Inhalt

  1. Titel
  2. Zu diesem Buch
  3. Widmung
  4. Playlist
  5. Kapitel 1
  6. Kapitel 2
  7. Kapitel 3
  8. Kapitel 4
  9. Kapitel 5
  10. Kapitel 6
  11. Kapitel 7
  12. Kapitel 8
  13. Kapitel 9
  14. Kapitel 10
  15. Kapitel 11
  16. Kapitel 12
  17. Kapitel 13
  18. Kapitel 14
  19. Kapitel 15
  20. Kapitel 16
  21. Kapitel 17
  22. Kapitel 18
  23. Kapitel 19
  24. Kapitel 20
  25. Kapitel 21
  26. Kapitel 22
  27. Kapitel 23
  28. Kapitel 24
  29. Kapitel 25
  30. Kapitel 26
  31. Kapitel 27
  32. Kapitel 28
  33. Kapitel 29
  34. Epilog
  35. Danksagung
  36. Die Autorin
  37. Bianca Iosivoni bei LYX
  38. Impressum

BIANCA IOSIVONI

Der letzte
erste Song

Roman

Zu diesem Buch

Als Grace Watkins für ihr Studium nach West Virginia gezogen ist, hat sie sich selbst ein Versprechen gegeben: Ich werde nie wieder singen! Zu sehr schmerzt die Erinnerung an all die Momente, in denen sie den Ansprüchen ihrer Mutter – und ihren eigenen – nicht genügt hat. Doch als Mason für seine Band Waiting for Juliet eine Sängerin sucht, lässt sie sich dazu überreden vorzusingen. Allerding ist sie nicht darauf vorbereitet, dass es ihr tatsächlich Spaß macht, wieder auf einer Bühne zu stehen – und erst recht nicht auf das Prickeln, das sie auf einmal in Masons Nähe spürt. Oder dass sich hinter seinen vorlauten Sprüchen viel mehr verbirgt, als es den Anschein hat. Und auch das Herzklopfen, das sie plötzlich bekommt, wenn sie gemeinsam Songs schreiben und Musik machen, trifft sie völlig unvorbereitet. Denn egal, wie richtig es sich anfühlt, mit Mason zusammen zu sein – Grace weiß, dass sie nie mehr als Freunde sein können. Mason hat eine Freundin und ist deshalb absolut tabu für sie. Aber ihr Verstand lässt sich von dieser Tatsache deutlich leichter überzeugen als ihr Herz …

Für Melanie.

Und für alle,

die Musik genauso sehr lieben und leben

wie Mason und Grace.

Playlist

David Guetta feat. Sia – Titanium

Madilyn Bailey – Scars

Aloe Blacc – Wake Me Up (Acoustic)

Self Deception – Fuckin’ Perfect

Macy Kate & Kurt Hugo Schneider – Radioactive

Kurt Hugo Schneider, Sam Tsui & Megan Nicole – Drag Me Down

Adele – Rolling In The Deep

Idina Menzel – Let It Go

Fugees – No Woman, No Cry

Dion – Runaround Sue

Solomon Burke – Cry to Me

Swing Republic – Crazy in Love

Chester See & Lana McKissack – Stay With Me

Little Mix – Towers

Alex Goot, Tiffany Alvord & Luke Conard – We Are Young

Kurt Hugo Schneider, Sam Tsui, Alyson Stoner – Despacito

Rihanna – Love On The Brain

Fame On Fire – Hello

Roy Orbison – Oh, Pretty Woman

Halsey – I Walk The Line

Fame On Fire – Numb

Fun. – All Right

Dion & The Belmonts – A Teenager in Love

Jon D & Tiffany Alvord – This Town

Kurt Hugo Schneider, Christina Grimmie & Sam Tsui – Just A Dream

Little Mix feat. Jason Derulo – Secret Love Song

Vitamin C – Graduation (Friends Forever)

Dylan betrachtete mich wie beim allerersten Mal. Ruhig. Bewusst. Auskostend. Wie ein letzter erster Blick, denn wir wussten beide, dass er mich nie mehr auf diese Weise ansehen würde.

