Spanien 1977. Nach dem Ende der Diktatur ist für Rogelio Castro die Zeit gekommen, in sein Heimatdorf zurückzukehren. Das Bemerkenswerte daran: Er gilt seit 41 Jahren als tot, erschossen bei einem Massaker während des Bürgerkriegs. Das ganze Dorf rätselt, was Rogelio im Schilde führt. Will er sich an den Tätern von 1936 rächen? Oder herausfinden, was damals wirklich passiert ist? Eine Vorstellung, die vielen Dorfbewohnern missfällt. Nicht ohne Grund wird der Bürgerkrieg seit Jahrzehnten totgeschwiegen.
Jordi Sierra i Fabra, geb. 1947 in Barcelona, begann schon im Alter von acht Jahren zu schreiben und hat bis heute über 300 Bücher verfasst, darunter zahlreiche Kinder- und Jugendbücher. Seine Werke sind unter den Top 10 der meistgelesenen Lektüren in spanischen Schulen und der Autor ist mit unzähligen Literaturpreisen ausgezeichnet worden.
Das zweite
Leben des
Señor
Castro
ROMAN
Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2016 by Jordi Sierra i Fabra
Titel der spanischen Originalausgabe: »El beso azul«
The translation follows the edition of Harper Collins Narrativa 2016
Published by arrangement with UnderCover Literary Agents, on behalf of IMC Literary Agency
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Carola Fischer, München
Einband-/Umschlagmotive: © Plainpicture/Stéphanie Foäche, Ingrid Michel, Hero Images
Umschlaggestaltung: init | Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-6125-4
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Die Übersetzerin dankt dem Freundeskreis Literaturübersetzer e. V. für ein Arbeitsstipendium, das vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg ermöglicht wurde.
Für alle, die immer noch hoffen,
dass das historische Gedächtnis
eine greifbare Realität ist.
Dem Regen wohnt ein vages Geheimnis von Zärtlichkeit inne,
von liebenswerter, ergebener Schlaftrunkenheit,
mit ihm erwacht eine einfache Melodie,
die die schlafende Seele der Landschaft zum Schwingen bringt.
Es sind blaue Küsse, die die Erde empfängt,
der Urmythos, der sich stets wiederholt.
Die erkaltete Berührung von Himmel und Erde, beide alt,
mit der Sanftmut einer immerwährenden Dämmerung.
Federico García Lorca, Regen
Kaum hatte sie den Bahnhof Atocha verlassen, der von der kräftigen Frühlingssonne aufgeheizt war, befand sie sich mitten im Chaos des Wahlkampfs.
Laternen mit Klebezetteln, Autos mit Lautsprechern, Wahlplakate an den Fassaden, überall Zeitungen, die Straßen zugemüllt mit Papier. Von allen Seiten lächelten die Kandidaten sie an. Die Farben ihrer Parteien und deren Logos erhoben sich vor ihren Augen zu einem bunten Regenbogen an Versprechungen. Die Parolen, mit denen sie unentschlossene Wähler für sich gewinnen wollten, reichten bis zum Horizont.
Die Welt schien verrücktzuspielen.
Die Demokratie war gekommen.
Wie oft war die Demokratie schon nach Spanien gekommen?
Und wie oft war sie durch die Hintertür wieder verschwunden?
Wie oft hatte man ihr einen Dolch in den Rücken gestoßen?
Virtudes Castro blieb an der Ampel stehen, den Blick fest auf die andere Straßenseite gerichtet, die Hände vor der Brust verschränkt, am linken Arm die schwarze Tasche. Niemand sah sie an, und doch fühlte sie sich befangen. Als trüge sie ein Mal auf der Stirn.
Die beiden Frauen zu ihrer Rechten unterhielten sich laut und freimütig. Es schien sie nicht zu stören, dass jemand sie hören konnte.
»Ich werde Suárez wählen, der sieht einfach gut aus.«
»Aber mit dem ändert sich doch nichts. Vor Kurzem hat er noch das blaue Hemd der Falangisten getragen.«
»Na und? Willst du etwa, dass mit Carrillo alles wieder so wird wie früher?«
»Ach was! Aber nur weil einer gut aussieht, heißt das noch lange nicht, dass er seine Sache auch gut macht.«
»Nachdem ich mir vierzig Jahre lang ständig Franco im Fernsehen und in den Wochenschauen ansehen musste, will ich jetzt einen, den man gern anschaut. Du nicht?«
»Du bist mir vielleicht eine.«
»Ist doch so.«
Die Ampel schaltete auf Grün, und die Frauen entfernten sich lachend und schwatzend. Feine Damen aus der Stadt, hohe Absätze, elegante Kleidung und schlanke Figur.
Virtudes zog jedes Mal ihre besten Sachen an, wenn sie nach Madrid fuhr, aber trotzdem sah man ihr sofort an, dass sie vom Land kam. Die altmodische dunkle Kleidung, die flachen Schuhe und der graue Haarknoten verrieten sie ebenso wie die düstere Miene im faltigen Gesicht und der ängstliche, unruhige Blick einer Frau, die mit dem Lärm und den vielen Autos in der Großstadt überfordert war.
Sie betrachtete die reglosen Gesichter der Kandidaten auf den Plakaten: Adolfo Suárez, Felipe González, Santiago Carrillo, Manuel Fraga, Enrique Tierno Galván …
Alle wollten sie an die Macht.
Alle hatten ihre Gründe dafür.
Virtudes hatte noch nie gewählt. Auch nicht 1936, als sie gerade mal achtzehn gewesen war. Was verstand sie denn damals schon von Politik? Im Dorf tat man, was der Priester oder der Bürgermeister sagten, und Feierabend. Und an die Wahlen von 31 oder 33 erinnerte sie sich überhaupt nicht mehr. Sie erinnerte sich nur an ihren tobenden Vater.
Ihr Vater hatte oft getobt, aber noch häufiger geschwiegen.
Die Angst hatte sich schon damals an ihre Seelen geheftet wie ein Schatten an die Schuhsohlen.
Sie ging unter der Überführung mit dem brausenden Verkehr hindurch auf die andere Straßenseite und bog in die Calle Santa Isabel ein, am ehemaligen Provinzkrankenhaus und der Medizinischen Fakultät vorbei. Das Postamt befand sich ein Stück weiter, auf Höhe der Calle de la Magdalena. Sie hatte damals eine gute Wahl getroffen. Ein Postamt in der Nähe des Bahnhofs. Auf diese Weise verbrachte sie so wenig Zeit wie möglich in Madrid. Hin und gleich wieder zurück.
Das reichte vollkommen.
In der Post drängten sich die Menschen. Es gab lange Schlangen, vermutlich weil viele Leute per Brief wählten. Virtudes dachte nicht weiter darüber nach. Die Postfächer waren direkt im Eingangsbereich. Zweihundert Fächer mit silberner Nummer. Ihr Fach, die 127, befand sich auf halber Höhe. Sie nahm den Schlüssel aus der Tasche und öffnete das Fach.
Da lag der Umschlag. Pünktlich wie jeden Monat.
Sie steckte ihn in die Tasche, schloss wieder ab und musste sich nun doch in die Schlange stellen.
Sie sah auf die Uhr.
