Christian Linker

Der Schuss

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Christian Linker

Christian Linker, geboren 1975, studierte Theologie und machte Jugendpolitik, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine Romane, die sich schon immer mit brisanten Themen auseinandergesetzt haben, wurden vielfach ausgezeichnet.

Mehr Informationen finden sich unter www.christianlinker.de

Über das Buch

Wer etwas ändern will, muss laut werden!

 

Der siebzehnjährige Robin hat sich bisher aus den Konflikten in seinem Wohnblock rausgehalten. Doch dann wird er Zeuge eines Mords, den die rechtsgerichtete »Deutsche Alternative Partei« nutzt, um Fremdenhass und Ängste zu schüren. Nur Robin weiß, was wirklich geschah. Er muss sich entscheiden: Redet er, kann er den wachsenden Hass stoppen. Damit bringt er sich selbst jedoch in die Schusslinie …

Impressum

Ungekürzte Ausgabe

2020 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2017 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München

Lektorat: Beate Schäfer

 

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eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43324-2 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71870-7

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423433242

1

Robin

Das Feuerzeug klickt.

Klingt fast wie ein Schuss in der Stille hier.

Sagt man ja auch bei Junkies. Letzter Schuss, Schluss.

Leises Knistern. Die Flamme frisst sich ins Papier.

Ich bin kein Junkie, nicht mal das. Nur ein kleiner Ex-Dealer, der seinen allerletzten Joint raucht. Das Knistern ist schön. Wie wenn du dein letztes Zeugnis verbrennst oder den allerletzten Brief von deiner großen Liebe. Die Spitze wird Glut und funkelt ins Dunkel, als ich lang dran zieh. Mein allerletzter Joint. Denn ich bin raus aus dem Geschäft.

Bin ich doch, oder? Kurz blinzel ich aufs Handy. Die zwei Häkchen hinter meiner Nachricht haben sich immer noch nicht blau gefärbt. Ich fürchte, meine Kündigung ist erst dann gültig, wenn Hakan sie gelesen hat. Wo auch immer der gerade seinem Business nachgeht – irgendwann wird er es lesen, akzeptieren und mir keinen Stress deswegen machen. Hoffe ich jedenfalls. Ich meine – ich hab ihm doch auch keinen Stress gemacht, sondern brav sechs Monate Bewährung kassiert. Ich hätt ihn verzinken können, dann wär ich vor Gericht besser weggekommen. Vielleicht bloß mit Sozialstunden oder so. Aber die hätt ich dann nicht mehr ableisten können; Tote machen ja keine Sozialstunden.

Ich leg den Kopf in den Nacken und blas eine dicke Wolke aus.

Unterm Hintern spür ich das morsche Holz der Spielplatzbank. Ja, ein Spielplatz. Den haben die irgendwann auf dem Beton hier angelegt. Haben Erde verteilt, Sträucher und Beete gepflanzt, einen Sandkasten reingesetzt mit Klettergerüst und allem. Das Klettergerüst ist seit ewig schon baufällig und abgesperrt. Trotzdem ist das hier eine kleine Oase. Nicht irgendwo, sondern auf dem Dach von einer Parkgarage mitten im Herzen vom Breslauer Block. Vom abgefucktesten Ghetto der Stadt. Soweit ich das beurteilen kann, denn eigentlich weiß ich ja nichts über die Stadt oder die Welt drum herum. Interessiert mich auch nicht. Mich interessiert gar nichts mehr. Ich will nur die zwei blauen Häkchen sehen und vielleicht noch ein kurzes »Okay« und mich dann für alle Zukunft aus jedem möglichen Scheiß raushalten.

Meine Mutter wär sicher stolz auf mich. Sich raushalten und bloß nicht die Klappe aufmachen, das ist bei uns nämlich so eine Art Familienmotto. Ich erinner mich, wie ich im Kindergarten bei einem Theaterstück mitgemacht hab. Natürlich sind die Mütter der andern Kinder da gewesen und haben zugeguckt. Nur meine nicht. Die ist auch nie zu irgendwelchen Elternabenden gegangen oder zur Sprechstunde, wenn ich Palaver mit einem Lehrer hatte. Ich werf ihr das nicht vor, echt nicht, denn am Ende fährt man einfach besser damit, wenn man sich mit keinem unnötig anlegt.

Als ich letzte Woche meine Gerichtsverhandlung hatte, war sie auch nicht da. Diesmal aber aus einem echt guten Grund, sie macht nämlich gerade eine Kur an der Nordsee. Im Alltag spür ich eh keinen Unterschied, ob die da ist oder nicht. Die verdient ihr Geld, indem sie nachts in Bars und Clubs die Klos putzt; tagsüber schläft sie. Sie hat ihr Leben und ich hab meins, und Mel hat ihres.

Irgendwo dort drüben ist das Fenster von Mel, hinter dem sie jetzt friedlich schläft und von einer besseren Zukunft träumt. Eigentlich müsste ich mich wohl ein bisschen für meine kleine Schwester verantwortlich fühlen, solange unsere Mutter nicht da ist. Aber Bullshit, sie ist doch sechzehn, gerade mal zehn Monate jünger als ich. Außerdem einen halben Kopf größer und schon richtig erwachsen. So vernünftig. Die könnte eigentlich die Verantwortung für mich übernehmen. Tut sie vielleicht sogar und ich merk das bloß nicht. Hat Pläne, will was aus ihrem Leben machen. Was immer das auch heißen soll. Jedenfalls hat sie im Gegensatz zu mir die Zehnte abgeschlossen und geht jetzt auf eine Fach-irgendwas-Schule. Und anders als ich hat sie auch noch nie gekifft. Das ist gut so, sonst hätt ich ihr am Ende noch was verticken müssen.

