No Sweeter Summer
Roman
Ins Deutsche übertragen
von Yvonne Eglinger
Lila Harris weiß aus leidvoller Erfahrung, wie es ist, sich in den falschen Mann zu verlieben, und hat sich geschworen, diesen Fehler nie wieder zu begehen. Stattdessen will sie sich voll auf den Aufbau ihrer kleinen Werbefirma konzentrieren. Denn wenn es ihr gelingt, einen großen Kunden für sich zu gewinnen, ist sie endlich in der Lage, das Eiscafé ihres Großvaters vor dem Verkauf zu retten. Als Lila jedoch die Chance bekommt, ihr Talent unter Beweis zu stellen, steht sie vor einer schweren Entscheidung. Denn ihr Partner bei diesem Auftrag soll niemand anders als Sam Crawford sein, der attraktive und erfolgreiche Chef einer New Yorker Werbeagentur – und der Mann, der ihr das Herz gebrochen hat. Notgedrungen stimmt Lila zu, mit ihm zusammenzuarbeiten, nimmt sich aber fest vor, ihre Gefühle für ihn unter Kontrolle zu halten. Ein Vorsatz, der schwerer zu halten ist, als gedacht, denn auch Sam konnte Lila nie vergessen und bereut, dass er damals aus ihrem Leben verschwand. Jetzt ist er fest entschlossen, ihr zu zeigen, dass er sich geändert hat, und will sie für immer zurückgewinnen …
Lila Harris warf einen letzten Blick auf die altehrwürdige Kuckucksuhr an der Wand und wartete, dass das kleine Holztürchen sich öffnen und der geschnitzte blaue Hüttensänger hervorschnellen würde. Unter höchster Anspannung tickten die Sekunden dahin, bis …
Lila zuckte zusammen, wie immer, wenn die Uhr zu schlagen begann, und lachte leise auf. Sie atmete einmal tief durch, stand vom Stuhl auf und strich sich den Rock glatt. Die Umhängetasche auf ihrem Schreibtisch war fertig gepackt, die Nägel waren frisch lackiert, die Schuhe neu.
Als sie hinausging, hob ihre Assistentin aufmunternd den Daumen in die Höhe, und Lila lächelte zum Dank nervös, stieß die Eingangstür auf und eilte mit locker das Geländer streifenden Fingern das Treppenhaus hinunter. Unten angekommen, hielt sie gleich Ausschau nach einem Taxi. Die Sonne brannte auf den Asphalt und versprach einen weiteren warmen Tag. Lila hob schützend die Hand vors Gesicht und spähte die Straße hinunter.
»Hey, Lila!«, rief Jim Watson, dessen Anwaltskanzlei im zweiten Stock des Sandsteingebäudes in Lincoln Park lag, direkt über ihrem Büro. Er kam auf sie zu und lächelte. »Fühlt sich langsam richtig nach Sommer an, was?«
»Ja, endlich«, stimmte sie ihm zu und hob rasch die Hand, um einen nach Fahrgästen Ausschau haltenden Taxifahrer heranzuwinken. Die Dachanzeige leuchtete auf, und kurz beschleunigte sich ihr Puls. »Dir einen guten Appetit!«
Jim hob zum Gruß die Papiertüte mit seinem Mittagessen in die Höhe und stieg die Stufen zum Haupteingang hinauf. »Dir auch!«
Im Taxi war es heiß und stickig, aber wenn Lila die Augen schloss, konnte sie sich beinahe einbilden, sie säße am Strand, mit Sand zwischen den Zehen und Wind im Haar. Am Wochenende hatte sie eine Verabredung mit dem Michigansee. Aber heute … Ihr Magen zog sich angstvoll zusammen. Heute hatte sie eine Mission.
