. Unser Haus war nur ein paar Straßen vom Marktplatz entfernt, dem Herzen der Stadt. Rachel hielt meine Hand ganz fest. Sie war doch nicht zu Bett gegangen. Wir liefen mehreren Leuten über den Weg, die genauso verwirrt dreinschauten wie wir. Am Marktplatz blieben wir stehen. Dort standen deutsche Panzer, und deutsche Soldaten. Genau da, wo sonst zweimal die Woche Blumen verkauft wurden – Tulpen im Frühjahr und im Sommer Rosen.

Zitternd lehnten wir uns an die Kirchenmauer. Dort standen schon Großmutter, Onkel Phil, Tante Billa und meine Cousine Hannie. Wir blickten uns an, aber keiner sprach ein Wort.

Mehrere Männer verteilten Zigarren an die Soldaten und klopften ihnen auf die Schultern.

»Warum machen die das?«, fragte ich Rachel.

»Das sind Nazis«, flüsterte sie, »Leute, die für Hitler sind. NSBer heißen die bei uns.«

Einer von ihnen kam zu Frau Gans hinübergeschlendert. »Sind doch nette Burschen, was?«, fragte er. »Schauen Sie nicht so verschreckt. Die krümmen Ihnen doch kein Haar.« Er drehte sich um und zwinkerte einem Soldaten zu.

Der Soldat fragte ihn etwas. »Der schnellste Weg nach Enschede?«, wiederholte der NSBer. »Erste Straße links. Da kommt ihr direkt hin. Beeilt euch. Hier, noch eine Zigarre für unterwegs.« Er ließ die Schachtel zuschnappen. Sie war leer. Als er an uns vorbeiging, spuckte er uns vor die Füße.

Auf dem Heimweg fragte ich Rachel, warum er das getan hatte – uns anspucken. Weil wir Juden waren, sagte sie. Aber er war kein Deutscher, und woher wollte er wissen, dass wir Juden waren? Wir sehen anders aus, sagte sie, dunkler. Rachel wusste so viel. Kein Wunder, dass sie Lehrerin war. Sobald ich nach Hause käme, würde ich mir anschauen, wie anders ich aussah.

 

Hitler machte einfach weiter. Er musste haufenweise Soldaten haben, denn jetzt standen sie auch noch in ganz Frankreich. Aber jenen Sommer geschah uns nichts: kein Plündern, keine Prügel, kein nichts. Vielleicht mochte Hitler die holländischen Juden lieber als die anderen.

An schönen Abenden saß Vater wieder mit den Gansens draußen. »Den Juden hier werden sie nichts tun«, sagte der junge Gans, »nicht in diesem Land.«

Das hörte ich gern. Aber dann musste Hitler beschlossen haben, die holländischen Juden doch nicht zu mögen, denn im September durfte Vater seinen Handel nicht mehr betreiben. Das las er auf einem riesigen Plakat, das am Baum mitten auf dem Marktplatz angeschlagen war. Das sei ihm egal, sagte er und ging trotzdem weiter zu den Bauern, aber nicht zu all seinen Kunden. Er ging nur zu denen, die Juden mochten und die den Deutschen nicht verraten würden, dass Vater immer noch zu ihnen kam, um Kühe zu kaufen und zu verkaufen. Er gewöhnte sich an, jeden Tag beim Baum vorbeizuschauen, ob dort etwas Neues stand. Ich sehnte mich danach, dass das Haus endlich fertig würde. Grässlich, wie lange das dauerte mit dem Bauen.

 

Anfang Oktober trat Marie ins Wohnzimmer, zog die Tür hinter sich zu und lehnte sich dagegen. »Frau de Leeuw«, sagte sie nervös, »ich muss Ihnen etwas sagen.«

»Ja?«

»Mir ist ganz elend deswegen. Wenn Sie nur wüssten, wie mir zumute ist.«

»Was ist denn los?«, fragte Mutter besorgt.

»Sie sind immer gut zu mir gewesen, und ich hänge ja so an den Mädchen, und das Ganze geht mir entsetzlich gegen den Strich. Aber wissen Sie, es ist wegen meinem Freund.«

»Was ist mit ihm?«

»Er hat Angst. Er will, dass ich weggehe von Ihnen.«

»Aber warum?«

»Verstehen Sie doch, er sagt, dass ich Probleme kriege, wenn ich noch weiter für Sie arbeite.«

»Was denn für Probleme, Marie?«

»Na ja, weil Sie Juden sind. Und mir ist das ja gleich, und ihm genauso. Wir mögen die Juden, aber er hat Angst, dass viele nicht mehr mit mir reden werden, wenn ich bei Ihnen bleibe. Verstehen Sie?«

»Ich verstehe«, sagte Mutter langsam.

Ich verstand nichts. Warum ging sie fort? Am Baum hatte nichts dergleichen gestanden. Sini musste zu Hause bleiben und Mutter zur Hand gehen. Sini weinte.

