Die Zutaten des Glücks
Das Haus der verborgenen Träume
Sophie ist glückliche Ehefrau des charismatischen Parlamentspolitikers James. Bis er ihr eine Affäre mit seiner Assistentin gesteht. Die ihn nun wegen Vergewaltigung verklagt. James leugnet und setzt auf die Loyalität des Premierministers, der ihm noch einen Gefallen schuldet. Staatsanwältin Kate sieht die Anklageschrift mit großem Interesse auf ihren Schreibtisch flattern. Aus Gründen, die in ihre Zeit in Oxford zurückreichen. Ein Prozess mit unerwartetem Finale stellt Loyalitäten auf den Prüfstand. Und verändert nicht nur Sophies und James’ Leben ...
Sarah Vaughan studierte in Oxford Englische Literatur und arbeitete viele Jahre als Journalistin für den Guardian. Sie lebt mit ihrer Familie in Cambridge, wo sie sich beruflich inzwischen hauptsächlich dem Schreiben eigener Werke widmet. »Die Zutaten des Glücks« ist ihr Romandebüt.
SARAH VAUGHAN
ANATOMIE
EINES
SKANDALS
Du willst deinem Ehemann glauben
Sie will ihn zerstören
Aus dem Englischen von
Ute Leibmann
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Für die Originalausgabe:
Copyright © Sarah Vaughan, 2018
Titel der englischen Originalausgabe: »Anatomy of a Scandal«
Originalverlag: Simon & Schuster UK Ltd.
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde
Unter Verwendung von Motiven von © plainpicture/Kniel
Synnatzschke und © Johnny Ring Photography
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-6098-1
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Meinem Vater Chris
In Liebe
Er braucht schuldige Männer. Und so hat er Männer gefunden,
die schuldig sind. Wenn auch vielleicht nicht unbedingt im
Sinne der Anklage.
Hilary Mantel, Falken
Meine Perücke liegt in sich zusammengesunken auf dem Schreibtisch, wo ich sie hingeworfen habe. Eine gestrandete Qualle. Außerhalb des Gerichtssaals gehe ich ziemlich achtlos mit diesem entscheidenden Stück meiner Garderobe um und lasse der Perücke nicht die Achtung zukommen, die ihr eigentlich gebührt. Sie wurde von Hand aus Pferdehaar gefertigt, ist an die sechshundert Pfund wert. Ich hätte gern, dass sie schnell altert und an Würde und Lebenserfahrung gewinnt, die mir selbst fehlen, wie ich manchmal befürchte. Ich wünschte, der Haaransatz würde sich vom Schweiß der Jahre gelblich verfärben und die eng gedrehten, hellen Löckchen würden sich aushängen oder vom Staub ergrauen. Es ist neunzehn Jahre her, dass ich zur Prozessanwältin berufen wurde, doch meine Perücke wirkt immer noch so neu wie die einer übereifrigen Berufsanfängerin. Ihr fehlt die ehrwürdige Patina jener Kopfbedeckungen, die von einer Generation von Strafverteidigern zur nächsten weitergereicht werden, die vom Vater auf die Tochter – oder häufiger natürlich auf den Sohn – übergehen und die von Traditionsdenken, Reife und selbstverständlichem Führungsanspruch künden.
Ich streife meine Schuhe ab, Pumps aus schwarzem Lackleder, verziert mit einer goldenen Schnalle. Schuhe, die einem Gecken aus der Regency-Zeit gut angestanden hätten. Oder dem Zeremonienmeister im Oberhaus. Oder eben einer Prozessanwältin wie mir, die ihre Freude an den historischen Traditionen mit ihrem ganzen lächerlichen Brimborium hat. Teure Schuhe sind wichtig. Im Gespräch mit Kollegen oder Klienten, mit Gerichtsdienern oder der Polizei senken wir alle von Zeit zu Zeit den Blick, um nicht den Eindruck zu erwecken, wir seien auf Konfrontation aus. Jeder, der meine Schuhe betrachtet, erkennt sofort, dass ich diese Eigenheiten der menschlichen Psyche verstehe und mich selbst ernst nehme. Er erkennt in mir eine Frau, die sich kleidet, als wäre sie entschlossen zu siegen.
Kleider machen Leute, und ich kleide mich gern meiner Rolle entsprechend, korrekt in jeder Hinsicht. Weibliche Prozessanwälte können einen Kragen zum Umbinden tragen, eine Art Baumwolllatz mit spitzenbesetztem Kragenband, der lediglich um den Hals gebunden wird und etwa dreißig Pfund kostet. Oder sie kleiden sich wie ich – mit weißer, kragenloser Hemdbluse, an der vorn und hinten ein separater Kragen mit Kragenknöpfen befestigt wird. Manschettenknöpfe. Ein schwarzes Jackett aus Wollstoff und ein Rock oder eine lange Hose und – abhängig von Erfolg, Dienstalter und Rang – eine Robe aus schwarzer Wolle oder einem Wolle-Seide-Gemisch.
Im Moment trage ich das alles jedoch nicht. Ich habe einen Teil meiner Verkleidung im Ankleideraum des Old Bailey abgelegt. Die Robe ausgezogen. Den Kragen und die Manschetten aufgeknöpft. Das halblange blonde Haar, das ich bei Gericht zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden trage, von seinem Haargummi befreit und ein bisschen zerzaust.
Ohne meine Amtstracht bin ich weiblicher. Ich weiß, dass ich mit Perücke und der schweren Hornbrille nahezu geschlechtslos wirke. Sicher nicht attraktiv – obwohl einem vielleicht meine Wangenknochen ins Auge fallen: Mit Mitte zwanzig bildeten sie sich so scharf heraus und sind im Laufe der Jahre immer schärfer und strenger geworden, genau wie auch ich immer schärfer und strenger wurde.
Ohne die Perücke bin ich eher ich selbst. Eher jener Mensch, der ich im tiefsten Innern bin, nicht die Person, die ich vor Gericht darstelle, und auch nicht irgendwelche früheren Versionen meiner Persönlichkeit. Das bin ich: Kate Woodcroft, QC, Kronanwältin, Strafverteidigerin, Mitglied des Inner Temple, eine erfahrene und gesuchte Expertin bei der strafrechtlichen Verfolgung von Sexualverbrechen. Zweiundvierzig, geschieden, kinderlos. Single. Ich stütze den Kopf in die Hände, lasse den Atem in einem langen, ruhigen Stoß entweichen und zwinge mich, wenigstens einen Moment lang alles loszulassen. Es funktioniert nicht. Ich kann mich nicht entspannen. An meinem Handgelenk ist ein kleines Ekzem. Ich trage etwas Salbe auf und widerstehe dem Drang, mich zu kratzen. An meinem Unmut über das Leben zu kratzen.
