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Catherine Gray

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4. Auflage 2021

© 2019 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Die englische Originalausgabe erschien 2017 bei Octopus Books unter dem Titel The Unexpected Joy of Being Sober. © 2017 by Catherine Gray. Published by arrangement with Furniss Lawton. All rights reserved.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Elisabeth Liebl

Redaktion: Susanne Schneider

Umschlaggestaltung: Maria Wittek, dem Original nachempfunden

Umschlagabbildung: Shutterstock.com/VectorPot; amiak

Satz: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

Druck: CPI books GmbH, Leck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-86882-958-7

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-264-4

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-265-1

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

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INHALT

Vorwort

Einführung

I
Das allnächtliche Absteigen in die Unterwelt

Aufwachen hinter Gittern

Verloren im Untergrund von Soho

Fehlgeschlagene Versuche

Selbstmitleidsorgien für eine Darstellerin

Körperliche Abhängigkeit

Überzeugungsarbeit am Tiefpunkt

II
Lernen, nüchtern zu sein

30 Tipps für die ersten 30 Tage

Ein Krebsabstrich versetzt mich in Entzücken

Addictive Voice Recognition – Die Stimme der Sucht erkennen

Die überraschenden Sonnenseiten des Nüchternseins

III
Natur statt Nachtklub

Tod eines Partygirls

Die Cinderella-Technik

Ausgeknockt von Margaritas

Hallo, schüchterner Teenager

Verlockende Wasserfälle und Bäume

Kinder und Tiere wissen Bescheid

Ferien

IV
Netter sein

Die Sache mit der Dankbarkeit

Ich gebe meinen allerliebsten Killersport auf

Meine Nettigkeitsoffensive funktioniert

V
Nüchtern unter Menschen

Der Umgang mit Leuten, die Alkohol trinken

Wie sag ich’s den Leuten?

Soziale Kontakte in HD

Warum ich es wirklich jedem sage

Spickzettel fürs Tanzen ohne Promille

Auf allen Hochzeiten tanzen

VI
Ein alkoholfreies Gehirn in einem alkoholfreien Körper

Das Gehirn wird wieder fit

Die körperlichen Segnungen eines alkoholfreien Lebens

VII
Dating und Sex

Ich gebe meine Trinkerklamotten weg

Betrunkene Freundin versus nüchterne Freundin

Nüchtern daten

Blümchensex

VIII
Die Dinge nehmen, wie sie sind – ohne Alkohol

Ein Leben, das meine kühnsten Träume übertraf

Mein »Leben jenseits meiner kühnsten Träume« zerbricht

Die Kummer-Strecke

IX
Abkoppeln von der Alkohol-Matrix

Die Gesellschaft als Alkoholdealer

Achtsamkeit hindert mich am Durchdrehen

X
Der Schluckspecht von A bis Z

Der Trinker – Mythos und Wirklichkeit

Trockene Helden und was sie zu sagen haben

XI
Entscheiden Sie sich für Ihr höchstpersönliches Trocken-Abenteuer

Die freie Entscheidung: Nüchternsein

Ein Brief an meinen Inuit

Spür die Angst vor dem Trockenwerden und mach es trotzdem

Ich erwache in meinem schönsten Traum

Nachwort

Danksagung

VORWORT

Joan Didion, die supercoole amerikanische Schriftstellerin, sagte mal: »Ich weiß nicht, was ich denke, bis ich anfange, es aufzuschreiben.« Genauso erging es auch mir. Ich wusste nicht, was ich übers Trinken und Nüchternsein dachte, bis ich anfing, darüber zu schreiben.

Eigentlich wollte ich kein Buch schreiben. Überhaupt nicht. Würde ich eine Zeitreise zurück ins Jahr 2013 machen, zu meinem trinkenden Ich, das verzweifelt versucht, seine leeren Flaschen zu verstecken, seine zitternden Hände und seine zerrissene Seele, und hätte ich diesem Ich gesagt: »Du wirst einmal ein Buch über diesen Tag schreiben«, mein damaliges Ich hätte vor Scham aufgeheult.

Mein Ich von 2013 wäre am liebsten wie ein Chamäleon mit der Tapete verschmolzen. Ganz sicher hätte es sich nicht in die Öffentlichkeit gewagt, ein Schild um den Hals mit der Aufschrift: »Nüchtern!« Es ist wirklich eine erlesene Ironie des Schicksals, dass mein jahrelanger Traum, ein Buch zu schreiben, ausgerechnet über den Teil meines Lebens wahr wurde, den ich jahrelang nach Kräften zu verbergen suchte. Aber ich weiß Ironie ja zu schätzen.