Aber das spielt ja keine Rolle mehr, denn meine kurze Dealer-Karriere ist schon wieder zu Ende. Jedenfalls so gut wie, es kann doch nicht mehr lange dauern. Oder hat Hakan längst die Vorschau meiner Message gesehen und pirscht sich gerade von hinten durch die dichten Büsche an, mit seinem irren Messer zwischen den Zähnen? Weil jemand wie er keine Kündigungen akzeptiert? Aber das, was da leise hinter mir raschelt, ist nur der Wind in den Zweigen.

Irgendwo in dem Haus gleich hier, hoch über mir im sechsten Stock, da ist das Fenster zu seinem Zimmer. Kann mir nicht vorstellen, dass der in seinem Bett liegt und pennt, schließlich ist genau jetzt seine liebste Arbeitszeit. Das Fenster daneben gehört

Ich zieh an dem Joint. Der verglimmt viel zu schnell und leider komm ich überhaupt kein bisschen drauf.

Ich meine – es hat doch noch nie einer gegen Hakan ausgesagt. Warum hätte ich da der Erste sein sollen? Ich hab es damals nicht getan und jetzt auch nicht, inzwischen sind wir doppelt und dreifach quitt, er soll mich in Ruhe lassen, okay? Das schuldet er mir.

Da zuck ich zusammen. Mein Handy hat vibriert. Plötzlich sind da zwei blaue Häkchen und drei Wörter: »Wie du meinst.«

Was zur Hölle soll das heißen?

Ach, fuck … ich müsste nur ein Wort zu einem von der Naziblase hier im Block sagen … die würden mich in ihre Reihen aufnehmen und für alle Zeit vor Hakan beschützen. Aber Bullshit. Wenn du nicht in irgendwelchen Scheiß reingezogen werden willst, dann musst du um braune Scheiße ja wohl erst recht einen riesengroßen Bogen machen.

Ich krall zwei Finger um den Joint, als könnte ich mich dran festhalten. Ziehe, schließ die Augen, hör auf das Windrascheln in den Büschen und stell mir einfach vor, ich säß irgendwo tief im Wald. Und nicht mitten im Block über einer abgefuckten Garage. Klappt aber nicht.

Magnus

An der Unterseite jener Betondecke, die den Spielplatz trägt, klebt ein Geflecht aus Stromkabeln, Lüftungsrohren und den Wasserleitungen der Sprinkleranlage. Gelbe Lampen, in staubschwere Spinnweben gehüllt, streuen schmutziges Licht auf Autolacke, rissigen Boden und die Brillengläser von Magnus Mahlmann, dem nun doch ein wenig mulmig wird.

»Warum ausgerechnet bei euch im Block?«, hat Magnus gefragt. »Hast du keine Angst, dass uns einer von deinen Kameraden beobachtet?«

»Wenn ich rausfahre zu euch in die Stadt, wär das viel auffälliger«, hat der Anrufer geantwortet.

Natürlich könnte es eine Falle sein. Geheimes Treffen in der Tiefgarage. Aber Magnus’ Neugierde ist stärker. Und schließlich hat er auch früher schon brenzlige Situationen überstanden.

Schritte hallen. Und die Stimme des Anrufers.

»Magnus Mahlmann?«

Hinter einem grünen Van tritt eine schmale Gestalt hervor. Magnus ist dem Mann noch nie begegnet, doch das Haarbüschel auf dem ansonsten kahlen Kopf und das schiefe Grinsen sind ihm vertraut. Nach monatelangen Recherchen kommen ihm die Schläger und Handlanger von Fred Kuschinski wie alte Bekannte vor: der listige Nikolaj Müller, der bullige Marc Dorfmann alias Schädel. Und dieser hier, dem die Rolle des Verräters zufallen soll.

»Emil Becker?«

»Anwesend«, feixt Becker. »Haben Sie das Geld?«

»Zeigen Sie mal«, sagt er.

Magnus öffnet den Umschlag, zieht das Bündel grüner Scheine ein Stück hervor und lässt die Kanten am Daumen entlanggleiten.

»Ich hoffe, auf dem Stick befindet sich tatsächlich, wonach ich suche«, erwidert Magnus.

»Vertrauen Sie mir nicht? Sollten Sie. Ha’m ja keine Alternative.« Becker lacht auf. »Kapiert, Mann? Keine Alternative

»Guter Witz.«

Verrat mit Pointe. Für schlappe zehn Riesen ist Emil Becker bereit, seinen geliebten Führer Fred Kuschinski an die Lügenpresse zu verkaufen. Er nimmt es offenbar mit Humor. Sie gehen aufeinander zu und Becker streckt beide Hände aus. In der rechten hat er den Stick, die linke öffnet sich, um nach dem Umschlag zu greifen.

»Irrtum!« Da ist noch jemand! »Es gibt immer eine Alternative.«

Ein junger Mann schlendert die Rampe vom zweiten Parkdeck im Untergeschoss herauf, die Hände lässig in den Taschen seines etwas zu weiten Trenchcoats. Das Bubengesicht unter dem strengen Seitenscheitel gehört Nikolaj Müller.

»Korrekt!«, dröhnt es darauf von der anderen Seite her. »Eine Deutsche Alternative

In der Garagenausfahrt hat sich ein glatzköpfiger Gorilla materialisiert. Marc Dorfmann. Schädel. Schädel trägt Handschuhe, die in Magnus’ Kopf unwillkürlich Alarm auslösen, als wären sie ein geheimes Zeichen. Wer Handschuhe trägt, meint es ernst. Oh, wie naiv, denkt Magnus, wie naiv! Natürlich hat ihm Emil Becker eine Falle gestellt.

Aber Becker scheint über das plötzliche Auftauchen seiner beiden Kameraden noch erschrockener zu sein, als Magnus es ist.