Stattdessen blicke ich empor zur hohen Decke meiner Kanzleiräume. Eine Oase der Ruhe mitten in London. Achtzehntes Jahrhundert, kunstvoll verschnörkelte Deckenleisten und eine mit goldenem Blattwerk verzierte Deckenrosette. Durch die gewaltigen Schiebefenster hat man Ausblick auf den Hof des Inner Temple und die runde Temple Church aus dem zwölften Jahrhundert.
Das ist meine Welt. Archaisch, unzeitgemäß, privilegiert, exklusiv. Alles, was ich eigentlich hassen müsste und was mir im Prinzip auch widerstrebt. Aber dennoch liebe ich diese Welt. Sie gefällt mir, da ich von der Existenz all dessen, was mich hier umgibt, früher nicht die leiseste Ahnung hatte: ein Refugium aus alten Gebäuden am Rande der City, die sich hinter dem Strand, der alten Londoner Straße, verbergen und bis zum Fluss erstrecken, der Prunk und die hierarchische Ordnung mit ihren Statussymbolen, der Geschichte und Tradition. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass ich eines Tages hier landen würde. Diese Umgebung führt mir täglich vor Augen, wie weit ich es gebracht habe.
Das ist auch der Grund, weshalb ich dem jungen Mädchen, das mit seinem Schlafsack in einem Hauseingang am Strand kauert, immer einen heißen Kakao mit extra Zuckertütchen spendiere, wenn ich mir einen Cappuccino hole und die Kollegen nicht dabei sind. Die meisten Leute würden sie wahrscheinlich nicht einmal bemerken. Obdachlose sind gut darin, sich unsichtbar zu machen. Oder aber wir sind gut darin, sie zu übersehen, indem wir im Vorbeieilen auf unserem Weg zu den Luxusläden in Covent Garden den Blick abwenden von den khakifarbenen Schlafsäcken, den grauen Gesichtern und verfilzten Haaren, den schmalen Körpern in übergroßen Wollpullovern und den ebenfalls abgemagerten Hunden.
Aber verbringen Sie mal einige Zeit an irgendeinem Gericht – dann können Sie sehen, wie fragil das Leben ist. Wie die vertraute Welt ganz schnell in sich zusammenfallen kann, wenn man ein einziges Mal einen falschen Schritt tut, wenn man sich für einen schicksalhaften Sekundenbruchteil nicht an das Gesetz hält. Oder besser gesagt: wenn man arm ist und sich nicht an das Gesetz hält. Denn Gerichte haben, ebenso wie Krankenhäuser, eine geradezu magnetische Anziehungskraft auf jene Menschen, mit denen es das Schicksal schon von Anfang an nicht gut gemeint hat, die den falschen Mann gewählt haben oder die falschen Freunde und so tief im Unglück stecken, dass sie ihren moralischen Kompass verlieren. Die Reichen scheinen davon nicht so stark betroffen zu sein. Man braucht sich bloß mal die zahllosen Steuervermeidungstaktiken anzuschauen – die man vermutlich ganz unverhohlen als Betrug bezeichnen würde, wenn sie ohne die Unterstützung eines erfahrenen Steuerberaters verübt würden. Das Unglück – oder vielleicht auch nur ein Mangel an Geschäftssinn – scheint die Reichen nicht so beharrlich heimzusuchen wie die Armen.
Ach, ich habe schlechte Laune. Das kann man daran erkennen, dass ich plötzlich denke wie eine linke Studentenaktivistin. Meistens behalte ich meine dem Guardian zugeneigten Ansichten für mich. Sie könnten bei den konservativeren Mitgliedern meiner Kammer schlecht ankommen und bei Geschäftsessen und anderen offiziellen Anlässen zu hitzigen Diskussionen führen, wenn wir die typischen mittelmäßigen Catering-Menüs verzehren – Hähnchen oder Lachs im Teigmantel – und dazu gleichfalls mittelmäßigen Wein trinken. Da ist es entschieden diplomatischer, sich auf den juristischen Klatsch zu beschränken: welcher Kronanwalt so wenig Fälle bekommt, dass er sich nun um eine Stelle als Richter am Crown Court bemüht; wer als Nächster zum Kronanwalt berufen wird; wer bei Gericht gegenüber einem Gerichtsdiener die Fassung verloren hat. Ich kann solche Gespräche mühelos abspulen, während ich gleichzeitig über mein Arbeitspensum oder mein Privatleben nachdenke oder sogar plane, was ich für den nächsten Tag zum Abendessen einkaufen muss. Nach neunzehn Jahren im Anwaltsberuf bin ich Expertin in Sachen Anpassung. Darin bin ich geübt.
Doch in meinen geheiligten Räumen kann ich mich gelegentlich gehen lassen, jedenfalls ein bisschen, und so lege ich einen Moment lang den Kopf in die Hände, auf meinen schweren Büroschreibtisch aus Mahagoni, schließe die Augen und drücke die Knöchel fest in die Augenhöhlen. Ich sehe Sternchen: Weiße Stecknadelköpfe durchbrechen die Dunkelheit und leuchten hell wie die Diamanten in dem Ring, den ich mir selbst gekauft habe – denn niemand sonst würde mir einen kaufen. Besser diese Sternchen, als den Tränen zu erliegen.
Ich habe gerade einen Fall verloren. Und obwohl ich genau weiß, dass ich bis Montag die Enttäuschung über meinen Misserfolg überwunden haben werde und die Arbeit mit anderen Fällen weitergeht, wurmt es mich dennoch. Es passiert nicht oft, dass ich einen Fall verliere, und ich gebe es auch nur ungern zu, denn ich möchte gewinnen. Das tun wir wohl alle. Es ist bloß natürlich. Wir brauchen den Erfolg, um unsere Karrieren zu befeuern. Und in unserem auf der Verhandlungsmaxime beruhenden Justizsystem geht es ebenfalls darum zu gewinnen.
Ich weiß noch, dass es ein großer Schock für mich war, als mir das ziemlich früh in meiner Ausbildung zur Prozessanwältin ganz unmissverständlich gesagt wurde. Ich hatte mein Jurastudium mit hehren Idealvorstellungen begonnen – und einige habe ich mir auch bewahren können; ich bin nicht übermäßig abgestumpft. Doch ich hätte nicht erwartet, dass die Tatsachen so schonungslos ausgesprochen würden.