 

Im Monat darauf bekam Rachel einen Brief zugestellt. Er war auf Deutsch, aber sie konnte ihn trotzdem lesen. Dann begann sie, im Wohnzimmer auf und ab zu laufen.

»Hör auf. Du machst mich ganz schwindlig«, beklagte sich Mutter. »Was soll das überhaupt?«

»Die haben mich entlassen«, entgegnete Rachel. »Fristlos.«

»Annie, geh draußen spielen«, sagte Mutter.

Ich kam bis zur Tür.

»Aber das lass ich mir nicht gefallen«, tobte Rachel. »Den Brief da haben mir die Deutschen geschickt, nicht die Schule. In der Schule wissen sie wahrscheinlich noch nicht mal davon. Ich geh jetzt gleich zum Rektor nach Hause und klär das.«

»Das sind ja Zustände«, murmelte Mutter, als Rachel aus dem Haus stürmte.

 

Rachel behielt recht. Der Rektor hatte von dem Schreiben tatsächlich nichts gewusst. Er war aufgebracht und betroffen. Aber seiner Meinung nach war es besser, wenn Rachel nicht mehr käme. Schließlich stand das ja in dem Brief.

Ich hatte derweil meine eigenen Schulprobleme. Willy Bos, meine beste Freundin, saß nicht mehr neben mir. Ihre Mutter hatte den Lehrer in der Schule aufgesucht. Danach hatte der Lehrer mir befohlen, mich umzusetzen. Ohne Sitznachbarn. Weil ich zu viel plauderte. Aber Willy meinte später, dass sie nicht mehr neben mir sitzen dürfe, weil ich Jüdin sei. Warum war ich überhaupt Jüdin?

»Nicht weinen«, sagte Mutter. »Wir mögen dich doch.«

Das war mir ja klar. Aber warum Willy nicht? Nicht mehr.

Vater war sauer wegen Willy. Er kannte ihren Vater sehr gut. Dr. Bos war Tierarzt und kümmerte sich schon seit Jahren um Vaters Vieh.

»Sophie«, sagte Vater, »je länger wir in Holland bleiben, desto unerträglicher wird es werden für uns. Ob’s dir gefällt oder nicht, diesmal schreibe ich Bram. Ich werde ihn bitten, uns hier rauszuholen, gleich. Wenn es nicht schon zu spät ist.«

Wie sollten wir weggehen, beschwerte sich Mutter, wenn das neue Haus noch nicht mal fertig war?

Vater hörte ihr gar nicht zu. Er schrieb bereits den Brief.

Doch es war zu spät. Onkel Bram konnte uns nicht helfen, nach Amerika zu kommen. Und die notwendigen Papiere gab Vater in ganz Holland keiner mehr.

 

Im Frühjahr 1941 trug der Baum plötzlich zahlreiche neue Bekanntmachungen. Wir durften keine Hotelzimmer mehr mieten. Jetzt, wo Mutter fast ständig krank war, hätten wir das ohnehin nicht getan. Aber warum hieß es auf dem anderen Anschlag, dass Strände und Parkanlagen ab jetzt für Juden gesperrt waren? Das war doch nicht gerecht. Strände und Parks waren schließlich für alle da! Von Wäldern sagte der Baum allerdings nichts, und davon hatte Winterswijk sehr hübsche. Und so viele.

Schon die ersten Bekanntmachungen hatten Vater in Rage gebracht, aber keine so wie die, dass jeder sich im Rathaus registrieren lassen müsse. »Jeder«, brüllte er. »Nur dass unsere Papiere noch was Zusätzliches bekommen! Ein großes J. Ein J wie Jude! Sophie, was sagst du jetzt dazu! Bram war gescheit. Mensch, war der gescheit. Und seine Frau auch.«

»Aber Ies, ich hab dich doch nie zurückgehalten«, sagte Mutter. »Du hättest doch allein gehen können. Sogar mit den Kindern. Ich wär schon zurechtgekommen.«

»Na klar«, lachte Vater.

Ich blickte Vater ins Gesicht. Warum hatte ich mich eigentlich früher nie vor seinem Lachen gefürchtet? Beim Rausgehen knallte ich die Tür hinter mir zu, genau wie Vater einen Augenblick zuvor.

 

Manchmal sprach der Baum zu allen. Zum Beispiel, als das Essen rationiert wurde. Wir hatten die Rationierung schon erwartet und jede Menge Trockenbohnen und Konserven im Keller.

»Was darf’s denn sein?«, fragte ich Willy Bos. »Erbsen?«, antwortete ich. »Tut mir leid, die sind aus. Vielleicht bekomm ich wieder welche rein. Vielleicht. Warum kaufst du keine Bohnen, Willy?« Ich hielt eine Dose hin. »Hier, nimm. Die sind gut. Die haben dir immer geschmeckt. Weißt du noch?«

Angewidert ließ ich die Dose sinken. Mit einer ausgedachten Freundin spielte es sich nicht gut. Diese Sommerferien gefielen mir gar nicht.