Der letzte erste Blick

»Und was war das?«, fragte ich leise.

»Noch ein erster Kuss, der nicht zählt?«

»Nein, Elle.« Luke lehnte seine Stirn an meine und als er die Luft ausstieß, streifte sein warmer Atem mein Gesicht. »Das war unser letzter erster Kuss

Der letzte erste Kuss

Ohne ein weiteres Wort stand Trevor auf, nahm mich bei der Hand und zog mich mit sich. Weg von den Tischen und in den hinteren Bereich, wo keiner hinging … außer mit einer ganz bestimmten Absicht. Wenn es nach mir ging, würde dies hier in einer weiteren gemeinsamen Nacht enden – nur dass es diesmal hoffentlich unsere letzte erste Nacht sein würde.

Die letzte erste Nacht

Kapitel 1

Grace

An einem Dienstagmorgen um vier Uhr zweiunddreißig vor Mason Lewis’ Wohnungstür zu stehen, war eventuell nicht meine beste Idee gewesen. Aber ich hatte einfach nicht schlafen können, sondern mich stundenlang nur in meinem Bett hin und her gewälzt. Als ich es nicht mehr ausgehalten hatte, war ich aufgestanden, hatte geduscht, mich angezogen und geschminkt und war hierhergekommen. Ausgerechnet hierher.

Ich ließ die Hand wieder sinken, mit der ich gerade hatte anklopfen wollen, und begann unruhig im Flur auf und ab zu laufen.

Das hier war eine total verrückte, völlig kopflose Aktion und passte so gar nicht zu mir. Ich war schließlich die beherrschte Tochter, das Vorzeigemädchen, das nett lächelte und zu allem brav Ja und Amen sagte.

Kopfschüttelnd blieb ich stehen. Nein. Das war ich früher einmal gewesen. Aber mit meinem Umzug nach Huntington, mit meinem neuen Leben am College hatte ich all das hinter mir gelassen. Oder etwa nicht?

Du hast so ein hübsches Gesicht, Grace! Ich wünschte nur, du würdest mehr auf dein Gewicht achten.

Moms Worte hallten unablässig in meinen Gedanken wider. Ich wünschte, ich könnte behaupten, sie wären Jahre alt, aber das waren sie nicht. Ich hatte sie erst letzte Woche gehört, als ich während der Semesterferien zu Hause in Montana gewesen war.

Ich verstehe nicht, warum du ständig Gewichtsprobleme hast, du bist doch nicht dumm.

Als ob das eine irgendetwas mit dem anderen zu tun hätte. Außerdem hatte ich keine Gewichtsprobleme! Ja, ich hatte während der letzten beiden Semester ein paar Kilos zugenommen und damit – großes Drama! – so etwas wie ein Normalgewicht erreicht. Für meine Mutter kam das tatsächlich einer Katastrophe gleich, was sie mich in den letzten Wochen immer wieder hatte wissen lassen. Und obwohl ich mich gegen ihre ständigen Sticheleien gewehrt und alles getan hatte, um sie nicht an mich heranzulassen, war dennoch etwas davon hängen geblieben. Etwas, das an mir nagte. Und dann hatte es nur noch diesen Spruch von Daniel am Sonntagabend gebraucht …

Ich schluckte hart und wandte mich wieder der Tür zu. Ich konnte es nicht mehr hören, weder laut ausgesprochen noch in meinen Gedanken. Diese Aktion mit Mason wäre kurz, schmerzhaft und schnell wieder vorbei. Keine ewig langen Trainingseinheiten im Fitnesscenter, wo mich jeder sehen und über mich urteilen könnte. Keine von Moms ständig neuen Ernährungsplänen. Nur ein hartes Workout, mit dem ich in Rekordzeit wieder die Figur erreichen würde, die ich zu Beginn des Studiums gehabt hatte. Und dann wäre endlich Ruhe.