»Die Wahrheit ist eine heikle Angelegenheit. Wir mögen das richtig oder falsch finden – aber in einem Rechtssystem, das auf der Verhandlungsmaxime beruht, geht es für uns Anwälte nicht darum herauszufinden, was die Wahrheit ist«, hatte Kronanwalt Justin Carew uns jungen Studienabsolventen erzählt, die gerade frisch von der Universität kamen, aus Oxford, Cambridge, Durham oder Bristol. »Beim Plädoyer geht es darum, überzeugender zu sein als der Gegner«, fuhr er fort. »Sie können gewinnen, selbst wenn die Beweislage gegen Sie überwältigend groß ist, vorausgesetzt, Sie argumentieren besser. Und letztendlich geht es nur darum zu gewinnen!«
Doch allem Argumentationsgeschick zum Trotz verliert man auch manchmal, und mir passiert das in der Regel, wenn sich ein Zeuge als unglaubwürdig erweist; wenn seine Aussage nicht mit früheren Äußerungen übereinstimmt; wenn sich der Zeuge während des Kreuzverhörs in seiner Geschichte verheddert wie ein Kätzchen in einem Wollknäuel – unzählige Widersprüche, die sich immer weiter verknoten, je mehr daran gezogen wird.
Genau das ist heute auch im Fall Butler passiert. Es handelte sich um einen Vergewaltigungsfall, überschattet von häuslicher Gewalt: Ted Butler und Stacey Gibbons lebten bereits seit vier Jahren zusammen, in denen er sie mit schöner Regelmäßigkeit verprügelt hatte.
Ich wusste schon von Anfang an, dass unsere Chancen schlecht standen. Die Geschworenen sind in der Regel zwar ganz wild darauf, den bösen Vergewaltiger zu verurteilen, der wie der sprichwörtliche schwarze Mann in einer dunklen Gasse lauert. Aber wenn es um Vergewaltigung in einer Beziehung geht, würden sie lieber nichts davon wissen – nein, vielen Dank.
Obwohl ich finde, dass die Geschworenen ihre Sache im Großen und Ganzen recht gut machen, haben sie in diesem Fall die falsche Entscheidung gefällt. Manchmal kommt es mir so vor, als wären sie im viktorianischen Zeitalter stehen geblieben: Wenn sie die Ehefrau oder Lebensgefährtin ist, wird es als Privatsache betrachtet, was dort hinter verschlossenen Türen vor sich geht. Und man muss fairerweise sagen, dass es auch wirklich etwas Schmuddeliges an sich hat, so tief in das Intimleben eines Paares einzudringen. Sich beispielsweise anhören zu müssen, was sie im Bett trägt – ein ausgeleiertes T-Shirt einer bekannten Supermarktkette –, oder dass er nach dem Sex immer gern eine Zigarette raucht, obwohl sie Asthma hat und er weiß, dass es ihr ein Engegefühl in der Brust verursacht. Ich frage mich immer, was die Leute auf die Besuchergalerie treibt. Warum sitzen sie da und schauen sich dieses Trauerspiel an? Ist es fesselnder als eine Soap Opera, weil es um echte Menschen geht? Weil echte Schluchzer von der Zeugin zu hören sind, die die Leute von der Besuchergalerie aus glücklicherweise nicht sehen können? Sie ist hinter einer Abtrennung verborgen, damit sie ihrem mutmaßlichen Angreifer nicht in die Augen zu schauen braucht, der vielleicht wie Ted Butler heute finster dreinblickend auf der Anklagebank hinter Sicherheitsglas sitzt, mit Stiernacken und Schweinsäuglein, gekleidet in einen billigen Anzug, schwarzes Hemd und Krawatte, sein Zugeständnis an bürgerliche Wohlanständigkeit.
Man kommt sich also irgendwie schmutzig und lüstern vor. Wie ein Eindringling. Dennoch stelle ich meine Fragen – Fragen, die bloßstellen und in den schrecklichsten Momenten herumbohren, die Stacey je erlebt hat –, denn im tiefsten Innern möchte ich immer noch zur Wahrheit vordringen, allen Ratschlägen zum Trotz, die jener hochgeachtete Kronanwalt uns seinerzeit gegeben hat.
Und dann bringt der Anwalt der Verteidigung das Thema Pornografie auf. Ein Aspekt, der nur ins Spiel gebracht werden kann, weil die gegnerische Seite erfolgreich dargelegt hat, dass es eine Parallele zwischen einer Szene auf einer DVD von Staceys Nachttisch und den hier geschilderten Ereignissen gäbe. »Ist es nicht denkbar«, hat mein geschätzter Kollege Rupert Fletcher in seinem tiefen, gewinnenden Bariton argumentiert, »dass jener Vorfall bloß ein Sexspiel war, das ihr nun ein wenig peinlich ist? Eine erotische Fantasie, der sie sich zunächst hingegeben hat und die ihr dann plötzlich doch zu weit ging? Die DVD zeigt, wie eine Frau gefesselt wird, genau wie Miss Gibbons gefesselt wurde. Da liegt es doch nahe, dass Ted Butler im Augenblick der Penetration glaubte, Stacey Gibbons lasse sich auf eine gemeinsame erotische Fantasie ein, eine erotische Fantasie, über die sie bereits zuvor gesprochen hatten. Da liegt es doch nahe, dass Miss Gibbons bei einem Spiel mitmachte und nur allzu willig eine Rolle übernahm, über die sie sich zuvor geeinigt hatten.«
Er gibt weitere Einzelheiten der DVD zum Besten; dann weist er auf eine SMS hin, in der Stacey Gibbons zugibt: Der Film hat mich ganz geil gemacht. Und ich kann sehen, wie einige Geschworene leicht angeekelt das Gesicht verziehen. Es sind jene Frauen in mittleren Jahren, die sich für ihre Aufgabe bei Gericht in förmlichen Schick gekleidet haben, die vielleicht erwartet hatten, Geschworene bei einem Einbruch oder in einem Mordprozess zu werden, und denen dieser Fall wahrhaftig die Augen geöffnet hat. Und mir ist klar, dass ihre Sympathien für Stacey schneller dahinschwinden als das Meer bei Ebbe.
»Sie haben sich in Ihrer Fantasie ausgemalt, wie Sie gefesselt werden, nicht wahr?«, stellte Rupert fest. »Sie haben Ihrem Lebensgefährten eine Textnachricht geschickt, um ihm mitzuteilen, dass Sie gern einmal solche Praktiken ausprobieren würden.« Er lässt einen Augenblick verstreichen, damit man Staceys Schluchzen im fensterlosen Gerichtssaal hören kann.