Ich verfasste lange Posts und Kommentare für geheime Abstinenzlergruppen auf Facebook. Bald merkte ich, dass mir das half, besser mit meinen eigenen inneren Konflikten umzugehen. (»Trink endlich!« – »Trink nicht!« – »Jetzt trink schon!« – »Trink nicht!«) Wenn ich solche Posts geschrieben hatte, hatte ich weit weniger Lust auf Alkohol. Es fühlte sich immer ein bisschen so an, als hätte ich den Wirrwarr in meinem Kopf vor mir auf den Tisch gekippt und die Puzzleteile fein säuberlich zusammengesetzt, bis sie ein Bild ergaben. Also fing ich an, auch einfach für mich zu schreiben. Ich weiß noch, wie ich – ich war gerade zwei Wochen lang trocken – mich zum Schreiben hinsetzte und innerhalb kürzester Zeit 3000 Worte zu Papier brachte. Als hätte man im Garten den Wasserschlauch aufgedreht. Booah, das war so eine Erleichterung. Also tat ich es wieder und wieder und wieder, bis ich gut 200 000 Worte beisammen hatte. Dummerweise alles kompletter Unsinn, woraus ich dann ein Buch bastelte.

Es hat drei Jahre gedauert, aus den einzelnen Versatzstücken dieses Buch zu machen. Während der ersten zwei Jahre wollte ich es zwar veröffentlichen, aber unter einem Pseudonym. Ich sagte zu den Leuten: »Ich kann darüber nicht reden. Über den Tatterich, das Trinken schon am Morgen, über die Promiskuität, über das feine Klingeln der Flaschen in meiner Einkaufstasche. Nicht unter meinem richtigen Namen. AUF GAR KEINEN FALL.«

Dann aber wurde mir allmählich bewusst, dass die Leute, die ich unter uns Trockenen am meisten bewunderte, eben jene waren, die den Mut gehabt hatten, aus dem Schatten herauszutreten. Die sich ganz und gar geoutet hatten. Mich inspirierte die »Ich bin nicht anonym«-Bewegung mit ihren wunderbar menschlichen Porträts.1 Und ich begriff: Wenn ich mich hinter einem falschen Namen versteckte, dann hieße das, dass eine Alkoholsucht zu entwickeln und trocken zu werden Dinge sind, deren man sich schämen muss. Und das ist nicht der Fall. Ich empfinde kein bisschen Scham mehr. Offen über diese Dinge zu schreiben war nicht immer leicht. Aber große Taten zu vollbringen fällt ja keinem leicht.

Im Schatten aber haust das Stigma. Also fangen wir an, das Flutlicht aufs Trockenwerden zu richten. Alkohol ist eine Suchtdroge. Man muss sich nicht schämen, wenn man nicht vermag, ihn in Maßen zu trinken. Sie sind nicht allein, wenn Sie es nicht schaffen, es bei ein oder zwei Gläsern zu belassen. Sie sind nicht kaputt. Oder schwach. Tatsächlich sind Sie Teil der Mehrheit. Zwei Drittel der Briten trinken mehr, als sie wollen.

Äußerungen wie »Ich trinke nicht«, »Ich bin total abstinent« oder »Ich trinke gerade nicht« sollten in unserer Gesellschaft genauso normal sein wie »Ich esse kein Fleisch«, »Ich rauche nicht« oder »Ich verzehre gerade keine Milchprodukte«. Was soll schon komisch daran sein, wenn man etwas für seinen Körper und sein Wohlbefinden tut?

Wie wir als Gesellschaft übers Trinken denken, ist schräg. Trinken ist nicht unvermeidlich. Oder zwanghaft. Wir brauchen kein Rezept, um uns davon abzuhalten, in Wein zu schwimmen. Wir müssen nicht Auto fahren, um »Nein danke« sagen zu können. Und es sind nicht nur trockene Alkoholiker wie ich, die sich zu einem Leben ohne Alkohol entschließen können.

Eine Art kollektiver Scham verstellt den Blick auf die klare Erkenntnis, dass der Alkohol uns »scheitern« lässt. Wir sind auf dieses Arme-Sünder-Gefühl förmlich konditioniert. Wir sind darauf trainiert, unseren Kampf mit dem Alkohol zu verbergen. Es ist höchste Zeit, dass sich das ändert. Natürlich ist das ein hochgestecktes Ziel, aber ich hoffe, dieses Buch wird dazu beitragen, dass sich der Blick der Menschen aufs Nüchternsein ändert, sodass sich immer öfter Gespräche ergeben, in denen es heißt: »Ich trinke zu viel und habe keine Ahnung, wie ich damit aufhören soll.« Statt das Nüchternsein nur als Krücke gescheiterter Trinker zu betrachten, sollten wir lernen, es als Normalzustand zu sehen. Denn dafür können wir uns entscheiden.

Ich könnte ja nun behaupten, ich hätte das Buch ganz selbstlos einzig zum Wohle aller Trinker dieser Welt geschrieben. Dass ich mich schonungslos gemartert hätte, um meine zweifelhafte Vergangenheit zu Papier zu bringen, damit andere Menschen erkennen, wie irre es ist, nüchtern zu sein. Aber ich habe das genauso für mich selbst getan wie für Sie. Dieses Buch zu schreiben hat mir enorm geholfen. Also herzlichen Dank dafür, dass Sie mich in Ihr Haus bitten. Dafür, dass Sie dieses Buch kaufen, das mich zu einer fröhlichen Trockenen gemacht hat und es mich bleiben lässt.