In den vierzehn Minuten, während sie in der Schlange weiter nach vorn rückte, bis sie endlich den Schalter erreichte, sah sie weitere drei Mal auf die Uhr. Die Postangestellte kannte sie schon, zumindest vom Sehen, Worte wechselten sie nur wenige. Die Frau nahm lediglich den Umschlag von ihr entgegen.
»Nach Medellín?«
»Ja, nach Medellín.«
»Kolumbien.«
»Genau.«
»Heute kein Paket?«
»Nein.«
Das letzte Mal hatte sie ihm ein Paket mit Zeitungen und ein paar Erinnerungen geschickt.
Die Frau wog den Umschlag, klebte Briefmarken darauf und nahm das Geld entgegen. Der Brief landete in einem Korb. Das Porto war immer dasselbe, aber sicherheitshalber stellte Virtudes sich lieber an, bevor der Brief zurückgeschickt wurde, weil sie eine Gebührenerhöhung verpasst hatte.
Dann hätte der Briefträger den Absender gesehen. Virtudes schrieb nämlich immer ihre Adresse im Dorf und nicht das Postfach darauf. Warum wusste sie selbst nicht.
»Danke.« Sie steckte das Wechselgeld ein.
»Gehen Sie mit Gott«, sagte die Frau.
»Und der Heiligen Jungfrau«, erwiderte Virtudes. »Auf Wiedersehen.«
Sie verließ das Postamt und steuerte ihr nächstes Ziel an, das nur fünfzig Schritte entfernt war. Jemand hatte die Fassade der Bankfiliale mit Plakaten von der UCD beklebt, und ein Angestellter war emsig dabei, sie abzureißen. Besorgt sah er sich immer wieder um, als könne sich irgendein Fanatiker auf den Schlips getreten fühlen. Die Gewalt ging weiter. Bei ihrem Besuch im Januar hatte Virtudes das Blutbad von Atocha miterlebt.
Wieder diese Angst.
Es war nicht nur Atocha gewesen. Da waren auch noch die Entführung von Antonio María de Oriol und General Emilio Villaescusa, der Student, der von einem Ultrarechten niedergeschossen worden war, und das junge Mädchen, das dem Tränengas einer Antiterroreinheit zum Opfer gefallen war …
Angst. Angst. Angst.
Dennoch begrüßte Señor González, der Kassierer der Bank, sie immer mit einem Lächeln.
»Señorita Castro! Sie beehren uns mal wieder?«
»Wie Sie sehen.«
»Ist schon wieder ein Monat vorbei? Kaum zu glauben.«
Virtudes zuckte mit den Schultern. Er war liebenswürdig, aber nichtsdestotrotz ein Fremder. Ihr Bruder wiederholte es immer wieder in seinen Briefen: Vertraue niemandem. Und sie vertraute niemandem. Nicht einmal einem gutmütigen Kassierer mittleren Alters mit vorzeitiger Glatze und grauem Anzug.
»Fünftausend Peseten, wie immer?«
»Ja.« Sie reichte ihm das Sparbuch.
»Alles klar.« Er schob das Buch in die Maschine und tippte die Daten ein. »Die Überweisung von zwanzigtausend Peseten ist schon da, pünktlich wie immer.«
»Danke.«
»Das macht … Moment … neunzehntausenddreißig Peseten und fünfzig Céntimos. Der Wechselkurs ist ein wenig gefallen.«
»Alles klar.«
Er gab ihr das Sparbuch zurück.
»In Hundert-Peseten-Scheinen?«
»Zweihundert bitte in Fünfundzwanzigern.«
»Selbstverständlich.«
Langsam zählte er das Geld ab und schob es zu ihr hinüber. Ohne nachzuzählen, steckte Virtudes es zu dem Brief mit den farbenprächtigen kolumbianischen Briefmarken, die mit den unscheinbaren spanischen nicht zu vergleichen waren. Sie schloss die Tasche und machte sich bereit für den Rückweg.
»Vielen Dank, auf Wiedersehen.«
»Stets zu Diensten, Señorita Castro. Bis nächsten Monat.«
Ein Monat verging rasch.
Wenn sie das nächste Mal kam, würde Spanien sich verändert haben.
Ein wenig mehr.
Oder auch nicht.
Ohne Umwege steuerte Virtudes den Bahnhof an. Sie war hungrig, aber sie verkniff sich den Milchkaffee und das süße Stückchen. Daran hätte sie vorher denken müssen. Jetzt brannte sie vor Neugier auf den Brief in ihrer Tasche, und sie hatte Sorge, ein Dieb könnte sie dabei beobachtet haben, wie sie die fünftausend Peseten eingesteckt hatte. Wenn man ihr die Tasche entriss, wäre alles fort.
Sie drückte die Tasche an sich und beschleunigte ihren Schritt. Ein Wagen fuhr an ihr vorbei. Aus dem Lautsprecher auf dem Dach tönte eine Stimme, die dazu aufrief, unbedingt Felipe González und die PSOE zu wählen.
»Am 15. Juni entscheiden Sie! Wählen Sie die PSOE! Stimmen Sie für die Veränderung! Für Freiheit, Zukunft und Fortschritt! Wählen Sie Felipe González!«
Ein anderer Wagen, den von oben bis unten das lächelnde Gesicht von Manuel Fraga zierte, fuhr frontal darauf zu, als wollte er ihn rammen.
Die lauten Stimmen vermischten sich.
Virtudes kam es vor wie eine Metapher, sie wusste nur nicht recht wofür.
Der Zug fuhr pünktlich von Gleis fünf ab. Virtudes hatte ihn gerade noch erwischt. Kaum war sie eingestiegen und hatte einen Platz gefunden, setzte sich der Zug auch schon in Bewegung. Wenigstens hatte sie einen Platz am Fenster ergattert. Sie hatte sich an den anderen Nachzüglern vorbeigedrängt, die genau wie sie auf den letzten Drücker gekommen waren. Sie klemmte die Tasche zwischen sich und die Wand. Manchmal konnte sie ihre Ungeduld nicht zügeln und öffnete den Brief schon auf der Rückfahrt ins Dorf. Manchmal gelang es ihr, sich zu beherrschen, und sie wartete, bis sie zu Hause in sicheren Gefilden war. Zwanzig Jahre Angst ließen sich nicht einfach auslöschen, auch wenn Franco vor mehr als eineinhalb Jahren gestorben war und der frische demokratische Wind Zuversicht weckte. Die Frau an der Ampel hatte es auf den Punkt gebracht:
»Aber mit dem ändert sich doch nichts. Vor Kurzem hat er noch das blaue Hemd der Falangisten getragen.«
Es änderte sich nichts.
Hatte der Diktator nicht selbst gesagt, dass er alles gut und sicher vertäut hinterließ?
Hatte Arias Navarro nicht mit Händen und Füßen sein Erbe verteidigt, bis er von den Ereignissen und den Freiheitsrufen des neuen Spaniens überrollt wurde?
Das neue Spanien.
Das hörte sich so gut an und gleichzeitig so beängstigend.
Zuckerbrot und Peitsche.