Das Taxi glitt durch Lincoln Park und folgte verschlafenen Wohnstraßen, in denen Mütter Kinderwagen vor sich herschoben und Nachbarn auf der Türschwelle ein Schwätzchen hielten, während ihre Kleinen tropfendes Eis am Stiel schleckten oder mit Kreide den Bürgersteig vollmalten. Schließlich bog der Wagen auf den Lake Shore Drive ein und beschleunigte. Lila versuchte, sich auf die Gebäude ringsum zu konzentrieren, auf die hübsche Architektur, die sie stets aufs Neue gern betrachtete, den Blick auf den See und dann auf den Fluss. Schließlich kam das Taxi sanft zum Stehen, und Lila reichte dem Fahrer einen Zwanziger, ohne das Wechselgeld zu verlangen, obwohl es ein großzügiges Trinkgeld war und sie derzeit jeden Dollar gut gebrauchen konnte. Doch wenn sie jetzt zögerte, würde sie am Ende noch die Nerven verlieren – in diesem Fall war Selbstbewusstsein alles.
Lila stieg aus dem Taxi in den Sonnenschein, verspürte einen stechenden Schmerz und biss sich auf die Unterlippe: An ihrer linken Ferse bildete sich gerade eine dicke Blase. Sie schlängelte sich auf dem Bürgersteig durch die Menschenmassen bis zum Restaurant. Dessen Eingangstüren waren riesig; dunkel und unheilverkündend und eindeutig zu mysteriös. Was mochte dahinterliegen? Wartete man bereits auf sie?
Vielleicht schon. Das wäre nicht das Schlechteste, sagte sie sich und straffte die Schultern. Dann hatte sie eben weiche Knie und einen derart verknoteten Magen, dass sie kaum atmen konnte – das würden die anderen gar nicht bemerken. Was sie dagegen sehr wohl bemerken würden: ob sie gut auf das Treffen vorbereitet war oder nicht. Und wie begierig sie war – nein, nicht begierig, dachte sie schnell, als eine vertraute Übelkeit sie überfiel. Sie wollte definitiv nicht begierig wirken, selbst wenn sie es war.
Im Grunde benahm sie sich einfach albern. Sie hatte schon Dutzende Meetings dieser Art gemeistert. Was war schon dabei, dass Reed Sugar … Wieder dieses Ziehen in der Magengrube. Wem wollte sie hier eigentlich etwas vormachen? Ein Treffen mit einer landesweit führenden Haushaltsmarke war definitiv eine große Sache.
Der Türgriff fühlte sich warm an, und sie wusste, dass sie viel zu lange zögerte. Ein Mann mittleren Alters tauchte hinter ihr auf und runzelte ungeduldig die Stirn. Er starrte sie an, als wäre sie halb verrückt, und Lila seufzte kurz auf. Also, los jetzt.
»Kann ich Ihnen helfen?« Eine lächelnde Empfangsdame stellte sich ihr in den Weg, als sie das schwach beleuchtete Restaurant betrat.
»Ich bin mit Jeremy Reed verabredet«, erklärte Lila und suchte den Eingangsbereich nach ihrem alten Klassenkameraden aus der Highschool ab. Mit diesem Kontakt hatte sie bereits halb gewonnen; der Rest lag an ihr.
Die Frau ging die Reservierungen durch. »Sie sind die Erste. Möchten Sie an der Bar warten?«
Lila nickte, durchquerte den Raum und hockte sich auf die Kante eines freien Stuhls, bereit, jeden Augenblick wieder aufzuspringen. Sie legte die Hände flach auf die Knie, spürte die glitschige Schweißschicht auf ihrer Haut und drückte die Finger fest gegen die Schenkel, bis ihre Nerven sich ein wenig beruhigt hatten.
Möglichst ohne dabei wie eine Stalkerin oder begierig oder so ähnlich zu wirken, richtete sie ihre Aufmerksamkeit ganz auf den Empfangstisch, wo die zuständige Dame gerade über irgendetwas kicherte, was ein anderer Gast zu ihr gesagt hatte. Lila beugte sich ein Stück vor, froh über diese Ablenkung und den Vorwand, ihre Umgebung kurz auszublenden und diese nervenzerfetzende Aufregung zu unterdrücken, die von Sekunde zu Sekunde wuchs.
Der Mann trug einen dunklen, gut geschnittenen Anzug, und die Ärmel seines strahlend weißen Hemdes wurden von zwei auf Hochglanz polierten Manschettenknöpfen zusammengehalten. Die Empfangsdame griff nach dem Telefonhörer während sie irgendetwas erwiderte, und der Mann lachte. Es war ein tiefes, warmes Lachen, satt und ungekünstelt. Und merkwürdig vertraut.
