Zwei Dinge weiß Minnie ganz genau: Dass an ihrem Geburtstag immer alles schiefläuft, was nur schieflaufen kann – und dass ein Mann namens Quinn der Grund dafür ist. Minnie ist ihm noch nie begegnet. Doch sie weiß, dass sie beide am Silvesterabend kurz nach Mitternacht im selben Londoner Krankenhaus geboren wurden. Quinn kam eine Minute früher zur Welt und gewann als erstes Neunzigerjahre-Baby fünfzigtausend Pfund, während Minnie leer ausging. Als sie sich an ihrem gemeinsamen 30. Geburtstag durch einen Zufall kennenlernen, weiß Minnie endgültig, dass Quinn die für sie bestimmte Portion Glück einfach gestohlen hat: Im Leben des gutaussehenden, charmanten Unternehmers läuft alles glatt, während sie kurz davor ist, ihre Wohnung und den geliebten Job als Köchin zu verlieren. Doch wenn sie aus so unterschiedlichen Welten kommen, warum laufen sie sich fortan immer wieder über den Weg? Und warum lässt jede Begegnung Minnies Herz ein bisschen schneller schlagen?
SOPHIE COUSENS hat über zehn Jahre lang in London als TV-Produzentin gearbeitet. Heute lebt sie mit ihrem Mann Tim auf den Kanalinseln, schreibt Romane und kümmert sich um ihre beiden kleinen Töchter. Fragen wie »Hatte Cinderella eine Zahnbürste?« oder »Wissen Giraffen eigentlich, dass sie einen langen Hals haben?« stellen sie jeden Tag vor eine neue Herausforderung. Mit einem kleinen Dackel wäre ihr Familienglück ganz und gar perfekt.
»Genau richtig für einen Tag mit Kuscheldecke und heißer Schokolade. Unglaublich romantisch! Ein Buch wie eine Umarmung.« Josie Silver
»Große Empfehlung!« David Nicholls
»Macht so richtig gute Laune!« Mhairi McFarlane
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SOPHIE COUSENS
Unsere
Zeit ist
immer
ROMAN
Aus dem Englischen
von Babette Schröder
Die Originalausgabe erschien
unter dem Titel This Time Next Year
bei Arrow/Penguin Random House UK, London 2020.
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Das Zitat aus John Keats’ Ode an eine Nachtigall auf stammt aus der Übersetzung von Adolf Muschg, erschienen im Springer-Verlag.
Das Zitat aus William Shakespeares Romeo und Julia stammt aus der Übersetzung von August Wilhelm von Schlegel.
Copyright © der Originalausgabe Sophie Cousens 2020
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Favoritbuero
Umschlagabbildungen: © amtitus / GettyImages;
© Reinke Fox / shutterstock; © perori / shutterstock
Satz: GGP Media GmbH, Pößneck
E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-28147-2
V002
Umschlagabbildungen: © amtitus / GettyImages;
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Für meine Tante Em,
die dieses Buch liebend
gern gelesen hätte
Das Night Jam war gerammelt voll. Wummernde Musik ließ den Club erbeben, und die Wände klebten von Schweiß, Alkohol und womöglich noch Schlimmerem. Fest an Gregs Hand geklammert, drängte sich Minnie durch die Menge am Eingang.
»So schaffen wir es nicht mal rechtzeitig zur Bar«, rief Greg ihr zu.
»Was?«, schrie Minnie zurück. Ihre Ohren mussten sich erst an die dröhnenden Bässe gewöhnen.
»So bekommen wir vor zwölf nie was zu trinken. Ich weiß noch nicht mal, wo Lucy und die anderen überhaupt sind«, sagte Greg.
Er bedeutete ihr mit einer Geste, dass sie sich nach oben auf die Terrasse im Zwischengeschoss durchkämpfen sollten. Minnie sah auf die Armbanduhr – zehn vor zwölf. Der heutige Abend bewies wieder nur einmal, warum sie Silvester nicht mochte. Sie hätte einfach zu Hause bleiben und früh ins Bett gehen sollen. Dann fiel ihr wieder ein, dass man ihr die Heizung abgestellt hatte – sie war ausgegangen, um es warm zu haben. Und Greg wollte zu der Party einer Kollegin. Da hatte sie schlecht Nein sagen können.
Minnie ließ sich durch die Menge pulsierender Körper zerren. Schließlich entkamen sie dem Gedränge und traten hinaus in die kühle Nachtluft, der wummernde Bass aus dem Club war hier auf erträgliche Dezibel gedämpft.
»Pass auf!«, rief Greg und schob einen betrunkenen Typen aus dem Weg.
Greg starrte den Mann wütend an und versuchte, ihm klarzumachen, dass er gerade sein Bier auf jemanden verschüttet hatte. Der Kerl war jedoch schon viel zu hinüber, als dass ihn das interessiert hätte.
»Ich habe dich davor gewarnt, Silvester mit mir zu verbringen«, sagte Minnie.
»Hör auf mit diesem Quatsch mit dem Fluch«, sagte Greg kopfschüttelnd.
»Ehrlich, es ist so. An Silvester habe ich einfach Pech. Es würde mich nicht wundern, wenn das ganze Gebäude in Flammen aufgeht, bevor der Abend vorbei ist. Vielleicht landet auch ein kleiner Asteroid genau da, wo ich stehe.«
»Ich glaube nicht, dass wir einen schrecklichen Abend haben, weil ein Fluch auf dir lastet. Ich glaube, wir haben einen schrecklichen Abend, weil du uns zum Abendessen zu diesem merkwürdigen Alan auf der anderen Seite des Sternensystems geschleppt hast. Jetzt kommen wir um kurz vor zwölf zu einer Party, auf der alle schon betrunken sind und … Star Command, bitte kommen?« Greg hob einen Finger ans Ohr und tat, als würde er eine Nachricht über ein Headset empfangen. »Die Einsatzleitung sagt, wir sind noch nicht mal auf der richtigen Party.«
»Erlaubnis, den Einsatz abzubrechen?«, fragte Minnie voller Hoffnung.
»Abgelehnt.«
Minnie und Greg waren seit fünf Monaten zusammen. Sie hatten sich vor der City Hall auf einer Demo für bezahlbaren Wohnraum kennengelernt. Greg berichtete als Journalist darüber, und Minnie war dort, um Mrs. Melvin zu unterstützen, eine treue Kundin ihres Lieferservices. Minnie und ihre Freundin Leila hatten ein Schild für die Demo gemalt, auf dem »JEDER HAT EIN RECHT AUF EINE BEHAUSUNG« stand, doch das »H« von Behausung war etwas missglückt, sodass es wie ein »M« aussah. Auf der Demo liefen Minnie, Leila und Mrs. Melvin neben ein paar Demonstranten, die als Katzen verkleidet waren und Monokel und Zylinder trugen. Einer trug ein T-Shirt mit der Aufschrift »IMMOBILIEN-BOSSE SIND SO GIERIG WIE FETTE KATZEN!« Greg lief zu ihnen, um ein Foto von Minnies Schild mit den Katzen im Vordergrund zu machen. Lachend schüttelte er den Kopf.