Was Mason anging … Wir mussten keine besten Freunde werden. Um ehrlich zu sein, wollte ich jemanden wie ihn gar nicht näher kennenlernen. Was auch der Grund war, warum ich um vier Uhr fünfundvierzig noch immer vor dieser Tür stand.

Mason und ich hatten nicht viel gemeinsam. Zwar studierten wir beide Theater- und Musikwissenschaften an einem relativ kleinen College und hatten dank Emery einen Bekanntenkreis, der sich stellenweise überschnitt und wodurch wir uns unweigerlich über den Weg liefen, aber im Grunde gab es nichts, was uns verband. Wenn ich ehrlich war, konnte ich ihn nicht mal besonders gut leiden. Und genau deshalb war ich hier. Mason war so ziemlich der einzige Mensch, bei dem es mir egal war, was er von mir dachte. Ich mochte ihn sowieso nicht – und das beruhte auf Gegenseitigkeit, da war ich absolut sicher. Also war er auch der ideale und durch seine Vorgeschichte der einzige Kandidat für das, was ich vorhatte. Als Pluspunkt war ich mir ziemlich sicher, dass er keine Fragen stellen würde – und falls doch, würde er sich mit meinem eisigen Schweigen begnügen, da Mason sich genauso wenig für mich und das, was ich tat, interessierte wie ich mich für ihn. Der einzige Moment, in dem ich irgendwie wichtig für ihn gewesen war, war der Auftritt letztes Jahr gewesen, als ich für die ausgefallene Sängerin seiner Band eingesprungen war. Dafür schuldete er mir bis heute etwas. Höchste Zeit, diesen Gefallen einzufordern.

Ich straffte die Schultern, atmete tief durch und hob die Hand zum Klopfen.

Mason

»Du schuldest mir noch einen Gefallen.«

Finster starrte ich die Person vor meiner Wohnungstür an und rieb mir den Schlaf aus den Augen. »Und das fällt dir ausgerechnet um vier Uhr morgens ein?«

Jeder meiner Freunde und Bekannten hätte sich einfach an mir vorbeigeschoben und wäre hereingekommen, egal ob ich im Weg stand oder nicht. Aber nicht Grace Watkins. Oh nein. Ganz die Lady wartete sie höflich und zog lediglich die schmalen Brauen in die Höhe, bis sie unter ihrem Pony verschwanden. Seufzend machte ich einen Schritt zur Seite und ließ sie rein. Jetzt war ich ja eh schon wach. Danke auch.

»Es ist kurz vor fünf«, informierte sie mich im Vorbeigehen.

Als ob das einen Unterschied machen würde.

Sie betrat die Wohnung, die ich mir mit ihrer besten Freundin Emery und einem neuen Austauschschüler aus Japan teilte, von dem wir im neuen Semester noch kaum etwas gesehen oder gehört hatten, und ließ ihre Handtasche auf den Sofatisch fallen. Dann erst drehte sie sich wieder zu mir um. Dabei schwang ihr langer rosafarbener Rock mit und ließ etwas nackte Haut über ihren Knien aufblitzen, bevor der Stoff wieder zurückfiel. Ich riss den Blick davon los und ließ ihn an ihr hinaufgleiten. Grace war schmal, fast schon zierlich, was durch die Kleider und Röcke, die sie ständig trug, nur noch betont wurde. Und sie war klein. Das war mir in dem einen Jahr, das ich sie mittlerweile kannte, nie aufgefallen, aber vor einigen Wochen hatte sie bei einem Spieleabend in der WG von Elle und Tate ihre Schuhe ausgezogen. Als wir dann zufällig nebeneinander in der Kochecke standen, reichte sie mir plötzlich statt bis zum Kinn nur noch bis zur Brust. Auch jetzt trug sie High Heels mit Absätzen, die so hoch und dünn waren, dass ich absolut nicht begreifen konnte, wie sie in den Dingern überhaupt laufen konnte. Dazu ein weißes, mit funkelnden kleinen Steinchen besetztes Oberteil und darüber eine dünne Strickjacke. Keine richtige Jacke, die einen irgendwie warmhalten würde. Aber die brauchte sie mitten im August auch nicht. Da war es selbst um vier Uhr morgens nicht besonders kalt. Ach nein, falsch: Um kurz vor fünf.

