Buchcover

Will Berthold

Hannusen

SAGA Egmont

1

Die ganze Stadt ist aus dem Häuschen. Sonst ist in dem idyllischen Kurort mit den bis zu 46 Grad heißen alkalisch-salinisch-radioaktiven Quellen nicht viel los, aber heute macht die Sensation den Einheimischen wie ihren Gästen Beine.

Schon eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung muß der große Kursaal feuerpolizeilich geschlossen werden. Teplitz-Schönau, am Fuße des Erzgebirges gelegen, ist gewissermaßen nordböhmische Provinz, aber Erik-Jan Hanussen, der »größte Hellseher der Welt« – wie er sich auf schreienden Plakaten titulieren läßt –, ist auch in Wien, Budapest, Prag, Paris, Zürich, Stockholm, New York, Boston und Baltimore vor ausverkauften Häusern aufgetreten. Immer ohne größere Panne, wenn man von Budapest absieht, wo seine Wiener Assistentin Martha Farra überraschend zwischen zwei Vorstellungen mit einem ungarischen Magier nach Spanien durchgebrannt ist. Alles hann der große Hanussen offensichtlich nicht voraussehen, aber das bestreitet er auch gar nicht.

Er späht durch den Bühnenvorhang, ein untersetzter kräftiger Mann im Frack, der von einem ersten Maßschneider stammt, aber an dem Magier hängt, als hätte er ihn sich beim Kostümverleih ausgeborgt. Er ist nicht gerade häßlich, aber sein Aussehen sollte ihn davor bewahren, sich wie ein Adonis zu gebärden. Hanussen hat ein breites Gesicht, gescheitelte, glatte Haare, buschige Brauen über leicht hervorstehenden dunklen Augen, eine kräftige, weit vorspringende Nase und einen Mund, der auf herzhaften Appetit schließen läßt. Seinen Heißhunger beweist er bei jeder Gelegenheit; Adams Wahn auf Evas Spuren. Viele Frauen finden ihn zunächst einmal abstoßend, aber nicht wenige aus der Mehrzahl landen schließlich doch in seinem Bett.

»Schon seit zwei Tagen ausverkauft«, sagte der Journalist und Privatsekretär Adolf Erich Juhn.

Hanussen nickt gleichmütig; er hat es nicht anders erwartet. »Wir müssen vermutlich in der nächsten Woche noch eine Sondervorstellung in Teplitz-Schönau einschieben«, stellt der geschäftige wie geschäftstüchtige Helfer fest.

»Na also.«

»Das ist aber nicht so einfach«, erklärt der Privatsekretär. »Entweder ist der Kursaal schon vergeben, oder Sie müssen anderswo auftreten.«

»Das schaffst du schon«, versetzt der große Magier leichthin.

Auch diese Tournee durch Böhmen und Mähren ist längst auf dem Siegeszug. Der Erfolgreiche geht seine Zettel noch einmal durch, dann tastet er kennerisch die Reihen der Zuschauer ab, aus denen er seine Mitarbeiter rekrutieren wird. Ein buntgemischtes, gut herausgeputztes Publikum hat sich versammelt, Honoratioren aus Stadt und Umgebung neben großstädtischen Kurgästen; Herren, die ihre besseren Jahre bereits hinter sich haben, neben der jungen Zweit- oder Drittfrau, die noch kein Rheuma plagt.

Die Damen tragen die Haare wieder länger, dafür wurden die Röcke kürzer. Die Abendkleider zeigen am Rücken viel Haut. Das schöne Geschecht gibt sich selbstbewußt, aggressiv. Und die Garderobe der sogenannten guten Gesellschaft läßt erkennen, daß die Damen mit den Vergißmeinnichtaugen sich lieber aus- als anziehen. Der ›Uhu‹ – ein in Berlin erscheinendes Ullstein-Journal – behauptet, die Damenkleider seien neuerdings so beschaffen, daß ihre Trägerinnen nach sechs Bewegungen im Freien stünden, während ihre konservativen Begleiter mindestens an die hundert Knöpfe öffnen müßten.