Lila spürte einen Anflug von Panik, und ein beunruhigender Gedanke machte sich in ihr breit. Das konnte nicht sein. Nicht er. Okay, der Mann hatte braune Haare und in etwa die passende Größe, und sein Lachen kam ihr wirklich furchtbar bekannt vor, aber er war schließlich nicht der Erste, der über die Jahre diese höchst unliebsame Erinnerung in ihr wachrief. Sicher würde er sich jede Sekunde umdrehen und ihr vor Augen führen, wie albern das alles war. Wahrscheinlich hatte er das Gesicht voller Sommersprossen und braune Augen und – oh nein.
Ihr Magen krampfte sich zusammen, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Lila senkte langsam den Blick und bemühte sich, eine unbeteiligte Miene aufzusetzen, als hätte sie ihn gar nicht gesehen. Sie wandte sich ein wenig zur Seite, den Rücken zur Bar.
Du lieber Himmel. Es war Sam.
***
Er hätte sie überall wiedererkannt.
Sam Crawford umfasste den Griff seiner Aktentasche etwas fester und starrte Lilas Hinterkopf an, während er sich fragte, was zum Teufel er jetzt tun und was er zu ihr sagen sollte. Ob er überhaupt etwas sagen sollte. Er wusste, dass sie zurück in ihre Heimatstadt gezogen war, nachdem sie New York verlassen hatte, aber er hätte niemals damit gerechnet, ihr einfach so über den Weg zu laufen. Seit ihrer letzten, schmerzlichen Auseinandersetzung vor vielen Jahren war er bereits mehrere Male in Chicago gewesen, und immer hatte er die Augen offen gehalten und auf eine Zufallsbegegnung gehofft, einen Vorwand für ein Gespräch, einen zwanglosen Anlass, um den Kontakt wieder aufzunehmen, ohne dabei die unschöne Vergangenheit erneut ans Licht zu zerren.
Ausgerechnet heute. Das Timing hätte kaum schlechter sein können.
Er wandte sich wieder der Empfangsdame zu und rang sich ein Lächeln ab. »Ich habe da vorn zufällig eine Freundin entdeckt. Wenn Sie mir bitte einfach kurz Bescheid geben, sobald meine Geschäftspartner eintreffen? Da wäre ich Ihnen dankbar.«
Freundin war wirklich zu viel gesagt. Es war Jahre her, dass er Lila zum letzten Mal gesprochen hatte, und ihr Abschied war alles andere als freundschaftlich ausgefallen. Mit entschlossenen Schritten ging Sam zur Bar hinüber und bestellte einen Whiskey, während er Lila aus dem Augenwinkel aufmerksam beobachtete. Sie hatte ihn noch nicht bemerkt, oder falls doch, überspielte sie es verdammt gut. Und diese Vorstellung störte ihn. Mehr, als er sich eingestehen wollte.
Sie war noch immer schön, stellte er fest, und die Beobachtung löste sowohl Freude als auch Ärger in ihm aus. Wenn überhaupt, hatte sie sich in den letzten Jahren zu ihrem Vorteil verändert und von einem naiven, leicht überforderten Mädchen in eine anmutige junge Frau verwandelt. Ihr ovales Gesicht wirkte blass, aber selbstbewusst. Das kastanienbraune Haar trug sie zurückgebunden, sodass man den langen, grazilen Hals sah. Aufgrund ihrer Kleidung konnte Sam bloß raten, dass sie auf einen Kollegen oder eine andere geschäftliche Verabredung wartete, und kurz verspürte er Erleichterung, dass sie wohl nicht auf einem Date war.
Als ob das irgendeinen Unterschied machte.
Er nahm einen tiefen Schluck von seinem Drink und betrachtete sie weiter über den Rand des Glases hinweg. Die Bar füllte sich rasch mit den üblichen Mittagsgästen, und seine eigenen Geschäftspartner würden jeden Augenblick auftauchen. Er musste sich entscheiden, schließlich konnte er nicht ewig hier herumstehen und grübeln. Er könnte zu ihr hinübergehen und Hallo sagen, oder er könnte die Vergangenheit auf sich beruhen lassen.