»Ja!«, gibt sie dann leise, kaum vernehmbar zu – und von diesem Moment an spielt es keine Rolle mehr, dass Ted sie beinahe erwürgt hat, während er die Vergewaltigung beging. Es ist auch nicht länger von Belang, dass sie Striemen an den Handgelenken hatte von dem Versuch, sich aus den Fesseln zu befreien; Reibungsverbrennungen, die sie in weiser Voraussicht mit ihrem Smartphone festgehalten hat. Von diesem Moment an geht es nur noch bergab.
Ich gieße mir ein Glas Whisky aus der Karaffe ein, die auf der Anrichte steht. Ich trinke nicht oft während der Arbeit, aber es war ein langer und anstrengender Tag, und wir haben schon nach fünf. Die Dämmerung senkt sich herab, die Wolken leuchten in einem weichen Pfirsichton, und das goldene Licht lässt den Innenhof überaus schön aussehen. Und ich finde, dass Alkohol bei Anbruch der Dunkelheit durchaus erlaubt ist. Der Single Malt gleitet durch meine Kehle und wärmt mir die Speiseröhre. Ich frage mich, ob Rupert wohl seinen Erfolg in dem Weinlokal gegenüber dem High Court feiert. Er hat die Striemen und Würgemale gesehen ebenso wie das triumphierende Grinsen seines Klienten bei der Urteilsverkündung, und er hat mit Sicherheit gewusst, dass sein Klient so schuldig ist wie die Sünde selbst. Aber gewonnen ist gewonnen. Wäre ich in einem solchen Fall die Verteidigerin, hätte ich immerhin den Anstand besessen, mich nicht mit meinem Erfolg zu brüsten, geschweige denn zur Feier des Tages eine Flasche Veuve mit meinem Junioranwalt zu leeren. Allerdings bemühe ich mich, in solchen Fällen gar nicht erst die Verteidigung zu übernehmen. Auch wenn man für einen besseren Prozessanwalt gehalten wird, wenn man beides macht, möchte ich mein Gewissen nicht belasten, indem ich Menschen vertrete, die ich für schuldig halte. Deshalb arbeite ich lieber aufseiten der Anklage.
Ich stehe nämlich aufseiten der Wahrheit, nicht nur aufseiten der Gewinner – und meines Erachtens reicht es als Beweisgrund aus, einen Fall vor Gericht zu bringen, wenn ich einer Zeugin glaube. Deshalb will ich auch gewinnen. Nicht um des Gewinnens willen, sondern weil ich Partei ergreife für Frauen wie Stacey Gibbons und Menschen, deren Fälle weniger verworren, aber sogar noch brutaler sind: die Sechsjährige, die von ihrem Großvater vergewaltigt wurde; der Elfjährige, der wiederholt von seinem Pfadfinderführer sodomisiert wurde; die Studentin, die man zum Oralverkehr zwang, weil sie den Fehler machte, nachts allein nach Hause zu gehen. Ja, vor allem für sie mache ich es. Die Beweisanforderungen in einem Strafprozess sind hoch, ein Schuldbeweis muss jeden Zweifel ausschließen, nicht nur »nach überwiegender Wahrscheinlichkeit« erfolgen wie in Zivilprozessen. Das ist auch der Grund dafür, dass Ted Butler davongekommen ist. Es gab jenes Körnchen des Zweifels: die hypothetische Möglichkeit, die Rupert mit seiner einschmeichelnden Stimme heraufbeschworen hat, dass Stacey, die auf die Geschworenen vielleicht ohnehin ein wenig ordinär wirkte, selbst in den gewaltsamen Sex eingewilligt hat. Und dass ihr erst zwei Wochen später in den Sinn kam, zur Polizei zu gehen, als sie herausfand, dass Ted neben ihr noch was anderes laufen hatte. Die Möglichkeit, Stacey könne traumatisiert sein und sich geschämt haben, die Möglichkeit, dass sie vielleicht befürchtet hat, man würde sie vor Gericht auseinandernehmen und ihr nicht glauben (wie es dann ja tatsächlich geschehen ist), scheint den Geschworenen nicht in den Sinn gekommen zu sein.
Ich fülle mein schweres Kristallglas nach und gebe einen Schuss Wasser hinzu. Zwei Gläser ist mein Limit, und daran halte ich mich. Ich bin diszipliniert. Das muss ich auch sein, denn ich weiß, dass mein Verstand nicht mehr so scharf ist, wenn ich mehr trinke. Vielleicht ist es Zeit, nach Hause zu gehen. Doch der Gedanke, in meine ordentliche Dreizimmerwohnung zurückzukehren, ist wenig verlockend. Normalerweise lebe ich gern allein. Ich bin zu eigen, um länger in einer Beziehung zu leben, zu stark auf meinen eigenen Freiraum bedacht, zu egoistisch, zu streitlustig. Ich genieße die Einsamkeit oder, besser gesagt, die Tatsache, dass ich mich nicht noch um die Bedürfnisse eines anderen Menschen kümmern muss, wenn ich konzentriert einen Fall vorbereite oder nach Abschluss eines Verfahrens völlig ausgelaugt bin. Doch wenn ich verliere, missfällt mir die drückende, verständnisvolle Stille meiner Wohnung. Dann will ich nicht allein sein und über meine fachlichen und menschlichen Unzulänglichkeiten nachsinnen. Deshalb bleibe ich lieber länger in der Kanzlei und arbeite im Schein der Schreibtischlampe, wenn meine Kollegen längst nach Hause zu ihren Familien gegangen sind. Dann suche ich in meinen Aktenstapeln nach der Wahrheit und versuche, einen Weg zu finden, wie ich gewinnen kann.
