Über das Buch
Auf Sylt werden in einer Düne, die zum Besitz der reichen Industriellenfamilie Melander gehört, zwei Leichen gefunden – ein Kind und eine junge Frau, Letztere der Kleidung nach seit Jahrzehnten tot. Wenig später gibt es in der Familie einen weiteren Todesfall. Kommissar John Benthien glaubt nicht an einen Zufall und nimmt die Ermittlungen auf. Dabei stößt er auf ein uraltes Familiengeheimnis, von dem auch heute noch eine tödliche Gefahr auszugehen scheint …
Über die Autorin
Nina Ohlandt wurde in Wuppertal geboren, wuchs in Karlsruhe auf und machte in Paris eine Ausbildung zur Sprachlehrerin, daneben schrieb sie ihr erstes Kinderbuch. Später arbeitete sie als Übersetzerin, Sprachlehrerin und Marktforscherin, bis sie zu ihrer wahren Berufung zurückfand: dem Krimischreiben im Land zwischen den Meeren, dem Land ihrer Vorfahren.
Nina Ohlandt
Dünengeister
Nordsee-Krimi
John Benthiens sechster Fall
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Jan Wielpütz
Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de
unter Verwendung von Motiven von © shutterstock: Rainer Fuhrmann |
Karen Kaspar | Pawel Uchorczak | s_oleg
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-6133-9
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Personenliste Kripo Flensburg
John Benthien, Erster Hauptkommissar
Tommy Fitzen, Oberkommissar, alter Jugendfreund von
Benthien
Lilly Velasco, Oberkommissarin
Juri Rabanus, Hauptkommissar (kommt hier kaum vor)
Leon Kessler, frisch gebackener Kommissar (kommt hier kaum vor)
Mikke Jessen, Kommissaranwärter
Annika Gerisch, Kommissaranwärterin
Ferner: Esther Talley, Mitarbeiterin im Innendienst
Personenliste Kriminaltechnik
Claudia Matthis, Leiterin der Kriminaltechnik
Stefano Rossi
Birgit Timmermann
Weitere
Dr. Thyra Kortum, Oberstaatsanwältin (war Freundin von Benthiens Mutter)
Dr. Radtke, brummeliger Rechtsmediziner aus Kiel
Weitere Personen siehe Anhang
Gestrandet
Haie Melander glitt leise aus dem Bett, um seine Frau und den sechs Monate alten Säugling, seinen Jüngsten, nicht zu stören. Nicht, dass der Lütte wieder anfing zu schreien. Haies bloße Füße verkrampften sich vor Kälte auf den blanken Holzdielen, denn das Feuer im Ofen war längst erloschen. Er schlich sich zur Tür, schloss sie leise hinter sich und kleidete sich hastig an. Arfst und Keno, die beiden jungen Knechte, hatten schon die Pferde vor den Wagen gespannt und seinen Wallach Tillmann gesattelt, der unruhig hin und her tänzelte. Es war eine raue Nacht für Juni, kalt wie im Oktober und erst halb zwölf, aber dennoch Zeit aufzubrechen. Der Sturm nahm beständig zu, und es bestand die Gefahr, dass andere, vor allem die gottlosen Amrumer, ihnen den Fang vor der Nase wegschnappten. Denn es musste schon mit dem Teufel zugehen, wenn in einer stürmischen Nacht wie dieser, geleitet von den trügerischen Leuchtfeuern, kein Schiff an der unbewohnten Sylter Südküste stranden würde.
Keno und Arfst fuhren den Wagen mit den Kaltblütern, Haie, der Deichgraf, galoppierte mit Tillmann quer durch die Dünen in Richtung Strand. Manchmal verfluchte er seinen Wohnsitz so weit im Norden von Sylt und überlegte wieder einmal, in die Mitte der Insel umzuziehen. Der Weg in den Süden, wo dank der Wasser- und Strömungsverhältnisse die meisten Frachtsegler strandeten, dauerte einfach zu lang, zumal er für sein Geschäft keine Zuschauer gebrauchen konnte. Andererseits, den großen Hof hatten seine Vorväter 1672 erbaut, vor rund hundert Jahren, den gab man nicht so einfach auf. Vielleicht sollte er eine Hütte dort unten in die Dünen bauen, eine Art Lager, wo er die Leichen verstecken konnte, bis sie bereit waren für den Transport? Denn er hatte vor, sein lukratives Geschäft auszubauen. Schließlich musste er für eine große Familie sorgen, und die möglichen Einkünfte waren rar, wenn man auf einem kargen Sandhaufen in der Nordsee lebte. Da musste man sehen, wie man zurechtkam.
Haies Bruder war vor einem Jahr auf See geblieben, sein Walfänger vor Grönland gekentert und mit Mann und Maus untergegangen. Daher hatte er nun auch noch Jeskos Familie am Hals, die versorgt werden musste. Aber das Geschäft mit den Leichen lief gut, und Haies Abnehmer – Mediziner, Alchimisten, Anatomielehrer, Universitäten – fragten nicht danach, ob der Handel mit Toten verboten war oder woher diese kamen. Da es viel zu wenig Hinrichtungen für den Bedarf an Leichen gab und die Rechtsgrundlage, nach der Verwandte die leblosen Körper ihrer Lieben verkaufen durften, fragwürdig war, kam es zu dem sonderbaren Umstand, dass frische Verstorbene überall im Deutschen Reich Mangelware waren. Da kamen die Gestrandeten gerade recht, die Schiffbrüchigen, deren Briggs, Schoner und Fregatten zwischen den trügerischen Sandbänken der Nordsee auf Grund gelaufen waren. Immerhin erhielten sie nach der Sektion ein anständiges christliches Begräbnis. Und ganz nebenbei dienten sie der Wissenschaft. Abgesehen davon, dass die Melanders von dem Salär Vieh kaufen konnten und so neben Fisch, Gemüse und Kartoffeln auch Fleisch auf den Tisch kam, erlaubte der Leichenhandel es ihnen, die Kinder zur Schule zu schicken, das Dach neu zu decken und ein Stück Land zu erwerben, das noch halbwegs fruchtbar und noch nicht von der Großen Düne überwandert worden war wie die Ländereien der Vorfahren.