Catherine

EINFÜHRUNG

Nüchtern

Adjektiv

  1. nicht betrunken
  2. ernsthaft, sachlich und vernünftig
  3. gedeckt, gedämpft

Synonyme: nicht unter Alkoholeinfluss stehend, leidenschaftslos, geschäftsmäßig, streng, puritanisch, unromantisch, platt, spartanisch, konservativ, wenig abenteuerlustig, ruhig, trostlos

Antonyme: betrunken, unbeschwert, frivol, effekthascherisch, emotional, umwerfend2

Genau das dachte ich 20 Jahre lang: »Scheiß drauf. Nüchtern zu sein ist doch total öde. Ich will nicht in dieser grauen, geschäftsmäßigen, kalten und wenig abenteuerlustigen Welt leben. Ich will mein Leben in Technicolor, reißerisch, ganz das Gegenteil von nüchtern. Machen wir doch noch ’ne Flasche auf!«

Als Teenager hatte ich einen selbst gemachten Bilderrahmen über meinem Bett hängen. Darin prangte ein Foto von mir und meinen Freunden. Wir hatten uns aneinandergekuschelt wie Katzenbabys und guckten leicht bedröhnt aus der Wäsche, nachdem wir uns als 13-Jährige nach einem Elastica-Konzert in einen Klub geschmuggelt hatten. Rund um das Foto hatte ich Sterne in Neonfarben geklebt, und darunter leuchtete in meiner ausladenden Handschrift mein Wahlspruch: »Die Wirklichkeit ist eine Halluzination, die auf dem Mangel an Alkohol beruht!« Warum sollte man auch nüchtern sein, wenn man sich betrinken konnte?

Der Alkohol hatte lange Zeit einen Thron in meiner Welt inne. Wir salbten ihn zum Spaßkönig, zum Freudenspender, zur goldenen Quelle sozialer Fähigkeiten. Wann immer etwas Tolles geschieht, feiern wir – und wir assoziieren das Feiern mit dem Plopp, dem Sprudeln und dem Gluckern der Champagnerflasche. Das Nüchternsein hingegen entlockt uns höchstens mal ein müdes Gähnen. Derartige Mangelerscheinungen wollen wir doch lieber vermeiden. Es gibt da doch diese lustigen Meme, in denen es heißt: »Es hat schon seinen Grund, dass ›nüchtern‹ und ›schüchtern‹ sich reimen.« Auf Grußkarten liest man so launige Sprüche wie »Wein: wie eine Umarmung von innen«. Und Kneipen-Webseiten locken plakativ: »Alkohol. Denn keine wirklich große Liebesgeschichte fing je mit Salat an.«

Super! Trinken ist also göttlich und Nüchternsein gruslig. Kapiert!

Doch wenn das Trinken so toll ist, wenn es soziale Kontakte so sehr fördert, ja sogar Liebesgeschichten schreibt, warum wollen es dann so viele sein lassen?

Der Grund, warum die Statistik das Hohelied des Trinkens nicht bestätigt, ist ganz simpel: Es ist nicht toll! Wo es um Alkohol geht, hat unsere Gesellschaft ihren blinden Fleck. Man hat uns eine Gehirnwäsche verpasst, die uns glauben machen soll, Alk sei spitze. Die uns wie die Lemminge einer hinter dem anderen in die Kneipe rennen lässt, obwohl wir tief drin wissen, dass Alkohohl nur »hohl« macht. Wir wissen, dass er nicht gut für uns ist. Er verursacht schlimmste Kater und Angstzustände, die uns Schauer über den Rücken jagen. In Großbritannien tötet er mehr Menschen als der Verkehr. Und doch prosten wir uns ständig zu, drängen andere, mitzutrinken, und versuchen, selbst schwangere Frauen zu überzeugen, dass ein »Gläschen in Ehren« ja nicht schaden kann.

Warum tun wir so was? Weil das Nüchternsein einen schlechten Ruf hat. »Du trinkst nichts? Ach, jetzt sei doch nicht so ein Langweiler.« Wenn Sie in der Kneipe einen Softdrink bestellen, werden Sie ausgebuht. Und sprachliche Bilder wie »stocknüchtern« oder »nüchtern wie ein Stockfisch« bestärken die Leute noch. Niemand will doch ein kalter Stockfisch sein oder steif wie ein Stock.

Nüchtern sein nervt, oder?

2013 wurde mir klar, dass ich hoffnungslos alkoholsüchtig war. Ich merkte, dass ich, wenn ich so weitertrank, bald Billigwein in irgendeiner Absteige saufen würde, weil ich alle meine Freunde und Angehörigen vertrieben hätte. Von meinem Beruf gar nicht zu reden. Im Grunde war das Selbstmord auf Raten. Ich hatte plötzlich eine Eingebung: Wenn ich nicht mit dem Trinken aufhörte, würde ich niemals das Leben führen können, das ich mir wünschte.