»Lasst mich das erklären …«, stammelt Becker und wendet sich Nikolaj zu.

Der stößt ihn unsanft gegen die Brust, dass er zurücktaumelt, wieder und wieder, boxt und schiebt und treibt ihn zu Schädel.

»Bitte, Jungs …«

»Schon gut«, sagt Schädel beinahe sanft, tritt von hinten an Becker heran und fasst seine Schulter. »Du brauchst uns nix sagen. Wir wissen alles.«

Was er dann mit der anderen Hand tut, kann Magnus nicht sehen, erkennt es aber in Beckers Blick, noch bevor der erstickte Schrei gegen die niedrige Decke hallt. Jetzt, wo es längst zu spät ist, denkt Becker plötzlich an Flucht, macht zwei, drei Sätze auf Magnus zu, kippt nach vorn und fällt schwer in Magnus’ Arme. Dann sackt er zur Seite weg und gibt den Blick auf Schädel frei, dessen behandschuhte Hand ein blutiges Messer hält.

»Scheiße …«, entfährt es Nikolaj.

Schädel steht reglos da und glotzt völlig verdutzt auf seinen Exkameraden herab, dem er gerade eine Klinge in die Lenden gerammt hat. Und der sich nun im Todeskampf auf dem schmutzigen Parkhausboden windet. Schädel wirkt, als habe ihn die Tat selber am allermeisten überrascht. Ganz langsam hebt er den Blick und sieht Magnus aus leeren Augen an. Das ist der Moment, in dem Magnus’ Instinkt die Regie übernimmt. Er muss den Schreck der beiden Angreifer ausnutzen, um irgendwie an Schädel vorbei und zum Ausgang zu kommen. Schon hat er einen Satz über den verstörend zuckenden Becker hinweg gemacht, rempelt, ohne auf das Messer zu achten, Schädel zur Seite und sprintet auf die Garagenausfahrt zu, wundert sich bloß, dass seine Schritte immer

Dunkel gähnt die Garagenausfahrt, die auf die breite Breslauer Straße mündet, wo es schwer werden wird, sich zu verstecken. Und verstecken muss er sich, das weiß der Instinkt bereits, denn Magnus kann nicht mehr viel weiter laufen. Neben der Ausfahrt führt eine halb von Efeu verschluckte Treppe nach oben auf das Dach, was immer dort sein mag, und alles in Magnus sträubt sich gegen diese Treppe, doch der Instinkt entscheidet anders und lenkt seine Schritte die verwitterten Stufen hinauf. Die Treppe macht eine Kehre, wo er außer Sichtweite ist – zumindest sofern seine Verfolger ihn nicht haben abbiegen sehen. Er will verschnaufen, denn seine Beine spürt er kaum noch, umso mehr seinen Unterleib, der sich in einen flammenden Grill verwandelt hat; doch auch hier überstimmt ihn der Instinkt, treibt ihn weiter hinauf bis ganz auf das Dach, wo er sich auf einem Kinderspielplatz wiederfindet. Ein baufälliges Klettergerüst ragt vor ihm in den Nachthimmel, von flatterndem Absperrband umgeben. Auf der anderen Seite erkennt er einen Sandkasten und Sitzbänke. Auf einer dieser Bänke kauert eine Gestalt.

Robin

Was stimmt nicht mit dem Zeug, das ich gerade rauche? Woher zur Hölle kommt auf einmal dieses Röcheln? Ein Schatten taucht drüben an der Treppe auf. Fuck, das ist … die absolute Zombieapokalypse! Da taumelt ein Typ auf mich zu, macht gurgelnde Geräusche, glotzt mich glasig an, faucht was, das nach Wörtern klingt: »Unten … Garage … Krankenwagen.«

Erst denk ich, der wär einfach besoffen oder stoned von irgendwas; dann seh ich, dass er Blut spuckt. Sein Gesicht hat die Farbe von dem Käse, den meine Mutter immer für ewig im Kühlschrank liegen lässt, das seh ich sogar im Dunkeln. Er ist vielleicht Ende zwanzig und hat hier im Block nichts zu suchen, schon von den Klamotten her. Auch seine Hände sind voller Blut. Die eine Hand ist zur Faust verkrampft, die andere greift nach mir. Ich zuck zurück, kipp nach hinten von der Bank und rappel mich auf. Jetzt hab ich den verdammten Joint verloren.

»Hör zu«, sag ich zu dem Typen, »ich kann grad echt keinen Ärger brauchen. Keine Ahnung, mit wem du Palaver hast und warum, ruf dir einfach einen Krankenwagen und lass mich aus der Nummer raus, okay?«

»Handy …« Wieder versucht er, mich mit seiner blutverschmierten Hand zu packen. Die andere Hand ist immer noch zur Faust geballt.

»Oh, nein«, sag ich, »das läuft nicht. Nicht mit meinem Handy. Dann haben die meine Nummer und ich häng mit drin.«

»Was für eine verdammte Scheiße!«, ruf ich unterdrückt und seh mich um, ob außer uns noch jemand hier ist. Ist aber keiner.

»Gib schon dein fucking Handy her.«

Ich greif in seine Jackentasche. Die Tasche ist warm und feucht. Ganz kurz denk ich, der hätte sich vollgepisst, dann schnall ich, dass es sein Blut ist. Und zwar überall. Schon klebt es an meinen Fingern. Ich krieg sein Handy zu fassen, zieh es raus und tippe eins, eins, zwei.

»Hallo«, sag ich, als sich der Notruf meldet, »auf dem Spielplatz, Breslauer Block, oben auf der Garage – ein verletzter Mann. Blutet stark.«

»Wie heißen Sie bitte?«, fragt eine Frau am anderen Ende.

»Ist doch kackegal.«

Der Typ vor mir macht so was wie ein Victory-Zeichen. »Zwei … unten ist … auch einer.« Dann sackt er in sich zusammen.