Der große Magier nimmt mit den Augen Maß, gelassen, überlegen bis zur Arroganz. Der Klavierspieler versucht die Zeit bis zum Auftritt Hanussens zu überbrücken. Er haut in die Tasten und singt mit ungeschulter Stimme: »Mein Papagei frißt keine harten Eier.« Es regt keinen auf im Saal. Auch nicht der nächste Gassenhauer: »Ist denn kein Stuhl da für meine Hulda?« Vergeblich versucht der Klavierspieler sich Gehör zu verschaffen: »Das ist die Irma, die liebt die ganze Firma«, klimpert er, aber auch die Irma läßt die Anwesenden kalt.

Die zeitgemäßen Texte sind platt und albern. Im Jahre 1928 geben häufig noch immer Kriegsgewinnler, Bauspekulanten und Inflationsschieber den Ton an, der die Musik macht. Man lebt – ein Jahr vor dem großen Börsenkrach – in der ungefähren Mitte zwischen zwei Weltkriegen. Die schlimmsten Folgen des Ersten sind überwunden, daß ein zweiter, noch weit schrecklicherer bevorstehen wird, ahnt nicht einmal ein Hellseher.

Amüsement bestimmt weitgehend den Lebensinhalt. Die Zeitgenossen wollen sich lieber totlachen als einander totschießen. Obwohl die Berliner Polizei in der Silvesternacht halb so viele Betrunkene wie sonst auf den Straßen aufgelesen hat, sind die späten zwanziger Jahre alles andere als nüchtern.

Das Barometer der Wirtschaft steigt langsam, aber stetig nach oben. Auch Menschen, denen es noch immer schlechtgeht, leben jedenfalls besser als in den letzten Jahren.

Das Rahmenprogramm hat begonnen; es sind ein paar recht gute artistische Nummern dabei, aber die Resonanz bleibt dünn. Die Zuschauer sind wegen Hanussen gekommen. Sie wollen dabeisein, wenn einer in die Zukunft schaut, in dieses Niemandsland, auf das jeder setzen möchte, wiewohl es ihn doch ängstigt.

Der Pianist intoniert auf dem Klavier einen Tusch. Dann betritt, mit einer Viertelstunde Verspätung, der berühmtberüchtigte Hypnotiseur und Hellseher die Bühne. Schon auf halbem Weg wird der Applaus übermächtig, aber mit einer herrischen Handbewegung erstickt ihn der sonst so Beifallsüchtige, als wehre er sich bescheiden gegen Vorschußlorbeeren.

Ein paar launige Worte, ein paar erste Proben seines Könnens, es dauert nicht lange, bis der Mann auf der Bühne sein Publikum im Griff hält, ein selbstherrlicher Dompteur von kuriosem Selbstbewußtsein, mitunter laut, dann wieder leise, oft recht plump in der Ausdrucksform und dann gleich wieder pseudowissenschaftlich. Selbst Skeptiker schütteln den Kopf und spüren zunehmende Unsicherheit. Vielleicht werden sie düpiert, in jedem Fall aber auch fasziniert.

Der Hellseher mit dem dänischen Namen, dem tschechischen Paß und der sorgfältig im Dunkel gehaltenen Herkunft weiß offensichtlich alles und gibt es auch preis. Er geht an den Reihen der Zuschauer entlang, greift sich seine Opfer wie Fische aus einem Bottich. Um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, es handle sich um bezahlte Mitwirkende, zieht er mit Vorliebe unfreiwillige Akteure auf die Bühne, wie den bekannten Professor aus der vierten Reihe, einen gepflegten älteren Herrn mit einem Spitzbart, der gewohnt ist, vor einem Auditorium zu sprechen – nicht aber vor einem solchen.

»Ich erkenne Ihren Beruf«, sagt Hanussen. »Sie sind Professor an der Universität Prag,«

»Das stimmt.«

»Für Mathematik?«

Der Spitzbart nickt gezwungen.

»Wir haben alle unsere Probleme«, plaudert der Hellseher. »Ihres ist, daß Ihr einziger Sohn im Gymnasium nicht weitergekommen ist.« Nach einer kurzen Pause setzt er hinzu: »Nicht wahr, er ist sitzengeblieben.«

»Ich möchte schon bitten …«, protestiert der unwillige Mitwirkende mit zitterndem Spitzbart. »Das geht Sie doch nun wirklich nichts an.«

»… und zwar wegen schlechter Leistungen in Mathematik«, behauptet Hanussen.

Der Professor antwortet nicht mehr, aber sein rot anlaufendes Gesicht unterstreicht, daß der Gedankenleser recht haben muß.