Aber das Trinken aufzugeben hörte sich nach einem heftigen Verlust an. Nach einem Trauerfall. Ich war überzeugt, dass das Trinken mein Leben mit Spaß und Lachen erfüllte. Ich dachte: »Ich werde nie wieder ein Date haben, tanzen, eine Party feiern oder mich total entspannen können.«

Zu meinem Erstaunen entdeckte ich, dass die eigentliche Definition eines nüchternen Lebens so aussehen sollte:

Nüchtern

Adjektiv

  1. nicht betrunken
  2. scharfsinnig, freudvoll und gelassen
  3. gedeckt, gedämpft

Synonyme: nicht vergiftet, authentisch, rücksichtsvoll, gütig, schlagfertig, ausgeruht, klug, abenteuerlustig, aufregend, fähig, verlässlich, witzig

Ich kam dahinter, dass ich nüchtern eine Million Mal glücklicher war als je zuvor in alkoholisiertem Zustand. Und dass ich buchstäblich Hunderte nüchterner Freunde hatte, die ich auf dem Weg dorthin auflas. Ich fand heraus, dass mein Tag mehr Stunden hatte, ich mehr Energie und außerdem 23 000 britische Pfund mehr Geld (über vier Jahre gerechnet). Meine Familienbeziehungen besserten sich. Ich hatte eine schönere Haut, einen definierteren Körper, zum ersten Mal gebräunte Beine, und ich entwickelte die Fähigkeit, acht Stunden am Stück durchzuschlafen. Das bescherte mir ein tiefes Gefühl des Wohlbefindens, eine durch und durch positive Weltsicht und viel Erfolg in beruflicher Hinsicht. Was war daran so übel?

Ich steckte nicht mehr länger im Teufelskreis von »Trink, was reingeht! Stopf dich mit halben Hühnern voll! Quäl dich durch den Arbeitstag! Und dann das Ganze wieder von vorn!«. Mein Leben war auf diesen traurigen kleinen Zyklus zusammengeschrumpft. Nüchtern fühlte ich mich plötzlich frei! Meine Welt wurde weiter. Ich gab mein ganzes gespartes Geld für Reisen aus. Ich lernte viele neue Menschen kennen, die zu Freunden wurden. Und ich hörte (endlich) auf, emotional nicht verfügbare Idioten zu daten. Ich lernte sogar, in nüchternem Zustand in der Öffentlichkeit ein Tänzchen hinzulegen.

»Nüchtern wie ein Stockfisch« – den kalten Fisch sollte man aus diesem Ausdruck unbedingt entfernen. Wie wäre es mit »nüchtern wie ein Sommertag«? Denn genau so fühlt es sich an. Die Schönheit des Tageslichts, die Klarheit und die echten sozialen Kontakte. Ja, Sie können sich nicht länger mit Alkohol vom sozialen Level »Unsicherheit« hinaufbeamen zum Level »Ich mach den Pogo auf der Tanzfläche«. Sie müssen schon lernen, wie Sie sich selbst über Ebene 3 bis zu Ebene 7 und höher vorarbeiten, statt die dunklen Künste der Suchtdroge zu nutzen. Aber sobald Sie die Superkraft »soziale Kontakte voll nüchtern« erworben haben, geht sie Ihnen nie wieder verloren. Und Sie werden ganz sicher nicht zurückwollen.

Natürlich gibt es Dinge, die ich nicht mehr tun kann, seit ich trocken bin. Punkt, aus. Zum Beispiel: Typen knutschen, die ich schrecklich finde; Zeit mit Leuten verbringen, die ich eigentlich nicht mag; vor 90 Leuten den Macarena machen; zu Musik tanzen, die mir nicht gefällt; und über Scherze lachen, die ich nicht witzig finde. Hmmmm. Kein allzu großer Verlust, oder?

Großbritannien nüchtert sich aus

Tatsächlich bin ich nicht die Einzige, die sich die unerwartete Freude des Nüchternseins gönnt. Und die dahintergekommen ist, dass es weit einfacher ist, nichts zu trinken als »in Maßen«.

Alkohol ist ein hochgradig suchterregender Stoff. Das heißt, er schmeckt nach mehr, wie das bei allen Suchtdrogen der Fall ist. Man erzählt uns, wir sollten in der Lage sein, »mäßig« zu trinken. Wenn wir uns dann an die wöchentlich empfohlenen Mengen nicht halten können (und ich habe locker eineinhalb Flaschen Wein jeden Abend getrunken), fühlen wir uns als Versager. Und begraben diese Verdrossenheit tief in uns.

Ein Drittel der Menschen, die regelmäßig Alkohol zu sich nehmen, machen sich Sorgen, dass sie zu viel trinken. Aber 51 Prozent dieser Leute unternehmen nichts dagegen. Vermutlich fühlen sie sich dazu nicht in der Lage. Kommt Ihnen das bekannt vor? Nun, Ihre mangelnde Fähigkeit, nur eineinhalb Flaschen Wein pro Woche zu trinken, ist tatsächlich der Normalfall. Weil Alkohol eine Suchtdroge ist. Ganz einfach.