Zwischen den Wolken kam der Mond hervor, und Haie trieb sein Pferd an. Es trabte durch den tiefen Sand der Großen Düne, die auf der Insel nur als die »Geisterdüne« bekannt war. Der Legende nach hatten an diesem Ort in früheren Jahrhunderten die Einheimischen ihre wilden Orgien und Besäufnisse gefeiert, nachdem sie die gestrandeten Schiffe ausgeraubt, die Besatzung, sofern sie nicht ersoffen war, erschlagen und die Beute in Sicherheit gebracht hatten. Es war ein verrufener, ein verteufelter Ort dort in den Dünen, um den die Insulaner in abergläubischer Scheu einen weiten Bogen machten, doch Haie war das gerade recht. Er mochte es nicht, wenn ihm die Einheimischen zu dicht auf die Pelle rückten – deshalb war ihm daran gelegen, die Geisteratmosphäre der Düne zu bewahren. Ab und zu entfachten er und die Seinen dort große Feuer. Sie zogen orientalische Gewänder an, die der eine oder andere verunglückte Segler aus Porto Alegre, Batavia oder Santo Domingo in einen der fernen Ostseehäfen hatte bringen wollen, und erschreckten die Leute. Als dann noch ein kleines Mädchen am Fuß der Düne spurlos verschwand und nie wieder auftauchte, war die Legende um den unheimlichen Ort perfekt. Allerdings dachte niemand auch nur im Traum daran, die ehrenwerte Familie Melander zu beschuldigen oder auch nur schief anzusehen. Im Gegenteil, man bewunderte ihren Mut, sich von der Geisterdüne und all den dunklen Machenschaften, die dort vorgehen mussten, nicht ins Bockshorn jagen zu lassen.
Besonders Haie war allseits geachtet und hoch angesehen als Deichgraf. Er war derjenige, der über die Sicherheit der Deiche wachte, damit die Insel nicht von der allseits bereiten, räuberischen Nordsee verschlungen wurde. Er war es, der für den Schutz der Insel und die Instandhaltung der lebensrettenden Deiche sorgte. Er war an vorderster Front dabei, wenn Sturmfluten gegen diese Bollwerke anbrandeten, wenn seine Leute hastig Sandsack um Sandsack füllten und mit ihrem Leben jeden Zentimeter Boden verteidigten. Man liebte ihn nicht, dafür war er zu rau, zu streng und kompromisslos. Aber man vertraute ihm, dem Mann mit dem zotteligen blonden Bart, den man Tag und Nacht auf seinem Rappen Tillmann durch die Dünen reiten sah.
Der düstere Reiter, beschienen vom fahlen Mondlicht, trieb sein Pferd im Galopp durch den weißen Dünensand, durch Heide und Strandhafer hinab an den menschenleeren Strand. Hoffnungsvoll hielt er Ausschau. Gab es schon Lichter zu sehen auf den weißschäumenden Wellen, Schiffe, die verzweifelt gegen den Sturm ankämpften, hoffnungsvoll nach einem Küstenstreifen Ausschau haltend, nicht wissend, dass der ihr Verderben sein würde? Er ließ den Blick übers Meer gleiten, sah den Schein der falschen Leuchtfeuer auf dem Wasser, aber ein Schiff war weit und breit nicht zu sehen.
Dennoch trieb Haie sein Pferd an, das in einem wahren Rausch der Geschwindigkeit über den festen Wattboden fegte, durch den Schaum, den die Wellen an Land trieben, südwärts, wo hoffentlich inzwischen Beute auf sie wartete.
Und er hatte sich nicht getäuscht!
Haies scharfe Augen hatten schon weit entfernt vom Hörnumer Strand die Brigg entdeckt, die mit schwerer Schlagseite auf den Wellen trieb, und gab dem Gaul die Sporen. Etliche Sylter waren mit ihren Booten bereits zur Stelle, etliche Leiber trieben im wild aufgewühlten Wasser, etliche lebten noch und schrien um Hilfe. Haie wusste, sie würden nicht überleben. Wer nicht von selbst ertrank oder sich ans Ufer retten konnte, wurde erschlagen oder ertränkt, denn die Schiffsladung war reiche Beute, selbst wenn es nur Holz war. Die Insulaner sahen es als ihr gutes Recht an, die Ladung als ihr Eigentum zu nehmen. Überlebende waren da nur im Weg. Und da kam nun Haie ins Spiel. Mit Hilfe seiner Knechte brachte er die eine oder andere Leiche – möglichst junge, kräftige Männer, denn die waren gefragt – in seine Karre, wo er sie stapelte.
Diesmal waren es zwölf Stück, eine respektable Beute! Von dem Erlös konnte die Familie etliche Monate überleben.
Als er seinen letzten Gang ans Ufer machte, sah er zu seinem großen Erstaunen, dass eine junge Frau von den Wellen an Land geworfen wurde. Was hatte sie auf dem Schiff gemacht? Es kam nicht allzu oft vor, dass junge Frauen auf einem Handelsschiff mitfuhren. Er betrachtete sie im Mondlicht: Sie war auffallend schön, mit ebenmäßigen Gesichtszügen und langen schwarzen Haaren. Ihre Kleider klebten an ihrem schlanken Körper wie eine zweite Haut. Irgendwie missfiel es ihm, sie wie ein Stück Abfall zu den Leichen auf den Wagen zu legen. So gab er Keno und Arfst ein Zeichen, loszufahren, und sorgte nun selbst für den Transport der schönen Toten, indem er sie in seine Arme nahm und vor sich aufs Pferd setzte.
Er lenkte den Gaul zum Strand, wo es noch immer hoch herging. Die Strandräuber schrien noch lauter als der Sturm, manche lachten und jauchzten vor Freude über die Beute, andere waren in heftige Schlägereien verwickelt, die auch schon so manch einheimischen Toten zurückgelassen hatten. Mehrere Holzboote schaukelten noch auf den Wellen, gerieten nun selbst in Seenot, während die Brigg bereits zur Hälfte versunken war. Weit draußen entdeckte Haie die Boote der Amrumer, die sich wohl schon auf die Beute gefreut hatten. Nun waren sie auf dem Rückzug.
Seine Knechte würden den Wagen in den Hafen fahren, die Leichen an Bord seines Seglers bringen und noch in dieser Nacht übers Wattenmeer nach Hoyer segeln. Was aber sollte er mit der Frauenleiche anfangen? Sie in der Düne begraben? Der Gedanke, dass sie im Sektionsraum aufgeschnitten und ausgeweidet wurde, behagte ihm gar nicht.
Haie gab dem Pferd die Sporen. Auf nach List! Unterwegs würde er sich überlegen, was er mit dieser Schönheit machen sollte.
Er war schon auf der Höhe von Rantum, als er bemerkte, dass die junge Frau fast unhörbar atmete. Dann schlug sie die Augen auf. Im fahlen Mondlicht sah er, dass sie glänzend und dunkel waren wie ein Stück Ebenholz.