»Hören Sie«, sag ich, »einer ist auf der Garage und ein anderer ist in der Garage.«

»Verstanden«, sagt die Notruffrau. »Bitte legen Sie noch nicht auf, wir …«

Ich drück sie weg und pack den Typen vor mir. Ich zieh ihn ein Stück ins Gebüsch, denn ich hab keinen Bock auf Publikum. Es ist zwar schon weit nach Mitternacht und die Hausfassaden um uns rum liegen stockdunkel da, aber hinter ein paar Fenstern flimmert noch Fernsehlicht, und vielleicht geht irgendwer gerade zufällig auf seinen Balkon raus und guckt nach unten. Das Gebüsch bildet ein schönes Dach über uns, das müsste alle Blicke abhalten. Ich roll ihn herum, dass er auf dem Rücken liegt; dann zieh ich seinen Pullover hoch, leuchte mit seinem Handy und seh die Stichwunde an seinem Bauch. Der Bauch hebt und senkt sich schnell unter

»Scheiße«, fluch ich leise und such die Gürtelschnalle von dem Mann, »scheiße, scheiße, scheiße!«

Ich find die Schnalle, öffne sie und zieh den Gürtel mühsam aus den Schlaufen.

»Emil …« Der Typ ist anscheinend doch noch bei Bewusstsein. »Becker …«

»Halt die Fresse!«, schnauz ich ihn an. »Ich will nichts hören! Ich will nichts wissen oder mitkriegen oder in irgendwas reingezogen werden, hast du verstanden?«

Ich zerr an seinem Pullover, aber es ist unmöglich, ein Stück rauszureißen. Ich müsste ihm das Teil komplett ausziehen und ihn dafür aufrichten, doch dafür ist er zu schwer; und außerdem gibt ihm das vielleicht den Rest.

»Fuck, fuck, fuck«, schimpf ich vor mich hin, streif meinen Hoodie ab und zieh mir das T-Shirt über den Kopf.

Der Fremde packt mich mit der freien Hand am Arm und fuchtelt gleichzeitig mit seiner Faust herum.

»Leute … von … Kuschinski …«, blubbert es aus ihm heraus.

»Halt endlich deine Fresse, Mann, oder ich lass ich dich hier verbluten, okay?«

Das scheint ihn für einen Moment zu beeindrucken. Ich falte mein Shirt vier-, fünfmal aufeinander, dann press ich es so fest wie möglich auf die blutende Wunde. Ich greif nach seiner freien Hand, führ sie an die Stelle und sag: »Drück zu, wenn du kannst.«

Dann nehm ich den Gürtel und versuch, ihn unter dem Rücken des Fremden durchzuziehen. Er scheint endlich zu kapieren, was ich da tu, und hebt ein bisschen den Hintern, wobei er erbärmlich stöhnt, aber es geht. Ich krieg den Gürtel um ihn rum, kann ihn über dem Knäuel von meinem Shirt strammziehen und schließen.

»Viel Glück, Mann«, sag ich, heb das Handy des Fremden auf und steck es ein. »Sorry, aber es käm gerade nicht gut, wenn die meine Fingerabdrücke irgendwo finden, wo sie nicht hingehören. Falls du durchkommst, kauf dir zur Feier des Tages ein neues.«

Nein, ich bin absolut nicht so cool, wie ich es ihm und mir vormach. Aber die künstliche Coolness hält meine Nerven im Griff und mein Hirn am Laufen. Und außerdem die Erinnerung unter Kontrolle, die ich jetzt echt nicht brauchen kann.

Wo ist der verdammte Joint? Da. Und er hat noch Glut, ich verbrenn mir die Flossen dran, aber ich muss ihn verschwinden lassen, denn ganz sicher wird es hier bald von Cops wimmeln. Aber als ich endlich abhauen will, kommt noch mal Leben in den Fremden. Wieder packt er mich und seine Faust trifft mich hart an der Schulter, dann öffnet sie sich. Drin liegt kleines rotes Teil. Ein USB-Stick.

»Henry!«, beschwört er mich, als wären das seine absolut letzten Worte, »du musst den Stick Henry geben!«

»Ein einfaches Danke hätte schon gereicht«, sag ich und nehm den Stick an mich.

Nicht um ihm seinen vielleicht letzten Willen zu erfüllen, sondern damit der Typ mich loslässt. Tatsächlich scheint es ihn zu beruhigen, denn er entspannt sich augenblicklich und sinkt schlaff zurück auf den Boden.

Schon bin ich auf den Beinen, flitz gebückt aus dem Gebüsch raus und quer über den Spielplatz. Dabei scanne ich die endlosen Reihen von Balkons, die wie betonierte Bienenwaben an den Fassaden kleben. Weit oben glimmt ein roter Punkt im Dunkel. Irgendwer steht da auf seinem Balkon und raucht. Falls er oder sie irgendwas mitgekriegt hat, dann … scheiß drauf. Lässt sich eh nicht ändern.

Ich komm an die Treppe, die nach unten zur Straße führt. Blaue Blitze schneiden in die Nacht. Zwei Rettungswagen biegen in die Zufahrt zum Parkhaus ein. Fuck, ich würd denen direkt in die Arme laufen. Ich mach ein paar Sätze zurück und bieg nach links. Die Brüstung da ist nicht hoch und der Gehweg, der seitlich am Parkhaus vorbeiführt, liegt nicht zu tief. Schon hab ich die Brüstung erreicht und das rechte Bein drübergeschwungen, da hör ich unterdrückte Stimmen.

»Niemals«, sagt einer. »Der ist doch nicht so blöd, nach oben zu laufen.«

Könnte die Stimme von Schädel sein, dem Boss der Nazi-Clique hier im Block.