Ich höre, wie die Kollegen mit klappernden Absätzen die Holzstiegen aus dem achtzehnten Jahrhundert herunterlaufen. Fröhliches Gelächter schallt zu mir empor. Ein Freitagabend Anfang Dezember; wir steuern zielstrebig auf Weihnachten zu, und man spürt die allgemeine Erleichterung darüber, dass eine lange Arbeitswoche zu Ende geht. Doch ich werde den Kollegen im Pub nicht Gesellschaft leisten. Ich habe »ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter«, wie meine Mutter zu sagen pflegte, und für heute habe ich mich lange genug zusammengerissen und meine Rolle gespielt. Auf keinen Fall möchte ich, dass die Kollegen das Gefühl haben, sie müssten mich trösten. Dass sie mir aufmunternd sagen, es gebe ja noch genug andere Verfahren durchzufechten und dass man bei Fällen von häuslicher Gewalt ohnehin schon von Anfang an ganz schlechte Karten habe. Ich will mich nicht zu einem schmalen Lächeln zwingen müssen, während es in mir vor Zorn brodelt; ich möchte die Feierabendatmosphäre nicht mit meiner schlechten Stimmung vergiften. Richard wird da sein: mein einstiger Lehrmeister, bei dem ich meine Ausbildung zum Prozessanwalt gemacht habe. Mein Gelegenheitsliebhaber – in letzter Zeit allerdings nur bei sehr wenigen Gelegenheiten, da seine Frau Felicity Wind von uns bekommen hat und ich seine Ehe nicht erschüttern, geschweige denn auseinanderbringen möchte. Vor allem er soll mich heute nicht bemitleiden.
Es klopft an der Tür, das knappe, zügige »Rat-ta-tamm«, das dem einzigen Menschen gehört, den ich im Moment in meiner Nähe ertrage. Brian Taylor, mein juristischer Sekretär während der gesamten neunzehn Jahre, die ich in Swift Court Nummer eins verbracht habe. Seit vierzig Jahren übt er seinen Beruf aus und hat mehr Grips und ein besseres Verständnis der menschlichen Psyche als so mancher der Anwälte, für die er arbeitet. Hinter dem pomadeglatten, grau melierten Haar und dem ordentlich geknöpften Anzug verbergen sich ein wacher Verstand, ausgeprägte Menschenkenntnis und ein hohes Moralempfinden. Auch ist er äußerst verschlossen, was sein Privatleben anbelangt. Es dauerte vier Jahre, bis ich erfuhr, dass seine Frau ihn verlassen hat, und vier weitere, bis mir aufging, dass sie ihn für eine andere Frau verlassen hat.
Wie immer spricht er mich mit dem munteren »Miss« an – denn er besteht darauf, sich an die Hierarchien zu halten, jedenfalls in der Kanzlei. »Ich dachte mir schon, dass Sie noch hier sind.« Er steckt den Kopf durch den Türspalt. »Hab schon vom Fall Butler gehört.« Sein Blick wandert von meinem leeren Whiskyglas zur Flasche und wieder zurück. Er sagt nichts. Er nimmt es lediglich zur Kenntnis.
Ich murmele etwas Unverbindliches zur Antwort, das wie ein Knurren aus den Tiefen meiner Kehle klingt.
Er baut sich vor meinem Schreibtisch auf, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, ruht ganz in sich und wartet nur auf den richtigen Moment, um mir eine Perle seiner Weisheit anzubieten. Ohne es wirklich zu wollen, gehe ich auf sein Spiel ein, lehne mich in meinen Schreibtischsessel zurück und merke dabei, wie meine trübe Stimmung sich ein wenig hebt.
»Was Sie jetzt brauchen, ist etwas richtig Gehaltvolles. Einen Fall von großem öffentlichem Interesse. Einen Hochkaräter.«
»Wem sagen Sie das!« Ich seufze und spüre, wie die Anspannung aus meinem Körper weicht, aus Erleichterung darüber, dass jemand anders mich und meinen Ehrgeiz so genau kennt.
»Was Sie brauchen«, fährt er fort und blickt mich dabei vielsagend an, »ist etwas, was Sie auf die nächste Ebene befördert.« Seine dunklen Augen funkeln vor Erregung über einen spannenden Fall. »Einen Fall, der zum Höhepunkt Ihrer Karriere wird.«
Wie üblich hält er einen Stapel Papiere in der Hand. Seit Oktober 2015 werden alle Fälle elektronisch erfasst; es gibt nicht mehr die alten, mit dunkelrosa Band zusammengebundenen Gerichtsakten, die immer aussahen wie ein fettes Billetdoux. Aber Brian weiß genau, dass ich lieber greifbare Dokumente lese. Ich brüte lieber über einem Stapel Papier, auf dem ich mir Notizen machen kann, unterstreiche Textstellen und markiere sie mit neonfarbenen Post-its, bis ich mir eine Art Landkarte geschaffen habe, mit deren Hilfe ich durch einen Prozess navigiere.
Brian druckt meine Unterlagen immer aus, und diese Papiere sind mir die liebsten Briefe. Nun präsentiert er mir mit der überschwänglichen Geste eines Zauberers den Papierstapel und sagt:
»Ich habe genau den Fall, den Sie brauchen!«
Sophie hat ihren Ehemann nie für einen Lügner gehalten.
Ihr ist klar, dass er sich schon mal verstellt, das ja. Die Bereitschaft, mit der Wahrheit sparsam umzugehen, gehört gewissermaßen zu seinem Job. Sie ist geradezu eine Grundvoraussetzung für einen Ministerposten.
Aber sie hätte sich niemals vorstellen können, dass er sie anlügen würde. Oder, besser gesagt, dass er ein Leben führen könnte, von dem sie nichts weiß. Dass ein Geheimnis unter ihrer liebevoll aufgebauten Welt detonieren und sie für immer in Stücke reißen könnte.
Als sie ihm an jenem Freitag hinterherblickt, wie er das Haus verlässt, um die Kinder zur Schule zu bringen, überkommt sie ein so starkes, fast schmerzhaftes Gefühl der Liebe, dass sie auf der Treppe innehält, um das Bild dieser drei auf sich wirken zu lassen. Sie stehen im Türrahmen, James dreht sich noch einmal um und hebt den linken Arm zu diesem typischen Politikerwinken, über das sie sich früher einmal lustig gemacht hat, das ihm aber inzwischen zur zweiten Natur geworden zu sein scheint. Mit der rechten Hand streicht er Finn zärtlich über den Kopf. Ihr Sohn, mit halb in den Augen hängendem Pony und heruntergerutschten Socken, schlurft missmutig über die Fliesen und will – wie immer – nicht gehen. Seine ältere Schwester, die neunjährige Emily, quetscht sich an ihm vorbei durch die Tür, denn sie will auf keinen Fall zu spät kommen.
»Tschüss dann, bis später!«, ruft James, während die Herbstsonne auf seinen immer noch jungenhaften Kurzhaarschnitt fällt und seine eins neunzig große Gestalt in eine Art Heiligenschein taucht.
»Tschüss, Mum!«, ruft Emily und rennt die Treppe vor dem Haus hinunter.
»Tschüss, Mummy!« Finn ist von der Veränderung in seinem üblichen Tagesablauf ein bisschen durcheinander, da ihn an diesem Tag ausnahmsweise mal sein Vater zur Schule bringt; er schiebt die Unterlippe vor und wird ganz rot im Gesicht.