»Andere Leute sind um diese Zeit schon beim Sport oder auf der Arbeit«, sagte sie herablassend. In ihrem Gesicht war keine Spur von Müdigkeit zu erkennen – keine Augenringe, keine Kissenabdrücke auf der Wange, kein verschlafener Blick. Ihre Augen waren geschminkt, die Wimpern ewig lang, ihre Lippen glänzten rosig, und das schwarze Haar fiel ihr in leichten Wellen bis auf die Schultern. Wie konnte jemand schon um diese Uhrzeit so … perfekt aussehen?

»Diese Leute stehen so früh auf, weil sie verrückt sind oder keine andere Wahl haben«, brummte ich. »Ich schon. Mein erster Kurs beginnt um zehn!«

Was bedeutete, dass ich noch locker vier Stunden hätte schlafen können. Vier. Stunden.

»Dann kannst du heute ja eine Menge vorher schaffen. Gern geschehen«, fügte sie mit einem scheinheiligen Lächeln hinzu.

Ich wünschte, ich könnte sie in Gedanken verfluchen, aber dazu war ich noch nicht mal ansatzweise wach genug. Ohne irgendeine Form von Koffein intus zu haben, ging bei mir nichts. Also rieb ich mir ein weiteres Mal über das Gesicht und schlurfte zu der kleinen Kochecke. Sie war spartanisch eingerichtet mit Wasserkocher, Mikrowelle und einem kleinen Kühlschrank, da keiner von uns ein großer Koch war. Das Höchste der Gefühle waren irgendwelche Fertiggerichte. »Was willst du hier, Grace? Emery ist nicht da.«

Ich musste nicht nachschauen, um das zu wissen. Ihre offene Zimmertür zu dieser Zeit sagte mir mehr als genug. Und wenn Emery nicht hier war, hieß das, dass sie die Nacht bei meinem besten Kumpel Dylan verbrachte.

»Meinen Gefallen einlösen.« Grace folgte mir und schob mich mit sanfter Bestimmtheit zur Seite, als ich unkoordiniert mit Kaffeepulver und einer Tasse herumhantierte. »Letztes Jahr habe ich dir bei diesem Konzert geholfen, als ich für eure kranke Sängerin eingesprungen bin. Du erinnerst dich?«

»Ich erinnere mich«, bestätigte ich trocken und ließ mich auf einen der Hocker an der Kücheninsel fallen, um ihr das Feld zu überlassen. Wahrscheinlich hatte sie hier schon öfter Kaffee gekocht als ich selbst. Meistens nahm ich mir etwas auf dem Campus mit oder schaute kurz bei meinen Kumpels vorbei und bediente mich an ihrer großartigen Kaffeemaschine. Wie so ziemlich jeder aus unserem Freundeskreis, allen voran Elle. Aber die wohnte ja auch praktisch bei Luke und machte ständig Filmabende mit ihm. Was aber zum Glück nicht bedeutete, dass ich keine Games mehr mit meinen Jungs zocken konnte, auch wenn mich diese verdammte Katze dort eines Tages umbringen würde … Irritiert schüttelte ich den Kopf. Wie um alles in der Welt kam ich jetzt darauf? Gott, ich brauchte dringend einen Kaffee. Oder noch ein paar Stunden Schlaf. Vorzugsweise Letzteres.