»Aber hier ist er auch nicht lang.« Das ist Schädels Buddy Nikolaj. Ich erkenne seinen russischen Akzent. »Sonst wären doch irgendwo Blutspuren.«

»Falls ich ihn überhaupt richtig erwischt hab«, antwortet Schädel.

Er ist es definitiv, denn er und Nikolaj hängen immer zusammen rum wie siamesische Zwillinge. Drillinge eigentlich, denn meistens haben sie noch ihren Kumpel Emil im Schlepptau … oh fuck, oh mega-fuck, plötzlich schnalle ich das alles. Schädel hat den Typen abgestochen, der da drüben im Gebüsch liegt, und ich lauf hier mit dessen Handy und dem ominösen USB-Stick rum.

Lautlos zieh ich das Bein wieder zurück und späh nach unten. Schädel kratzt sich am kahlen Kopf und Nikolaj kramt eine Zigarette hervor, die er sich anzündet. Beide machen keine Anstalten weiterzugehen.

Es ist ein harter Schlag, als ich unten auf dem Gehweg aufkomm. Ich spür ihn komischerweise weniger in den Füßen, mehr im Bauch. Heiß sticht er in meine Narbe. Schädel und Nikolaj, die mir beide den Rücken zugedreht haben, fahren entgeistert herum. Bevor sie auf mich scharfstellen können, hab ich schon die blutigen Hände in die Taschen meines Hoodies geschoben. Ihre Gesichtszüge entspannen sich, als sie checken, dass da bloß Robin Fuchs aus dem Haus Nummer siebzehn vor ihnen steht, der kleine Dealer, der mit niemandem Stress kriegen will. Vielleicht haben sie einen Zombie erwartet, etwa ihr Opfer von oben aus dem Gebüsch, das als Untoter zurückkommt, um sich an ihnen zu rächen. Jedenfalls sehen sie wirklich so aus, als hätten sie gerade einen Geist gesehen. Vielleicht haben sie das auch. Ich meine –

»Fuchs!«, ruft Nikolaj endlich. Aus seinem Mund klingt es wie: Fuuuks. »Wo kommst du denn her?«

Ich hab schon gedacht, die würden nie ihre Sprache wiederfinden.

»Von oben«, sag ich, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen.

»Ist die Treppe kaputt?«

»Nee. Aber voller Leute. Bullen vielleicht oder bloß der Notarzt, jedenfalls ist dahinten Blaulicht und ich hab keinen Bock auf Ärger.«

Hinter Schädels Stirn wird heftig gearbeitet. Man kann zugucken, wie er denkt.

»Ist der also doch … Ich meine: Hast du da oben irgendwen gesehen?«

»Sucht ihr etwa diesen Perversen?«, frag ich zurück.

»Was für ein Perverser?«

»Na, der, den ihr sucht. Oder nicht? Ich hab ihn nicht gesehen, aber gehört. Schlich da im Gebüsch rum und hat total gestöhnt, das Schwein.«

»Gestöhnt?«

»Ja, so richtig pervers. Keine Ahnung, was dem abging.«

Schädel und Nikolaj tauschen einen Verschwörerblick.

»Und vielleicht hat dann irgendeiner die Bullen gerufen oder den Krankenwagen oder was.«

Ich zuck mit den Schultern, Hände in den Taschen.

»Ist doch ekelhaft, dass so kranke Perverse frei rumlaufen dürfen, oder?«, meint Nikolaj jetzt. »Sei froh, dass wir versuchen, hier

Es hat was unfreiwillig Komisches, wie er mit seinem Russenakzent andauernd von Deutschland und den Deutschen labert, nur leider ist mir nicht zum Lachen.

»Vielleicht kommst du ja doch irgendwann zu uns«, sagt Schädel. »Ich versteh schon, dass du dich aus allem raushalten willst. Aber auf Dauer geht das eben nicht, Fuchs. Wenn die Regierung mit ihren Flüchtlingen und das linksgrüne Schwulenpack mit seiner Genderscheiße unser Volk zerstören wollen, müssen wir uns wehren. Das geht jeden was an. Auch dich. Du kannst zu uns gehören.«

Könnte ich, denk ich und seh Hakans kurze, mehrdeutige Nachricht vor mir. Aber etwas an denen ekelt mich. Kann gar nicht sagen, was genau.

»Ich überleg’s mir«, brumm ich und dreh mich zum Gehen. »Gute Nacht.«

»Hey, warte.« Schädel fasst mich an der Schulter. »Dass wir uns hier begegnet sind, interessiert niemanden. Verstehen wir uns?«

»Wir verstehen uns«, nick ich und will mich an ihm vorbeischieben.

»Alles klar«, sagt Schädel und hebt die Hand. »Schlag ein, Kamerad.«

Seine Hand schwebt zum High Five in der Luft.

Ich rühr mich keinen Millimeter.

»Schlag ein, Mann. Was ist los?«

Meine blutigen Hände verkrampfen sich in den Taschen.

Da kommt mir eine Idee.

»Du willst doch nur, dass ich den Hitlergruß mache«, sag ich.

»Was laberst du?«

»Also, für ’ne Packung Kippen würd ich’s machen. Na?«

Schädel lässt den Arm sinken.

»Verpiss dich«, sagt er.

Und das tu ich. Aber so was von. Am liebsten würd ich losrennen. Aber ich zwing mich, langsam davonzuschlendern. Ohne mich noch mal nach den beiden umzudrehen, geh ich an der Parkhauswand vorbei und durch die zugige Unterführung, die auf den hinteren Hof mündet, wo der Eingang zu meinem Haus liegt.