»Warum lachst du?«, rief Minnie gereizt.
»Vielleicht sind die Katzen so fett, weil sie bemaust wurden?«, sagte Greg und zeigte auf ihr Schild. Leila betrachtete es und lachte. Minnie verdrehte die Augen.
»Da steht nicht Bemausung«, sagte sie und stemmte energisch eine Hand in die Hüfte.
»Es sieht aus wie Bemausung, Minnie«, widersprach Leila.
»Minnie Maus, das Foto wird sich toll auf der Titelseite machen«, sagte Greg mit einem schiefen Grinsen.
»Wehe«, warnte Minnie, bemühte sich, nicht zu lachen, und jagte ihn im Spaß mit ihrem Schild die Straße hinunter. Minnie mochte Männer, die sie zum Lachen brachten. Gregs sarkastischer Humor hatte ihr sofort gefallen, genauso wie seine markanten Gesichtszüge. Er trug einen sorgfältig gestutzten braunen Bart und eine auffällige Brille mit dunklem Rahmen. Gleich zu Beginn ihrer Beziehung bemerkte Minnie, dass Greg sich nicht nur bei der Arbeit gern Schlagzeilen ausdachte, sondern alles, was sie tat, entsprechend kommentierte. Als Minnie auf einer Treppe stolperte, sagte er: »Traumfrau stolpert auf Treppe – Treppe sucht Rechtsbeistand und droht zum Treppenwitz zu werden!« Oder als sie die letzte Banane aus seiner Obstschale nahm: »Tötungsdelikt in Obstschale noch immer ungelöst – ist das Opfer total Banane? Hatte es nichts in der Birne? Oder musste es einfach in den sauren Apfel beißen?« Heute Abend war Greg der Humor allerdings vergangen.
»Pass auf, du wartest hier«, sagte er seufzend und sah sich auf der Terrasse um. »Ich gehe wieder rein und versuche, diesen VIP-Bereich zu finden.«
»Okay, gut. Für den Fall, dass ein Asteroid einschlägt, während du weg bist: Leb wohl, ich habe es dir ja gesagt. Und: Frohes neues Jahr«, erwiderte Minnie und bemühte sich, fröhlich zu klingen.
Nachdem Greg gegangen war, drehte Minnie sich um und blickte fröstelnd auf die Londoner Skyline. Die Stadt strahlte eine Ruhe aus, die in starkem Kontrast zur Atmosphäre des Clubs stand. Die Gebäude waren in silbernes Mondlicht getaucht, am Nachthimmel keine einzige Wolke zu sehen. Minnie wünschte, sie könnte sich auf das Dach eines anderen Wolkenkratzers beamen, um sich dort ungestört auf den Boden zu legen und die Sterne zu betrachten.
»Zehn, neun, acht …« Alle begannen, rückwärts zu zählen. »Sieben, sechs, fünf …« Minnie beobachtete, wie sich alle Paare in freudiger Erwartung des Silvesterkusses zusammenfanden. Sie war froh, dass Greg nicht da war, um sie zu küssen. Sie hatte nie verstanden, warum zum Jahresende alle gleichzeitig die Lippen aufeinanderpressten – ein alberner Brauch. Die Leute verhielten sich wie Lemminge, die der Herde folgen. »Vier, drei, zwei, eins, FROHES NEUES JAHR!«
Feuerwerksraketen explodierten am Himmel und fielen als bunter Lichterregen auf die Stadt hinab. Minnie wunderte sich, wie viel Aufwand die Leute für etwas betrieben, das von so kurzer Dauer war. Die Gebäude der Stadt darunter wirkten ruhig und stattlich, unbeeindruckt von dem irrwitzigen Spektakel, das über ihnen stattfand.
Das Feuerwerk warf hässliche Schatten auf die entrückten Gesichter der berauschten Menschen, die durch die Menge stolperten und taumelten. Das Licht brachte schmuddelige Ecken voller Zigarettenkippen und weggeworfener Plastikbecher zum Vorschein. Eine Mädchengruppe, die auf hohen Absätzen umherwankte, stieß gegen Minnie, die sich daraufhin am Geländer festhalten musste, um nicht umzukippen.
»Herzlichen Glückwunsch zu meinem Geburtstag«, sagte Minnie leise zu sich. Dann spürte sie etwas Warmes, Nasses auf ihrem Rücken. Eins der Mädchen hatte sich übergeben.
Als Greg zurückkehrte, war es auf der Terrasse leerer geworden, Minnie saß auf dem Boden vor dem Geländer und wartete auf ihn.
»Was hast du da an? Wo ist dein Oberteil?«, fragte Greg. Minnie hatte ihre durchnässte Bluse in die Tasche gepackt und trug nur ein gräulich verfärbtes Unterhemd mit ausgefransten Spaghettiträgern.
»Jemand hat auf meine Bluse gekotzt«, sagte sie und legte die Arme um sich.
»Herrje. Also, so siehst du nicht ganz jugendfrei aus.« Greg lächelte.
»Ach, das ist doch ätzend«, gab Minnie zurück und zog unsicher das Unterhemd nach oben. Nie hätte sie sich träumen lassen, etwas derart Freizügiges in der Öffentlichkeit zu tragen. Sie fühlte sich ziemlich unwohl. »Hast du die Party gefunden?«
Greg nickte. Er führte sie zurück in den Club, eine andere Treppe hinauf und dann durch eine mit rotem Samt bezogene Doppeltür, neben der säulengleich zwei glatzköpfige Wachmänner standen.
»Ich war gerade erst hier – wir wollen auf die Geburtstagsparty«, erklärte Greg. Die Wachmänner winkten sie durch und warfen einen Blick auf Minnies Brust, als sie an ihnen vorbeiging. Minnie verschränkte die Arme.
Auf der Party jenseits der roten Samt-Tür gab es alles, was es dort, wo sie gerade herkamen, nicht gegeben hatte: Die Musik lief auf normaler Lautstärke, die Leute waren hübsch und stilvoll gekleidet, Kellner schenkten Sekt aus, und niemand übergab sich. Die geschwungene Außenwand bestand aus deckenhohen Glasscheiben, die einen unglaublichen Hundertachtzig-Grad-Blick auf London boten. Minnie war sofort eingeschüchtert. Dies war eine Party für reiche Leute, noch dazu in Smoking und Abendkleid – sie hätte nicht unpassender angezogen sein können. Minnie hatte oft genug für reiche Leute gekocht, um zu wissen, wie diese auf Menschen wie sie reagierten. Sie behandelten sie von oben herab oder sahen durch sie hindurch, was noch schlimmer war. Wenn sie die richtige Rüstung getragen hätte, hätte sie so tun können, als sei es ihr egal, aber dazu taugte ihr spärliches Unterhemd nicht.