»Na komm, kleiner Mann!« James bugsiert ihn vor sich her durch die Tür, ruhig, kompetent und mit freundlicher Autorität, und Sophie ärgert sich beinahe darüber, dass sie seine souveräne Ausstrahlung immer noch anziehend findet. Dann lächelt er zu seinem Sohn herab, und sein Gesichtsausdruck wird ganz weich, denn Finn ist seine größte Schwäche. »Wenn du erst mal da bist, hast du doch immer viel Spaß.«
Er legt seinem Sohn den Arm um die Schultern und geleitet ihn durch ihren gepflegten West Londoner Vorgarten, vorbei an den akkurat in Form geschnittenen Lorbeerbäumen, führt Finn über den lavendelgesäumtem Gartenweg zur Straße, weg von ihr.
Meine Familie, denkt Sophie und blickt dem perfekt aussehenden Trio hinterher: Ihre Tochter, die energisch und voller Tatendrang vorneweg läuft, scheint nur aus dünnen Beinen und wippendem Pferdeschwanz zu bestehen; ihr Sohn schiebt seine Hand vertrauensvoll in die des Vaters und schaut mit jener unverhohlenen Bewunderung zu ihm auf, die nur ein Sechsjähriger empfinden kann. Finn sieht aus wie eine Miniaturversion seines Vaters. Die frappierende Ähnlichkeit zwischen dem erwachsenen Mann und dem kleinen Jungen lässt Sophies Liebe nur noch größer werden. Ich habe einen wunderschönen Jungen und einen wunderschönen Mann, denkt sie, während sie James’ breite Schultern, die Schultern eines ehemaligen Ruderers, betrachtet und darauf hofft, dass er sich noch einmal umdreht und ihr zulächelt. Noch nie ist es ihr gelungen, sich seinem Charisma zu entziehen.
Natürlich dreht er sich nicht um, und sie blickt den dreien hinterher, bis sie außer Sichtweite sind. Den drei Menschen, die ihr das Wichtigste auf der Welt sind.
Diese Welt zerbröckelt um 19.43 Uhr. James ist zu spät. Sie hätte damit rechnen müssen. Es ist Freitag, und wie alle vierzehn Tage hält er auch an diesem Freitag Sprechstunde in seinem Wahlkreis im tiefsten Surrey, in einem hell erleuchteten Gemeindesaal.
Nach seiner ersten Wahl ins Parlament hatten sie jedes Wochenende dort unten verbracht. Sie hatten sich in einem kalten, feuchten Cottage einquartiert, wo sie sich trotz umfangreicher Renovierungsarbeiten nie richtig zu Hause fühlten. Nach seiner Wiederwahl war es eine Erleichterung gewesen, dass sie nun nicht mehr so tun mussten, als würden sie gern die halbe Woche im ländlichen Thurlsdon verbringen. Im Sommer war es zweifellos sehr hübsch dort, im Winter aber trostlos und öde. Während James sich um seinen Wahlkreis kümmerte, hockte Sophie im Haus, starrte die kahlen Bäume im Garten an und hatte Mühe, ihre großstädtisch geprägten Kinder bei Laune zu halten, die sich nach dem Trubel und den Ablenkungen in ihrem eigentlichen Zuhause in North Kensington sehnten.
Inzwischen fahren sie nur noch einmal im Monat gemeinsam nach Thurlsdon, und vierzehn Tage später quält sich James noch einmal zu seiner Freitagssprechstunde dorthin. Zwei Stunden am Freitagnachmittag. Er hatte ihr am Morgen versprochen, um sechs zurückzufahren.
Seit er zum Staatssekretär berufen wurde, hat er einen eigenen Fahrer, und eigentlich hätte er – sofern der Verkehr nicht zu schlimm ist – bis halb acht zurück sein müssen. Sie sind noch zu einem zwanglosen Abendessen bei Freunden eingeladen. Na ja, Sophie bezeichnet sie als »Freunde«. Tatsächlich ist Matt Frisk ebenfalls Staatssekretär: ein durch und durch ehrgeiziger Mann, auf eine Art, die in ihren Kreisen nicht gut ankommt, in denen man Erfolg als selbstverständlich betrachtet, nackter Ehrgeiz jedoch als vulgär gilt. Doch Matt und Ellie wohnen in der unmittelbaren Nachbarschaft, und Sophie konnte die Verabredung schlecht noch länger hinauszögern.
Sie hatten vereinbart, dass sie gegen Viertel nach acht dort sein würden. Inzwischen ist es schon zehn nach acht. Wo bleibt James bloß? Der Oktoberabend schiebt sich von draußen gegen die Fenster, die schwarze Dunkelheit nur abgemildert vom Licht der Straßenlaternen. Der Herbst stiehlt sich herein. Sie mag diese Jahreszeit. Der Herbst erinnert sie an Neuanfänge: wie sie damals als Studentin im ersten Studienjahr durch das Laub auf den Christ Church Meadows lief, ganz schwindlig von der neuen Welt, die sich ihr eröffnete. Seit die Kinder da sind, ist der Herbst eine Zeit geworden, in der man es sich im heimischen Nest gemütlich macht: prasselndes Kaminfeuer, geröstete Kastanien, flotte Spaziergänge an der frischen Herbstluft und anschließend Wild aus dem Schmortopf. Doch heute scheint der Herbstabend voller unterdrückter Anspannung zu sein. Schritte stöckeln über den Bürgersteig, man hört das kokette Lachen einer Frau. Eine tiefere Stimme murmelt etwas. Aber nicht James’ Stimme. Die Schritte werden lauter, dann leiser, bis man sie gar nicht mehr hört.
Sophie drückt die Wahlwiederholung. Man hört das Freizeichen, schließlich schaltet sich die Mailbox an. Sie tippt wütend gegen die glatte Oberfläche ihres Handys und wundert sich selbst, dass sie ihre übliche Selbstbeherrschung verloren hat. Ein unbestimmtes Angstgefühl zieht ihr den Magen zusammen, und einen Moment lang ist sie wieder in dem kalten Wohntrakt im College in Oxford; der Wind pfeift durch den viereckigen Innenhof, während sie darauf wartet, dass der Münzfernsprecher endlich läutet. Der mitleidige Blick des Collegepförtners. Die kalte Angst, die sie in jener letzten Woche des Sommertrimesters so intensiv empfunden hat: Angst, dass etwas noch viel Schrecklicheres passieren könnte. Neunzehn war sie damals gewesen und hatte sich mit aller Kraft herbeigewünscht, dass er endlich anrufen möge.