Ich schließ die Tür auf, atme den Flurgeruch ein und steig in den Aufzug. Im bleichen Licht guck ich auf ich meine Hände. Das getrocknete Blut malt in Schwarz die Linien meiner Finger und Handflächen nach. Ich will sie ruhig halten, aber das geht nicht. Sie zittern ohne Ende wie bei einem Alki. Nicht nur die Hände, mein ganzer Körper zittert wie bei Schüttelfrost, dabei frier ich gar nicht, sondern fühl mich so überhitzt wie im Fieber oder als hätt ich was eingeworfen.

Der Lift kommt im Fünften an und ich steig aus, öffne die Wohnungstür so leise wie möglich und schleich mich rein wie ein Dieb. In der Wohnung ist alles dunkel und still. Die Tür zu Mels Zimmer ist nur angelehnt. Einen Moment lang bleib ich davor stehen und hör auf ihren gleichmäßigen Atem. Dann geh ich ins Bad, reiß mir die Klamotten vom Leib und stopf sie in die Waschmaschine. Sogar die Schuhe. Ich dreh die Dusche auf. Unter dem heißen Strahl lässt das Zittern langsam nach. Ich seh zu, wie sich das Blut aus den Hautrillen löst, wie es zu kleinen schwarzen Knubbeln verklumpt und weggespült wird, spiralförmig um den Abfluss kreist und verschwindet. Sie haben meine Fingerabdrücke in ihren Computern, aber nicht meine DNA. Glaub ich zumindest. Sie werden nach dem Besitzer des T-Shirts suchen, aber auf Baumwolle sieht man keine Fingerabdrücke. Glaub ich zumindest. Auf dem Gürtel auch nicht. Hoff ich zumindest.

Es muss natürlich um diesen Stick gegangen sein. Die Cops werden das Teil suchen. Die Nazis aber auch. Wenn die Cops ihn finden, haben sie meine Fingerabdrücke. Wenn Schädel und Nikolaj oder ihre Kameraden ihn finden, brauchen sie nicht lange nachzudenken, um auch ohne Fingerabdrücke draufzukommen, dass ich damit zu tun hab. Ich muss das fucking Teil verschwinden lassen. Aber nicht mehr diese Nacht. Da wimmelt jetzt sicher alles von Cops. Ich muss den Stick verschwinden lassen und das Handy von dem Typen und seinen Blick. Ja, diesen Blick. Den muss ich aus meinem Gedächtnis verschwinden lassen, bevor er mich in den Wahnsinn treibt. Noch nie hat mich einer so angesehen. So, als wär ich seine letzte Hoffnung. Nein, nicht seine. Sondern die letzte Hoffnung der ganzen verdammten Menschheit.

Toll.

Das fehlt mir echt gerade noch.

4

Hakan

Hakan Topal trägt nichts außer seinem goldenen Kettchen mit dem stilisierten Krummschwert, als Polizisten mit schusssicheren Westen und gezogenen Pistolen in die Wohnung seiner Eltern eindringen. Hakan hört den Schreckensschrei seiner Schwester.

»Polizei!«, brüllt einer.

Offenbar hat Arzu auf das stürmische Klingeln die Tür geöffnet, während er einfach nur tiefer unter die Decke gekrochen ist. Schließlich braucht er dringend seinen Schlaf, und wer bitte würde es wagen, morgens um halb acht an der Tür des Paten vom Breslauer Block zu klingeln?

»Wo ist das Zimmer von Hakan?«, brüllt ein anderer.

Nicht dass er sich je selbst als Paten bezeichnet hätte. Er ist schließlich kein Poser, und es reicht außerdem, dass alle anderen ihn so nennen. Er macht acht, neun Riesen im Monat. Zig mal mehr als jeder sonst hier im Block. Während andere in seinem Alter sich am Abitur abmühen oder zur Berufsschule gehen, in irgendeiner Ausbildung versauern oder mit krakeligen Buchstaben Anträge im Jobcenter ausfüllen, lässt er die Puppen tanzen. Dealerei, Hehlerei, vielleicht Zuhälterei (Ansichtssache), Saudi Arabi Money Rich jedenfalls. Dreimal ist er schon verhaftet worden, aber nie haben sie ihm was nachweisen können. Zeugen sind

»Ziehen Sie sich an!«

»Was soll das?« Ihr Hurensöhne, denkt er noch, schluckt es aber herunter.

Wer hat hier gequatscht, ihn verzinkt, welcher von den Azzlacks hier im Block will unbedingt sterben? Und was können ihm die Bullen überhaupt anhängen?

»Herr Topal, ich verhafte Sie wegen Mordes an Emil Becker und wegen versuchten Mordes an Magnus Mahlmann.«

Da bleibt sogar Hakan die Spucke weg. Widerstandslos lässt er sich Handschellen anlegen und mit Flipflops an den Füßen aus seinem Zimmer führen. Arzu starrt ihn an. Seine Mutter hat die Hände vors Gesicht geschlagen. Vielleicht bricht gerade ihr Herz, und das täte ihm, den sonst nichts rühren kann, wirklich leid. Sein Vater hingegen weicht dem Blick des einzigen Sohnes aus. Wie immer. Baba schweigt, Baba blickt zu Boden, und vielleicht wird Hakan nie erfahren, ob das Scham ist oder Trauer oder einfach nur die totale Überforderung. Und draußen im Hof, das ist für Hakan vielleicht das Allerschlimmste, steht die Bullenschlampe: Filiz Yeter, Tochter türkischer Eltern, deutsche Polizistin, Bezirksbeamtin für den Breslauer Block. Sie grinst nicht, strahlt nicht, feixt nicht. Steht bloß da in ihrer korrekten blauen Uniform, eine Hand in die Hüfte gestemmt, die andere auf dem Holster ihrer Waffe, und erwidert seinen hasserfüllten Blick mit einem Gleichmut, der ihm beinahe den Verstand raubt.