»Greg! Du hast mir nicht gesagt, dass man in Abendgarderobe kommen soll«, zischte sie.
»Abendgarderobe ist ein bürgerliches Konstrukt, Minnie. Nicht mal bei meiner eigenen Beerdigung würde ich einen Smoking anziehen.« Greg ließ den Blick durch den Raum gleiten und winkte einer großen Blondine in einem engen roten Kleid zu. »Lucy!« Die Frau drehte sich um, lächelte ihm zu und machte sich durch die Menge auf den Weg zu ihnen. »Besser spät als nie, hey«, sagte Greg und berührte ihren Arm. »Das ist Minnie. Jemand hat auf dem Weg hierher auf ihre Bluse gekotzt.«
»Hi«, sagte Lucy, und ihre weichen Lippen schlossen sich über makellos geraden Zähnen zu einem mitfühlenden Lächeln. »Das tut mir leid. Es ist lächerlich, dass man erst da durch muss, um in den VIP-Bereich zu kommen.«
Minnie schüttelte den Kopf und tat es mit einem Schulterzucken ab.
»Tolle Party«, sagte sie und blickte sich um. Der Alkohol floss in Strömen. Wie viel eine solche Party wohl kostete?
»Mein Freund hat am 1. Januar Geburtstag. Wir dachten, wir nehmen das zum Anlass für eine ausschweifende Silvesterparty«, sagte Lucy mit einer lässigen Handbewegung. Dann wandte sie sich mit strahlendem Lächeln an Minnie. »Hey, hat Greg nicht gesagt, du bist heute auch ein Geburtstagskind, Minnie?«
»Oh, herzlichen Glückwunsch«, murmelte Greg hastig, woraufhin Lucy sich mit großen Augen zu ihm umdrehte.
»Du hast ihr noch nicht mal gratuliert, Greg? Schieß ihn ab, Minnie!« Lucy lachte und stieß Greg in die Rippen. Greg errötete und blickte auf seine Füße.
»Ich hab’s nicht so mit Geburtstagen.« Minnie lächelte schwach.
Sie schwiegen einen Moment.
»Also, äh, Lucy ist Gastro-Redakteurin bei der Zeitung«, sagte Greg. »Auf so einen Traumjob muss ich wohl noch lange warten. Ich hab gesehen, dass du letzte Woche im La Petite Assiette Rouge warst. Bin verdammt neidisch, Luce.«
»Das hat auch seine Schattenseiten. Bei all dem Sterne-Essen, das ich zu mir nehmen muss, werde ich immer fetter. Ich komme mir vor wie eine gestopfte Gans«, sagte Lucy.
Minnie blickte an Lucys schlankem, fitnessgestähltem Körper hinunter, der in einem hautengen Seht-nur-wie-dünn-ich-bin-Kleid steckte.
»Ja, du hast es schon schwer«, sagte Greg und stieß mit dem Ellbogen gegen ihren. »Schöne und kluge Frau mit Gourmetessen zwangsernährt – Menschenrechtsaktivisten sind alarmiert!«
Lucy warf den Kopf in den Nacken und gab eine Mischung aus Schnauben und Lachen von sich, dann klammerte sie sich an Gregs Arm, als würde sie sonst umfallen.
»Du musst dich mit diesem Typen doch totlachen, Minnie.«
Minnie nickte, fragte sich allerdings, ob Gregs lustige Schlagzeilen sie allmählich nervten.
»Mins ist auch in der Gastro-Branche«, sagte Greg und richtete sich etwas gerader auf. »Sie führt ihr eigenes Cateringunternehmen im Wohltätigkeitsbereich.«
»Klingt interessant.« Lucy blickte über Minnies Schulter und winkte jemandem hinter ihr zu.
»Ich glaube kaum, dass man zur Gastro-Branche gehört, nur weil man Pies für ältere Menschen backt, aber danke, dass du mich größer machst, Schatz«, sagte Minnie und strich Greg über den Rücken.
»Machst du Catering für Events? Vielleicht bin ich dir schon mal begegnet?«, fragte Lucy und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Minnie zu.
»Nein, wir machen nur Pies für ältere Menschen. Die Firma heißt Keine harten Sachen, das ist so was Ähnliches wie Essen auf Rädern.«
Lucy blinzelte ein paarmal.
»Keine was machen?«, fragte sie.
»Nein«, sagte Minnie, »keine harten Sachen. Das bezieht sich auf die Füllungen unserer Pies. Es soll lustig sein.«
»Ah, verstehe. Ha-ha«, sagte Lucy, zog die Nase kraus und lachte noch einmal lautlos. »Nun, das muss sehr … erfüllend sein.«
Greg lachte schnaubend. »Der war gut, Luce«, wieder stieß er sie mit dem Ellbogen an. »Weißt du, Minnies Firma wäre deutlich erfolgreicher, wenn sie nicht ständig Essen umsonst ausgeben und einen Haufen Faulpelze ohne Arbeitsmoral beschäftigen würde.«
»Das mache ich nicht, das stimmt doch gar nicht«, sagte Minnie entrüstet.
»Also, es klingt ziemlich bereichernd«, sagte Lucy. »Ich finde alte Menschen supersüß, du nicht?«
»Ein paar sind süß, ein paar sind Arschlöcher, ganz wie der Rest der Menschheit«, sagte Minnie.
Greg hustete laut, und Minnie schlug ihm fest auf den Rücken.
»Aber du willst doch expandieren, oder, Min?«, sagte Greg, nachdem er sich wieder gefasst hatte. »Das ist nur ihr aktueller Kundenstamm, sie könnte problemlos auch Hochzeiten, Firmenfeiern oder andere hochkarätige Veranstaltungen beliefern. Vielleicht könnte Lucy ein paar Kontakte herstellen?«
»Klar, sehr gern«, sagte Lucy, winkte quer durch den Raum jemandem zu und machte Anstalten zu gehen. »Hört zu, ich muss mich wieder unter die Leute mischen. Fühlt euch wie zu Hause, trinkt ordentlich Sekt – wir haben viel zu viel bestellt. Und keine Sorge, ihr seid nicht zu spät, die Party hat gerade erst richtig angefangen.«
Lucy legte den Kopf schief und schenkte beiden ein gut einstudiertes Gastgeberinnenlächeln, dann warf sie ihr langes seidiges Haar zurück und wandte sich zum Gehen. Minnie beobachtete, wie Greg ihr mit den Blicken durch den Raum folgte.
Als ein Kellner sie mit leeren Händen dastehen sah, kam er zu ihnen und bot ihnen Sekt an. Sie nahmen beide ein Glas und wollten anstoßen, verpassten sich jedoch, und Greg stieß stattdessen mit seiner Sektflöte gegen Minnies Handgelenk. Schnell zog er das Glas zurück und nahm einen großen Schluck.
»Frohes neues Jahr«, sagte Minnie.