Virtudes betrachtete die Mitreisenden, die auf ihren Holzbänken im Takt des ruckelnden Zuges schaukelten. Ihr gegenüber saß ein Priester, der mehr Knöpfe an seiner Soutane hatte als Haare auf dem Kopf. Knöpfe von oben bis unten. Eine lange Linie aus roten Punkten, hinter der sich das Unbekannte verbarg. Auch sein Gesicht mit den schlaffen Pausbacken war rot. Rot wie das Kreuz, das die linke Seite seiner Brust zierte. Neben ihm saß ein Vertreter des Heeres, in Gestalt eines kränklich aussehenden Rekruten mit Hakennase, hervortretenden Augen und einem ausgeprägten Adamsapfel. Die Uniform war ihm zwei Nummern zu groß, sodass er aussah, als wäre er im Schrumpfen begriffen. Aus einer der Taschen ragte die Zeitschrift Interviú, die er sich wohl in Gegenwart des Priesters nicht zu lesen traute. Virtudes hatte von der Zeitschrift gehört, die Kioskbesitzerin im Dorf durfte sie nicht offen auslegen, aber unter den Männern wurde sie heimlich weitergereicht. Neben dem Rekruten saß eine fettleibige Frau, die seinen halben Sitzplatz mit beanspruchte. Ein Bündel lag auf ihren Knien. Sie döste mit geschlossenen Augen vor sich hin, so ging die Fahrt schneller vorbei. Neben Virtudes hatte eine Frau mit ihrem Sohn Platz genommen, die sie nicht genau sehen konnte. Das Kind saß zwischen ihnen und las einen Comic.
Der Priester hatte die aktuelle Ausgabe von El Alcázar dabei und begann ebenfalls zu lesen. Auf der Titelseite befand sich, nicht zu übersehen, eine Tirade gegen die Legalisierung der Kommunistischen Partei, die kurz zuvor erfolgt war, am 7. April, mitten in der Karwoche. Im Dorf hatten es einige sogar gewagt, mit roten Fahnen durch die Straßen zu ziehen.
Niemand schenkte Virtudes Beachtung.
Sie dachte nicht lange nach, öffnete die Tasche und zog den Brief von der anderen Seite des Ozeans heraus. Der letzte Brief von Anfang Mai hatte sie beunruhigt. Sie war vielleicht nicht besonders klug, aber sie konnte zwischen den Zeilen lesen. Zwanzig Jahre voller Briefe und Geheimnisse, voller Vertraulichkeiten und Erkenntnisse, und die Zeilen waren immer streng derselben Linie gefolgt, ohne auch nur einmal auf Abwege zu geraten.
Und auf einmal verwendete ihr Bruder dieses Wort.
Wehmut.
Ihre Hand zitterte, als sie das Blatt vor ihre Augen hielt. Mit ernster Miene verdaute der Priester die Nachrichten aus der Zeitung. Reglos wie eine Statue starrte der Rekrut geradeaus. Die fettleibige Frau hatte die Augen geschlossen. Das Kind war in den Comic vertieft, und die Mutter saß zu weit weg, um mitlesen zu können.
Und selbst wenn.
Liebe Virtudes, …
Es war immer dasselbe. Erst überflog ihr Blick die eng beschriebenen Zeilen in der klaren, schönen Handschrift. So rasch, dass kaum etwas hängen blieb, nur das Wichtigste: dass es ihm gut ging und nichts Schlimmes geschehen war. Dann kehrte sie an den Anfang zurück und las konzentriert Wort für Wort, bis sie den Sinn erfasste.
Auch diesmal war es nicht anders.
Bis sie nach den üblichen Begrüßungsfloskeln – ich hoffe, es geht Dir gut. Anita, Marcela und ich sind wohlauf – zum zweiten Abschnitt kam.
… Ich glaube, es ist an der Zeit, dass die Wunden der Vergangenheit verheilen …
Virtudes stockte der Atem.
Ihr blieb fast das Herz stehen.
Auf einmal sah der Priester sie an, und auch der Rekrut, die inzwischen aufgewachte Frau, das Kind und seine Mutter. Alle sahen sie an.
Sie ließ die Hände sinken, sie konnte nicht mehr weiterlesen, und die zwei Papierbögen ruhten einen Moment auf ihrem Schoß. Dann fasste sie sich und faltete sie zusammen. Bestimmt war sie leichenblass. Ihre Hände zitterten. Kurz darauf stieg eine Hitzewelle in ihr auf, sie fing an zu schwitzen und fühlte sich kraftlos, ihre Finger waren wie tot. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und beinahe hätte sie sich übergeben. Nicht weil ihr übel war, sondern vor Schwindel. Ihr Blutdruck war in die Höhe geschossen und …
Sie blickte aus dem Fenster.
Wie lange dauerte es noch, bis sie wieder im Dorf war?
Eine Stunde?
Nein, keiner beobachtete sie. Das hatte sie sich nur eingebildet.
Trotzdem steckte sie den Brief wieder ein.
Wenn sie ein Paket erhielt, öffnete sie es immer, bevor sie in den Zug stieg, und die Verpackung blieb in irgendeinem Papierkorb von Madrid zurück. Sie hinterließ nicht die geringste Spur. Die Briefe und die Umschläge bewahrte sie sicher zu Hause auf.
Und wenn sie sich verlesen hatte?
Wenn das alles ihren blank liegenden Nerven geschuldet war?
»Rogelio …« Sie seufzte leise.
Der Zug wurde langsamer und fuhr in den nächsten Bahnhof ein. Der Rekrut stand auf und verließ den Waggon.
Als der Zug im Bahnhof stand, blickte Virtudes weiter aus dem Fenster. Doch der Rekrut stieg nicht aus.
Es war ein herrlicher, milder Nachmittag, als sie den Baum umsäumten stillen Weg vom Bahnhof hinunter ins Dorf ging. Die Sonne ließ sich hinter dem dichten Vorhang aus Baumkronen lediglich erahnen. Virtudes war nicht als Einzige ausgestiegen, hatte sich aber trotz der inneren Unruhe Zeit gelassen.
In der Stille, die lediglich durch das leise Schlurfen ihrer Schritte durchbrochen wurde, kam es ihr vor, als ob der Brief laut schrie.
Virtudes beschleunigte ihren Schritt. Sie war aufgeregt.
Am liebsten wäre sie gerannt, doch das hätte Aufsehen erregt, und sie hatte ja auch schon ein gewisses Alter.
»Wieder mal in Madrid gewesen, Virtu?«
Der Romualda entging nichts. Sie hatte Ohren wie ein Luchs. Beim kleinsten Geräusch stand sie in der Tür. An ihrem Haus kam man auf dem Weg vom Bahnhof zwangsläufig als Erstes vorbei. Würde sie Buch führen, könnte man nachverfolgen, wer wann welchen Zug genommen hatte.