So geht es ohne Pause weiter. Hanussen sagt seinen Versuchspersonen Dinge auf den Kopf zu, die sie meistens nicht gerne hören wollen und oft ängstlich vor ihrer näheren Umgebung verbergen; sein Auftritt lebt auch von der Schadenfreude. Er mag ein Dämon sein, ein Scharlatan oder ein Trickbetrüger, jedenfalls bewegt er sich auf einem Hochseil ohne Netz. Vielleicht ist er ein Schwindler, aber immer erweist er sich als schwindelfrei.

Bis jetzt hat der Hypnotiseur und Hellseher nur Volltreffer gelandet. Das Publikum ist so erschrocken wie überwältigt. Den größten Teil der Zuhörer stellen die Frauen, als wollten sie beweisen, daß sie tatsächlich das neugierige Geschlecht repräsentieren.


Neugierig ist auch der erschreckend dünne, große Herr in der zweiten Reihe: Staatsanwalt Dr. Swoboda nimmt dienstlich an der Veranstaltung im Kursaal teil. Er hat streng vertraulich ein Ermittlungsverfahren gegen Hanussen eingeleitet, nachdem einige Strafanzeigen wegen Betrugs gegen den Hellseher auf seinem Schreibtisch gelandet waren.

Der Beamte aus dem benachbarten Leitmeritz, der aussieht, als litte er an Magersucht, ist entschlossen, einem mutmaßlichen Hochstapler das Handwerk zu legen, doch zunächst einmal muß er feststellen, daß der Magier sein Handwerk blendend beherrscht. Die Verdachtsmomente gegen ihn sind bis jetzt noch so dürftig wie der Tatbestand in den Betrugsanzeigen: viele Worte, wenig Wolle.

Staatsanwalt Swoboda mustert die auswärtigen Journalisten in der ersten Reihe, Reporter, die den Protagonisten mit den angeblich übersinnlichen Fähigkeiten glorifizieren oder in die Pfanne hauen. Beides macht ihn nur noch berühmter. Der Jurist ahnt, daß dieser Hellseher eine beispiellose Karriere machen wird, wenn es der Staatsanwaltschaft nicht schleunigst gelingt, ihn als Scharlatan zu entlarven. Bis dahin ist Hanussen jedenfalls mehr gefeiert als umstritten. Großstädtische Zeitungen berichten häufig in riesiger Aufmachung auf den Frontseiten über Séancen und Auftritte des Erik-Jan Hanussen, beschreiben ihn als Dämon oder verurteilen ihn als Hochstapler. Selbst die Gelehrten sind sich in seiner Beurteilung nicht einig. Durchaus ernst zu nehmende Wissenschaftler schreiben Hanussen telepathische und hypnotische Fähigkeiten zu, während ihn andere als Taschenspieler abwerten. Wenn er einer ist, dann jedenfalls ein hervorragender, denn er läßt sich bei keinem Trick ertappen, wiewohl ihm seine Feinde und Neider in jeder Vorstellung scharf auf die Finger sehen.

Zwischen den Experimenten, die alle gelingen, gibt Erik-Jan Hanussen Erklärungen. Häufig beruft er sich auf den berühmten Dr. Sigmund Freud. Der Begründer der Psychoanalyse lebt in Wien. Über Wien freilich spricht der Star des Abends nur ungern. Die Polizei seiner Geburtsstadt hat ihn aus Österreich ausgewiesen und über die Grenze abgeschoben. Hanussen, der teilweise in Böhmen und Mähren aufgewachsen war, hatte für die tschechoslowakische Republik optiert, was ihm an der Donau wenig Freunde einbrachte. Während ihn Wiener Zeitungen als Gauner bezeichnen, machen Prags nationalistische Blätter aus dem »tschechischen Patrioten« ein Opfer österreichischer Willkür.

»Und jetzt komme ich zu Ihnen, gnädige Frau«, sagt der umstrittene Gefeierte und verbeugt sich vor einer gutgewachsenen Dreißigerin mit einem pikanten Gesicht und flirrenden Augen. Sie hat offensichtlich von dem gewissen Etwas etwas viel. »Erlauben Sie mir, daß ich Ihr Leben aufblättere?« fragt er Eva Pflügler aus Prag.