»Frohes neues Jahr«, sagte Greg, und nach einer Pause: »Und herzlichen, äh, Glückwunsch, also, ich habe ein Geschenk für dich bei mir in der Wohnung. Sorry, ich hatte noch keine Zeit, es einzupacken.«
»Kein Problem. Ich habe doch gesagt, du sollst mir nichts schenken.«
Greg trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, sein Blick zuckte durch den Raum.
»Ich hab dir ja gesagt, es lohnt sich, heute Abend mitzukommen. Lucy Donohue kennt alle wichtigen Leute in deiner Branche. Du solltest nicht unterschätzen, wie weit dich gute Kontakte im Leben bringen, Minnie.«
»Ich bezweifle, dass sie alle wichtigen Leute im Pie-Geschäft kennt«, sagte Minnie und fügte dann gespielt vornehm hinzu: »Außer vielleicht Konditoren, die choux pie-ettes aus Foie gras in der Petite Rue de la belle France backen.« Sie streckte die Zunge heraus, dann lachte sie.
»Ich weiß nicht, warum du das immer machst«, sagte Greg. »Ich versuche doch nur, dir zu helfen.«
»Du hast recht, tut mir leid«, sagte Minnie und fühlte sich getadelt. Greg musste sie nicht darauf hinweisen. Sie hörte selbst, dass sie zickig klang, wenn sie unsicher war, und am Ende fühlte sie sich dann nur noch schlechter. Sie biss sich auf die Lippe und nestelte am Anhänger ihrer Halskette. Greg schmollte, ein Muskel in seinem Kiefer zuckte.
»Also, du scheinst es bis zwölf Uhr geschafft zu haben, ohne dass du dich in einen Kürbis verwandelt hast oder wovor auch immer du Angst hattest.«
»Der Fluch endet nicht um Mitternacht, er gilt die ganze Silvesternacht hindurch und noch den ganzen Neujahrstag über. Und ich habe keine Angst, dass ich mich in einen Kürbis verwandeln könnte – es sind die kleinen Dinge, wie vollgekotzt zu werden oder auf dem Weg hierher meine Jacke im Bus zu vergessen. Ich habe an Silvester einfach Pech.«
»Also, mir hat jemand Bier auf die Schuhe gekippt, und ich habe den Großteil der Party verpasst, weil ich im Haus von deinem exzentrischen Freund festsaß. Vielleicht liegt auf mir ja auch ein Fluch.« Greg beendete den Satz mit einem übertriebenen Lächeln, das sagte: »Ich mache nur Spaß, du darfst also nicht beleidigt sein.« Sein Blick fiel auf Minnies Brust.
»Ist das Unterhemd wirklich so aufreizend?«, fragte sie und verzog das Gesicht.
»Also, du weißt ja, dass ich diesen Ausblick liebe, Min, aber vielleicht würde der Rest des Raums lieber auf etwas anderes schauen.«
»Gut, ich gehe auf die Toilette und versuche, meine Bluse zu retten.«
Auf dem Weg zur Toilette sah Minnie auf ihr Telefon. Sie hatte eine Nachricht von Leila.
»Wollte nur hören, wie’s dir geht. Ist was passiert? Muss ich dich aus einer Geiselnahme/einer Schlammgrube oder Schlimmerem befreien?«
Minnie lächelte und tippte sofort eine Antwort. »Bisher ganz okay. Hab nur meine Jacke verloren und jemand hat mich vollgekotzt. ;)«
Leila war Minnies beste Freundin und Geschäftspartnerin. Vor vier Jahren hatten sie ihr Cateringunternehmen zusammen gegründet und seither all ihre Zeit, ihr Geld und ihre Energien hineingesteckt. Wäre Leila nicht gewesen, hätte Minnie wahrscheinlich nicht so lange durchgehalten. Sie hatten so viele Hürden überwinden müssen, es wäre leicht gewesen, einfach aufzugeben und wieder für jemand anderen zu arbeiten. Irgendwo, wo man am Ende des Monats einen Gehaltszettel bekam und nicht darum kämpfen musste, genug zu erwirtschaften, um sich am Ende des Monats überhaupt ein Gehalt auszahlen zu können.
»Überraschung – ich habe Silvester damit verbracht, Pies vorzubereiten. Wir müssen also morgen nicht arbeiten, und ich werde dich an deinem Geburtstag zum Mittagessen einladen. Du musst ein Kleid anziehen«, schrieb Leila.
Minnie lächelte. Sie schickte ihr ein Kleid und ein sich übergebendes Emoji zurück.
Daraufhin erhielt sie von Leila einen ganzen Haufen Pie-Emojis und einen ganzen Haufen sich übergebender Emojis. Minnie lachte laut auf und antwortete dann: »Du bist die Beste. Danke, Pie-Gesicht. Für dich und nur für dich werde ich ein Kleid anziehen.«
Minnie sah von ihrem Smartphone auf und rannte geradewegs in einen Kellner, der ein Tablett mit Kanapees trug. Ein Berg Ziegenkäsetörtchen regnete auf sie nieder.
»O Gott, das tut mir leid«, sagte sie und half dem Kellner auf allen Vieren, die Reste einzusammeln.
»Das ist nicht mein Abend«, sagte der Kellner unglücklich.
Er konnte nicht älter als siebzehn sein. Minnie sah, dass Käse an seiner Brille klebte. Sie nahm sie ihm vorsichtig von der Nase, wischte sie an ihrem Unterhemd ab und reichte sie ihm zurück.
»Das Gefühl kenne ich«, sagte sie.
Nachdem sie dem Kellner geholfen hatte, die Sauerei so gut wie möglich zu beseitigen, ging Minnie in den hinteren Teil der Bar und fand in einem schwach beleuchteten Flur die Toiletten. Sie spähte in die Damentoilette. Ein halbes Dutzend Frauen frischte vor dem Spiegel laut plappernd ihr Make-up auf. Vor ihnen wollte sie ihre vollgekotzte Bluse nicht auswaschen. Weiter den Flur hinunter entdeckte sie eine Behindertentoilette für beide Geschlechter mit eigenem Waschbecken und Händetrockner – perfekt. Sie holte die schwarze Seidenbluse aus der Tasche und versuchte, sie so gut wie möglich zu reinigen. Zum Glück war es hauptsächlich klebrig und nicht zu deutlich zu erkennen, aber der Geruch von Galle in Kombination mit Wodka-Cola brannte in Minnies Nase. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Lucy Donohue jemals in eine solche Situation geriet.
Minnie betrachtete sich im Spiegel und strich reflexartig die Locken hinter die Ohren. Sofort sprangen sie widerwillig zurück. Sie war gerade erst beim Friseur gewesen, und der hatte es etwas zu gut gemeint und zwei Zentimeter zu viel abgeschnitten. Jetzt konnte sie ihre Haare nicht mehr zusammenbinden oder hinter die Ohren stecken. Mit dem Finger entfernte sie etwas verschmierten Eyeliner unter den Augen, dann trug sie einen pflaumenfarbenen Lippenstift auf, ein vorzeitiges Geburtstagsgeschenk von Leila. So eine auffällige Farbe hätte Minnie sich selbst nie ausgesucht, aber sie passte gut zu ihrem Teint. Manchmal schien Leila erstaunlicherweise besser zu wissen, was ihr stand, als Minnie selbst.