Gemordet
Sorgfältig zog Carola die grüne Tinte in den Füllfederhalter, den der Großvater ihr zur Konfirmation geschenkt hatte, damals in Pommern, auf Gut Lubowitz. Sie war so stolz gewesen, als sie ihren Namen in goldener Schrift eingraviert sah: Carola Henriette Borgwart. »Möge er dir Glück bringen in deinem zukünftigen Leben, mein Kind«, hatte der Großvater gesagt, und genau das war auch eingetreten, dachte Carola. Glück, Anerkennung und Erfolg hatte er ihr gebracht, denn bald würde ihr vierter Lyrikband herauskommen. In Der Sturm, der Zeitschrift für Kunst und Kultur von Herwarth Walden, waren bereits zwei ihrer Gedichte abgedruckt worden, und eines davon hatte einen Preis erhalten. Im nächsten Heft sollte ein langer Artikel über sie erscheinen. Und nun hatte man sie gebeten, ihr Leben in Stichpunkten aufzuschreiben, als Vorbereitung sozusagen für den biografischen Abriss.
Sie rückte ihren Schreibblock zurecht. Geboren: 16. Juli 1890 auf Gut Lubowitz. Vater: Anton Jacob Borgwart, Gutsverwalter, gestorben 1899, da war sie gerade mal neun gewesen. Übersiedelung nach Sylt, als sie vierzehn war. Auf einer vornehmen Hochzeitsfeier im Hotel Adlon in Berlin hatte ihre Mutter den Manufakturbesitzer Heinrich Melander aus List auf Sylt kennengelernt. Acht Wochen später waren sie verlobt, sechs Monate danach verheiratet, womit natürlich auch ein Umzug nach Sylt verbunden war.
Carola fiel es schwer, sich von ihren Großeltern und dem Gut zu trennen, zumal sie zu ihrem Stiefvater keine sehr enge Beziehung aufbauen konnte. Er war ihr gegenüber freundlich, aber auch steif und geschäftsmäßig; und obwohl er zwei Söhne besaß, war ihm die Welt der Kinder verschlossen. Carl und Wilhelm verehrten ihren Vater zwar, doch das Verhältnis blieb distanziert. Carola war insofern ganz zufrieden, als sie von ihrem Stiefvater nicht allzu viel mitbekam. Heinrich hatte einige Jahre zuvor, zusammen mit einem Freund, ein inzwischen äußerst erfolgreiches Unternehmen gegründet, in dem Fahrzeuge für kleine Kinder hergestellt wurden. Dreiräder, Roller, Draisinen, Fahrräder, Tretautos. Sogar bis nach Übersee reichten die Geschäftsbeziehungen der Melander-Werke. Er hatte also in seiner Manufaktur, die sich auf dem Gelände des Lister Hafens befand, genug zu tun, und für die Kinder blieb ihm wenig Zeit.
Wilhelm und Carl waren ein paar Jahre älter als Carola, genauer gesagt, fünf und sieben Jahre. »Und ich Schaf habe mich sofort in ihn verliebt«, dachte Carola belustigt, während sie den Füller beiseitelegte und verträumt aus dem Fenster auf die karge Dünenlandschaft blickte.
Wilhelm! Er war ihre große Liebe gewesen, von Anfang an.
Er war so anders als sein älterer Bruder. Immer zu Streichen aufgelegt, spontan, temperamentvoll, und sein herzhaftes Lachen drang durch alle Räume. Auf jeden Fall war er der Liebling der Köchin, die ihm allerlei Leckereien zwischen den Mahlzeiten zusteckte, die er dann mit Carola in seinem Versteck hinter den Eiben teilte. Sein Bruder Carl war ein Einzelgänger, und Carola schien es, als sei er kalt und berechnend. Wenn er sie durch seine dicke, randlose Brille betrachtete, als habe er ganz vergessen, dass sie ein Mensch war und kein Insekt unter einem Mikroskop, lief ihr ein eisiger Schauer über den Rücken. Wilhelm war menschlicher und berechenbarer. Wenn er sie mit seinen großen, dunklen Augen unter dem schwarzen Haarschopf ansah, sah sie den Schalk darin, und ihr Herz flog ihm zu.
Wieder unterbrach sich Carola in ihrer Niederschrift. Es war befreiend, ihr Leben Revue passieren zu lassen, aber ihr war klar, dass ihre Ausführungen viel zu ausführlich waren, ein paar Stichworte würden genügen. Etwa, dass sie seit zwei Jahren mit Wilhelm verlobt war – seit er seine Studienzeit in Tübingen beendet hatte – und ihn bald heiraten würde. Das interessierte die Leser. Das andere vielleicht auch, aber allzu privat wollte sie nun doch nicht werden.
Versonnen lehnte sie sich zurück. Im Haus war es sehr still. Die drei Herren waren, wie meist um diese Zeit, noch in der Manufaktur, ihre Mutter hatte sich jetzt gegen Abend, nachdem es kühler geworden war, zu einem Besuch bei der kranken Frau eines der Arbeiter aufgerafft, um ihr einen Korb mit Obst zu bringen. Die Angestellten arbeiteten unten in der Küche. Carola liebte es, allein im Haus zu sein. Sie liebte es, durch die Räume zu gehen, das glänzende, seidige Holz der Tische und Schränke zu fühlen, die Schnitzereien zu sehen, die weichen Teppiche unter den Füßen zu spüren, die alten roten Holzdielen knacken und knirschen zu hören. Sie liebte den Duft von Sandelholz, altem Papier, Leder und Zigarillos im Herrenzimmer, das eigentlich Heinrichs Arbeitszimmer und für sie tabu war, in dem er seine Konferenzen mit den Söhnen und Thure Bassewitz, seinem Partner, abhielt, und wo er wichtige Entscheidungen traf. Oft schlich sie sich dennoch in sein Zimmer, setzte sich an den Schreibtisch aus Palisander und Vogelaugenahorn, mit den vorgesetzten Balustersäulen und der gediegenen grünen Lederauflage und suchte nach Inspiration für ihre Gedichte. Hier fühlte sie sich wohl und ein klein wenig bedeutend. Ihr eigener Schreibtisch war eher zierlich. Früher hatte er ihrer Mutter gehört und war ein Geschenk ihres fortschrittlichen Großvaters gewesen, der ihn seiner Tochter aus England mitgebracht hatte. Doch als Carolas erster Gedichtband herauskam, hatte ihn ihr die Mutter überlassen, und Carola war unbeschreiblich stolz und glücklich gewesen. Sollte Wilhelm doch darüber spotten, dass sie einen eigenen Schreibtisch besaß. »Als wenn ein simpler Tisch für deine Schreiberei nicht genügen würde!«, hatte er gesagt. Sie lächelte still vor sich hin. Wenn er wüsste, dass in ihrem kleinen Schreibtisch ein wunderbares Geheimfach vorhanden war, in dem sie alles verstecken konnte, was seine neugierigen Augen nicht sehen sollten! Aber sie würde sich hüten, es ihm zu erzählen!