Ein Viertel der britischen Frauen und ein Fünftel aller Briten leben mittlerweile gänzlich abstinent. An allen Ecken und Enden werden »Trocken-Bars« eröffnet und Nachtklubs geschlossen. Der Sober Rave, zum Beispiel der Morning Gloryville, ist der letzte Schrei. Die Ausgaben für Alkohol, Zigaretten und Drogen in Großbritannien haben ein All-Time-Low erreicht: 12 Pfund die Woche.

Konzernriesen wie Diageo (denen zum Beispiel die Guinness-Brauereien gehören) haben den Trend erkannt und werfen immer mehr nicht alkoholische Drinks wie Seedlip Spice auf den Markt. Zeitschriften wie der Stylist schreiben: »Keinen Alkohol zu trinken und keine Drogen einzuwerfen ist heute ein Statussymbol.« Die Modezeitschrift Grazia bringt Artikel über die Sober-Curious-Bewegung, und Frauenzeitschriften wie Elle zitieren Ärzte mit der Warnung, dass Alkohol schlecht für die Haut sei. Selbst der Guardian titelt: »Nüchtern ist das neue Voll.« Und die Huffington Post legt nach: »Warum nüchterner Sex sehr viel besser ist als sein Ruf.« Sogar Men’s Health meint: »Unter Alkoholeinfluss neigen Männer dazu, ihre Schlüssel zu verlieren, ihr Auto und ihre Würde.«

Die sogenannten Millennials, die man auch Generation Y nennt, sind die Speerspitze der nüchternen Revolution. Nur drei Prozent der jungen Leute meinen, dass Trinken »ein wesentlicher Teil ihres Sozialverhaltens« ist. Das ist ein gewaltiger Wandel im Vergleich zur Generation davor. Von den Millennials entscheiden sich 40 Prozent mehr für ein völlig abstinentes Leben. Das ist für sie so normal wie auf Milchprodukte zu verzichten oder vegan zu leben. Oder morgens eine Stunde auf dem Fahrrad zu trainieren und dann gemeinsam zu brunchen, statt abends Party im Klub zu machen. Es ist heute ganz normal, ja sogar cool, nüchtern zu bleiben.

Sobald Sie die Welt einmal mit nüchternen Augen gesehen haben, wird klar, dass die meisten Menschen zwar nach einem Drink lockerer werden, lässiger und schlagfertiger. Aber nach dem dritten Glas bekommt das Gold der sozialen Alchemie plötzlich Flecken. Die Lockerheit wirkt schmuddelig, das Lachen wird zu laut, die Witze werden dreckig, und das Selbstvertrauen schlägt in Arroganz um. Die Wimperntusche verläuft, man wird unangemessen anhänglich. Die Nebenstehenden wünschen sich meist, man könnte den Wein aus den Betroffenen wieder herauspumpen, um sie auszunüchtern. Die meisten Leute fühlen sich nach ein paar Drinks charmanter, sexyer, witziger und irgendwie unbesiegbar. Bei mir war das so. Aber das ist eine Illusion, die die Droge Ihnen einflüstert. Nur weil wir uns so fühlen, heißt das noch lange nicht, dass wir es auch sind.

Der Weg von der Trunkenheit zum Nüchternsein

Worum also geht es in diesem Buch? Ich werde Sie mitnehmen auf meinen Weg von der vollen Strandhaubitze zum nüchternen Menschen. Anfangs wird es ziemlich krass, also halten Sie sich fest und bleiben Sie dabei, wenn wir die Wasserfälle des morgendlichen Saufens und der Gefängniszellen hinunterstürzen. Wir werden wie auf der Wildwasserbahn mit Blitzgeschwindigkeit hineinsausen in den Abgrund der Selbstmordgedanken.

Dann aber werden wir etwas machen, was die meisten antialkoholischen Selbsthilfebücher (im Jargon »Quit Lit« genannt) bedauerlicherweise nicht tun: Wir werden die Untiefen des »Warum Trinken schrecklich ist« verlassen und fröhlich dahinschippern auf einem fast Disneyland-mäßig gemütlichen Fluss namens »Warum es nüchtern einfach besser ist«. Im Großteil dieses Buchs geht es aber nur um eines: Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage.

Wir werden uns ansehen, warum das »mäßige« Trinken so schwierig ist und warum die meisten Menschen es nicht schaffen, bei einem oder zwei Drinks zu bleiben. Wir werden von Experten hören, was der Alkohol in Gehirn und Körper anrichtet. Das ist ein bisschen so, als würde man einen Benziner mit Diesel betanken. Und wir werden sehen, wie introvertierte Menschen sich häufig extrovertiert saufen, statt einfach ihre ruhigere und nachdenklichere Natur anzunehmen.

Wir werden staunen, wie sehr die Gesellschaft uns immer wieder zum Trinken animiert. Zum Beispiel mit der Werbung für alkoholische Getränke oder mit dem Bild von Hollywoodstars, die sich gepflegt einen hinter die Binde kippen. Wir werden nachforschen, warum es so viel schwerer ist zu sagen »Ich trinke nicht« als »Ich rauche nicht« oder »Ich kokse nicht«. Wir werden uns darüber unterhalten, warum Sie sich für Ihre Entscheidung, nicht zu trinken, nicht entschuldigen müssen. Und warum Sie sich dabei nicht als Spaßbremse vorkommen müssen. Wir werden uns hineinversetzen in das Wahnsinnsgefühl, endlich keinen Kater mehr zu haben. Und ich werde Ihnen erzählen, wie es sich anfühlt, zum ersten Mal nüchtern zu einer Hochzeit zu gehen, mit dem Verlust des Arbeitsplatzes fertigzuwerden oder jemanden zu küssen.