Lila wandte leicht den Kopf, gerade weit genug, dass er zu einer schnellen Entscheidung gezwungen war, und bevor sie den Blick wieder abwenden konnte, hob er die Hand. Kein Zurück mehr. Er lächelte breit, und es fiel ihm leichter, als er sich eingestehen wollte. Als Erwiderung schenkte sie ihm nur ein sehr zurückhaltendes Lächeln.
Sam stellte sein Glas ab und lockerte die Krawatte. Mehr Zuspruch ihrerseits brauchte er nicht.
***
Lila sah Sam hilflos entgegen, als er nun auf sie zukam. Er hatte eine Hand lässig in die Hosentasche geschoben, und in der anderen trug er eine Aktentasche. Sein Gesicht war ihr so unglaublich vertraut, aber wie es ihr Glück wollte, wirkten seine Züge sogar noch schöner, als sie sich in der Erinnerung je eingestanden hätte. Die Zeit hatte es gut mit ihm gemeint; seit sie ihn vor sechs Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, waren ein paar Fältchen um seine Augen hinzugekommen, aber außer ihr wäre das wohl kaum jemandem aufgefallen. Sie hatte sich sein Gesicht so haargenau eingeprägt; den Schwung seiner Lippen, wenn er lächelte, seine verwuschelten Haare im Schlaf …
»Lila Harris«, sagte Sam ruhig und lächelte sie freundlich an. Lila stand auf, um ihn zu begrüßen. Sie straffte die Schultern in dem vergeblichen Bemühen, die Fassung zurückzugewinnen. Leicht hob sie den Kopf, sodass sie sich Auge in Auge gegenüberstanden. Diese blauen Augen waren schon immer ihr Verderben gewesen.
»Sam.« Sie klang heiser. Verlegen räusperte sie sich und spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen schoss, während er sie weiterhin unverwandt ansah. »Das ist ja eine Überraschung.« Sie lächelte gequält.
»Hoffentlich eine nette.«
Sie versuchte angestrengt, seine Miene zu deuten. War er froh? Ängstlich? Zerknirscht? Aber vielleicht ließ ihn ihr Wiedersehen auch vollkommen kalt. Vielleicht gehörte sie für ihn schlicht und einfach der Vergangenheit an, eine Frau, die er längst abgeschrieben hatte.
Sie wartete, bis die brennende Hitze auf ihrem Gesicht nachließ, und hoffte, dass der Raum schummrig genug war, damit man ihr nichts anmerkte.
»Was führt dich nach Chicago?«, brachte sie schließlich heraus. Immer schön eine Frage nach der anderen. Ein paar Minuten Smalltalk, dann wäre das auch wieder vorbei. Wie schon einmal. Sie würde das schaffen. »Ich dachte, du bist immer noch in New York.«
»Ich bin für einen Termin in der Stadt«, erwiderte Sam sanft und sah ihr weiter geradewegs in die Augen. »Ich bin erst heute früh gelandet.«
Lila warf einen flüchtigen Blick zur Eingangstür und war froh, Sams eindringlicher Musterung so für einen Moment zu entgehen. Noch immer keine Spur von Jeremy, aber vermutlich war das auch besser so. Was hätte sie sagen sollen, wenn er jetzt hereingekommen wäre und sie ihm völlig durcheinander und mit hochrotem Kopf hätte entgegentreten müssen? Himmel, und jetzt perlte ihr auch noch ein Schweißtropfen den Nacken hinunter. Sie atmete entschlossen ein und wandte sich wieder an Sam. »Die Welt ist klein«, meinte sie.
»Das kannst du laut sagen«, stimmte er gelassen zu und schenkte ihr sein unwiderstehlichstes Lächeln.
Sie sah ihn scharf an. Für ihn schien das alles so einfach zu sein. Zu einfach.
»Machst du immer noch Werbung?«
Oh Mann, war das lahm. Sam machte nicht einfach nur Werbung. Er war die Werbung.