Dass sie Gedichte schrieb und damit auch noch erfolgreich war, nahm Wilhelm nach wie vor nicht ernst, hatte aber auch keine Einwände dagegen. Manchmal, an stillen Sommerabenden, nahm er sich sogar die Zeit, sich ihre neuesten Werke vorlesen zu lassen. Meist saßen sie dann im Pavillon, der ein Stück vom Haus entfernt auf einer Anhöhe stand, nahe der Großen Düne. Carola mochte den Pavillon eigentlich nicht. Außer einem schönen Blick aufs Meer bot er nichts, was sie anzog. Vor allem mochte sie die Nähe zur Düne nicht, diesem weißen Sandhaufen, der ihr Schauer über den Rücken jagte.
Carola fand, dass dieser aus so unfassbar viel Sand geformte, langgestreckte Koloss ein seltsames Eigenleben besaß, obwohl sie nicht genau erklären konnte, woran sie das festmachte. Die Düne hatte ein verborgenes Leben und, wie ihr schien, ein pochendes Herz. Der Sand war, leise knisternd und voller Geheimnisse, ständig in Bewegung. Kompromisslos gehorchte er dem Wind unter dem Orgelton des Meeres. Schon seit Menschengedenken schleppten sich die Sanddünen über die Insel, ausgehend vom Meer im Westen und alles unter sich begrabend, was ihnen im Wege war: Wald, Heide, Fischerkaten. Auch diese Düne wanderte, mehrere Meter im Jahr, und irgendwann würde sie auf der anderen Seite der Insel im Wattenmeer versinken. Doch bis dahin hätte sie Leben vernichtet wie das kleine Wäldchen, dessen Baumgerippe seine weißgebleichten Äste in einer hilflosen Geste aus dem Sand gen Himmel streckte.
Nein, Carola mochte die Große Düne nicht, sie machte ihr Angst. Doch um dieser Angst zu begegnen, sie vielleicht einmal überwinden zu können, ging sie immer wieder an der Düne spazieren, umrundete sie, griff sich eine Handvoll des feinen Sandes und ließ ihn durch die Finger rieseln.
Auch heute spazierte sie hinaus in den lauen Sommerabend, bis zum Pavillon führte sie ihr Weg. In ihrer Erinnerung hörte sie lachende, kreischende Jungenstimmen, denn Carl hatte eins ihrer Gedichte an sich gebracht, die sie damals, siebzehnjährig, für Wilhelm geschrieben hatte, der gerade zum Studium nach Tübingen abgereist war.
Dein Lächeln
Ich zehre am Abend davon
Wenn es kalt wird
Wenn der Hunger kommt
Wenn die Ratten das sinkende Schiff verlassen.
Dein Lächeln:
Mein Leuchtturm
Mein Herdfeuer
Meine letzte Zuflucht
Du Licht meines Herzens,
wann kommst du zurück?
Sie konnte es immer noch auswendig, obwohl sie es damals, nachdem Carl und seine Freunde sie mit Hohn und Spott überschüttet hatten, heulend in den Kamin geworfen hatte.
Natürlich war es schauderhaft schlecht gewesen, besonders die Stelle mit den Ratten – wie war sie nur darauf gekommen? –, doch vom Schreiben hatte sie diese Erfahrung nicht abhalten können.
Und noch ein anderes unangenehmes Erlebnis verband sie mit dem Pavillon, das sich einfach nicht aus ihrer Erinnerung löschen ließ. Es war ein schöner Abend gewesen, den sie kurz nach ihrer Verlobung mit Wilhelm im Pavillon verbracht hatte. Nach dem Essen waren sie hinausgewandert, hatten den romantischen Sonnenuntergang betrachtet und Wein getrunken. Plötzlich und gänzlich unerwartet hatte Wilhelm sie heftig in den Arm genommen und wild geküsst. Es war das erste Mal, dass er sich so benahm, und Carola war völlig verstört gewesen und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie versuchte, ihn zurückzuschubsen und von sich fernzuhalten, doch er riss ihr Bluse und Mieder auf und biss sie in die Brust. Erst ihr Schmerzensschrei brachte ihn wieder zur Besinnung. Danach hatte er sich mehrfach entschuldigt, ihr die Bluse zugeknöpft und sie mit einer zärtlichen Umarmung wieder ins Haus geleitet.
»Männer sind eben so, das müssen wir hinnehmen«, hatte die Mutter Carola am nächsten Tag erklärt. »Manchmal können sie sich einfach nicht beherrschen, dann geht es mit ihnen durch. Aber du kannst daraus ersehen, dass Wilhelm dich liebt! Und das ist es doch wert, oder nicht?«
Inzwischen war sie sich da nicht mehr so sicher. Sein Benehmen ihr gegenüber wurde immer seltsamer, immer zudringlicher. Daher schloss sie nun jeden Abend ihre Tür ab und hütete sich auch tagsüber, mit Wilhelm allein zu sein.
Warum, fragte sie sich unglücklich, als sie ins Haus zurückkehrte, konnte sie nicht einfach vergessen, was er getan hatte? Sie ging durch die große Halle, in der eine Art Ahnenreihe der Melanders prunkte, stolz aufgehängt von ihrem zukünftigen Schwiegervater. Alles aufrechte, hochmütige Männer, dachte Carola, Männer mit großen, ebenholzschwarzen Augen. Haie, der Deichgraf, auf seinem Rappen, Heinrich, der erfolgreiche Fabrikherr, an seinem Schreibtisch. Und dazwischen all die anderen, die immer zu den Honoratioren der Insel gehört hatten.
Plötzlich ganz erschöpft, stieg Carola die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, holte ihre Mappe hervor, nahm den Füllfederhalter und begann zu schreiben.
Eine Stunde später blickte sie erstaunt auf ihren Text. Hatte sie das eben geschrieben? Wie in Trance war die Feder übers Papier gefahren und hatte ihr ein ungeahntes Glücksgefühl beschert, ein Gefühl der Befreiung.