»Warum nicht?« erwidert die Blondine, nur zu bereit, sich vor großem Haus zu produzieren. »Aber seien Sie bitte nicht allzu indiskret.«

Eva Pflügler steht im Mittelpunkt, und es macht ihr Spaß. Sie sieht in Hanussens bleichgeschminktes Gesicht, aus dem die Augen groß hervortreten. Der Magier wirkt nachdenklich, konzentriert. Der Schweiß läuft ihm über die Stirn; er konzentriert sich sichtbar.

»Ja«, fährt er fort. »Sie hatten kurz vor Kriegsende geheiratet – als Neunzehnjährige …«

»Richtig«, antwortet die Pragerin, »meine erste Liebe.«

»Ihr Mann ist dann im Krieg gefallen.«

»Am vorletzten Tag«, bestätigt die Blondine überrumpelt. »Es war mehr als tragisch, und ich hab’ lange gebraucht, bis ich …«

»Drei Jahre später wollten Sie wieder heiraten«, unterbricht sie Hanussen. »Leider wurde Ihr Verlobter kurz vor der Hochzeit von einem Automobil überfahren.«

»Ja«, entgegnet die Mitwirkende verblüfft, »drei Tage vor der Trauung.« Ihr Gesicht ist eine einzige Werbung für Hanussens Seriosität.

»Nun können Sie mir vorhalten, daß ich nur in die Vergangenheit sehe«, erwidert der Magier. »Wenn Sie es mir gestatten, befasse ich mich jetzt mit Ihrer Gegenwart…«, er hebt die Stimme, »und auch mit Ihrer Zukunft.«

»Wenn Sie meinen –«, antwortet die Versuchsperson zwischen Koketterie und Bangen.

»Sie haben einen neuen Gefährten gefunden«, fährt Hanussen fort. »Sie sind mit ihm verlobt und möchten in diesem Jahr noch heiraten.« Er spricht langsam, als müßte er seine Wahrnehmungen erst noch sondieren und kontrollieren. »Es handelt sich um einen hochgewachsenen Herrn mit einem gepflegten Schnurrbart. Einen Handelsvertreter. Er ist – Moment, ich muß mich da noch vergewissern – ja, er ist vier Jahre jünger als Sie, deshalb sind Sie oft – und gar nicht grundlos – recht eifersüchtig.«

»Es reicht«, erwidert Eva Pflügler. Jetzt würde sie lieber in der zweiten Reihe sitzen, statt hier im Mittelpunkt zu stehen.

»Aber diese Verbindung wird sich leider zerschlagen«, behauptet Hanussen unerbittlich. »Ich möchte nicht weiter darauf eingehen.« Schnell setzt er hinzu: »Sie haben aber nicht nur Pech mit Männern. Sie werden wieder heiraten, aber erst in zwei Jahren.« Es ist, als nähmen die Augen des Hellsehers die kleinlaut gewordene Mitspielerin in die Zange. »Ich sehe Ihren Zukünftigen vor mir«, behauptet er. Seine Hände modellieren eine Figur, eine ziemlich üppige. »Er ist nicht sehr groß und etwas dicklich, er fährt einen teuren Wagen, ist Makler und sehr begütert. Reich, sehr reich sogar – und diesmal wird er eifersüchtig sein, nicht Sie.«

Die Blondine schüttelt den Kopf.

»Ich könnte Ihnen sogar sagen, wie Ihr künftiger Mann heißt, wo er wohnt und welche Vergangenheit er hat, aber …«, setzt er hinzu, »… ich möchte nicht weiter in Ihre Intimsphäre eintreten. Wenn es Sie interessiert, gnädige Frau, kommen Sie morgen früh zu mir ins Hotel. Ich würde dann meine Vorhersagen unter vier Augen präzisieren.«

»Ich werde mich hüten«, erwidert Eva Pflügler und geht auf ihren Platz zurück, als flüchte sie vor einem Ungeheuer, während der Beifall der Zuschauer im Saal explodiert.

Dr. Swoboda spürt, daß ihn die Darbietung beeindruckt, und es ärgert ihn, auf sie hereinzufallen. Hokuspokus, tut er es ab, und folgt dem Spektakel mit verkniffenen Lippen und einer Ahnung, daß Hanussen den eigentlichen Trumpf erst noch aus dem Ärmel zaubern wird. Es ist doch ganz klar, versucht sich der Staatsanwalt selbst zu überzeugen, da kommt ein Vielbeschäftigter schon vier Tage vor seinem Auftritt nach Teplitz-Schönau – warum? Natürlich, um sich mit dem Ort und seinen Honoratioren vertraut zu machen und sein Wissen als Hellseherei auszuprobieren.