Vierzehn nach acht. Sie versucht es noch einmal und ärgert sich dabei über sich selbst. Sofort schaltet sich die Mailbox an. Sie zupft an einer imaginären Fluse herum, ordnet ihre Freundschaftsarmbänder und begutachtet kritisch ihre Nägel: ordentlich gefeilt, ohne Nagellack, nicht so wie Ellies glänzend lackierte Krallen.
Schritte auf der Treppe. Eine Kinderstimme. »Ist Daddy zurück?«
»Nein – geh wieder ins Bett!« Ihre Stimme klingt strenger als beabsichtigt.
Emily starrt sie an und zieht eine Braue empor.
»Leg dich rasch wieder ins Bett, Schätzchen«, fügt Sophie mit sanfterer Stimme hinzu und scheucht ihre Tochter die Treppe hinauf. Ihr Herz schlägt schneller, während sie die Decke zurückschlägt und Emily in ihr Bett verfrachtet. »Schlafenszeit für dich. Er ist bestimmt bald da.«
»Kann er mir noch Gute Nacht sagen, wenn er kommt?«, fragt Emily mit einem Schmollmund und sieht dabei unglaublich niedlich aus.
»Wir wollen ja gleich noch ausgehen … aber wenn du nachher noch wach bist …«
»Ich bin bestimmt wach!« In ihrer Entschlossenheit, dem energischen Gesichtsausdruck und dem unerschütterlichen Selbstbewusstsein ist die Tochter ganz der Vater.
»Dann kommt er bestimmt noch hoch zu dir.« Sie gibt Emily einen raschen Kuss auf die Stirn, um weitere Diskussionen im Keim zu ersticken, und deckt sie zu. »Ich möchte aber nicht, dass du noch mal aus dem Bett aufstehst, verstanden! Cristina passt auf dich auf, genau wie immer. Ich schicke Dad rauf, wenn er kommt.«
Siebzehn nach acht. Sie wird nicht in seinem Büro anrufen, um zu überprüfen, was da los ist. Sie war nie der Typ Ehefrau, der jeden Schritt des Mannes kontrolliert, doch irgendetwas an diesem totalen Schweigen beunruhigt sie. Ein solches Verhalten sieht James gar nicht ähnlich; er ist doch sonst ein Meister der Kommunikation. Sie stellt sich vor, dass er in einem Stau auf der M25 feststeckt und auf dem Rücksitz des Autos seine Akten durcharbeitet. Aber dann würde er anrufen, eine SMS oder E-Mail schicken und sie nicht hier warten lassen. Das Au-pair-Mädchen lungert bereits in der Küche herum und wartet darauf, dass sie endlich verschwinden, damit sie es sich auf dem Wohnzimmersofa gemütlich machen kann. Sophies sorgfältig geschminktes Gesicht sieht schon nicht mehr ganz so perfekt aus, findet sie, als sie einen Blick in den Spiegel wirft, und auf dem Tisch im Flur welken die Blumen für das Ehepaar Frisk in der Folie vor sich hin.
Einundzwanzig nach acht. Um halb neun wird sie die Frisks anrufen. Doch als es halb neun wird, ruft sie immer noch nicht an. Acht Uhr fünfunddreißig, sechsunddreißig, siebenunddreißig. Obwohl ihr klar ist, dass sie damit gegen gute Umgangsformen verstößt, schickt sie Ellie Frisk erst um zwanzig vor neun zur Entschuldigung eine kurze SMS, in der sie erklärt, dass unerwartete Vorkommnisse im Wahlkreis es ihnen leider unmöglich machten, an diesem Abend noch zu kommen.
In der Times steht ein Artikel von Will Stanhope über den Islamischen Staat, aber die Zeilen ihres früheren Kommilitonen ziehen an ihr vorbei, ohne dass sie sie richtig aufnimmt. Es könnte ebenso gut eine Geschichte über Dinosaurier im All sein, die sie Finn vorliest, denn mit ihren Gedanken ist sie ganz woanders.
Und dann ist es so weit: das Geräusch seines Schlüssels im Türschloss. Mit einem scharrenden Ton öffnet sich die schwere Haustür aus Eiche. Dann James’ Schritte, langsamer als sonst, nicht der übliche entschlossene, zügige Gang. Der dumpfe Ton, mit dem er seinen ledernen Aktenkoffer auf dem Boden absetzt und sich damit für eine kurze Zeit auch der Last der politischen Verantwortung entledigt – eigentlich ein hochwillkommenes Geräusch an einem Freitagabend, wunderbar entspannend wie das leise Gluckern von trockenem Weißwein beim Einschenken. Dann das Klimpern des Schlüsselbundes auf dem Tisch im Flur. Und danach wieder Stille.
»James?« Sie betritt den Flur.
Sein schönes Gesicht ist ganz grau, sein Lächeln angespannt und ohne Beteiligung der Augen. Es kommt ihr vor, als wären die zarten Fältchen unter den Augen tiefer als sonst.
»Du solltest den Frisks für heute Abend lieber absagen.«
»Das habe ich längst.«
Er zieht den Mantel aus und hängt ihn ordentlich auf, dabei weicht er ihrem Blick aus.
Sie wartet einen Moment, dann legt sie ihm die Arme um die wohldefinierte, v-förmige Taille, doch er greift hinter seinen Rücken und löst ihre Hände sanft, aber bestimmt.
»James?« Das eisige Gefühl in ihrer Magengrube weitet sich aus.
»Ist Cristina da?«
»Ja.«
»Dann schick sie doch bitte in ihr Zimmer. Wir müssen uns in Ruhe unterhalten.«
»Gut.« Das eine Wort klingt irgendwie abgehackt.
Er verzieht den Mund nochmals zu einem angespannten Lächeln, und seine Stimme bekommt einen ungeduldigen Unterton, als wäre Sophie ein störrisches Kind oder ein allzu langsamer Verwaltungsbeamter. »Kannst du sie bitte jetzt sofort raufschicken, Sophie?«
Sie starrt ihn überrascht an, unsicher, wie sie seine merkwürdige Stimmungslage einordnen soll.