»Ja, ich hatte was zu erledigen.«
»Wie jeden Monat.«
»Genau.«
»Du hast doch nicht etwa einen Verehrer?«
»Ich bitte dich!«
»Die Genara hat noch mit weit über sechzig den aus Cádiz geheiratet.«
»Das ist doch was ganz anderes.«
»Hast du’s eilig?«
»Es ist schon spät.«
»Verstehe, der Fernseher ruft!«
Virtudes war einfach weitergegangen und hatte sie stehen lassen. Nach wenigen Metern bog sie links in die erste Straße ab. Dort gab es keine Bäume mehr. Kopfsteinpflaster und Asphalt markierten die Grenze zum sogenannten barrio viejo, dem ältesten Teil des Dorfes. Am anderen Ende, zum Fluss hin, und auch auf der anderen Uferseite wuchs das Dorf immer näher an die Fabrik heran, die schon bald hinter Häusern verschwinden würde.
In den Dörfern beklagte man, dass die jungen Leute fortzogen, angelockt vom Glanz der Städte. Hier war es nicht anders. Aber ein paar waren geblieben. Solange es Arbeit gab …
Virtudes schwirrte der Kopf. Ein Gedanke jagte den nächsten. Immer wieder der Brief, Rogelios Stimme.
Eine vergessene Stimme, die sie zuletzt 1936 gehört hatte.
Da half auch kein Telefon.
Angst, Angst, Angst, auch wenn der verfluchte Diktator an jenem gesegneten 20. November vor neunzehn Monaten gestorben war.
Zum Glück konnte Virtudes ihren Weg bis nach Hause unbehelligt fortsetzen. Sie schloss die marode Holztür hinter sich und ließ sich in ihren Sessel fallen. Nicht einmal das dünne Jäckchen legte sie ab. Sie stellte die Tasche auf ihre Knie und öffnete sie. Sie versuchte, Ruhe zu bewahren.
Es gelang ihr nicht.
Noch einmal las sie die Worte in der schönen, bedächtig ausgeführten Handschrift. Bei jeder Zeile musste sie die Tränen zurückdrängen. Sie bemühte sich, den Inhalt zu erfassen und sich von ihrem wild pochenden Herzen nicht unterkriegen zu lassen.
Liebe Virtudes,
ich hoffe, Du erfreust Dich bester Gesundheit, wenn Du diese Zeilen liest, und es geht Dir gut. Anita, Marcela und ich sind wohlauf. Es geht uns gut, und wir sind glücklich. Dieser Brief wird anders als die anderen. Ich hoffe, Du sitzt beim Lesen und fällst nicht gleich in Ohnmacht, denn in Deinen Worten schwingt immer so eine Unruhe und Sorge mit, dass ich mich frage, wie Du das tagtäglich aushältst.
Meine Schwester, seit etwa einem Monat, wahrscheinlich aber schon länger – seit sie die Wahlen angekündigt haben, kreisen meine Gedanken darum –, ist in mir ein Plan herangereift, von dem Du in meinem letzten Brief vielleicht schon etwas geahnt hast. Jetzt ist es Gewissheit. Ich habe mir die Entscheidung nicht leicht gemacht, sondern lange darüber nachgedacht und es mit meiner Frau und meiner Tochter besprochen. In wenigen Tagen finden die lang herbeigesehnten Wahlen statt, das Land wird sich rasant verändern, wenn es nicht schon dabei ist, zumindest kann man das den Nachrichten hier entnehmen. Franco ist Vergangenheit. Seine Person, sein Werk, alles, was er getan hat, wird noch für Jahre, für ein oder zwei Generationen in Spaniens kollektivem Gedächtnis bleiben. Doch die Zukunft lässt sich nicht aufhalten, und kein Übel währt ein ganzes Jahrhundert. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass die Wunden der Vergangenheit verheilen.
Virtudes, ich komme zurück nach Hause, ins Dorf.
Überrascht? Wieso denn? Aufgeregt? Dann beruhige Dich! Und wenn Du weinst, dann nur vor Glück. Es wird Zeit. Ich will mich nicht wieder im Dorf niederlassen, denn Medellín ist jetzt mein Zuhause, hier habe ich meine Familie, mein Leben. Aber ich möchte nicht eines Tages auf dem Sterbebett liegen und mich ärgern, dass ich diesen Schritt nicht getan habe, Dich nicht wiedergesehen, Dich nicht umarmt habe, dass ich nicht noch einmal in den alten Erinnerungen und Gerüchen des Ortes geschwelgt habe, an dem ich geboren wurde und den ich nie vergessen habe. Ich weiß, was das für Dich und für das ganze Dorf bedeutet, zumindest für die, die von 36 noch übrig sind, aber es ist mein Zuhause, Du lebst dort, und es sind so viele Jahre vergangen. Ich bin 61, und Du bist 59. Als wir uns zuletzt gesehen haben, war ich zwanzig und Du achtzehn, unvorstellbar, nicht wahr? Dass man uns fast das ganze Leben geraubt hat, heißt nicht, dass wir auch auf den Rest verzichten müssen. Es bleibt immer ein Funken Hoffnung, und es ist an der Zeit, ihn zu entfachen. Wenn Du diesen Brief in den Händen hältst, ist es nicht mehr lange hin bis zu unserem Wiedersehen. Das nenne ich mal eine Überraschung, nicht wahr? Ich werde nicht der Erste und auch nicht der Letzte sein, der nach so langer Zeit nach Hause zurückkehrt. Ich weiß, dass viele sich endlich wieder in Sicherheit wähnen und nach all den Jahren wieder aus ihren Höhlen kriechen, so wie du es von Florencio berichtet hast. Unfassbar. Unfassbar, Virtudes! Im Grunde wird mir gerade klar, was ich doch für ein Glück hatte. Die letzten zwanzig Jahre haben alles aufgewogen, was ich damals durchmachen musste, das Leid, den Krieg, das Flüchtlingslager, den anderen Krieg, das Vernichtungslager …
Jetzt lächle doch mal.
Ich möchte, dass Du Anita und Marcela kennenlernst. Du sollst wissen, dass Du eine echte Familie hast, nicht nur das Echo der Briefe und Fotos von der anderen Seite des Ozeans. Du hattest immer Angst, nach Kolumbien zu fliegen. Nun, ich habe keine Angst mehr, nach Spanien zurückzukehren. Und Du weißt nicht, was das bedeutet. Ohne Angst zu leben, Virtudes. Ohne Angst, nach all den Jahren, nachdem der verfluchte Tyrann endlich das Zeitliche gesegnet hat, und auch noch in seinem eigenen Bett, dieser Mistkerl …
Sie ließ den Brief sinken. Ein paar Zeilen fehlten ihr noch, aber das Wichtigste wusste sie jetzt.
»Rogelio«, seufzte sie.
Sie küsste die Blätter und legte sie beiseite, damit sie von ihren Tränen nicht nass wurden.
Wann hatte sie zuletzt vor Glück geweint?
Vor zwanzig Jahren, als der erste Brief gekommen war, als Rogelio aus dem Grab gestiegen war wie ein Gespenst?
Ja, genau.
Das war zwanzig Jahre her, fast schon einundzwanzig.
Der Brief, den jener Mann ihr damals heimlich zugesteckt hatte. Der Brief, mit dem Rogelio ins Leben zurückgekehrt war. Er hatte auch Anweisungen für den Kontakt, für das Postfach in Madrid und das Bankkonto enthalten, damit er ihr unauffällig Geld überweisen konnte, nicht zu viel, damit sie auch nicht zu viel ausgab und die anderen misstrauisch wurden.