Sie trocknete die Bluse so gut es ging unter dem Händetrockner und zog sie wieder an. Einen Moment stand sie da und musterte ihr Spiegelbild mit der feuchten, zerknitterten und unförmigen Bluse. Eigentlich war es das hübscheste Kleidungsstück, das Minnie besaß. Eine enge schwarze Seidenbluse mit weiten weißen Ärmeln von einer teuren Marke, die sie in einem Secondhand-Shop ergattert hatte. Sie hatte sich so über den Fund gefreut. Doch jetzt kam es ihr so vor, als wüsste sogar die Bluse, dass sie eine Betrügerin war, und war aus Protest zerknittert.
»Komm«, sagte sie entschieden, um sich selbst zu motivieren, zurück auf die Party zu gehen.
Minnie atmete langsam aus. Sie musste aufhören, eine Spaßbremse zu sein. Greg wollte hier sein, und sie wollte bei Greg sein. Vielleicht war ihre Pechsträhne ja jetzt vorbei, zumindest für dieses Silvester.
Minnie wollte die Tür öffnen und hatte auf einmal die Klinke in der Hand. Sie drückte dagegen – doch sie kam nicht raus. Schließlich versuchte sie, die Klinke wieder zu befestigen, ohne Erfolg.
Sie schlug mit beiden Händen gegen die Tür. »Hallo! Kann mir jemand helfen? Ich bin eingesperrt!« In diesem Moment wurde draußen die Musik aufgedreht. Anscheinend hatte die Live-Band wieder angefangen zu spielen, auf der Party wurde gejubelt und gegrölt. Jetzt konnte sie erst recht niemand hören. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als abzuwarten, bis Greg nach ihr suchte.
Minnie sank auf den Boden, blickte nach oben und betrachtete die dunkelblaue Tapete mit den winzigen silbernen Sternenbildern. Nun ja, zumindest war ihr Wunsch in Erfüllung gegangen: Sie war allein und blickte hoch zu den Sternen. Doch da war ja auch noch ihr Telefon! Schnell zog sie es heraus, um Greg zu schreiben – doch das Display war tot.
»Das war ja klar.« Minnie schüttelte den Kopf und lachte leise in sich hinein. Wenn sie etwas über den diesjährigen Silvesterfluch sagen konnte, dann zumindest, dass er Humor hatte.
Verwirrt wachte Minnie auf, ihr Hals fühlte sich schmerzhaft trocken an. Sie erinnerte sich noch, dass sie stundenlang gegen die Toilettentür gehämmert hatte. Dann musste sie irgendwann eingeschlafen sein. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war. Draußen war es still geworden, es spielte keine Musik mehr. Minnie stand auf und massierte sich den steifen Nacken.
»Hallo, hallo! Kann mich jemand hier rauslassen?«, rief sie.
Was, wenn alle nach Hause gegangen waren und der Laden erst mal dichtmachte? Sie hatte Geschichten dieser Art gelesen. Von Menschen, die tagelang in Toiletten festgesessen hatten, ehe sie gerettet wurden. Die sogar Wasser aus dem Spülkasten getrunken hatten, um zu überleben, und sich zum Wärmen Decken aus Toilettenpapier gebastelt hatten. Wie lange würde es dauern, bis sie anfing, die Seife zu essen? Sie schlug erneut gegen die Tür, diesmal mit mehr Nachdruck.
»Hilfe! Helft mir!«
»Hallo?«, fragte eine Männerstimme.
»Ja, hallo! Gott sei Dank. Die Türklinke ist abgebrochen, ich komm hier nicht raus«, rief sie durch die Tür.
»Wie lange steckst du schon da drin?«, fragte die Stimme und rüttelte von der anderen Seite an der Klinke.
»Lange genug«, sagte Minnie.
»Okay, warte, ich hole jemanden.«
Minnie hörte Schritte, die sich entfernten. Wie konnte es sein, dass Greg sie nicht gefunden hatte? War er etwa ohne sie nach Hause gegangen?
Drei oder vier Minuten später kehrte jemand zurück.
»Okay, da bin ich wieder. Ich habe Luis mitgebracht. Er hat ungefähr tausend Schlüssel in der Hand.«
»Ich weiß nicht, wie das passieren konnte«, sagte eine andere Männerstimme, sie klang älter. Minnie hörte, wie ein Schlüssel im Schloss rasselte.
»Moment, lassen Sie mich mal versuchen«, sagte die erste Stimme. Weiteres Schlüsselrasseln, dann schwang die Tür auf. »Na, sieh mal an, gleich der Erste. Wie wahrscheinlich ist das?«
Minnie blinzelte in das Licht des Flurs. Die Stimme gehörte einem großen, breitschultrigen Mann mit sandbraunem Haar und markanten Augenbrauen, die einen Ton dunkler als seine Haare waren. Er trug eine schwarze Hose mit einem makellos weißen Hemd und schenkte Minnie ein warmes, unschuldiges Lächeln. Um seinen offenen Kragen, der den Blick auf die gebräunte Haut freigab, hing eine gelöste Fliege. Neben ihm stand ein kleiner rundlicher Mann mit ausdruckslosem Blick.
»Wie spät ist es?«, fragte Minnie und sah vom einen zum anderen.
»Viertel vor acht«, sagte der Mann mit der Fliege.
»Ich gehe dann mal«, sagte der kleinere Mann, nahm den Haufen Schlüssel und stapfte vor sich hin murmelnd den Flur hinunter.
»Etwas wortkarg«, bemerkte der Mann mit der Fliege.
Minnie folgte ihm durch den Flur zurück in den Hauptraum. Der Laden war leer. An den Lampen hingen Reste von Knallbonbons, und auf dem Tresen stand eine ganze Armee halb leerer Sektgläser.
»Bin ich die Einzige, die noch da ist? Ich kann nicht fassen, dass ich so lange geschlafen habe.«
»Sorry, ich glaube, wir haben uns noch gar nicht vorgestellt«, sagte er und streckte Minnie seine Hand hin.
»Oh, stimmt, ich bin Minnie.«
Der Mann lächelte sie an, sah jedoch aus, als würde er noch mehr erwarten.
»Gregs Freundin. Er ist ein Kollege von Lucy. Sie hat uns eingeladen.«
»Ach natürlich, jeder ist willkommen. Ich glaube, Luce hat einen Greg erwähnt. Den witzigen Greg, stimmt’s?«
»Den witzigen Greg.« Minnie hob eine Augenbraue, es amüsierte sie, dass man Greg so nannte. Der Mann streckte die Arme über den Kopf, dann ging das Strecken in ein tiefes Gähnen über. »Sorry, es ist einfach über mich gekommen. Was für eine Nacht.«
»Für mich nicht«, bemerkte Minnie trocken.