 

Als die Schule wieder losging, kam ich in die vierte Klasse, aber nur ein paar Wochen lang: Jüdische Kinder durften nicht länger die Schule besuchen. Ich las den Anschlag am Marktplatz und rannte nach Hause. »Ist doch toll«, sagte ich. »Hoffentlich muss ich da nie wieder hin.«

Aber eigentlich war es langweilig ohne die Schule. Alle anderen gingen hin. Meine Cousine Hannie ging auch nicht, aber ich besuchte sie ungern. Bei Tante Billa musste man sich dauernd die Hände waschen, auch wenn gar nichts war mit ihnen. Arme Großmutter, musste es ständig mit ihr aushalten! Kein Wunder, dass sie jammerte.

 

Die Ferien währten nur kurz. In ein paar Räumen nahe der Synagoge wurde eine Schule für alle jüdischen Kinder aus der Gegend von Winterswijk eröffnet.

»Zwei Lehrer werden euch unterrichten«, sagte Vater, »und du wirst gut zuhören.«

Ich nickte. Natürlich würde ich das. Vielleicht würde wieder jemand neben mir sitzen, so wie früher. Bevor ich jüdisch geworden war.

 

Sini brachte mich ein paarmal zur neuen Schule, doch dann wollte ich allein gehen. Was war nur in den Lehrer gefahren?, fragte ich mich. Er lobte mich für alles, was ich tat. Wenn er nur aufhören würde damit. Die anderen streckten mir schon die Zunge raus. Jeden Nachmittag bat er mich, noch einen Augenblick länger zu bleiben. »Bring Sini diese Nachricht und verlier sie nicht. Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann. Nicht wahr? So eine Schlaue, wie du bist. Und, äh, grüß sie von mir.«

Sinis Gesicht wurde ganz rot, als sie Herrn Herschels Zettel las. »Gib ihm morgen den Zettel hier. Klar? Aber ja nicht reinschauen.«

Was war nur los mit den beiden? Ich sollte mal bei Rachel nachfragen. Die wüsste sicher Bescheid.

 

Auf dem Schulweg entdeckte ich immer mehr Schilder, auf denen Joden verboden stand: für Juden verboten. Die Schilder hingen an den Fassaden mehrerer Restaurants und am Kino. Ins Kino ging ich ohnehin nie. Das erlaubte mir Mutter noch nicht mal, wenn dort Micky Maus gezeigt wurde und jeder hinging, den ich kannte. »Das wäre viel zu aufregend für sie«, sagte sie immer.

Um die Restaurants war es schade. Dort waren wir manchmal reingegangen. Bevor es die Schilder gab.

Schlimmer war etwas anderes. Einmal wartete nach dem Unterricht eine Schar Kinder aus der alten Schule auf uns. Wir gingen einfach weiter, als wäre nichts, und unterhielten uns, als hätten wir sie gar nicht bemerkt. Bis sie uns zu jagen begannen. Eine ganze Horde, und alle brüllten:

»Jude, Jude, heul du doch

Steck den Kopf ins Kellerloch

Steck den Kopf ins Senfglas rin

Morgen ist der Jude hin!«

Wie sollten wir da noch tun, als wäre nichts? Wir rannten ja. Und die anderen verfolgten uns. Als sie uns eingeholt hatten, grölten sie es uns mitten ins Ohr. Und schlugen zu. Und traten zu. Sich jagen zu lassen, von Willy Bos! Ich mochte sie auch nicht, jetzt nicht mehr. Warum wohnten wir nur immer noch nicht im neuen Haus?

Daheim erzählte ich, wie wir gejagt worden waren. »Keine Sorge«, sagte Sini, »von jetzt an hol ich dich ab.«

Und dann war das neue Haus beinahe fertig.

»Ich will nicht länger warten«, sagte Vater. »Das gefällt mir immer weniger hier in der Stadt. Wir ziehen um.«

»Aber Ies«, beschwerte sich Mutter, »wir können doch nicht einziehen, bevor nicht gestrichen ist.«

»Und ob wir das können«, sagte Vater. »Wenn du nicht mitkommen willst, dann geh ich eben alleine.« Er griff zum Telefon und besprach mit jemandem den Umzug.

 

Zwei Tage später hielt ein leerer Lastwagen vor unserem alten Haus. Vater und ein anderer Mann schleppten die Möbel hinaus. Erst war der Mann ganz vorsichtig, aber dann sah er, wie Vater alles einfach in den Wagen pfefferte. Mutter hockte auf einem Küchenstuhl und drehte den Kopf hin und her, immer den Männern mit den Möbeln nach. Dort blieb sie, bis der Stuhl in den Lastwagen musste.

Familie Gans winkte uns zum Abschied nach, alle drei.

Der Oktober 1941 stand bevor.

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