Virtudes versuchte, gleichmäßig zu atmen. Dann las sie die letzten Zeilen und in aller Ruhe noch einmal den ganzen Brief. Sie nahm allen Mut zusammen, der in den langen Jahren der Einsamkeit immer wieder auf die Probe gestellt worden war. Die Zeit stand für sie still, während draußen das Abendlicht allmählich erlosch, bis es Nacht wurde. Die Tage waren lang, und erst ihr knurrender Magen machte ihr bewusst, wie spät es schon war. Sie hob den Kopf und blickte sich um.
Es war dasselbe Haus.
Und doch war alles anders.
Als wären ihr Vater, ihre Mutter, Rogelio und Carlos auf einmal wieder da …
Was würde geschehen, wenn Rogelio zurückkehrte?
Der Mann, den alle für tot hielten.
Tot und in den Bergen begraben, wo man ihn im Morgengrauen des 20. Juli 1936 erschossen zu haben glaubte.
Virtudes atmete tief ein und stand auf. Die Tasche ließ sie auf dem Tisch liegen. Das Jäckchen behielt sie an. Sie fror mit einem Mal. Es fühlte sich an wie ein Weckruf des Lebens, wie der Klaps für ein Neugeborenes, damit es zu schreien und selbständig zu atmen beginnt. Sie steckte den Brief in den Umschlag zurück und ging in die Küche. Sie öffnete die Tür zur Speisekammer, machte Licht, schloss die Tür und räumte die Konservendosen aus dem Regal, um es beiseiteschieben zu können. Dahinter befand sich der Hohlraum.
Und darin die Briefe, die Fotos, das sorgsam gehütete Geheimnis.
Zwanzig Jahre, ein Brief pro Monat, zweihundertfünfzig Folgen eines Lebens auf Raten.
Virtudes legte den letzten Brief auf die anderen und verschloss das Versteck wieder.
Als sie ins Esszimmer zurückkam, zitterte sie nicht mehr. Die innere Unruhe war noch da, aber das Zittern hatte aufgehört. Der nächste Schritt war klar.
Blanca.
Und dann …
Sie blickte zum Telefon, verwarf den Gedanken aber sogleich wieder. Besser, sie sagte es ihr persönlich. Dem Telefon hatte sie noch nie getraut. In einem Dorf gab es überall Ohren. Sie wusste nicht einmal, warum sie sich eins angeschafft hatte. Vielleicht, um den Arzt zu rufen, wenn sie im Sterben lag.
Marotten einer alten Frau.
Sie verließ das Haus ohne ihre Tasche und ohne abzuschließen. Wozu auch? Bis zu Blancas Haus waren es nur drei Minuten.
Als sie die Tür öffnete, hörte sie als Erstes das Lied. Sperber oder Taube. Das wurde im Radio rauf und runter gespielt.
Virtudes fühlte sich wie eine Taube, dabei war jetzt mehr denn je der Sperber gefragt.
Sie holte tief Luft und betrat beherzt das Esszimmer. Dort traf sie lediglich auf ihre Tante Teodora, die wie immer reglos wie eine Statue in ihrem Schaukelstuhl thronte, das Radio weniger als einen Meter von ihrem Kopf entfernt. Ihre Wangen wirkten mit jedem Mal schlaffer, und ihr Gesicht hatte etwas von einem Basset, was durch die kleinen, alterstrüben Augen verstärkt wurde, über denen stets der Schleier der Schlaftrunkenheit lag.
Als sie Virtudes erkannte, öffnete sie leicht die Augen. Sonst rührte sie sich nicht.
»Ah, Virtu.«
»Hallo, Tante. Wo ist Blanca?« Virtudes reckte den Hals und spähte Richtung Küche.
»Sie ist noch mal kurz zum Lebensmittelladen, um zu sehen, ob er noch aufhat, ständig vergisst sie irgendwas. Irgendwann verliert sie noch ihre Unterhose.«
»Ach, Tante …«
»Was denn? Mein Gott, sie weiß nicht, wo sie ihren Kopf hat.« Ihr Blick wurde bitter und hart. »Aber warum sage ich dir das, ihr steht euch in nichts nach.«
Virtudes schwieg.
Die Übellaunigkeit schritt unaufhaltsam fort wie eine unheilbare Krankheit. Es war ein Kreuz. Sie konnte sich nicht daran erinnern, Tante Teodora je lachen gesehen zu haben. Und es wurde von Tag zu Tag schlimmer. Die ganze Welt bestand für sie aus Unsinn, schlechten Menschen und Fehl und Tadel, über die sie sich das Maul zerriss. Nichts war vor ihrem Spott sicher. Die Verbitterung war ein Sumpf, in dem sie mit jedem Tag mehr versank und alles mitzog, was sich in ihrer Nähe befand.
Wie ihre Cousine Blanca.
Virtudes wollte schon kehrtmachen, als Eustaquio hereinkam, der Ehemann ihrer Cousine.
»Tag, Virtu.«
»Tag.«
Er setzte sich wortlos auf einen Stuhl und nahm ein Buch in die Hand. Er las unermüdlich. Verschlang ein Buch nach dem anderen. Es war ihm egal, ob das Radio dröhnte oder ob um ihn herum geschrien wurde. Er schottete sich ab von der Welt, und vor allem von seiner Schwiegermutter.
Vielleicht auch von ihr.
Eustaquio sagte kein Wort.
»Ich schaue mal, ob ich Blanca auf dem Weg treffe.« Virtudes wollte schon wieder gehen.
»Warst du in Madrid?« Die Stimme ihrer Tante hielt sie zurück.
»Ja.«
»Ich möchte mal wissen, was du dort zu suchen hast.« Sie spuckte jedes Wort förmlich aus.
»Nichts.« Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Du weißt ja, einmal im Monat fahre ich gern dorthin, spaziere im Park, gönne mir eine heiße Schokolade, gehe ins Kino oder ins Museum …«
»Allein?«
»Ja, allein.«
»Soso. Es wird geredet.«
»Und wer redet?«
»Das weißt du genau.«
»Nein, das weiß ich nicht, Tante.« Sie hob müde die Schultern. »Soll ich etwa das Haus nicht mehr verlassen?«
Pablo Abraira hörte auf zu singen. Es folgte Miguel Bosé mit Linda, Platz eins der Hitparade, wie der Sprecher verkündete.
Virtudes wollte nur noch weg, von ihrer Tante, vom Radio und dem wortkargen Eustaquio.
»Wenn du so gern nach Madrid fährst, dann könntest du ja mal Fina und Miguel besuchen.« So leicht entließ Teodora sie nicht aus ihren Fängen.
»Die haben ihr eigenes Leben, was soll ich dort?«
»Da gebe ich dir ausnahmsweise recht. Ja, sie haben ihr eigenes Leben.« Wieder spuckte sie jedes Wort förmlich aus. »Und ihre Mutter und Großmutter haben sie vergessen … Sie halten sich jetzt für was Besseres. Miguel mit seiner blond gefärbten Friseuse, die aussieht wie ein Flittchen, und Fina mit diesem Versager …«
Virtudes blickte zu Eustaquio.
Er verteidigte seine Kinder nicht.
Nicht mehr.