Während sie darüber nachsann, glaubte sie, ein Geräusch zu hören. Ein Rascheln, das vorsichtige Knarren von Holz. Eine Tür, die leise geschlossen wurde. Sie stand auf, ging zur Galerie, lauschte. War ihre Mutter zurückgekommen? Aber sie pflegte doch immer laut zu rufen, wenn sie hereinkam: »Ich bin zurück!«
Nein, ihre Mutter war es nicht. Carola stand oben an der geschwungenen Treppe und blickte in die Halle hinab. Kein Mensch war zu sehen, kein Laut zu hören. Das Geräusch war aus dem rechten Flügel des Hauses gekommen, der in Richtung der Straße lag und in dem sich das Arbeitszimmer von Heinrich befand. Langsam, unentschlossen ging sie hinüber und öffnete leise die Tür. Am Schreibtisch, mit dem Rücken zu ihr, saß ein Mann im maßgeschneiderten grauen Tweedanzug. Heinrich? War er krank? Sein Kopf lag auf dem Tisch, ein Arm hing kraftlos nach unten. Erst als sie näher kam, entdeckte sie das Blut, das sich wie ein Kranz um den Kopf herum gebildet hatte und mittlerweile fast schwarz war. Und es war nicht Heinrich, sondern Thure Bassewitz, der Kompagnon ihres Stiefvaters.
Unten knarrte das Tor. Carola rannte zum Fenster und sah gerade noch, wie jemand in gestreiften Hosen und einer karierten Schlägermütze, die sie sehr gut kannte, auf der Straße davonlief. Ein Rascheln ließ sie herumfahren. Einer der langen, samtenen Vorhänge vor einem der hinteren Fenster, der seltsamerweise zugezogen war, bewegte sich leicht. Versteckte sich da jemand? Carola rannte zur Tür, die Treppe hinunter und aus dem Haus, bis hinüber zu den Nachbarn, zu ihrer Freundin Geseke. Sie stürzte durch den Garten in die Küche.
»Holt die Polizei! Bei uns im Haus liegt ein Toter!« rief sie atemlos, bevor sie auf der Küchenbank niedersank und sich völlig verwirrt fragte, ob sie das eben wirklich erlebt hatte.
Gehenkt
3. März 1915
Mein Liebling, meine liebste Regine,
heute ist mal wieder ein Tag, an dem wir schreiben dürfen. Eben hat mir der Wärter, auf meinen Wunsch hin, Papier und Feder in meine Zelle gebracht, und so kann ich Dir endlich ein paar Worte zukommen lassen.
Wie geht es Dir, meine Geliebte? Ich hoffe sehr, Du und die Kinder, Ihr befindet Euch wohl, und dass die Hilfe Deiner Eltern nicht nachlassen mag. Ich bin gottfroh, dass auch sie an meine Unschuld glauben. Du und ich, meine Liebste, wir wissen, dass ich Bassewitz nicht erschlagen habe, aber was nützt uns das? Man hat mich schuldig gesprochen, und niemand glaubt uns, dass ich zu dieser Zeit zu Hause bei Dir war. Nachher will mich noch einmal mein Verteidiger besuchen, Herr Kehrmann, warum, weiß ich nicht. Was kann er denn jetzt noch tun? Vielleicht, ja ganz vielleicht kommt er, um mir zu sagen, dass die Todesstrafe umgewandelt wurde in eine Zuchthausstrafe. Das ist meine Hoffnung, obwohl … ist lebenslanges Zuchthaus soviel besser als ein schneller Tod? Ich weiß es nicht. Ich weiß allerdings, dass sich der Mensch an alles gewöhnt, selbst an die schlimmsten Situationen, so wird vielleicht auch das nicht so schlimm, wie ich es mir jetzt vorstelle …
Ach mein Liebstes, ich will Dir das Herz nicht schwer machen, aber was soll ich sagen? Es gibt so wenig Erfreuliches hier … Doch, eines hat mich gefreut: Wir bekamen gestern Abend eine Gemüsesuppe, die ausnahmsweise einmal herzhaft gewürzt war, das hat mich etwas belebt. Sonst gibt es meist nur Wasser- und Milchsuppe. Dass Du mir immer Kuchen mitbringst, ist vielen hier ein Dorn im Auge. Ich freue mich so sehr, dass Du mich bald besuchen kommst, mein geliebtes Mädchen. Versprichst Du mir eins? Lass uns über die schönen Momente in unserem Leben reden, über die Kinder, unsere Hochzeit, unsere Ausflüge an den Strand … wie sehr ich das alles vermisse! Ich sitze oft hier auf der Holzpritsche, schließe die Augen und lasse im Geiste ganze Landschaften entstehen – komischerweise scheint dort immer die Sonne –, das glitzernde Meer, der warme Sand, die Kinder, die »Backe, backe Kuchen« spielen, und Mohrli, der sich durch den Sand auf die andere Seite des Erdballs buddeln will … Ich hoffe, er frisst jetzt wieder anständig?
Manchmal, vor dem Schlafengehen, spüre ich Deine weichen Arme um mich, die Wärme Deiner Haut … und fühle mich, nur für wenige Augenblicke, getröstet. Werden wir je wieder zusammenkommen?, frage ich mich.
Gerade war Kehrmann da. Er teilte mir mit, dass meine Hinrichtung am 7. Mai stattfinden soll. Aber er hatte auch einen kleinen Hoffnungsschimmer: Er meinte, wenn ich genügend Fürsprecher fände, bestünde die Möglichkeit einer Begnadigung, da ich mir bisher im Leben kein Fehlverhalten habe zu Schulden kommen lassen. Ich weiß jetzt nicht, ob ich hoffen oder bangen soll, meine Liebste …
Regine Johannsen betrat nur zögernd die Bibliothek. Die hohen Regale mit hunderten von Büchern und ledergebundenen Folianten schüchterten sie ein. Die Luft roch abgestanden, kalt. Heinrich Melander deutete auf einen tiefen Ledersessel, in dem die zarte, abgemagerte Regine fast verschwand. Er selbst setzte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl.
»Was kann ich für Sie tun, Frau Johannsen?«
Regine riss sich zusammen. Sie hatte sich doch tausendmal vorgebetet, was sie dem ehemaligen Chef ihres Mannes sagen, um was sie ihn bitten wollte, doch jetzt erinnerte sie sich an kein einziges Wort.
Er sah so vornehm aus, so unnahbar in seinem dreiteiligen Anzug mit dem Lederrevers und der goldenen Taschenuhr, die er mit leiser Ungeduld immer wieder durch die Finger gleiten ließ. Sein grauer Schnauzer war exakt gestutzt, der Scheitel kerzengerade gezogen. Mit seinen dunklen Augen sah er sie unverwandt an.