»Keine Ahnung, was ihr hier abzieht«, bricht es aus ihm heraus,

Die Schiebetür des Mannschaftswagens schließt sich vor ihm. Einer drückt ihn in einen Sitz. Und als der Wagen anfährt, versteht er plötzlich. Das verfluchte Messer! Das Messer, das diese Hurensohn-Missgeburt Schädel ihm vor einem halben Jahr abgenommen hat …

Und er hat nicht mal ein Alibi.

Robin

Mitten in meinen Traumschlaf fährt das Dudeln von meinem Handy. Ich geh dran. Es ist Fred. Frederik Kuschinski, mit dem ich als Kind in den Büschen hinter den Mülltonnen gespielt hab und der demnächst echt in den Bundestag will.

»Hey, Rob«, sagt er. »Schädel und Niko haben mir erzählt, dass du den Stick von diesem Typen hast. Da ist beste deutsche Marschmusik drauf, also rück ihn raus.«

Ich drück ihn weg. Doch das Teil dudelt immer noch.

Wieder geh ich dran. Diesmal ist es der Fremde von letzter Nacht.

»Danke, dass du mein Leben gerettet hast«, sagt er. »Hast du schon Kontakt zu Henry …«

Ich drück ihn weg. Aber es dudelt einfach trotzdem weiter. Zum dritten Mal geh ich dran.

»Guten Morgen, Herr Fuchs«, sagt Weingart. Mein Bewährungshelfer. Die Träume rieseln aus meinem Kopf raus und ich merk, dass ich jetzt wach bin. Der Mann am anderen Ende der Leitung ist leider echt. »Termine werden eingehalten, hatten wir vereinbart.«

»Ja, ich … sorry. Wie spät ist es?«

»Zehn Minuten zu spät«, sagt er. »Eine halbe Stunde sogar, bis Sie hier sind. Aber Sie haben Glück. Mein nächster Termin fällt aus. Daher hätte ich Zeit für Sie. Wenn Sie um halb zehn hier in meinem Büro sitzen, drücke ich ein Auge zu.«

»Geht klar«, ruf ich und spring aus dem Bett.

Keine zwanzig Minuten später schließ ich mein steinaltes BMX-Rad an ein rostiges Geländer an und drück den Klingelknopf neben dem Schild mit der Aufschrift Jugendgerichtshilfe.

Weingart sieht mit seinem schwarzen Sakko und dem Hipsterbart nicht wie ein Sozialarbeiter aus. Aber ich hab ehrlich gesagt auch keine Ahnung, ob er überhaupt einer ist oder was für Typen in diesem Laden eigentlich arbeiten. Sozialarbeiter oder Cops, Rechtsanwälte, Sachbearbeiter oder Vollzugsbeamte – wer soll da durchblicken? Am Ende geht es immer nur um zwei Dinge: Kommst du durch? Und: Kriegst du die Kohle? Mit Frage eins sieht es okay für mich aus. Mit Frage zwei nicht. Wenn ich Hartz Vier bekommen will, muss ich dafür was tun. Nicht mal der Stempel zum Abschaum der Gesellschaft ist hier umsonst zu kriegen.

»Ich würde zunächst eine Potenzialanalyse vorschlagen«, sagt Weingart, als ich ihm auf einem unbequemen Besprechungsstuhl gegenübersitze. »Da finden Sie heraus, wo Ihre Stärken und Talente liegen. So können wir im Anschluss eine passgenaue Maßnahme für Sie auswählen.«

Maßnahme ist ein seltsames Wort. Ich höre es dauernd von allen möglichen Homies. Viele in unserem Block machen die Schule nicht zu Ende; und viele von denen, die es doch tun, kriegen am Ende trotzdem keinen Abschluss, geschweige denn einen Job. Nachdem sie eine Weile einfach nur rumgehangen haben, siehst du sie plötzlich morgens an der Bushaltestelle stehen. »Ich bin jetzt in so ’ner Maßnahme«, sagen sie dann. Klingt, als hätten sie eine Krankheit. Offenbar werd ich mich jetzt auch anstecken.

»Das geht bestimmt schnell«, sag ich, »diese Analyse. Weil – ich kann eigentlich gar nichts.«

»Na, zynisch sein können Sie doch schon mal«, antwortet Weingart und lächelt.

»Oh nein. Zyniker sind manchmal arschig, aber eigentlich nur, weil sie ein helles Bewusstsein für die Missstände ihrer Gegenwart haben. Weil sie daran leiden und sich damit nicht abfinden wollen.«

»Ach.«

Er schlägt eine Akte auf.

»Sie haben die Schule abgebrochen, obwohl Ihre Noten gar nicht so schlecht waren. Warum? Hat der Tod Ihres Vaters Sie aus der Bahn geworfen?«

»Unsinn. Ich hatte einfach keinen Bock mehr. Ich meine – Schule abschließen, Hunderte Bewerbungen schreiben, Absagen kassieren, wozu das alles? Keiner braucht Leute wie mich. Eigentlich hätte ich direkt nach dem Kindergarten schon zum Jobcenter gehen können.«

»Und was fangen Sie stattdessen mit Ihrer Zeit an?«

Manchmal rette ich irgendwelchen Fremden das Leben, denk ich. Falls das überhaupt wirklich passiert ist, denn hier in diesem Büro kommt mir die letzte Nacht wie ein total gestörter Hasch-Trip vor. Dieser Typ … wie der Typ mich angeglotzt hat. Ich muss seinen Blick so schnell wie möglich wieder loswerden. Trotzdem wüsst ich gern, ob er noch lebt.

»Ich häng halt irgendwie ab«, sag ich. »Ich bastle.«

Er blickt auf und legt den Kopf schräg.