Getratscht wird in Kleinstädten gerne – und Hanussens Privatsekretär hat seine Augen überall, wirft mit Geld um sich und sammelt Pikanterien und Indiskretionen ein. Der Mathematikprofessor zum Beispiel ist ein bekannter Mann; längst raunt man sich hinter vorgehaltener Hand zu, daß sein Sohn – nicht nur, aber vorwiegend – wegen miserabler Leistungen in Algebra und Geometrie in der sechsten Klasse sitzengeblieben ist. Und diese Blondine mit dem tiefen Ausschnitt und der Musik unterm Rock ist bereits zum dritten Mal zur Kur nach Teplitz-Schönau gekommen. Daß ihr erster Mann am vorletzten Kriegstag gefallen und ihr Verlobter unmittelbar vor der Hochzeit verunglückt ist, erzählt sie vermutlich jedem, der es hören will oder auch nicht. Ob Eva Pflügler nun den jüngeren Mann heiraten wird oder nicht, oder in zwei Jahren erst den dicken Makler mit dem feinen Auto, wird das Publikum dieses Abends nie erfahren; bis dahin ist der große Magier längst über alle Berge.

»Und nun«, sagt Hanussen, als die Scheinwerfer seine eintretende Assistentin erfassen und die gutgewachsene Mittzwanzigerin auf die Bühne geleiten, »darf ich Ihnen meine Mitarbeiterin und mein Medium vorstellen: Martha Farra.«

Eine zierliche Brünette auf hohen Absätzen tritt an die Rampe, zeigt großzügig, was sich sehen lassen kann. Der Magier sagt nicht, daß es sich bei seiner Assistentin um ein Duplikat handelt. Als sein erstes Medium nach Spanien durchgebrannt war, hat er sich unverzüglich die frühere Zirkusreiterin zugelegt und die neue Assistentin unter dem alten Namen auf »Martha Farra« zurechtgetrimmt.

Hanussen arbeitet mit großem Aufwand, mit Sekretären, Managern, Zufallsinformanten, bezahlten Zuträgern und Zutreibern, mit willfährigen Nassauern. Dr. Swoboda weiß, daß sich damit allein die sensationellen Erfolge nicht erklären lassen: Aber mit was sonst?

Hanussen hebt die Stimme: »Es ist ein großes Wagnis, das ich eingehen werde. Ich will versuchen, mit Hilfe von Hypnose ein blutiges Verbrechen aufzuklären, bei dessen Ermittlungen die Polizei nicht weitergekommen ist. Wie gesagt, ein Experiment. Ich appelliere von vornherein an Ihre Toleranz, wenn es mißlingen sollte. Sicherlich verfüge ich über gewisse hellseherische Fähigkeiten, aber ich bin nicht allwissend. Auch ich stoße an die Grenzen der Wahrnehmbarkeit, aber im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen und Herren, gelingt es mir gar nicht so selten, sie zu durchbrechen.«

Er benutzt die Umständlichkeit nur, um die Spannung zu steigern. Er drillt sein Publikum wie einen Fisch an der Angel, reißt es mit, zwingt es in seinen Bann. Hanussen spricht mit geschulter Stimme; er ist ein ausgezeichneter Redner. Wäre er kein gefeierter Magier, könnte er einen überzeugenden Politiker abgeben – und falls er falschspielt, stünde er in diesem zweiten Beruf auch nicht ganz im Abseits.

»Ich spreche vom Mord am Gänsemarkt«, sagt Hanussen in die gequälte Stille. Er verbeugt sich. »Ich bitte Sie jetzt um äußerste Ruhe und Aufmerksamkeit.«

Der Hypnotiseur tritt an Martha Farra II heran, beugt sich über sie, redet leise auf sie ein.

Gebannt verfolgen die Zuschauer den Vorgang auf der Bühne, und der Staatsanwalt, der sich nur dienstlich im Kursaal aufhält, wird von der Erregung genauso überflutet wie alle anderen.

Hanussen setzt zu einem dreifachen Salto mortale an, ohne Angst und ohne Netz.