Himmel! Er konnte sich doch wohl denken, was sie wollte.
»Bitte« – sie knetete ein Taschentuch zwischen ihren Händen, denn die Tränen wollten schon wieder kommen –, »bitte, können Sie nicht irgendwas für meinen Mann tun? Er hat doch lange und gut für Sie gearbeitet …«
Ihre Stimme verlor sich. Das war der falsche Anfang gewesen! Immerhin hatte Heinrich Melander Frerk rausgeschmissen, angeblich, weil er in angetrunkenem Zustand die Herstellung eines teuren Tretautos völlig verhunzt hatte. Frerk hatte angeboten, das Material zu bezahlen, doch das hatte man abgelehnt. Auch die Erklärung, dass er in der Mittagspause nur ein einziges Gläschen Schnaps getrunken hatte anlässlich der Geburtstagsfeier eines Freundes, hatte ihn nicht gerettet, obwohl die Chefs wissen mussten, dass Frerk sonst nie trank. Dafür wäre auch gar kein Geld übrig gewesen, bei zwei Kindern. Nein, sie musste anders anfangen, noch mal von vorn.
Regine strich sich ein paar karottenrote Strähnen aus dem Gesicht voller blasser Sommersprossen.
»Frerk hat mir geschrieben«, erzählte sie leise und drängend, »einen völlig verzweifelten Brief. Er hat erfahren, dass sein Todesdatum jetzt feststeht: im Mai! In zwei Monaten wollen sie ihn hängen!« Sie rang die Hände. »Bitte … Sie müssen etwas für ihn tun! Er hat Herrn Bassewitz doch nicht erschlagen! Das weiß ich genau, denn er war zu der Zeit bei mir zu Hause. Warum glaubt uns denn niemand, um Himmels willen?«
»Nun ja, gute Frau, er ist gesehen worden, hier auf dem Gelände, das wissen Sie doch. Meine Stieftochter hat ihn erkannt.«
»Kann ich sie sprechen?«, fragte Regine hastig. »Nur für einen kurzen Augenblick? Ich will sie nicht belästigen, aber sie muss sich geirrt haben …«
Heinrich Melander holte ein silbernes Etui aus seiner Anzugtasche, entnahm ihm ein schlankes Zigarillo und zündete es an. Er sah Regine mit einem Ausdruck an, den sie nicht ganz deuten konnte. »Fräulein Borgwart ist nicht mehr bei uns. Tut mir leid, gute Frau, aber ich wüsste nicht, was ich für Sie oder vielmehr Ihren Mann jetzt noch tun könnte. Er wurde rechtmäßig verurteilt, nach den Regeln der deutschen Justiz.«
»Aber das Urteil ist falsch!«, rief Regine verzweifelt. »Frerk ist ein herzensguter Mensch, er könnte niemals einen anderen Menschen erschlagen! Er hat es nicht getan, ich weiß es doch, er war bei mir und hat die Wäsche gelegt!« Sie wischte sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln. »Sie können ihn doch nicht aufhängen für etwas, das er nicht getan hat! Gibt es denn keine Gerechtigkeit mehr?«
Heinrich Melander stand auf und wanderte im Zimmer hin und her. »Ich könnte ein Billett an den Innenminister schicken und um Gnade bitten«, sagte er zögernd. »Ich könnte mit dem Richter reden. Aber ob das was nützt …«
»Das würden Sie tun?«, fragte Regine eifrig. »Bitte … würden Sie es tun?«
Er blickte auf sie hinunter, ein hochgewachsener Mann mit undurchschaubarer Miene. »Ich kann es versuchen«, sagte er steif. »Aber machen Sie sich keine allzu große Hoffnungen … Verstehen Sie: Mein ältester Sohn wurde eingezogen, er muss in den Krieg, ich selbst habe auch meine Sorgen …«
Kurz darauf stand Regine Johannsen im Hof des großen Anwesens, noch immer halb betäubt von Melanders Redefluss. Meinte er es ernst, oder hatte er sie nur loswerden wollen? Die Erleichterung, die sie im ersten Augenblick empfunden hatte, als er sie aus dem Zimmer geleitete und sie die großartige, geschwungene Treppe hinunterstieg, die von der Galerie in eine pompöse Halle voller Ahnenbilder führte, war schon wieder einem dumpfen Druck gewichen, den sie als Angst, ja fast schon als Panik erkannte.
In der Ferne erhob sich wie ein Koloss die verwunschene Düne.
Verwundert betrachtete sie die Krokusse, die im hellen Sonnenlicht aus dem Boden sprossen, das grelle Gelb der Forsythienbüsche, die im Heidekraut anfingen zu blühen. Es wurde Frühling, ging es ihr durch den Kopf, und sie erschrak. Für sie war es bisher Winter gewesen, ein langer, kalter, grausamer Winter ohne ein Licht der Hoffnung. Bald, allzu bald würde der Mai ins Land ziehen. Was würde nur aus ihnen allen werden?
Am 7. Mai 1915 beschoss ein deutsches U-Boot das Passagierschiff Lusitania; über tausend unschuldige Zivilisten, die auf dem Weg von New York nach Europa waren, ertranken im kalten Atlantik. Die Zeitungen berichteten weltweit.
Ebenfalls am 7. Mai 1915 wurde in Flensburg der Häftling Frerk Johannsen morgens gegen sechs Uhr durch den Strick hingerichtet.
Auch er ein unschuldiger Mann, doch darüber berichtete keine Zeitung.
Seine junge Frau brach an seinem Grab weinend zusammen.
Lilly ließ ihr Strickzeug, das ein langer Winterschal für John werden sollte, sinken. Ihre Hände schwitzten, und ihr war klar, dass es eine wahre Schnapsidee gewesen war, bei dreißig Grad Hitze mit warmer Wolle in Kontakt zu kommen, selbst wenn sie im Schatten saß. Sie legte das Strickzeug beiseite und versenkte Hände und Arme in einem Eimer mit Eiswasser, den sie mit auf die Terrasse gebracht hatte. Außer ihren Händen kühlte er auch eine Flasche mit einem selbstgemachten Mix aus Mineralwasser und Grapefruitsaft. Das kalte Wasser erfrischte Arme und Ellenbeugen; sie spritzte es sich ins Gesicht und aufs Dekolleté und benetzte den Hals, besonders im Nacken. Sofort fühlte sie sich ein bisschen wohler. Große Hitze war einfach nicht ihr Ding, zumal der allgegenwärtige erfrischende Nordseewind heute zu einem heißen Wüstenhauch verkommen war. Nichts außer den Rasensprengern auf den angrenzenden Grundstücken bewegte sich, selbst die watteartigen Wölkchen schienen am unbarmherzig blauen Himmel festgewachsen zu sein. Sommer auf Sylt – er war unberechenbar wie die Lottozahlen. Letzte Woche noch hatte es gestürmt und geregnet, jetzt hielt man es in den schattenlosen Dünen und am Strand kaum aus.