Er blätterte eine Seite um und las weiter, während Miguel Bosé im Radio den Namen der Heldin seines Liedes schmachtend wiederholte.
»Ich verschwinde.« Ein neuer Versuch.
»Willst du nicht hier auf sie warten?«
»Nein, die Musik ist so laut, da muss man ja schreien.«
»Geheimnisse?«
»Quatsch!«
Sie gab ihr keine weitere Chance, sondern verließ das Esszimmer. Als Letztes nahm sie mit einem Seitenblick das fast schon erloschene Funkeln in Eustaquios Blick wahr. Erloschen wie er selbst.
Schweigsam, still, weit weg.
Das war seit dreißig Jahren so, seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis.
Als einer der letzten Gefangenen, die aus Francos Kerkern frei gelassen wurden.
Auf dem Weg zur Tür dachte Virtudes an Eustaquios Worte ein paar Monate zuvor, in der Weihnachtszeit. Teodora hatte sich, ihrer Meinung nach, beim Nachbarssohn mit der Grippe angesteckt, weil dieser angeblich den ganzen Tag in Richtung ihres Fensters gehustet hatte.
»Wir müssen sie mit dem Gesicht nach unten beerdigen.«
Sie beerdigen.
Wahrscheinlich brachte sie vorher alle anderen unter die Erde.
Vor der Tür stieß Virtudes beinahe mit Blanca zusammen. Sie hatte eine Einkaufstasche dabei und wirkte bedrückt.
»Ich muss mit dir reden.« Den Gruß sparte sie sich.
»Komm rein.«
»Nein, unter vier Augen.«
»Ist was passiert?« Blanca schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte.
»Komm mit, ich erzähl’s dir.«
»Besser morgen.« Blanca verzog das Gesicht. »Heute ist sie noch unerträglicher als sonst, und außerdem kommt heute im Fernsehen …«
»Blanca, bitte!«
Das Flehen in ihrer Stimme, der Glanz in ihrem Blick, die Hand an ihrem Arm überzeugten Blanca. Sie kannten sich ein ganzes Leben. Es war unmöglich, ihr etwas vorzumachen.
»Du machst mir Angst.«
»Ach was, komm einfach.«
»Also gut.« Blanca blickte zur Tür. »Ich komme nach dem Abendessen bei dir vorbei.«
»Danke.«
Sie trennten sich.
Die eine machte sich auf den Heimweg. Die andere öffnete die Haustür und sah ihr nach. Die Melodie von Freiheit ohne Zorn schwebte durch die Luft, und mit ihr drang der Text aus dem Inneren des Hauses.
Die Alten sagen, es gab einen Krieg in diesem Land,
und es gibt zwei Spanien, die noch immer
den Groll der alten Schuld in sich tragen.
Die Alten sagen, das Land brauche
Zucht und Ordnung, um das Schlimmste zu verhindern.
Doch ich habe nur Menschen gesehen, die schweigend leiden,
Schmerz und Angst.
Menschen, die nur ihr Brot wollen,
Wein, Weib und Gesang.
Freiheit, Freiheit ohne Zorn, Freiheit.
Lass Angst und Zorn fahren,
denn es gibt Freiheit, ohne Zorn Freiheit,
wenn nicht jetzt, irgendwann bestimmt.
Freiheit, Freiheit ohne Zorn, Freiheit.
Lass Angst und Zorn fahren,
denn es gibt Freiheit, ohne Zorn Freiheit,
wenn nicht jetzt, irgendwann bestimmt.
Die Tür fiel ins Schloss, und das Lied, seine letzten Zeilen, blieben im Haus gefangen. Doch Virtudes kannte den Text auswendig, so oft hatte sie das Lied gehört.
Die Alten sagen, wir tun, was uns gefällt.
Und so ist es unmöglich
für eine Regierung, zu regieren.
Die Alten sagen, man müsse uns zügeln,
wir alle seien
gewaltbereit.
Sie fragte sich, ob Rogelio das Lied im fernen Kolumbien auch gehört hatte.
Wieder zu Hause schaltete Virtudes weder den Fernseher noch das Radio ein, ihr war die Stille lieber.
Auch wenn die Stille manchmal noch lauter tönte.
Sie würde das Geheimnis, ihr Geheimnis teilen. Nach mehr als zwanzig Jahren würde sie es lüften. Wahrscheinlich würde Blanca wütend auf sie sein. Rogelio war schließlich ihr Cousin.
Einer der wenigen, die von der Familie noch übrig waren.
Aber Blanca hatte ja ihre Mutter am Hals.
Verwirrt setzte sie sich auf einen Stuhl. Worüber wunderte sie sich? In den letzten zwei Monaten, seit der Legalisierung der Kommunistischen Partei, waren, wie man sich erzählte, viele nach Spanien zurückgekehrt. Jeder mit seiner eigenen Geschichte, reich, arm, triumphierend, gedemütigt, besiegt … Zurück in die Heimat, um auf der eigenen Scholle weiterzuleben oder zu sterben.
Wenn es regnete, schossen binnen kurzer Zeit Pilze aus dem Boden.
Die Rückkehrer waren wie diese Pilze.
Und Spanien der Heimatboden, der sich öffnete, um seine verlorenen Söhne wieder aufzunehmen.
Auf dem Stuhl hielt sie es nicht lange aus. Sie stand auf und blickte aus dem Fenster. Im Westen waren noch die letzten Lichtstrahlen zu sehen. In den Straßen brannten schon ein paar Laternen, matt wie seit jeher. Dasselbe Bild wie jeden Tag, und doch kam es ihr jetzt anders vor.
Ein anderes Dorf.
Anders?
Nein, wohl kaum. Es würde immer dasselbe bleiben.
Wie 1936.
Trotz der Fabrik, der neuen Häuser, den Plänen für ein neues Viertel oder vielleicht auch einer neuen Fabrik – die Gerüchte blieben immer vage.
Ein geteiltes Dorf, erst zwischen Rechten und Linken und jetzt zwischen dem alten und dem neuen Teil.
Wo wären sie ohne die Wurstfabrik? Auch wenn trotzdem viele weggezogen waren, wie Fina und Miguel, aber was wäre mit den anderen?
Virtudes öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen, und stützte die Ellbogen auf das Fensterbrett. Das bedauerte sie sofort, denn wie aus dem Nichts tauchte plötzlich Esperanza auf.
Ausgerechnet.
»Guten Abend.«
»Guten Abend.«
Sie schloss den Kiosk immer erst sehr spät und kam sonst nie auf dem Heimweg bei ihr vorbei.
Was würde Esperanza sagen, wenn sie wüsste, dass er noch lebte?
Virtudes zuckte zusammen und entfernte sich vom Fenster. Rogelios Rückkehr würde alles aufwühlen. Das ein oder andere Leben und Gewissen. Eine Rückkehr wie ein Paukenschlag: Er lebte, seine Leiche befand sich nicht im Massengrab auf dem Berg.
Das Grab, das nur die Mörder kannten.
Von denen kaum noch einer da war.
Sie hatte Angst, obwohl sie sich eigentlich freuen sollte. Sie presste die Hände aneinander, bis die Knöchel weiß wurden. Ihr Herz schlug wild.
Vierzig Jahre Angst verschwanden nicht in ein paar Monaten Wandel.