Ein amüsiertes Funkeln huschte über sein Gesicht, aber er antwortete ihr mit einem einfachen: »Ja.«
»Und, läuft’s gut?«, fragte sie ein wenig schnippischer als beabsichtigt. Noch Jahre, nachdem er sie auf so großartige Weise abserviert hatte, hatte sie genau diese Art von zufälliger Begegnung wieder und wieder im Kopf durchgespielt. Was sie anhaben würde. Wie ihr Haar frisiert wäre. Was sie ihm sagen würde. Sie hatte gehofft, dann bereits einen dicken Klunker am Finger zu tragen, von jemandem, dem sie wirklich etwas bedeutete. Sie würde Sams besorgte Bemerkungen über das Ende ihrer Beziehung mit einem Lachen abtun, beim ersten Anzeichen von Reue seinerseits locker abwinken und ihm unmissverständlich klarmachen, dass sie über ihn hinweg war. Auch wenn das in Wahrheit noch immer nicht stimmte.
»Ja, ausgezeichnet.« Sam grinste verschmitzt und deutete auf ihre seriöse Aufmachung. »Und selbst?«
Lila spürte, wie eine alte Wunde wieder aufriss. »Bei mir läuft’s auch ziemlich gut. Ich arbeite jetzt selbstständig als Werbetexterin, wenn du’s genau wissen willst.«
»Für Agenturen oder für Direktkunden?«
»Kommt beides vor.« Sie war stolz auf ihre Arbeit, stolz darauf, wie weit sie es seit dem kleinen Zwischenfall in New York gebracht hatte.
»Ist besser, sein eigener Chef zu sein, was?« Sams Lächeln wurde jetzt ein wenig reumütig.
Jedenfalls besser, als dich zum Chef zu haben, dachte sie bei sich. »Mir gefällt’s. Gleich hab ich übrigens ein Treffen mit Reed Sugar. Du hast sicher schon von ihnen gehört«, bemerkte sie mit schwachem Lächeln.
Ihr Blick huschte ein weiteres Mal in Richtung Eingang, gerade rechtzeitig, um Jeremy Reed an den Empfangstisch treten zu sehen. Ihm folgten ein älterer Herr, der Jeremy sehr ähnlich sah, höchstwahrscheinlich sein Vater, und zwei weitere, makellos gekleidete Führungskräfte. Lilas Magen zog sich zusammen. Was nun?
Sie sah zu Sam auf, bereit, sich zu entschuldigen und sich aus dem Staub zu machen, sich diesmal ein für allemal von ihm zu verabschieden. Diesen kurzen Zusammenstoß gleich wieder zu vergessen. In ihr eigenes Leben zurückzukehren, zu den Menschen, die wirklich zählten. »Sam, ich –«
»Sam Crawford!«, dröhnte Jeremy Reed und überging sie dabei völlig. Mit großen Schritten kam er auf sie zu, lächelte herzlich und schüttelte Sam ausgiebig die Hand. »Jeremy Reed.«
Lila blinzelte verwirrt und stellte fest, dass Sam von dieser Begrüßung kein bisschen überrascht schien. Bevor sie überhaupt durchschaut hatte, was vor sich ging, schüttelte sie ihrerseits Hände und plauderte lächelnd mit den Herren in Jeremys Gefolge, als wäre das alles vollkommen normal.
»Sind alle da?« Lächelnd tauchte die Empfangsdame hinter Jeremy auf.
Während Lilas Füße sich wie von selbst einen Weg zwischen den Tischen hindurch suchten, ließ sie sich ein paar Schritte hinter das Team von Reed zurückfallen; ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Bevor sich alle hinsetzten, ergriff sie die Gelegenheit und zischte Sam über die Schulter hinweg zu: »Wusstest du, dass –«
»Ich hatte keine Ahnung«, flüsterte er zurück, und die Dringlichkeit in seiner Stimme sagte ihr, dass ihm die Situation ebenso wenig behagte wie ihr.
***
Jeremy machte es sich auf einem Stuhl gemütlich und blickte von Lila zu Sam. »Kennen Sie beide sich etwa schon?«
War das so offensichtlich? Lila unterdrückte ein Stöhnen und setzte stattdessen ein noch strahlenderes Lächeln auf.
»Lila und ich haben tatsächlich mal zusammengearbeitet«, erwiderte Sam gepresst, während er die Speisekarte überflog.