Aber es ist allein Ihre Sache, was Sie mit der anderen Wirklichkeit anfangen, die ich Ihnen hier zu Füßen lege. Mir ist schon klar, dass die meisten Menschen, die dieses Buch lesen, kein Interesse daran haben, hundertprozentig auf Alkohol zu verzichten. Ich weiß das. Ich habe fünf Jahre lang versucht, den Alkohol als Teil meines Lebens zu behalten, als es schon längst an der Zeit gewesen wäre, ihm die Tür zu weisen. Das ist wie eine dieser Beziehungen, aus denen man irgendwie nicht herauskommt.

Manche Menschen lesen ein Buch über vegane Lebensweise und beschließen, von nun an zu 80 Prozent vegan zu leben. Das könnte bei Ihnen so ähnlich sein – acht von zehn Tagen nüchtern. Vielleicht wollen Sie ja auch nur mal drei Monate am Stück trocken bleiben. Vielleicht hat Ihr Trinken ja keine anderen Folgen als gelegentlich einen Kater. Vielleicht sind Sie ja auf der Suchtskala nur eine Vier, während ich eine glatte Neun – die höchste Stufe – war. Es ist nicht meine Aufgabe, Sie zu überzeugen, das Trinken aufzugeben.

Alles, was ich will, ist, Ihnen zu zeigen, wie Ihr Leben aussehen würde, wenn Sie es tatsächlich ließen. Ihnen zu sagen: Warum nicht? Versuchen Sie’s doch mal für eine gewisse Zeit. (Ich empfehle allerdings mindestens 90 Tage.) Dann können Sie sich immer noch entscheiden. Ich persönlich finde, dass das Nüchternsein eine prima Sache ist. Denn warum eine Droge nehmen, wenn man ohne so viel besser zurechtkommt, aussieht und sich fühlt?

Ich habe Ihnen so viel zu sagen. Legen wir los!

I
DAS ALLNÄCHTLICHE ABSTEIGEN IN DIE UNTERWELT

AUFWACHEN HINTER GITTERN

Sommer 2007

Beim Aufwachen friere ich. Die Matratze ist gerade mal einen Zentimeter dick. Mein Kopf liegt an einer kahlen Betonwand. Über mir eine nackte Glühbirne. Ich blinzle in das unbarmherzige Licht wie ein Vampir, der vor der Sonne zurückschreckt. Wo zum Teufel bin ich? Mühsam setze ich mich auf, stütze meinen Kopf in die Hände. Uff, das tut weh. Wenn ich jetzt eine Comicfigur wäre, würden Sterne um meinen Kopf tanzen.

Ich sehe Gitter vor den Fenstern. Und davor eine Ziegelwand. Sieht aus, als befände ich mich in einer Gefängniszelle. Das kann doch nicht wahr sein.

»Entschuldigung«, rufe ich durch eine sicher meterdicke Tür.

Keine Reaktion.

»ENTSCHULDIGUNG!«, rufe ich in gebieterischem Ton, als wäre ich im Restaurant und wartete aufs Essen.

Ein Polizeibeamter öffnet die Luke mit einem Klacken und späht zu mir herein.

»Wo bin ich?«, frage ich.

»Polizeistation Brixton«, antwortet er geduldig.

»Wieso das denn?«

»Sie wurden letzte Nacht wegen Trunkenheit und Störung der öffentlichen Ordnung verhaftet. Eine Polizeibeamtin versuchte, sie nach Hause zu bringen. Sie sagten ihr, sie solle sich verp...«

Ich atme kurz durch, die ganze Misere meiner augenblicklichen Lage kriecht mir ins Gebein. Ich erinnere mich nur bruchstückhaft. An einen netten, aber müden Arzt, der mich fragte, wie viel ich denn getrunken hätte, und der mich bat, die gerade Linie auf dem Boden entlangzugehen. An eine Polizeibeamtin kann ich mich überhaupt nicht erinnern.

»Na ja. Kann ich jetzt gehen?«

»Nein. Der Arzt meinte, Sie wären erst um neun Uhr nüchtern genug, um nach Hause zu gehen.«

»Aber ich muss um 9:30 Uhr im Büro sein! Ich muss den Zug um 8:30 Uhr erwischen.«

»Tut mir leid, aber so sind die Bestimmungen ... Sie sind doch eigentlich ein ganz nettes Mädchen. Warum haben Sie denn so viel getrunken?«

Darauf habe ich keine Antwort. Tatsache ist, dass ich nicht wüsste, was ich auf sein »Warum« antworten sollte. Ich habe einfach nie das Gefühl, die Wahl zu haben. Sobald ich was trinke, mache ich das richtig. Und in 99,9 Prozent der Fälle bin ich danach komplett abgefüllt. Voll wie eine Strandhaubitze. Blau. Wenn ich das Weinglas einmal hebe, so scheint es, mache ich das so lange, bis ich es eben nicht mehr heben kann – weil ich kein Geld mehr habe, eine Freundin mich nach Hause bringt oder alle Bars geschlossen haben. Oder weil ich bewusstlos in einer Zelle liege.