Die Erinnerungen, die Gespenster würden zurückkehren …
Wie Florencio, nachdem er mehr als fünfunddreißig Jahre im Verborgenen hinter einer Wand in seinem Haus gesessen hatte, während alle glaubten, er sei am Ebro gefallen.
Mechanisch machte Virtudes den Fernseher an, um sich die Zeit zu vertreiben. Sie wartete, bis das Bild richtig da war, und nahm die Fernsehzeitschrift zur Hand, die sie immer kaufte, um auf dem Laufenden zu sein. Im Ersten ging gerade Teresa zu Ende, nach dem Roman von Rosa Chacel. Es folgten die Neun-Uhr-Nachrichten. Im Zweiten würde bald Redacción de noche beginnen, ebenfalls eine Nachrichtensendung. Im Ersten kam nach den Nachrichten eine Dokumentation über den Júcar-Fluss und um Viertel nach zehn die Quizshow Un, dos, tres … mit Narciso Ibáñez Serrador, wie jeden Freitag. Im Zweiten ein Drama. Fahrig las sie, worum es dabei ging. Jacques, ein Unterseeforscher, stirbt bei einem Tauchgang. Sein Kollege Claude, der sich außerhalb des Schiffes befand, hat nichts getan, um ihn zu retten. Kommissar Vaillant …
Und? Sie sah nie das Zweite. Der Sender war so modern geworden. Und ebenso befremdlich. Der Beweis dafür war, dass sie am frühen Abend immer ausländische Musik spielten. Irgendwas Englisches wie In the Court of the Crimson King von einem Sänger, der genauso hieß wie sein Lied, nur in umgekehrter Reihenfolge: King Crimson.
Wenn das die neuen Zeiten sein sollten …
Virtudes klappte die Programmzeitschrift zu und stand auf, um die Antenne zu richten. Es wollte ihr nicht recht gelingen, das Schwarz-Weiß-Bild scharf zu stellen.
Was würde Blanca sehen wollen? Sicher nicht die Doku über den Júcar. Was hatte sie mit diesem Fluss zu schaffen? Nein, natürlich Un, dos, tres … wie das ganze Land.
Das schaute wirklich jeder, auch wenn die Show erst um halb zwölf zu Ende war und einem trotz des hochemotionalen Finales schon die Augen zufielen.
Virtudes hatte keinen Appetit, sie hatte auf nichts Lust. Sie war nicht wirklich bei sich, die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf und lösten Panik in ihr aus. Das Lied von Jarcha hämmerte auf den letzten Rest Verstand ein.
»Die Alten sagen …«
Virtudes murmelte den Refrain, der zu einer Hymne der neuen Zeiten geworden war.
»Freiheit …«
Wann hatte es in Spanien je Freiheit gegeben?
In dem Moment tauchte Blanca in der Tür auf.
Blanca brannte vor Neugier. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, bestürmte sie ihre Cousine auch schon mit Fragen.
»Was ist denn los, Virtu?«
»Nichts, reg dich nicht auf.«
»Was heißt hier, reg dich nicht auf? Meine Güte, wenn nichts wäre, hättest du mich doch nicht um diese Zeit hierher bestellt.«
»Jetzt setz dich doch erst mal, ich bin sowieso schon so nervös.«
»Ach ja? Und was glaubst du, wie es mir geht? Und zu allem Überfluss noch meine Mutter, die keine Ruhe gibt und mir Löcher in den Bauch fragt.«
»Willst du dich nicht setzen?«
Blanca seufzte matt.
»Beruhige dich. Tu mir den Gefallen.«
Blanca setzte sich. »Du hast Krebs.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Nein. Immer diese Schwarzseherei!«
»Was dann?«
»Blanca.« Virtudes setzte sich ihr gegenüber und fasste ihre Hände. »Es geht um etwas, das ich dir vor zwanzig Jahren verschwiegen habe, das ist alles, und jetzt …«
»Vor zwanzig Jahren?« Sie riss die Augen auf.
»Ja.«
»Hat es mit den monatlichen Ausflügen nach Madrid zu tun, die du partout immer allein machen willst?«
»Ja.«
»Du hast einen verheirateten Liebhaber.«
Virtudes hätte schallend gelacht, wäre die Angelegenheit nicht so ernst gewesen. Blanca und ihre Hirngespinste. Blanca und ihr unruhiger Geist. Blanca, gestraft mit einer Mutter, der sie manchmal allzu ähnlich war.
»Ich bin neunundfünfzig!«, rief sie ihr in Erinnerung.
»Denk an die Genara.«
Romualda hatte dasselbe gesagt, als sie vom Bahnhof gekommen war.
Die eine wie die andere.
Sie wollte Blanca nicht länger auf die Folter spannen, sie musste reden. Sie drückte noch einmal ihre Hände, und dann sagte sie geradeheraus:
»Rogelio lebt.«
Blanca verschlug es die Sprache.
Das Schweigen hüllte sie ein wie eine unsichtbare, schützende Decke.
»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«, fragte sie, da ihre Cousine keine Regung zeigte.
»Rogelio ist in den Bergen begraben, mit deinem Vater und deinem Bruder Carlos, Virtu.«
»Er ist nicht tot.«
»Er wurde 36 erschossen.«
»Er konnte fliehen.«
Blanca runzelte die Stirn. Es war, wie wenn man versuchte, noch ein weiteres Kleidungsstück in einen übervollen Koffer zu quetschen.
»Ist alles in Ordnung mit dir, Virtu?«
»Er konnte fliehen«, wiederholte sie und betonte dabei jede einzelne Silbe. »Er liegt nicht in dem Massengrab.«
»Aber … wie das?«
»Rogelio hat unseren Vater gestützt, der sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Carlos konnte ihm nicht helfen, weil er beide Arme gebrochen hatte …«
»Woher weißt du das?«
»Lässt du mich vielleicht mal ausreden? Ich erzähle es dir doch gerade.«
Blancas Mund öffnete sich und schloss sich wieder. Sie schluckte die Worte herunter.