Lilly stand auf, um John die kalte Flasche aus dem Eimer zu bringen. Sie wunderte sich, dass ihm die Hitze nicht mehr zusetzte. Die ganze Zeit hatte sie die eifrigen Klopfgeräusche vernommen, mit dem er in seinem kleinen Dünenverhau den Stein bearbeitete, der einmal zu einem Charakterkopf werden sollte. Vor gut einem Jahr hatte John festgestellt, dass es ihm Spaß machte, Stein künstlerisch zu gestalten. Er hatte sich verschiedene Materialien kommen lassen, sie in einer Dünenmulde auf seinem Grundstück in einem hölzernen Unterstand gelagert, war dann aber monatelang nicht dazu gekommen, sich mit seinem neuen Hobby zu beschäftigen. Er behauptete, ihm fehle die innere Ruhe dazu. Letztes Wochenende aber, nach einem eher geruhsamen Frühjahr, in dem sich die Kriminalität in Grenzen gehalten und sie sich im Flensburger Morddezernat beinahe schon gelangweilt hatten, war er auf die Idee gekommen, einen Kopf zu gestalten, ohne Vorlage, einfach aus der Fantasie heraus. »Mal sehen, wohin mich mein Meißel führt«, hatte er grinsend gesagt und einfach angefangen. Und nun, nach einer Woche, war er immer noch dabei. Beide, Lilly und John, hatten sich Urlaub genommen und an das Wochenende drangehängt, so dass sich Lilly auf ein paar entspannte Tage freute. Sie lief auf nackten Füßen durch den Sand, hinunter in das kleine Dünental, das zu Johns altem Kapitänshaus gehörte, und überraschte ihn in dem hölzernen Unterstand, indem sie ihre immer noch kalten Hände in seinen Nacken legte. Sie fuhr mit der Hand in sein volles braunes Haar, so dass es in alle Richtungen stand, kraulte seinen Hinterkopf gegen den Strich, bis er aufhörte zu meißeln, sich aufrichtete und nach mehr kühlenden Massageeinheiten verlangte.
»Mein Nacken ist völlig verspannt von der Arbeit«, behauptete er.
Lilly stellte die kalte Flasche auf einen Tisch mit verschiedenen Werkzeugen. »Darüber reden wir später, mein Lieber. Hier, trink ein paar Schluck, sonst dehydrierst du noch.« Sie legte den Kopf schief und betrachtete Johns Werk. Immerhin konnte man inzwischen vage erkennen, dass es ein Kopf werden sollte. Welchen Geschlechts, war allerdings unklar. »Das Grübchen in der Wange, ist das Absicht? Oder ist dir da der Meißel abgerutscht?« Sie setzte sich auf den Tisch und ließ die nackten, schon gut gebräunten Beine baumeln.
John Benthien, Erster Hauptkommissar bei der Flensburger Kripo, der sich gerade sein restliches Mineralwasser wie eine Dusche über den Kopf goss, sagte würdevoll: »Alles hier ist Absicht, Lilly.«
»Auch die Kartoffelnase?«
»Ich bin noch dabei, sie zu glätten.« Tropfen des Mineralwassers hingen an Nase und Kinn und suchten sich den Weg nach unten. »Du hast kein Vertrauen zu mir«, klagte John. »Du denkst, ich bin ein blutiger Amateur.«
»Niemals«, versicherte Lilly. »Ich habe vollstes Vertrauen in deine Fähigkeiten. Besonders nach dem dreitägigen Steinmetzlehrgang, den du gemacht hast. Möchtest du was Kaltes essen? Ich hätte griechischen Joghurt mit gekühlten Ananasstückchen im Angebot.«
Dazu konnte John natürlich nicht nein sagen. Lilly sprang vom Tisch, umarmte ihn flüchtig und sagte: »Ich hoffe, du werkelst nicht die ganze Zeit an deinem Kopf herum. Ich will auch noch was von dir haben.«
John warf ihr nur einen Blick zu, aus Augen, die, was die Farbe anbelangte, dem Himmel Konkurrenz machten, dann setzte er schon wieder den Meißel an.
Auf dem Rückweg zur Terrasse fiel Lilly ein Junge auf, der in der kurzen Sackgasse herumlungerte, die zu der Düne führte, auf deren Gipfel das alte Kapitänshaus stand. Ab und zu warf er einen Blick nach oben. Ansonsten war alles menschenleer und grabesstill, kaum ein Auto fuhr die Listlandstraße entlang. Die Reetdächer der Häuser lugten zwischen den Dünen hervor, ab und zu blitzte ein gelber oder blauer Sonnenschirm durch das hoch geschossene Dünengras, selbst das Meer murmelte nur leise vor sich hin und produzierte keine Wellen.
Johns Friesenhaus, das ihm und seinem Vater gehörte – ererbt von den Vorvätern –, ächzte unter der Hitze; der Dachstuhl mit dem Reetdach, das bald mal erneuert werden musste, roch nach altem Holz, nach Staub und Gräsern, hielt das Haus aber angenehm kühl. Lilly ging in die Küche, nahm den cremigen Joghurt aus dem Kühlschrank, süßte ihn mit etwas flüssigem Süßstoff und schnitt die Ananasringe in kleine Stücke, die sie dem Joghurt hinzufügte. Draußen vor dem Küchenfenster, tief unter ihr, schmolz langsam der Asphalt auf der Straße und begann, Blasen zu werfen. Niemand außer dem Jungen war zu sehen, den sie von der Terrasse aus schon beobachtet hatte. Wollte er etwas von John, von ihr oder von Johns Vater, der gerade auf einer Wattwanderung war? Sollte sie ihn rufen, ihn ansprechen? Während sie noch überlegte, war der Junge verschwunden. Sie stellte die beiden Schälchen auf ein Tablett und trug sie hinaus auf die Terrasse, brachte John seins und wurde durch einen zerstreuten Kuss belohnt.