2

Auf den ersten Blick würde keiner dem Mann ansehen, daß er Kriminalkommissar ist. Der korpulente Molitor mit den Löckchen um die Stirnglatze gleicht eher einem gemütvollen Buchhalter, aber das ändert nichts daran, daß er in seinem Fach tüchtig ist und als rechte Hand des Staatsanwalts Dr. Swoboda wirkt, wendig wie ein Tanzbär.

Molitor ist nicht nur ein erfahrener Kriminalist; er kann auch, wenn ihm Dienstvorschriften im Weg stehen, ausgesprochen pfiffig handeln. Amtshilfe aus Österreich, die sich die Polizei im Fall Hanussen erbittet, geht nur über den Dienstweg Prag–Wien, und dabei kommt meistens wenig heraus. Die tschechoslowakische Republik gehörte früher zur K. u. k.-Donaumonarchie und ist als künstlicher Vielvölkerstaat nach dem Krieg entstanden. Wien und Prag sind nicht gut aufeinander zu sprechen, und im Fall des Erik-Jan Hanussen, den die ČSSR-Zeitungen als Opfer rot-weißroter Willkür zum tschechischen Patrioten hochstilisierten, schon gar nicht.

Aber der tüchtige Molitor weiß sich zu helfen. Die Schwester eines Wiener Kriminalinspektors namens Watzlawek ist mit einem tschechischen Arzt verheiratet, und ihr Bruder besucht sie privat in Teplitz-Schönau. Der Kriminalkommissar kennt die Arztfrau gut genug, um eine Begegnung mit Watzlawek herbeizuführen und den Kollegen aus Wien auf einen Dämmerschoppen in eine urige Kneipe einzuladen, um, außerhalb des Instanzenwegs, mit ihm zu fachsimpeln. »Natürlich hab’ ich diese Hanussen-Plakate gesehen«, sagt der Wiener Beamte nach kurzem Zögern, »sind ja auch grell genug, um gleich ins Auge zu springen. Ehrlich gesagt, ich bin nicht traurig, daß sich dieser Schlawiner bei Ihnen herumtreibt und nicht bei uns, Kollege Molitor.«

»Sie haben dienstlich mit Hanussen zu tun gehabt?«

»Und ob«, entgegnet der Gast aus Wien. »Der Gauner hat uns genug zu schaffen gemacht.« Er bricht ab und setzt erschrocken hinzu: »Aber darüber kann ich leider mit Ihnen nicht sprechen. Beim besten Willen nicht. Das ist ein strenges Amtsgeheimnis.«

Der tschechische Kollege nickt voller Verständnis und schiebt das Thema Hanussen beiseite. Vorläufig wenigstens, denn nach einer Weile kommt er wie von selbst wieder auf den Magier zu sprechen: »Dieser Hanussen heißt doch eigentlich Steinschneider?«

»Hermann Steinschneider«, bestätigt Watzlawek. »Geboren in Wien, Sohn eines billigen Schmierenkomödianten, der auch als Gelegenheitsarbeiter und mitunter sogar als Synagogenschames gearbeitet hat.« Der Semmelblonde mit dem Milchgesicht lacht trocken. »Gerade wegen seiner jüdischen Abstammung tritt er häufig als heißlaufender Antisemit auf.«

»Schlimm«, entgegnet Molitor, »aber doch kein Tatbestand –«

»Typisch für diesen krummen Hund«, poltert Watzlawek: »Und Tatbestände gäbe es genug, nur – Sie kennen ja das alte Dilemma, Herr Kollege, mit der Beweisnot …«

Er hat sich in Zorn geredet, und das Bier lockert ihm die Zunge. Er spricht ein gezwungenes Schriftdeutsch, fällt aber immer wieder in den Wiener Dialekt zurück.

Molitor bestellt eine neue Runde. Dann holt er aus der Brusttasche ein kleines Thermometer hervor und prüft mißtrauisch die Temperatur des Gerstensafts. Viele Tschechen tun das; sie verstehen etwas vom Bier, ob es nun aus Pilsen oder aus Budweis kommt. Das Hopfenprodukt war auch schon zu K. u. k.-Zeiten ihr Nationalgetränk, und daß es hervorragend mundet, schmeckt auch der Gast von der schönen blauen Donau.