»Die Welt ist klein«, meinte Jeremy schmunzelnd.
Das ist sie wirklich. Lila knetete die schwere Stoffserviette in ihrem Schoß und wünschte, das Ding wäre stattdessen aus Papier, denn dann hätte sie es in Fetzen reißen können. Als sie heute früh aufgestanden war, hatte sie unmöglich ahnen können, dass sie nur wenige Stunden später ausgerechnet neben ihrem Ex-Freund sitzen würde. An jedem einzelnen Tag mühte sie sich nach Kräften, bloß nicht an ihn zu denken. Nach vorn zu schauen. Nicht zurück. Und hier saß er nun. In ihrem Revier. Ihrer Stadt. Ihrem großen Meeting.
In den fünf Minuten, seit er das Restaurant betreten hatte, schienen sich die letzten sechs Jahre einfach in Luft aufgelöst zu haben.
»Sie fragen sich bestimmt, warum ich Sie beide zu diesem Termin eingeladen habe«, setzte Jeremy an.
Allerdings. Lila beugte sich vor und bemerkte leicht irritiert, dass Sam sich entspannt in seinem Stuhl zurückgelehnt hatte, mit einem selbstgefälligen Lächeln im Gesicht. Das hier war ein ganz normaler Arbeitstag für ihn, mit einem Kunden unter vielen, den er für sich gewinnen konnte oder auch nicht. Ihm war das alles nicht so wichtig wie ihr. Und für ihn war es auch nicht so ausschlaggebend. Sam war bereits mit goldenem Löffel im Mund geboren worden, er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie es war, aus Notwendigkeit auf etwas hinzuarbeiten, und nicht nur aus Raffgier.
Sie dachte daran, was von diesem Geschäftsabschluss für sie abhing, und ihr Magen zog sich noch etwas mehr zusammen. Sie durfte ihren Gesprächspartnern auf keinen Fall zeigen, wie viel für sie auf dem Spiel stand. Nicht wenn Sam ihr derart lässig gegenübersaß, als könnte er ebenso gut alles hinwerfen.
»Jeder, der irgendetwas davon versteht, weiß, dass der Name Crawford und das Wort Werbung quasi gleichbedeutend sind«, meinte Jeremys Vater Mitch Reed, und Lila knüllte ihre Serviette noch ein wenig stärker zusammen. Das klang überhaupt nicht gut. »Aber ich lege großen Wert auf Tradition, und ich unterstütze gern Unternehmen hier in Chicago, wo Reed Sugar gegründet wurde.«
Bei diesen Worten merkte Lila interessiert auf. Sie sah zu Sam hinüber und drückte den Rücken fest gegen die Stuhllehne.
»Lila, Ihr Portfolio gefällt uns, und von Jeremy höre ich nur das Beste über Sie.«
Lila lächelte ihrem alten Schulfreund dankbar zu.
»Deshalb würden wir Sie gern mit ins Boot holen«, schloss Mitch Reed.
Lila schwieg einen Augenblick. Sollte sie etwa mit Sam zusammenarbeiten? Niemals, nicht noch einmal. Sie konnte sich noch zu gut daran erinnern, wie es das letzte Mal geendet hatte. Mit Pleite und Liebeskummer nämlich. Eine erbärmliche Mischung.
»Also, was meinen Sie?«, fragte Jeremy erwartungsvoll an sie und Sam gewandt. Aller Augen waren jetzt auf sie gerichtet. »Ich bin sicher, PC Advertising arbeitet auch mit Freelancern.«
»Gelegentlich«, erwiderte Sam diplomatisch. »Aber wir behalten die Dinge eigentlich lieber im eigenen Haus. Und ohne Lila zu nahe treten zu wollen …« Er warf ihr einen entschuldigenden Blick zu und richtete seine Aufmerksamkeit gleich wieder auf Mitch Reed. »Wir spielen hier nicht in der Kreisliga, meine Herren.«
»Ist schon in Ordnung, Sam.« Lila lächelte ihm kühl zu, kniff die Augen jedoch gerade so sehr zusammen, dass ihm ihr lodernder Zorn nicht entgehen konnte. Sie hielt inne, bereitete sich innerlich auf ihre nächsten Worte vor und wandte sich dann an Jeremys Vater: »Da ich in der Vergangenheit bereits die … Ehre hatte, mit Sam zusammenzuarbeiten, muss ich Ihnen leider sagen, dass unsere kreativen Vorstellungen geringfügig voneinander abweichen.«
Jeremy machte eine abwehrende Geste. »Wenn ihr euch zusammensetzt, fällt euch sicher was Brillantes ein, da hab ich gar keinen Zweifel.«
»PC Advertising hat hervorragende eigene Werbetexter«, bemerkte Sam unverhohlen.