Überhaupt bin ich empört. Wieso werde ich eingesperrt, nur weil ich ein paar Schimpfwörter gebraucht habe? Wird nicht immer behauptet, wir hätten Meinungsfreiheit? Oder haben das nur die Amerikaner? Ich muss dringend mal pinkeln, aber die einzige Gelegenheit in der Ecke bietet nun wirklich keinerlei Privatsphäre. Der Typ könnte schließlich die Luke wieder öffnen. Ich fühle mich wie ein Tier im Käfig.

Heute ist ein ganz normaler Werktag! Ich müsste also bei der Arbeit sein. Ich müsste mich duschen. Versuchen, mein Haar wieder halbwegs in Form zu bringen nach den Schäden von letzter Nacht. Um neun Uhr vormittags lassen sie mich dann endlich gehen. Ich muss 90 Pfund (damals ungefähr 135 Euro) Strafe zahlen, aber ich werde keine Anzeige bekommen und muss auch nicht vor dem Kadi erscheinen. Ich bin also noch mal glimpflich davongekommen. Ich sollte dankbar sein. Stattdessen koche ich vor Wut.

»Ich hole nur Ihre Sachen«, sagt einer der Polizisten zu mir.

Irgendwas scheint ihn zu amüsieren. Er sieht jedenfalls so aus, als bemühe er sich krampfhaft, sich das Lachen zu verbeißen.

Während ich warte, bis er zurückkommt, knurre ich vernehmlich, um mein Missfallen zu bekunden. Nun, immerhin scheine ich meine Handtasche noch zu haben. Wenigstens etwas.

Er überreicht mir einen Plastiksack, wie man ihn für das Sammeln von Beweismitteln verwendet. Drinnen ist eine winzige, wassermelonenrosa glitzernde Kinderhaarbürste. EINE WINZIGE ROSAROTE HAARBÜRSTE. Das ist alles. Ich habe das Ding noch nie gesehen. Keine Handtasche, keine Schlüssel, kein Telefon, kein Geld, keine Kreditkarten, kein Garnix. Ich laufe vor Scham und Zorn rot an und stampfe aus dem Büro, laut schimpfend, dass ich Anzeige erstatten würde.

Ich komme trotzdem in meine Wohnung, denn mein Freiberufler-Mitbewohner ist noch nicht zu seinem Meeting unterwegs. »Meine Güte, was ist denn mit dir los?«, sagt er und tritt bei meinem Anblick vorsichtshalber einen Schritt zurück.

Ich krieche ins Bett und rufe vom Festnetzanschluss aus meinen Freund an, um ihm alles zu erzählen. (Er ist der Einzige, dem ich solche Geschichten je erzählt habe, bis ich dann trocken wurde.) Er meldet sich im Büro unter dem Vorwand ab, einen Notfall in der Familie zu haben, und fährt zu mir, um mich zu trösten. Ich weine mich an seiner Schulter aus. Darüber, wie unfair das alles ist. Natürlich habe ich mich betrunken auf dieser Betriebsfeier, auf der sämtliche Drinks gratis waren. Wer täte das nicht?! Hätte diese dumme Gutmenschen-Polizistin nicht versucht, mir zu helfen, dann hätte ich sicher nach Hause gefunden.

Vier Stunden später erscheine ich im Büro. Meine nette Chefin rief mich um 10:30 Uhr auf meinem Festnetzanschluss an und meinte, sie hätte gehört, es hätte mich gestern ein wenig erwischt. Ich solle mich ruhig ausschlafen, mir einen Tee machen und mich erholen, bevor ich ins Büro käme. Offensichtlich sehr tolerant. Die Leidensmiene aber, die sie aufsetzte, als ich durch die Bürotür trat, sagte deutlich, sie habe damit nicht einen halben Tag gemeint. (Bei einem späteren Mitarbeitergespräch sagte sie mir auf ihre freundliche, sanfte Art, sie wäre an jenem Tag von mir »sehr enttäuscht« gewesen. Die Untertreibung des Jahrhunderts.)

Gestern Abend hatten wir unser Sommerfest, somit ist es ein offenes Geheimnis, warum ich zu spät bin und warum ich so einen Kater habe, aber auf Verständnis stoße ich bei niemandem. »Wir sind ja schließlich auch alle pünktlich zur Arbeit gekommen, obwohl uns der Schädel brummt. Warum geht das dann bei dir nicht?«, fragte ein Arbeitskollege. Ich ziehe den Kopf ein und sehne den Feierabend herbei.