Doch so leicht gab Grace nicht auf. Wortlos goss sie heißes Wasser über das Pulver, rührte um und stellte mir die dampfende Tasse hin. Ich beobachtete jede ihrer Bewegungen skeptisch. Es war ungewohnt, dass sie so nett zu mir war – oder meine bloße Existenz mit etwas anderem als einem Augenrollen und leise gemurmelten Beleidigungen kommentierte. Dabei hatte ich ihr überhaupt nichts getan. Gut, im ersten Semester hatte ich bei einer Aufführung, für die wir beide vorgesprochen hatten, dafür gesorgt, dass sie keinen Part darin erhielt, nachdem ich die männliche Hauptrolle bekommen hatte – aber das hatte ich mit gutem Grund getan. Die Besetzung hatte zu einer anderen Kommilitonin viel besser gepasst als zu Grace. Deswegen konnte man nach fast einem Jahr aber nicht immer noch sauer sein. Oder?

Sie schwieg, während ich den ersten Schluck meines Kaffees trank und gleich darauf das Gesicht verzog. Irrgs!

Ohne etwas sagen zu müssen, reichte sie mir den Zucker. Erst als ich ein paar Löffel reingeschüttet hatte, war das Gebräu genießbar. Und mit jedem Schluck wurde ich ein Stückchen wacher, auch wenn es draußen noch immer erschreckend dunkel war. Unser Wohnbereich hatte nur ein einziges Fenster, und dahinter war alles pechschwarz. Nicht das geringste Anzeichen von Sonne. Wenn man sich ans Fenster stellen würde, könnte man wahrscheinlich ein paar Straßenlaternen und vereinzelte Lichter in einigen Fenstern erkennen, hinter denen Leute ebenfalls viel zu früh auf den Beinen waren. Ich schauderte. Der Anblick und die Uhrzeit erinnerten mich viel zu sehr an meine Zeit bei der Army. Und es hatte einen Grund, dass ich nicht mehr dort war, sondern an einem College mit einem Stundenplan, der es mir erlaubte, an einem Dienstag bis kurz vor zehn zu schlafen. Zumindest, wenn man nicht vorher von ungebetenen Gästen aus dem Bett geworfen wurde.

Ich sah zurück zu Grace, die mich noch immer so aufmerksam studierte, als erwartete sie irgendeine Reaktion von mir. Dabei war ich kaum wach genug, um mehrere Sätze aneinanderzureihen. Stattdessen erwiderte ich ihren Blick und musterte sie genauso unverhohlen wie sie mich.

Grace hatte eine ebenmäßige, blasse Haut und einen kleinen Schönheitsfleck an der rechten Wange. Ihre Augen waren eine Mischung aus Grün und Blau, mit dichten Wimpern, die genauso dunkel waren wie ihr Haar. Der Kontrast zwischen ihrer hellen Augenfarbe und dem schwarzen Haar ließ ihre Augen riesig wirken. Es war das Erste, was einem an ihr auffiel, dicht gefolgt von den hohen Wangenknochen, der etwas zu groß geratenen Stupsnase und einem wunderschönen Mund mit warmen, weichen Lippen. Das wusste ich so genau, weil ich diese Lippen erst vor ein paar Monaten bei einer Runde Wahrheit oder Pflicht geküsst hatte.

»Bist du jetzt wach?«, unterbrach Grace unser Stare-Off und meine Gedanken.

»Sag du es mir.« Ich ließ mir Zeit damit, meinen Blick ein weiteres Mal über sie gleiten zu lassen, bis ich wieder bei ihrem Gesicht angekommen war.