»Sie basteln.«

»Richtig.«

»Was basteln Sie?«

»Ist das eine Castingshow?«

Weingart schüttelt den Kopf, schließt die Akte und greift zum Telefon, um einen Termin für meine Potenzialanalyse zu vereinbaren.

Fred

Es ist erst Nachmittag, aber im Schatten der Hochhausschluchten geht ein Herbsttag früher zur Neige als anderswo. Und das trifft sich gut, denn im Schatten leuchten die vielen Grabkerzen besonders schön. Fred Kuschinski stellt sein Licht zu den anderen, richtet sich auf und lässt den Blick kreisen. Schädel, Niko und die Jungs haben einen Haufen Leute zusammengetrommelt, die nun im Halbkreis um die Garageneinfahrt versammelt stehen. Die Einfahrt selbst ist mit Polizeiabsperrband versehen. Erst morgen dürfen die Anwohner wieder zu ihren Autos, wenn die letzten Untersuchungen abgeschlossen sind. Den ganzen Vormittag über liefen Männer und Frauen in weißen Ganzkörperanzügen in der Garage herum, um Spuren zu sichern. Derweil verbreitete sich die Nachricht von Emil Beckers Tod wie ein Lauffeuer im Block. Und jeder weiß auch, wessen Messer man neben Emils Leiche gefunden hat. Das ist es doch, was einen klugen Führer auszeichnet: die Fähigkeit, aus jeder Krise eine Chance zu machen. Natürlich trauert Fred um Emil. Sie haben sich schon als Kinder gekannt, so wie die meisten anderen hier im Block auch. Emils Tod ist traurig. Und sein Verrat ist es erst recht. Ein harter Schlag, denn Ehre heißt Treue, und dass Emil ihn hintergehen wollte, tut ihm, Fred, richtig weh. Doch welch ein Glück, dass Schädel vor einiger Zeit bei einem kleinen Scharmützel Hakan Topals Messer erbeuten konnte. Da braucht es nicht mal Fingerabdrücke. Jeder hier im Block kennt dieses Messer. Und er, Fred, kann zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Der

Immer mehr Menschen scharen sich um ihn, zünden eine der Kerzen an (von denen Niko schon am Morgen zwei Paletten im Großmarkt besorgt hat) und verharren schweigend. Da ist der harte Kern der Jungs um Schädel und Niko, die Kameradschaft, die aber jetzt nicht mehr so heißen darf, um Freds bürgerliches Image nicht zu gefährden. Da sind aber auch die ganz normalen Leute aus dem Block, Arbeiter und Arbeitslose, Haus- und Putzfrauen, herumlungernde Kids und Mütter mit Kinderwagen. Alle sehen ihn an, als würden sie von ihm eine Antwort auf all das erwarten. Und zwar zu Recht, findet Fred, denn er ist es tatsächlich, der die Antwort weiß. Er atmet durch. Sie wollen, dass er spricht, doch er lässt sie warten. Das hat er bei einem Seminar gelernt. Schweigen steigert die Bedeutsamkeit. Und bedeutsam ist er schließlich schon sehr, mit seinen gerade erst neunzehn Jahren. Die meisten, die hier stehen, sind älter als er, viele kennen ihn von klein auf. Seit letztem Herbst wohnt er nicht mehr im Block, sondern in einem Vorort am anderen Ende der Stadt; trotzdem ist er einer von hier. »Einer von uns.« Ein Hoffnungsträger.

Robin

Ich treib mich schon den ganzen Tag ohne Plan in der Stadt rum. Solang ich hier unter Leuten bin, weit weg von meinem Block, ist die letzte Nacht nicht echt.

Der Termin bei Weingart war reine Zeitverschwendung. Dass er mich zu dieser beknackten Analyse anmelden will, hätte der mir doch auch am Telefon sagen können. Natürlich wird diese Analyse selbst genauso eine Zeitverschwendung werden, die anschließende Maßnahme erst recht. Aber eigentlich ist eh alles, was ich so mache, nichts als Zeitverschwendung. Da kann mir das auch egal sein.

Ich überleg, mir eine Zeitung zu kaufen. Aber erstens bin ich so pleite, dass ich den Euro lieber für ein Brötchen einsetzen will, denn ich hab noch gar nichts gegessen. Zweitens geh ich davon aus, dass über das, was letzte Nacht passiert ist, heute noch gar nichts in der Zeitung stehen kann. Vielleicht sollte ich mal irgendwo online gucken, hab aber keine Ahnung, wo. Und muss es schließlich auch gar nicht, weil – gerade schieb ich mein Rad über den Vorplatz vom Hauptbahnhof, da seh ich den Fremden von letzter Nacht. Obwohl es oben auf dem Dach der Garage so dunkel gewesen ist, erkenn ich sein Gesicht sofort wieder. Das Gesicht, das mich verfolgt. Sein Foto prangt auf einem breiten Flatscreen vor der Bahnhofshalle. Da laufen kurze News aus aller Welt und aus der Stadt.

Bluttat gibt Rätsel auf, steht da als fette Schlagzeile. Und drunter:

Bild und Text verschwinden vom Bildschirm, ein neuer Text taucht auf, dazu ein Foto von unserem Block. Ich les erst nur die simple Überschrift Fortsetzung, dann stockt mir der Atem.

Als mutmaßlicher Täter wurde heute Morgen der im Block als »Pate« berüchtigte Jugendliche Hakan T. (17) vorläufig festgenommen. Laut Polizeibericht könne ihm die Tatwaffe zugeordnet werden; ein Jagdmesser, das unweit des Tatortes gefunden wurde. Zu einem möglichen Motiv wollte ein Polizeisprecher jedoch zunächst keine Angaben machen. Der Fall gibt Rätsel auf: Emil B. soll der rechtsextremen Kameradschaftsszene angehört haben und wurde häufig mit dem Umfeld des jungen DAP