»Nein, für dich nicht.« Der Mann zog eine übertrieben entschuldigende Grimasse, und Minnie musste unwillkürlich lächeln.
»Also, dann war das deine Party? Du bist Lucys Freund, richtig? Dann sollte ich mich wohl für die Einladung bedanken«, sagte Minnie und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.
»Sehr gern. Theoretisch war es meine Party, aber Lucy hat alle eingeladen.«
Während er sprach, begann das Handy in seiner Hosentasche zu klingeln. Als er es herauszog, um aufs Display zu sehen, runzelte er kurz die Stirn. »Bitte entschuldige mich einen Moment, tut mir leid, da muss ich rangehen, Minnie.«
»Klar, kein Problem.« Minnie zuckte die Schultern.
Er wandte ihr den Rücken zu und entfernte sich ein paar Schritte.
»Hallo«, sagte er. »Ist alles okay? Nein, ich bin noch unterwegs … Ich komme später vorbei … Gestern Abend, bevor ich gegangen bin, habe ich alle Schlösser überprüft … Nein … Okay.« Minnie konnte sein Profil sehen. Er hielt beim Reden die Augen geschlossen. »Gut, ich komme und schaue nach. Gib mir nur ein paar Stunden, bitte.«
Minnie beobachtete, wie er das Gespräch beendete. Als er ihren Blick bemerkte, lächelte er angespannt.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Ja, bitte entschuldige.« Er schüttelte den Kopf, dann durchquerte er den Raum und trat an die riesige Glasscheibe.
»Wie kommt es, dass du als Einziger noch hier bist?«, fragte Minnie.
Er drehte sich zu ihr um und musterte sie einen Moment. Dann sagte er: »Das klingt wahrscheinlich kitschig, aber ich versuche immer, den ersten Sonnenaufgang des neuen Jahres zu sehen. Ich dachte, wenn ich mit den anderen gehe, sitze ich vielleicht irgendwo im Taxi und verpasse ihn.« Er zeigte zum Fenster. »Gibt es einen Ort, von dem aus du den ersten Sonnenaufgang des Jahres lieber sehen würdest?«
»Viele«, sagte Minnie. »In der Wüste, auf einem wunderschönen Berggipfel, gemütlich vom Bett aus im Fernsehen. Idealerweise aufgenommen, sodass ich nicht so früh aufstehen muss.«
Der Mann legte den Kopf schief, um seine Augen erschienen Lachfältchen, und der angespannte Ausdruck auf seinem Gesicht verschwand.
»Na, jetzt bist du ja wach, du musst also nichts aufnehmen. Komm her.«
Minnie ging zum Fenster und legte eine Hand an die Scheibe. Am Horizont wurde es allmählich hell. Eine hohe Wolkenschicht leuchtete in einem intensiven rötlichen Pink und verbreitete eine warme Stimmung über der ansonsten kalten grauen Stadt. Die Wolkenkratzer hoben sich vom Himmel ab, und ihre strengen geraden Formen standen in starkem Gegensatz zu der Weichheit der Wolken über ihnen.
»Sehr beeindruckend«, sagte Minnie. »Ich weiß nicht mehr, wann ich das letzte Mal wach war, um den Sonnenaufgang zu sehen.«
»Das ist mein liebster Tag im Jahr«, sagte er. »Die Chance, noch mal neu zu beginnen, findest du nicht?«
»Lustig, ich mag diesen Tag am wenigsten von allen«, sagte Minnie. »Ich hasse ihn.«
»Das darfst du nicht, es ist mein Geburtstag. Das lasse ich nicht zu«, sagte er. Kurz kehrte Leben in seine müden graublauen Augen zurück, und sie leuchteten.
Minnie drehte sich zu ihm um und blinzelte langsam.
»Meiner auch«, sagte sie.
»Nein.«
»Kein Witz. Ich schwöre es.«
Er neigte den Kopf und musterte sie aus schmalen Augen – seine Miene drückte unübersehbare Skepsis aus. Dann wandte er sich wieder zum Fenster um, wo gerade der ganze Himmel rot zu glühen begann.
»Siehst du das?«, fragte er. »Herrlich.«
Minnie musterte ihn von der Seite, während er den Morgenhimmel betrachtete. Es war nicht so, dass etwas an seinem Gesicht besonders hervorstach, im Gegenteil: Alles zusammen bildete eine perfekte Synergie. Er schien sich in seiner Haut wohlzufühlen, was bei Minnie nur selten vorkam. Als er zu ihr hinübersah und merkte, dass sie ihn anstarrte, wandte sie ihre Aufmerksamkeit rasch wieder der Aussicht zu.
»Ich glaube, ich bin noch nie jemandem begegnet, der am selben Tag Geburtstag hat wie ich«, sagte er.
»Das ist ein ziemlich elitärer Club. Ich besorge dir einen Mitgliedsausweis.« Minnie zögerte, aus irgendeinem Grund war sie nervös. »Also, es tut mir leid, ich weiß, ich sollte wissen, wie du heißt. Schließlich bin ich auf deiner Party, aber ich bin mit Greg gekommen, und er hat es mir nicht gesagt. Den Namen werde ich wohl brauchen, wenn ich dir einen Mitgliedsausweis besorgen soll.«
»Sorry, ich bin Quinn«, antwortete er.
»Quinn?« Minnie klappte die Kinnlade herunter. »Quinn Hamilton?«
»Ja, Quinn Hamilton.«
»Quinn Hamilton, geboren 1990 im Hampstead Hospital?«
»Ja«, sagte Quinn und runzelte verwirrt die Stirn.
»Du«, sagte Minnie und biss die Zähne zusammen. »Du hast mir meinen Namen gestohlen.«
Connie Cooper lag in ihrem Krankenhausbett und beobachtete die Frau im Bett neben ihr. Genauer gesagt betrachtete sie ihre Beine, die lang, glatt und seidig waren wie bei einer Barbiepuppe. Wie war das in diesem Zustand überhaupt möglich? Connie blickte auf ihre eigenen kurzen, plumpen Beine, die von schwarzen Haarstoppeln bedeckt waren. Wahrscheinlich hätte sie sich rasieren sollen, bevor sie hergekommen war – nun ja, zumindest die Teile, an die sie noch herankam.
Connie beobachtete, wie die andere Frau sich mit einem cremefarbenen Spitzentaschentuch die Stirn tupfte. Connies Haare und ihr Krankenhausnachthemd waren bereits schweißdurchtränkt. Dagegen mit einem Taschentuch anzuarbeiten wäre, als wolle man das Deck der Titanic mit Küchenrolle trockenlegen. Ihr glänzendes blondes Haar hatte die Frau mit einer zarten gelben Schleife zurückgebunden – einer Schleife! Wer trug schon Schleifen? Connies drahtige dunkle Haare wurden mit einem der Gummibänder zusammengehalten, die Bill normalerweise für sein Werkzeug benutzte. Eine Sache hatten beide Frauen allerdings gemeinsam – unter ihren Krankenhaushemden wölbten sich große pralle Bäuche.