Lila runzelte unwillkürlich die Stirn. Falls er hier gerade versuchte, sie um ihre große Chance zu bringen, war sie nur zu gern bereit, den Kampf mit ihm aufzunehmen. Sie bedachte ihn mit einem langen, unnachgiebigen Blick. Sie traute es ihm glatt zu.
»Falls Sie sich um zusätzliche Kosten sorgen, das haben wir schon alles durchdacht«, sagte Jeremy. »Unser Angebot ist fair und attraktiv, und ich bin überzeugt, dass es für Sie beide interessant sein dürfte.«
Sam hob höflich die Hand, zweifellos, um erneut zu protestieren, doch Mitch Reed ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. »Mir sind in letzter Zeit interessante Gerüchte über Ihre Agentur zu Ohren gekommen. Dabei fiel immer wieder der Name einer gewissen großen Kette.«
Lila schaute verwirrt drein, doch an ihrer Seite schien Sam zu erstarren. Er lockerte seine Seidenkrawatte und stieß ein leises, kehliges Glucksen aus. »Sie sind gut«, räumte er ein und lächelte anerkennend.
»Das wissen wir«, erwiderte Jeremy. »Deshalb wollen wir ja auch die Besten. Und Sie sind doch immer noch die Besten, nicht wahr, Mr. Crawford?«
»Was wollen Sie damit andeuten?«, fragte Sam knapp.
»Zeigen Sie uns, was Ihnen zu der Sache einfällt, und in zwei Wochen reden wir weiter«, meinte Reed Senior.
Gespannte Stille machte sich breit. Schließlich zuckte Sam mit den Achseln und wandte sich an Lila. »Was meinst du?«, fragte er und zwinkerte ihr beiläufig zu, sodass ihr Herz rein aus Reflex einen Schlag aussetzte. »Um der alten Zeiten willen?«
Alle Blicke hefteten sich nun auf sie, alle waren gespannt auf ihre Antwort. Sie starrte Sam mit großen Augen an und suchte sein Gesicht nach dem leisesten Anflug von Spott ab, doch als sie stattdessen für einen Sekundenbruchteil Unsicherheit darin aufflackern sah, zuckte sie beinahe zusammen. Wollte er ernsthaft auf diesen aberwitzigen Vorschlag eingehen? War es ihm wirklich so wichtig, oder arbeitete er lieber mit ihr zusammen, als ihr die Beute allein zu überlassen? Sie wusste es nicht, aber als sich sein Gesicht für einen Augenblick verschattete, bestärkte es sie nur in ihrem Verdacht. Irgendetwas war im Busch, und Sam würde sich seine Chance nicht entgehen lassen.
Tja, sie auch nicht.
Lila rang nach Worten und wünschte, sie könnte irgendein Argument anführen, um nicht mit Sam kooperieren zu müssen, aber sie wusste, dass es aussichtslos war. Sie konnte es sich nicht leisten, dieses Angebot auszuschlagen, und eine ähnliche Chance würde ihr so bald nicht in den Schoß fallen.
Mitch Reed legte die Hände zusammen und ließ sie vor sich auf dem Tisch ruhen. »Viele Ihrer Konkurrenten würden sich um so eine einmalige Gelegenheit reißen.«
Nie hatte sich ein so hoffnungsvoller Satz so belastend angefühlt.
Eine einmalige Gelegenheit. Um nicht zu sagen: die Chance ihres Lebens. Ja, das war es. Und niemand – am allerwenigsten Sam Crawford – würde sie davon abhalten, diese Chance zu ergreifen.