»Wie gesagt, Roglio hat Vater gestützt. Das Erschießungskommando postierte sich vor ihnen. Es war stockfinster. Schüsse hallten, und sie fielen nach hinten in die Grube wie ein Knäuel aus Menschen. Doch Rogelio wurde nicht durch einen Schuss niedergestreckt, sondern von Vater mit in die Grube gerissen. Dort stellte er fest, dass er nicht mal einen Kratzer hatte.«
»Meine Güte, sie haben sie alle getötet und das Grab zugeschüttet.«
»Nicht sofort«, erklärte Virtudes ruhig, um Blancas, aber auch um ihrer selbst willen. Sie sprach das alles zum ersten Mal laut aus, nachdem sie es so oft in dem Brief von damals gelesen hatte. »Die Soldaten haben erst mal eine geraucht, und dann hat einer von ihnen das Grab zugeschaufelt. Es war mucksmäuschenstill, also sahen sie keine Notwendigkeit, noch mal zum Gewehr zu greifen. Wenn einer überlebt hatte, würde er lebendig begraben. Aber als das Grab zugeschüttet wurde, war Rogelio schon fort. Er war aus der Grube gekrochen und hatte sich hinter dem erstbesten Baum versteckt. Es war stockfinster, keiner hat was gemerkt, keiner hat die Leichen gezählt. Was machte es schon aus, ob neun oder zehn da lagen, einer über dem anderen? Rogelio kann sich immer noch nicht erklären, was damals passiert ist. Seit einundvierzig Jahren fragt er sich das. War es ein Wunder? Glück? Jemand hatte sie alle verraten, und dann verfehlte der Schuss, der für ihn bestimmt war, sein Ziel. Und jetzt …«
»Du veräppelst mich nicht, oder?«
»Wieso sollte ich dich veräppeln!«
»Warum ist er in all den Jahren nicht zurückgekehrt?«
»Damit er ihnen erneut in die Hände fällt?«
»Stattdessen …«
»Ist er abgehauen, Blanca. Was hätte er denn tun können? Er ist so schnell und so weit wie möglich fortgegangen, bis er republikanisches Gebiet erreichte. Dort kämpfte er gegen die Aufständischen. Er hat mir nicht geschrieben, weil er sich selbst nicht verraten und mich nicht in die Bredouille bringen wollte. Als der Krieg verloren war, musste er das Land verlassen.«
»Wo war er denn die ganze Zeit?«
»Das ist eine lange Geschichte.« Virtudes ließ den Kopf sinken und gab die Hände ihrer Cousine frei. Sie lehnte sich zurück. »Nach Francos Sieg ist er ins Exil gegangen, nach Frankreich. Er war monatelang in einem Flüchtlingslager und hat um sein Überleben gekämpft, wie viele andere auch. Um dort rauszukommen, hat er sich bei irgendwelchen Brigaden oder so ähnlich gemeldet, an den genauen Namen kann ich mich nicht mehr erinnern. Leute, die im Zweiten Weltkrieg gegen Hitler gekämpft haben. Das ging wieder schief, die Geschichte hat sich wiederholt, er geriet in Gefangenschaft und fand sich in einem anderen Lager wieder, ein Vernichtungslager diesmal.«
»Wo auch die Juden waren?«
»Ja. Und er hat überlebt. Als der Krieg zu Ende war, ist es ihm gelungen, nach Südamerika auszuwandern. Er war in Mexiko, Argentinien … was weiß ich. Er ist viel rumgekommen, bis er schließlich in Kolumbien Fuß gefasst hat, in einer Stadt namens Medellín. Dort hat er sein Glück gefunden. Erinnerst du dich, dass er sich gut mit Blumen auskannte? Er hat in einem Gartenbauunternehmen angefangen und sich hochgearbeitet, der Chef hat ihn ins Herz geschlossen, er hat die Tochter geheiratet, ist Vater geworden …«
»Jesses, Maria und Josef.« Blanca bekreuzigte sich.
»Vor etwas mehr als zwanzig Jahren hat er mir einen Brief geschickt. Nicht mit der Post, über einen Boten. Er hat nichts und niemandem vertraut. Kannst du dir vorstellen, was passiert wäre, wenn Tobias mir einen Brief aus Kolumbien gebracht hätte, selbst wenn er keinen Absender gehabt hätte? Am nächsten Tag hätte es das ganze Dorf gewusst. Wenn er nicht sogar auf den Gedanken gekommen wäre, ihn über Dampf zu öffnen.« Sie legte sich eine Hand auf die Brust. »Ein Freund, der in Spanien Station machte, hat ihm den Gefallen getan. In dem Brief hat er mir alles erzählt und mir Anweisungen gegeben, was ich tun soll: nach Madrid fahren, ein Bankkonto eröffnen, damit er mir Geld schicken kann, kleinere Beträge, damit die Finanzbehörden und solche Leute keinen Verdacht schöpfen. Ich sollte auch ein Postfach mieten, damit er mir problemlos jeden Monat schreiben kann.«
»Und seit zwanzig Jahren …«
»Ja.«
»Jesses, Maria und Josef«, wiederholte Blanca. Sie bekam den Mund gar nicht mehr zu.
»Ich durfte niemandem etwas sagen, auch der Familie nicht. Es tut mir leid. Wirklich. Aber wenn du dich vor deiner Mutter versehentlich verplappert hättest, wären wir geliefert gewesen, verstehst du?«
»Ich hätte mich nicht verplappert.« Blanca wurde ernst.
»Ich habe nur getan, worum er mich gebeten hat. Erinnere dich, wie man mit den Kindern und Angehörigen von Kommunisten in der Nachkriegszeit umgegangen ist. Als hätten wir die Krätze, oder als würden wir stinken wie die Pest. Und nicht nur in der Nachkriegszeit. So viel Hass, so viel Verachtung. Sogar der Priester in seiner frommen, heuchlerischen Nachsichtigkeit sprach von ›Vergebung‹, als hätten wir etwas Schlimmes getan.« Virtudes zuckte mit den Schultern und senkte den Blick. »Ich wollte mich schützen, das ist alles. Aber er hat geschrieben, wenn ihr irgendetwas braucht, würde er es euch zukommen lassen. Er hat immer nach euch gefragt, und ich habe ihm von euch berichtet. Ich habe nie über meine Verhältnisse gelebt, um keinen Verdacht zu erregen.«
»Hin und wieder hast du dir doch was Besonderes gegönnt, und ich habe mich gefragt, wie du dir das leisten kannst.«
»Du hast mir nie was davon gesagt.«
»Weil ich diskret bin.«
»Du und diskret?« Virtudes musste schmunzeln.
»Aber ja.«
Sie sahen sich lange an, bis sie beide lachen mussten.
Sie schwiegen eine Weile einvernehmlich, dann sagte Blanca:
»Rogelio ist am Leben.«
»Und glücklich obendrein. Er hat eine bildhübsche Frau und eine wunderbare Tochter.«
»Und er ist reich.«
»Ja«, seufzte Virtudes.
»Sehr?«
Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Das war auch nicht nötig.
Und so sagte Blanca zum dritten Mal an diesem Abend, mit noch mehr Inbrunst als vorher:
»Jesses, Maria und Josef.« Und fügte dann hinzu: »Erst das mit Eloísas Mann, der fünfunddreißig Jahre lang keinen Fuß vor die Tür seines Hauses gesetzt hat und von einem Tag auf den anderen wieder auftaucht, und jetzt das!«
»Unglaublich, in der Tat.«
»Der verdammte Krieg.« Blanca schluckte.
Wieder kehrte Schweigen ein. Blanca dachte an Eustaquio. Virtudes an ihren Bruder, der überlebt hatte, und an ihren Vater und ihren anderen Bruder, die beide tot waren, verscharrt in einem Grab, von dem keiner wusste, wo es sich befand, weil die Mörder dichtgehalten hatten.
Die Geheimnisse des Berges.
»Virtu«, sagte Blanca unvermittelt.
»Ja?«
»Warum hattest du es auf einmal so eilig, mir das alles zu erzählen?«
Das war die Frage, auf die sie die ganze Zeit gewartet hatte.
Vor der sie am meisten Angst hatte.
Und obwohl es in ihr brodelte, sagte sie wie selbstverständlich:
»Rogelio kommt zurück ins Dorf, Blanca. Deswegen.«