Ich versuche zu rekonstruieren, ab wann die Bilder meiner Erinnerung unscharf werden wie eine schwarzgebrannte DVD. Etwa gegen 21 Uhr muss das gewesen, als es noch hell war. Offensichtlich sind wir vom Pub weitergezogen ins Beach Blanket Babylon, eine toll ausgestattete Bar, die aussieht wie der Palast eines griechischen Gottes und den Jetset von Chelsea anzieht. Ich kann mich nicht erinnern, den Laden betreten zu haben. Offensichtlich hat man mich vor die Tür gesetzt, weil ich schon hackedicht war.

Dann nahm ich mir, wie ich erfuhr, mit ein paar Kollegen ein Taxi zurück nach Brixton, wo meine neue Wohnung liegt, die ich mir mit einem Mitbewohner teile. Aber ich konnte mich einfach nicht an meine Adresse erinnern. Keine Ahnung, wo ich wohnte. Also ließ man mich am Brixton Hill raus, ungefähr fünf Minuten von der Wohnung entfernt, weil ich mich erinnerte, dass es hier irgendwo sein musste. Und bei meinem Versuch, nach Hause zu krabbeln, hat sich wohl mein Weg mit dem der Polizistin gekreuzt. Die mich zu Recht wegen Trunkenheit und Störung der öffentlichen Ordnung verhaftete.

In Brixton, immerhin. Für all jene, die diesen Teil Südlondons nicht kennen: Es ist wirklich kein Leichtes, in Brixton wegen Trunkenheit und Störung der öffentlichen Ordnung verhaftet zu werden. 2007 war das ein Ort, an dem einen Dealer mit einem »Pssst« am Ausgang der U-Bahn-Station ansprachen – um 18 Uhr. So was um 21 Uhr zu bringen, das grenzte ja an Landfriedensbruch.

Das war jedoch lange bevor Brixton zur Heimstatt der Hipster-Gentrifizierer wurde, die sich von Chiasamen ernähren. Bevor die ganzen Vintage-Läden eröffneten und die Hochglanz-Nudelbars. Bevor man Cocktails in Marmeladengläsern servierte und die Plattenläden nur noch Vinyl verkauften, gleich neben den Pilatesstudios mit ihren schicken Reformer-Geräten zum Trainieren. Lichtjahre bevor die bärtige Elite Londons in ihren Hummern anrollte und die Preise nach oben trieb.

Damals war Brixton noch rußgeschwärzt. Seine Einwohner arm wie die Kirchenmäuse. Nach Brixton zog man, wenn man nirgendwo sonst etwas fand. Am Ende einer Nacht, am Ende der Straße, am Ende der Welt. In meine Lieblingspubs dort – das Dogstar, das Mango Landing und das Hootananny – kam man auch noch hinein, wenn man schon sternhagelvoll war. Aus diesem Grund waren es vielleicht meine Lieblingspubs.

Ich sah mal eine Frau, die um zwei Uhr morgens in Brixton aus dem Bus stieg, sich niederhockte, mal kurz kackte und dann wieder in den Bus stieg, als wäre das die normalste Sache der Welt. Als wäre sie nur mal schnell ausgestiegen, weil sie ihre Einkaufstasche vergessen hatte. Exzessiv zu saufen war in Brixton kinderleicht. Ich habe Leute im Park gesehen, die sich volllaufen ließen. Brixton war das Babel Londons, wo man selbst als total Irrer nicht auffiel, weil alle anderen rundum auch völlig durchgeknallt waren. Es gab immer einen, der noch besoffener und aggressiver oder verrückter war als du.

Man kann daher schon von einer ordentlichen Leistung sprechen, da es mir in jener Nacht gelang, das übliche bunte Häuflein von Zechern zu überbieten und mir einen Platz in einer der wenigen Ausnüchterungszellen zu sichern. Dazu bedurfte es schon eines gewissen auffälligen Verhaltens meinerseits.

Am Abend des Freitags, nachdem ich in der Zelle aufgewacht bin, trinke ich nichts. Am Samstag aber halte ich mich schon wieder gut ran. Natürlich. Ich finde, das habe ich mir verdient. Ich finde, es macht immer noch Spaß, selbst nach dieser schrecklichen Erfahrung, die noch keine 32 Stunden zurückliegt.

Mein Leben ist ein Zootrop geworden, Sie wissen schon, diese rotierenden Zylinder, bei denen man durch Schlitze schaut und der Illusion erliegt, dass sich da drin etwas bewegt. Dabei ist es immer dieselbe starre Abfolge von Bildern. Und gleich dieser starren Abfolge von Bildern fühlte ich mich festgefahren in immer derselben Sequenz von Ereignissen. Kismet eben, Schicksal. Trinken, Kater, sich winden angesichts der Folgen, Erholung, Trinken, Kater, sich winden ...

Es scheint, als gäbe es keine Befreiung aus diesem Hamsterrad. Wo gibt es hier einen Ausstieg? Wie schaffe ich es, mich aus dieser Sequenz zu lösen? Eine neue zu beginnen? Das ist so unvorstellbar, dass allein die Vorstellung im Gehirn schmerzt. Ich weiß einfach nicht wie. Also trinke ich weiter und mehr.