»Iss, bevor es warm wird«, empfahl sie John noch, der ganz versunken schien in seine Arbeit. Dann ging sie zurück zur Terrasse, schob ihren Stuhl ein wenig zur Seite, um mehr Schatten zu bekommen, legte ihre nackten Füße auf einen zweiten Stuhl und genoss jeden Löffel der cremigen Erfrischung.
So ganz konnte Lilly ihr Glück immer noch nicht fassen, dass sie nun mit John zusammen war, der Kollege, mit dem sie seit fünf Jahren bei der Mordkommission in Flensburg zusammenarbeitete. Als sie sich kennengelernt hatten, war John noch mit seiner Lebensgefährtin Karin liiert gewesen und Lilly mit dem Fotografen Simon, der sich zumeist in Kriegsgebieten herumtrieb und daher in der Hauptsache abwesend war. John war ein sehr angenehmer Kollege und Vorgesetzter, teamfähig, fair, der Leistung anerkannte und auch mit Lob nicht geizte. Irgendwann waren beide wieder solo gewesen, und es war eine Art Kameradschaft entstanden, obwohl Lilly sich schon immer eine feste Beziehung hatte vorstellen können. Aber auch John? Sie war sich da nicht so sicher gewesen und hatte sich zurückgehalten – immerhin waren sie Arbeitskollegen –, bis er sich vor einigen Monaten ein Herz gefasst und deutlich gemacht hatte, dass er sich durchaus mehr vorstellen könnte als nur Freundschaft.
Doch ihre Beziehung war schnell auf die Probe gestellt worden. Im eiskalten Februar, während einer sehr belastenden Mordermittlung, kam es zu einer Krise. Simon kehrte schwerverletzt nach Deutschland zurück. Da sie sich in aller Freundschaft getrennt hatten und Simon keine Verwandtschaft mehr in Deutschland hatte – seine Schwester lebte in London –, fühlte Lilly sich verpflichtet, sich um ihn zu kümmern; sie besuchte ihn im Krankenhaus, tröstete ihn, hörte zu und erledigte alle wichtigen Gänge für ihn. Doch seine Bemühungen, sie wieder zurückzugewinnen, lehnte sie ab. Das kam für sie überhaupt nicht in Frage.
Leider, fand Lilly, hatte sie sich damals sehr ungeschickt verhalten, da sie John nicht gleich reinen Wein eingeschenkt hatte. Sie hatte ihn zusätzlich zu den Ermittlungen mit ihren privaten Problemen nicht belasten wollen, und er hatte wohl befürchtet, Simon könnte in ihrem Leben doch wieder eine Rolle spielen.
Inzwischen waren aber alle Missverständnisse ausgeräumt, Simon war weit weg in London, wo er für eine Zeitung arbeitete. Lilly glaubte zwar, dass er sich eine Wiederbelebung ihrer Beziehung noch immer nicht so ganz aus dem Kopf geschlagen hatte, er rief sie häufiger an und wurde ihr manchmal ein bisschen zu vertraulich, aber sie war doch sehr erleichtert gewesen, als sich mit John alles wieder eingerenkt hatte. Simon war schließlich zu einem Invaliden geworden, nachdem ihm eine Landmine den Unterschenkel weggerissen hatte; da musste auch John irgendwann einsehen, dass Lilly das nicht einfach hatte ignorieren können und ihm aus diesem Grund geholfen hatte.
Und nun war alles gut.
Lilly lutschte verträumt an ihrem Löffel mit dem sahnigen Joghurt und fühlte sich einfach nur glücklich. Sonne, Wildhecken von duftenden Kamtschatkarosen, ein altes Haus mit Blick über die wogende Dünenlandschaft hinüber zu einem unwahrscheinlich blauen Meer, John, der zufrieden an seinen Steinen werkelte, die Aussicht auf ein paar freie Tage, pure, reine Schönheit … sie war wirklich ein Glückskind. Jedenfalls im Augenblick. Und Johns liebenswerter Vater war auf einer Wattwanderung. Was konnte man mit diesem Nachmittag alles anstellen, allein im Haus, allein auf dem Grundstück?
Sie kühlte ihre Hände nochmals im Eiswasser, um sie John gleich erneut in den Nacken zu legen, bevor sie ihm sanft den Meißel aus der Hand nehmen würde … als eine Bewegung auf der Terrasse sie ablenkte.
Der fremde Junge, der noch vor einigen Minuten unten um das Haus herumgelungert hatte, war offenbar inzwischen die Düne hochgeklettert, stand am Rande der Terrasse und starrte sie aus großen, dunklen Augen an. Unschlüssig trat er von einem nackten, schmutzigen Fuß auf den anderen. Sie war sich nicht sicher, meinte jetzt aber, ihn schon einmal auf dem Fahrrad hier in der Gegend gesehen zu haben. Sie schätzte ihn auf vierzehn oder fünfzehn. Ein schmuddeliges graues Shirt zipfelte um seine hagere Gestalt, dazu trug er bunte Bermudas. Sein wilder brauner Haarschopf schien seit Tagen nicht mehr gekämmt worden zu sein, um den Hals hatte er ein Lederband hängen. Er hatte ein hübsches Gesicht mit ein paar Pickeln auf dem Kinn, zu lange Arme und eine etwas eingefallene Brust, die nicht dafür sprach, dass er viel Sport machte. Sein Blick war unstet, er vermied es jetzt, sie direkt anzusehen, sondern schaute über die Dünen und die Terrasse, musterte den aufgespannten Sonnenschirm, das leergegessene Joghurtschälchen auf dem mit einem dunkelgrünen Tuch bedeckten Tisch, den Wassereimer, den Stapel von Kriminalromanen.
»Hier wohnt doch der Kripo-Typ aus Flensburg?«, sagte er schließlich, bevor seine Augen wieder auf Wanderschaft gingen. Seine Stimme klang dunkel und rau, der Stimmbruch musste wohl demnächst abgeschlossen sein.
Lilly seufzte innerlich. »Was willst du von ihm?«
Der Junge kam unschlüssig zwei Schritte näher. Jetzt entdeckte sie, dass er etwas in der Hand hielt, das auf den ersten Blick aussah wie kleine, dünne Zweige.
»Ich wollte ihm das hier zeigen.«
»Was ist das?«
Der Junge kam noch einen Schritt näher und ließ seinen Fund auf den Tisch fallen. Lilly fuhr entsetzt zurück.
»Das sind zwei Mittelhandknochen eines Homo sapiens und die proximale Phalange des Daumens – oder des kleinen Fingers, das kann ich nicht so genau entscheiden.«
Lilly, etwas verwirrt von den unerwarteten Fachausdrücken, starrte den Jungen an. »Wo hast du dieses Zeug her?«