»Der Kerl, der sich Hanussen nennt, ist ein aalglattes, durchtriebenes Schlitzohr, das es faustdick hinter den Ohren hat. Der Bursche gehört längst hinter Schloß und Riegel«, schnaubt der Semmelblonde. »Jahrelang hat er mit uns Schindluder getrieben.«

»Dann verstehe ich nur nicht, warum uns Wien keine Amtshilfe leistet.«

»Des waas i a net«, erwidert der Beamte. »Wissen S’, Herr Kollega, i bin ja nur a Klaaner, a ganz Klaaner bei der Polizeidirektion.« Watzlawek verzieht das Gesicht in plötzlicher Schadenfreude: »Vielleicht, weil eure Zeitungen so viel dummes Zeug über den Gauner schreiben. Sie wissen doch, daß Hanussen kein echter Tscheche ist, so wie er Ihre Sprache spricht. Er ist auch kein Vorkämpfer für Ihre Republik – wirklich nicht. Seine Heimat ist das Geld, und sonst gar nichts …«

»… und das scheffelt er, das kann ich Ihnen sagen«, stichelt Molitor.

»Ich hab’ ihn schon kenneng’lernt, wie er aus dem Krieg zurückgekommen ist. Da war er bei der Truppenbetreuung als eine Art Zauberkünstler und wollte im Zivilleben mit dem Abrakadabra weitermachen. Damals hat’s in Wien nur so gewimmelt vor Kartenschlägern, Astrologen, Wahrsagern, Sterndeutern und Handlesern. Hanussen war einer von vielen, einer unter ›Fernerliefen‹, und die Polizei hat sie nach dem Schema leben und leben lassen behandelt.«

»Bis zur Sache mit der Nationalbank«, erwidert Molitor.

»Das wissen Sie?« fragt der Weizenblonde mit schmalen Augen.

»Aus dem Archiv – Zeitungsberichte.« Der Tscheche gibt sich betont harmlos.

»Hörst’, i bring mich da um Kopf und Kragen, Kollega«, jammert Watzlawek. »Die Polizeidirektion hat eisern dichtgehalten. Oder redet man bei euch gern über a Blamasch?« »Das bleibt bei mir«, versichert der tschechische Kollege. »Da kommt kein Wort in die Akten. Das versprech’ ich Ihnen. Auf mich können Sie sich verlassen, Watzlawek, fragen S’ ruhig mal Ihre Schwester.«

»Ich glaub’s Ihnen ja«, entgegnet das Milchgesicht, »aber …«Er dreht sich wieder nach den Umsitzenden um. Sie sind gegangen. Und ein wenig wichtig macht sich der Mann aus Wien: »Das war 1919. Die Notendruckerei der Österreichischen Nationalbank hat entsetzt festgestellt, daß nagelneue Tausend-Kronen-Scheine entwendet wurden. Kistenweise, so viele, daß man der Öffentlichkeit die genaue Summe gar nicht mitteilen konnte. Wir, die Polizei, die Kiberer – wie die Leute uns nennen – haben sofort ermittelt, daß als Täter nur Angestellte des Geldinstituts in Frage kamen und haben sie überwacht. Alle. Ausnahmslos. Nichts konnte aus dem Gebäude herausgeschafft werden, was wir nicht kontrolliert hätten.« Watzlawek wischt sich mit dem Handrücken den Bierschaum vom blonden Schnurrbart. »Zuerst waren die Wiener Zeitungen noch ganz friedlich, aber dann machten uns Schlagzeilen über unsere Unfähigkeit schwer zu schaffen. Auf der Straße wurden wir von Passanten als Nichtskönner angepöbelt. In dieser Situation trat der damals noch weithin unbekannte Hanussen groß ins Rampenlicht: Er meldete sich beim Direktor der Nationalbank und behauptete, er sei Hellseher und könne das Geld wieder beschaffen. Wir von der Polizei haben zuerst gelacht, aber der Direktor der Notenbank – sein Stuhl hat ja schon bedenklich gewackelt – griff nach dem Strohhalm, und der Ganeff konnte sein ganz großes Brimborium abziehen. Er ließ sich die Pläne des Gebäudes zeigen, unter dem sich ein weitverzweigtes Kanalsystem befindet. Hanussen spielte den Hypnotisierten, rannte durch das Haus, stürzte sich auf einen jungen Mann und schrie: »Sofort verhaften den Mann, er gehört zu den Dieben.« Und dann gab der ›Hellseher‹ genau die Stelle an, an der die Geldkisten vergraben waren. Er erhielt eine hohe Belohnung, wurde der Held des Tages – und wir waren die Deppen der Woche.«