Er massiert sich mit seinen kräftigen, langen Fingern die Stirn und schließt kurz die grünen Augen, wobei die Wimpern, die entwaffnend lang sind, sein Gesicht berühren. Dann öffnet er die Augen wieder und sieht sie mit einem so flehentlichen Blick an, wie sie ihn von Finn kennt, wenn dieser einer Standpauke zuvorkommen will. Genau so hat James sie auch vor dreiundzwanzig Jahren angeschaut, bevor er ihr die Notlage gestand, in die er geraten war. Eine Krise, die über ihm zusammenzubrechen drohte und schließlich zu ihrer Trennung führte. Dieses düstere Kapitel, das sie auch heute noch manchmal schaudern lässt – und das womöglich eines Tages wieder aus der Versenkung auftauchen könnte.
»Es tut mir leid, Soph. Es tut mir so leid.« Und es scheint, als trüge er plötzlich nicht bloß die schwere Bürde seines Amtes – parlamentarischer Staatssekretär für Extremismusbekämpfung –, sondern vielmehr die gesamte Regierungsverantwortung.
»Ich habe Riesenscheiße gebaut!«
Sie heißt Olivia Lytton und ist James’ persönliche Referentin: eins fünfundsiebzig groß, achtundzwanzig Jahre alt, blond, gut vernetzt, selbstbewusst und ehrgeizig.
»Ich wette, man wird sie demnächst nur als ›blondes Superweib‹ bezeichnen«, versucht Sophie eine bissige Bemerkung, doch ihre Stimme klingt leider bloß schrill.
Die Affäre hatte vor fünf Monaten begonnen, und vor einer Woche, gleich nach dem Parteitag, hat er sie beendet.
»Es hat überhaupt nichts bedeutet«, sagt James, das Gesicht in die Hände gestützt, das Inbild eines Büßers. Dann richtet er sich auf, zieht die Nase kraus und gibt ein weiteres Klischee von sich: »Es war bloß Sex – und ich habe mich irgendwie geschmeichelt gefühlt.«
Sie schluckt; kalte Wut presst von innen gegen ihren Brustkorb und lässt sich nur noch mühsam halten. »Na, dann ist es ja okay!«
Sein Blick wird weich, als er merkt, wie verletzt sie ist.
»Du weißt doch, dass in der Hinsicht bei uns alles gestimmt hat.« Für gewöhnlich kann er in ihr lesen wie in einem Buch, eine Fähigkeit, die er im Laufe von mehr als zwei Dekaden immer weiter perfektioniert hat. »Ich habe bloß einen dummen Fehler gemacht.«
Auf dem Sofa ihm gegenüber wartet sie, dass sich ihre Wut so weit legt, dass sie höflich mit ihm sprechen kann oder aber er die Kluft zwischen ihnen überbrückt. Dass er zögerlich die Hand nach ihr ausstreckt oder ihr wenigstens ein Lächeln schenkt.
Doch er sitzt reglos da wie eine Statue, den Kopf gesenkt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, die Finger aneinandergelegt wie im Gebet. Zuerst verachtet sie ihn für diese scheinheilige Pose – zu sehr erinnert er an Tony Blair als reumütiger Politiker. Aber dann wird sie weich, als seine Schultern plötzlich beben – nur ein Mal ganz kurz, nicht von einem Aufschluchzen, sondern von einem tiefen Seufzer. Einen Moment lang sieht sie ihre Mutter vor sich, während ihr charmanter, chronisch untreuer Vater seiner Frau einen neuerlichen »Fehltritt« eingesteht. Ginnys trockene Resignation – und dann das kurze, gleich wieder unterdrückte Aufblitzen von Schmerz in ihren dunkelblauen Augen.
Vielleicht machen das ja alle Ehemänner so? Trauer steigt in ihr auf, dann Wut. So sollte es nicht sein. Ihre Ehe ist anders. Sie gründet auf Liebe und Vertrauen – und auf einem erfüllten Sexualleben, um das sie sich auch im Ehealltag stets bemüht.
Sie ist in ihrem Leben einige Kompromisse eingegangen und hat ihm, weiß Gott, einen großen Vertrauensvorschuss gegeben, als sie nach ihrer Trennung wieder zusammenkamen, doch ihre Beziehung hat sie trotz allem immer als stabil und verlässlich betrachtet. Ihr Blick verschwimmt, Tränen stehen ihr in den Augen. Er schaut auf und sieht sie an – und sofort wünscht sie, er hätte es lieber nicht getan.
»Da ist noch etwas«, sagt er.
Natürlich ist da noch etwas; er hätte doch diese Affäre nicht ohne triftigen Grund zugegeben.
»Ist sie schwanger?« Die Worte – hässlich, aber notwendig – hängen unheilvoll im Raum.
»Nein, selbstverständlich nicht!«
Ein Teil der Anspannung fällt von ihr ab: kein Halbgeschwisterchen für Emily und Finn. Kein lebendiger Beweis für diese Affäre. Keine Veranlassung, ihn noch auf anderer Ebene zu teilen.
Und dann blickt er wieder auf und verzieht das Gesicht. Ihre Fingernägel bohren sich in scharfen Halbmonden in ihre Hand, und Sophie bemerkt, dass ihre Knöchel wie Elfenbeinperlen durch das Rosé ihrer Haut leuchten.
Was könnte denn noch schlimmer sein, als dass eine andere Frau ein Kind von ihm bekommt – oder sich dafür entscheidet, sein Kind abzutreiben? Dass andere davon erfahren haben? Diese Affäre wäre ein Leckerbissen für die Klatschmäuler im Parlament: Eine augenzwinkernde Bemerkung, die jemand ein paar Auserwählten im Tearoom des House of Commons zuflüstert, und schon bald würde sich die Geschichte überall herumsprechen. Wer wusste bereits davon? Seine Kollegen? Der Premierminister? Die Ehefrauen der anderen Abgeordneten? Vielleicht sogar Ellie Frisk? Sophie stellt sich vor, wie Ellies albernes, pausbäckiges Gesicht vor mühsam unterdrücktem Mitleid strahlt. Vielleicht wusste sie es ja längst und hat ihre SMS als das erkannt, was es war: eine fadenscheinige Ausrede.
Sophie zwingt sich, tief ein- und auszuatmen. Damit können sie fertig werden. Sie haben schließlich schon viel Schlimmeres zusammen durchgemacht. Eine kurze Affäre ist kein Kapitalverbrechen; man kann darüber hinweggehen, die Sache vertuschen und irgendwann vergessen. Doch dann sagt James einen Satz, der die Angelegenheit auf eine weitaus gefährlichere Ebene befördert. Es trifft sie wie ein Schlag ins Zwerchfell, während sie sich ein Szenario ausmalt, das noch viel schrecklicher ist als alles, was sie vorhergesehen hat.
»Die Presse hat Wind von der Geschichte bekommen.«