»Hier kommt man sich ja vor wie auf einem überfüllten Parkplatz. Anscheinend bringt der ganze Londoner Norden heute Nacht ein Baby auf die Welt«, bemerkte Connie. Die andere Frau reagierte nicht. Sie wirkte erschöpft und als hätte sie Schmerzen. »Und, presst du bis Mitternacht die Beine zusammen?«
»Nein«, sagte die Frau müde. »Ich will, dass dieses Baby endlich rauskommt. Seit zwei Tagen liege ich jetzt schon in den Wehen, aber sie hören immer wieder auf und setzen dann wieder ein.«
»Ich dachte, du hältst vielleicht für das Preisgeld aus«, sagte Connie. »Ich bin übrigens Connie.«
»Tara«, wollte die blonde Frau offensichtlich sagen, doch es kam als »Ta…raaa…« heraus, weil sie gerade eine neue Wehe überkam. Sie schnaufte und stieß jammernd die Luft aus.
Connie war im Begriff, etwas zu erwidern, hielt dann jedoch inne, weil sie sich auf eine eigene Wehe konzentrieren musste. Sie stand auf, ging in ihrem Krankenhausnachthemd durchs Zimmer und stützte sich auf eins der leeren Betten auf der anderen Seite des Raums, bis der Schmerz nachließ. Dann drehte sie sich wieder zu Tara um und sagte: »Das ist nicht richtig, so kommst du nicht weiter. Du atmest zu flach, du klingst wie ein blökendes kleines Schaf.«
»Ein Schaf?«, fragte Tara und schien gekränkt.
»Ja, du musst aus dem Bauch heraus atmen, du musst wie eine Kuh klingen, oder, noch besser, wie ein Nilpferd. Versuch, ein Nilpferd nachzuahmen.«
»Ich werde kein Nilpferd nachmachen.« Tara schüttelte energisch den Kopf. »Lächerlich.«
Connie zuckte die Schultern, hielt sich am Fußende des Krankenhausbetts fest, stellte ein Bein vor und schwang sich vor und zurück.
»Dann hast du noch nichts von dem Preisgeld für das Neunziger-Baby gehört? Da bist du aber die Einzige.«
»Ach, doch.« Tara nickte. »Ich glaube, bei der Anmeldung hat jemand so etwas erwähnt. Ich wusste nicht, dass es einen Preis gibt.«
»Eine von uns könnte ihn bekommen«, ächzte Connie. Dann gab sie ein tiefes kehliges Stöhnen von sich. »Du musst aber aufstehen. Babys kommen nicht, wenn man auf dem Rücken liegt.«
»Ich bin so müde. Ich kann nicht mehr gehen«, sagte Tara leise.
»Da kommst du nicht drum herum«, sagte Connie. »Du musst aufstehen und laufen, die Schwerkraft ihre Arbeit machen lassen.«
Widerwillig setzte sich Tara auf und schwang die Beine aus dem Bett. Jede Bewegung schien sie enorme Mühe zu kosten.
»Oh, nicht schon wieder, ich … ich kann nicht.« Tara sank auf den Boden, ihr Körper wurde von einer unsichtbaren Kraft überwältigt und gequält.
»Versuch, aufzustehen«, sagte Connie und nahm ihre Hand. »Vertrau mir, das ist besser.« Connie zog Tara hoch und ermunterte sie, sich auf ihre Unterarme zu stützen. Tara schaukelte vor und zurück, schnaufte und wimmerte mit geschlossenen Augen. »Okay, an deiner Atmung können wir noch arbeiten, aber immerhin stehst du.«
Die Doppeltüren zum Zimmer schwangen auf, und eine Hebamme in einem hellblauen Overall kam herein.
»Wie läuft’s, die Damen? Es tut mir leid, dass wir Sie zusammenlegen mussten, aber ich habe noch nie erlebt, dass so viele Babys in einer Nacht kommen wollen. Zum Glück hatte ich Silvester sowieso nichts vor.« Die Hebamme lachte.
»Die sind alle auf das Preisgeld aus«, sagte Connie. »Sie hier behauptet, sie hätte es noch nicht mal gewusst.«
Taras Schmerz hatte offenbar nachgelassen, und sie starrte mit trüben Augen in Richtung Fenster. Connie beobachtete sie. Sie kannte dieses Gefühl – das letzte Mal hatte sie vier Tage lang in den Wehen gelegen.
»Oh, Sie haben nichts davon gehört?«, fragte die Hebamme. »The London News haben einen Preis auf das erste Baby ausgesetzt, das in den Neunzigern in der Stadt geboren wird. Wir hoffen alle inständig, dass ein Baby aus dem Hampstead Hospital das Erste ist. Aber wenn Sie mich fragen, hat die Zeitung zu viel Geld.«
»Fünfzigtausend Pfund«, sagte Connie.
Was könnte Connie nicht alles mit fünfzigtausend Pfund anstellen. Sie könnte Bills Eltern das Geld zurückzahlen, das sie ihnen geliehen hatten. Eine größere Wohnung mieten. Sie könnte dem Baby sogar ein paar eigene Sachen kaufen – Kleider, die nicht schon drei ältere Cousinen und ein Bruder getragen hatten. Sie durfte sich keine Hoffnungen machen. Wahrscheinlich dachten Tausende anderer Frauen in ganz London dasselbe.
»Der Preis wird von irgendeiner Windelfirma gesponsert. Ich glaube, man bekommt auch noch ein Leben lang Windeln umsonst«, sagte die Hebamme.
»Jetzt wird sie auf jeden Fall bis zwölf die Beine zusammenpressen.« Connie lachte, aber das Lachen ging in ein Keuchen über, als eine neue Schmerzwelle in ihren Bauch strömte.
»Gut, springen Sie aufs Bett, Mrs. Hamilton«, sagte die Hebamme zu Tara. »Ich muss sehen, wie weit Sie sind.« Sie zog einen Vorhang um das Bett und streifte Gummihandschuhe über. Wenige Minuten später trat sie vom Bett zurück und schüttelte den Kopf. »In diesem Tempo werden Sie das Baby heute Nacht nicht mehr bekommen, Sie sind immer noch erst bei sechs Zentimetern. Sie müssen sich bewegen, auf und ab gehen.«
»Das habe ich auch gesagt«, rief Connie durch den Vorhang hinüber.
»Aber wie lange denn noch?«, wimmerte Tara. »Ich bin so müde, ich muss schlafen.«
Draußen im Flur ertönte ein Alarmsignal. Schnell zog sich die Hebamme die Handschuhe aus und wusch sich am Waschbecken die Hände.
»Ich bin gleich zurück, um Sie auszumessen, Mrs. Cooper.«
Die Hebamme eilte so schnell aus dem Zimmer, wie sie gekommen war, hinter ihr schwangen die Doppeltüren geräuschvoll vor und zurück. Connie hörte leises, kinderähnliches Schluchzen hinter dem Vorhang. Sie stützte sich aus dem Bett hoch und zog den Vorhang zurück, sodass sie Tara wieder sehen konnte.