»Aber Sie wissen, wie er Sie aufs Kreuz gelegt hat?«

»Wir sind rasch dahintergekommen«, erwidert Watzlawek, »daß Hanussen der Schwager des ›Tresor-Franzl‹ war. Der ist einer der schlimmsten Gangster von Wien mit unheimlichen Beziehungen zur Unterwelt – und leider auch heimlichen zu einigen Behörden. Er war die Schlüsselfigur des Falles: Da die Diebe nicht wußten, wie sie das Geld durch die polizeiliche Kontrollkette schleusen könnten, wandten sie sich an einen Hehler und dieser wiederum an den Tresor-Franzl, der sich die Lage des Geldverstecks genau beschreiben ließ. Der Tresor-Franzl wußte auch nicht, wie man das Diebesgut durch die Kontrolle bringt, wohl aber wie man dem Mann seiner Schwester zu einem tollen Auftritt verhelfen kann.«

»Sie haben die Täter doch noch gefaßt?«

»Und zwar die richtigen«, versetzt der Semmelblonde. »Nicht den von Hanussen angegebenen, der war völlig unschuldig. Doch die Täter hielten den Mund aus Angst vor dem Tresor-Franzl: So haben wir zwar den Fall geklärt, konnten aber den Schwindel bei der Geldauffindung nicht beweisen. Wir mußten Däumchen drehen und auf Rache sinnen.«

»Darauf haben Sie dann lange warten müssen«, hilft Molitor nach.

»Fünf Jahre«, entgegnet der Mann aus Wien. »Inzwischen war Hanussens Ruhm schon wieder ziemlich verblaßt. Er trat im ›Ronacher-Varieté‹ auf, war aber nicht der Star, der sogenannte Eisenkönig hatte ihm die Schau gestohlen, ein Artist namens Breitbart. Der Mann verbog Stahlschienen, sprengte Eisenketten und zeigte ähnliche Tricks. Das Publikum raste: es wollte den Eisenkönig sehen, und nicht Hanussen. Der ›Hellseher‹, krank vor Eifersucht, gab in den Wiener Zeitungen Inserate auf und bezeichnete seinen Rivalen als Hochstapler. Steinschneider kam vor Gericht, wurde wegen Verleumdung verurteilt und aus dem ›Ronacher‹ entlassen. Jetzt ging der Krieg erst richtig los: Hanussen trat im ›Apollo‹ auf, versetzte seine Assistentin Martha Farra in Hypnose: Das zierliche Mädchen führte nun alle Sensationen des Eisenathleten vor: Zuvor wurden Zuschauer auf die Bühne geholt, die sich überzeugten, daß es sich um echte Eisenschienen und Ketten handelte. Dann wurde das Licht der Scheinwerfer wieder auf das Publikum gerichtet, während vier Helfer die Gegenstände gegen Attrappen austauschten.« Watzlawek lacht, bis er nasse Augen bekommt. »Breitbart verführte diese Requisitenschieber zu einem Heurigen-Ausflug, setzte sie unter Alkohol, als sie voll waren wie Haubitzen, sperrte er sie ein – und im ›Apollo‹ blamierte sich Hanussen bis auf die Knochen, weil sein Medium die echten Eisenstücke keinen Zentimeter bewegen konnte. Er wurde ausgepfiffen, mußte türmen und sich verstecken. Die Leute verlangten ihr Eintrittsgeld zurück, und die Wiener Zeitungen fielen jetzt so über den zweifelhaften Magier her wie fünf Jahre zuvor über die Polizei. Nunmehr konnten wir den Kerl endlich aussischmeiß’n. Jetzt«, spöttelt das Milchgesicht, »haben wir einen Gauner weniger und ihr, ihr habt einen Patrioten mehr.«

»Bitte nicht politisch werden, Herr Kollega«, entgegnet Molitpr. »Und lange wird sich Hanussen hier nicht mehr herumtreiben, darauf können Sie sich verlassen, und die – die patriotischen Hosen werden wir ihm dann schon Ausziehen.«

Er gibt sich zuversichtlich, wiewohl er weiß, daß »der größte Hellseher aller Zeiten« längst nicht mehr mit Pappattrappen arbeitet. Tricks, die man sich nicht erklären kann, gelten in der Volksmeinung nun einmal als Wunder, und je ungläubiger der moderne Mensch wird, desto wundergläubiger gibt er sich auch.