»Nein, nein. Keine Zeit für Tränen. Wir haben zu tun«, sagte Connie.
»Ich kann nicht mehr, ich habe seit zwei Tagen nicht geschlafen.«
»Wo ist dein Mann?«
»Den habe ich nach Hause geschickt. Ich dachte, wenigstens einer von uns sollte schlafen.« Plötzlich kehrte der Schmerz so heftig zurück, dass Tara sich krümmen musste. Connie merkte, wie sie ebenfalls eine Wehe überkam. Sie packte Taras Handgelenk und hob sanft ihr Kinn an, sodass sie sie ansehen musste. Tara begann zu jammern. Ihre kleinen klagenden Laute klangen wie die einer erstickenden Katze.
»Das ist eine Katze. Was habe ich gesagt? Habe ich Katze gesagt, habe ich Schaf gesagt, oder habe ich Nilpferd gesagt? Du musst tiefer atmen, komm, mach es mir nach.«
Connie begann, aus der Tiefe ihres Zwerchfells laut zu muhen. Taras Gesicht lief rot an, und ihr Blick flog zur Tür. »Du brauchst dich nicht zu schämen. Hier ist niemand außer uns, komm schon.« Tara gab einen vorsichtigen Laut von sich, der irgendwo zwischen Miauen und Muhen lag. Vor lauter Konzentration machte sie ein finsteres Gesicht. »Tiefer, lauter, viel lauter MAAAHUUUUUUUUUUUUUUU …«, donnerte Connie. Tara starrte sie irritiert an. Sie versuchte es noch mal und bemühte sich, Connie nachzueifern. Zuerst wirkte Taras Atmen etwas unsicher, noch überwog das Bedürfnis, die Contenance zu bewahren, doch nach und nach ließ sie sich gehen und ahmte Connies lautes Stöhnen nach.
»Das hilft, stimmt’s? Jetzt hock dich so hin.«
Connie ließ sich auf alle Viere auf eine Matte sinken und schwang ihren Körper vor und zurück. Tara tat es ihr artig nach. Connies Wehen wurden jetzt stärker. Ihr war nach Schreien zumute, doch Tara zuliebe wollte sie sich beherrschen. Sie wollte ihr zeigen, wie man richtig ein- und ausatmete. Die Frauen schaukelten leise gemeinsam vor und zurück.
»Warst du vor den Wehen noch bei der Maniküre?«, fragte Connie und blickte auf Taras perfekt gepflegte Nägel.
»Ja«, sagte Tara und streckte die Hand aus. »Warum?«
»Hast du dir die Bikinizone wachsen lassen und alles?«, fragte Connie grinsend.
»Das ist eine ziemlich intime Frage«, erwiderte Tara stirnrunzelnd.
Tara schaukelte immer noch langsam vor und zurück, als ihrem Hinterteil unwillentlich ein lauter Trompetenlaut entfuhr. Tara brauchte einen Moment, um zu begreifen, was passiert war, dann schlug sie sich erschrocken eine Hand vor den Mund. Connie schüttete sich aus vor Lachen.
»Da wird noch weitaus Schlimmeres rauskommen, also entspann dich und mach dir keinen Kopf wegen den paar Blähungen, Miss Perfect.«
Tara schlug die Hände vors Gesicht und fing selbst an zu lachen. Es klang hoch und melodisch.
»Ach, du meine Güte, ist das dein Lachen?«, fragte Connie. »Selbst das klingt verspannt.«
Die zwei Frauen brachen in hysterisches Gelächter aus. Sie konnten nicht mehr aufhören.
»Ja, so lache ich, was stimmt damit nicht?« Tara schnaubte, vor Lachen liefen ihr Tränen aus den Augen.
»Oh, bring mich nicht zum Lachen, das tut noch mehr weh«, sagte Connie und umklammerte mit einer Hand ihren Bauch, während sie sich mit der anderen Luft zufächelte.
Während der nächsten Stunden brachte Connie Tara bei, sich zu entspannen und loszulassen. Sie zeigte ihr, wie sie ihren Körper bewegen musste, damit das Baby kam. Sie brachte ihr bei zu atmen und zu muhen, zu stöhnen und zu kreischen und sich nicht darum zu scheren, wie es aussehen oder klingen mochte. Allmählich kamen die Wehen regelmäßiger, dann in kürzeren Abständen. Schließlich ging es los.
»Und? Weißt du, was es wird?«, fragte Connie, als sie sich zusammen durch eine weitere Wehe geatmet hatten.
»Ein Junge«, sagte Tara.
»Hast du schon einen Namen?«, fragte Connie weiter.
»Das ist zu viel, das wird zu viel, Connie … Ich kann nicht«, wimmerte Tara.
»Verschwende deine Energie nicht mit Weinen«, sagte Connie. »Komm, bleib bei mir, mach, was ich mache, wir schaffen das. Wie wirst du ihn also nennen?«
»Mein Mann mag John, so heißt er. Ich weiß nicht, vielleicht Roger?«, sagte Tara und wischte sich mit der Rückseite ihrer Hand den Schweiß von der Stirn. Connie rümpfte die Nase. Tara lachte. »Okay, nicht Roger.«
»Sorry.« Connie lachte ebenfalls.
Nach einer weiteren Wehe reagierten die Körper der beiden Frauen auf seltsame Weise synchron. Sie hielten sich an den Händen, stützten sich gegenseitig und atmeten gemeinsam.
»Wo sind die Hebammen?«, schluchzte Tara. »Sie müssen John anrufen.«
»Vertrau mir, ich habe das erst einmal gemacht, aber Männer stören nur«, sagte Connie und keuchte durch die letzten Schmerzen. Als sie aufblickte, sah sie, dass Tara zum Bett kroch und mit dem Kopf gegen das Fußteil schlug. Connie watschelte zu ihr und strich ihr über den Rücken.
»Hey, morgen ist das nur noch eine schlechte Erinnerung. Sieh mich an, willst du wissen, wie ich meins nennen werde?« Connie zog Tara vom Bett fort. »Den Namen habe ich schon im Kopf, seit ich klein war.« Tara drehte sich zu ihr. »Quinn. Der Name hat in unserer Familie eine lange Tradition. Meine Großmutter war eine Quinn. Sie stammte aus Irland. Sie hat immer gesagt, an dem Namen hafte das Glück der Iren. Sie habe noch nie eine Quinn getroffen, die kein schönes Leben hatte.« Tara schaukelte weiter vor und zurück. Connie wusste nicht, ob sie ihr zuhörte. »Zuerst habe ich einen Jungen bekommen. Bill bestand darauf, dass wir ihn nach ihm benennen – William. Ich sagte, egal, was wir als Nächstes bekommen, ob Junge oder Mädchen, das Baby muss Quinn heißen.«