Einen Moment lang hielt sie meinen Blick fest, dann blinzelte sie leicht und schaute kurz zur Seite, als müsse sie sich aus ihren Gedanken reißen. »Mein Gefallen«, erinnerte sie mich. Ihre Stimme war eine Spur leiser geworden, aber nicht weniger bestimmt. »Ich will, dass du mit mir trainierst. Fünf, sechs Wochen sollten ausreichen.«

Ich runzelte die Stirn. »Was trainieren? Deine Stimme? Den Text für eine Aufführung? Den …«

»Ich rede von Sport.« Ungeduldig schob sie sich das Haar zurück. »Du warst bei der Army, also hast du auch an einem Bootcamp teilgenommen. Ich will lernen, wie ihr dort trainiert habt.«

Okay, jetzt hatte ich endgültig den Faden verloren. Vielleicht lag es an dieser unmenschlichen Uhrzeit, oder der Tatsache, dass ein Teil von mir damit beschäftigt war zu ergründen, warum ausgerechnet Grace Watkins mitten in der Nacht in meiner Küche stand, aber ich konnte ihr nicht folgen.

»Du willst, dass ich dich trainiere?«, wiederholte ich ungläubig. »Dir ist aber schon klar, dass Luke der Sportler in unserer Gruppe ist?«

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Luke war nicht bei der Army. Du schon.«

»Du willst den Militärdrill? Echt jetzt?«

Welcher vernünftige Mensch gab sich das freiwillig, wenn er nicht vorhatte, zur Armee zu gehen und dort Karriere zu machen? »Darf ich fragen, warum du dir das antun willst?«

Zum ersten Mal wirkte Grace nicht mehr ganz so entschlossen, sondern zögerte einen Herzschlag lang. Dann verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Das ist meine Sache.«

»Natürlich«, erwiderte ich gedehnt und nippte an meinem Kaffee. Okay, andere Taktik. »Was sagt eigentlich dein Freund dazu, dass du um vier Uhr morgens bei einem anderen Kerl auf der Matte stehst und ihn zum Sport nötigen willst?«

»Oh, Entschuldigung, ich wusste nicht, dass ich Daniel erst um Erlaubnis bitten muss, bevor ich irgendetwas tue.« Sie stützte sich mit beiden Händen auf die Kochinsel und fixierte mich. »Gib mir Bescheid, wenn du im 21. Jahrhundert angekommen bist, Mason.«

Ich gab mir keine Mühe, mein Grinsen zu verbergen. Auch wenn mich diese Frau nicht ausstehen konnte, mir gefiel, dass sie nie um eine Antwort verlegen zu sein schien.

Kopfschüttelnd richtete sie sich wieder auf. »Und was sagt deine Freundin dazu, dass du mit einer anderen Frau um fünf Uhr morgens Kaffee in deiner Wohnung trinkst?«

Schlagartig verging mir das Grinsen. Ich räusperte mich und nahm einen großen Schluck aus meiner Tasse. »Das mit Jenny und mir ist gerade …«

»Ach? Ist es wieder so weit?«

Ich verschluckte mich an meinem Kaffee. »W-was … was soll das heißen?«, brachte ich hustend hervor.

Grace verdrehte die Augen, wandte sich kurz ab und stellte mir gleich darauf ein Glas Wasser hin. Ich stürzte es hinunter, als würde es um Leben und Tod gehen. Scheiße … Ich hustete ein letztes Mal und klopfte mir gegen die Brust. Meine Augen tränten, und meine Kehle brannte.

»Was zum Teufel sollte das denn?«, stieß ich hervor und räusperte mich, weil ich so krächzend klang.

»Komm schon, jeder weiß von euren ständigen On und Offs.«

Autsch. Das hatte ich mir zwar schon denken können, aber so direkt hatte es mir noch niemand ins Gesicht gesagt. Und wenn ich so darüber nachdachte, wollte ich wirklich nicht mit Grace Watkins über mein Liebesleben – oder vielmehr das Fehlen dessen – reden. Dafür war sie mir zu brutal ehrlich. Nur Tate war schlimmer, denn abgesehen von ehrlich war die einfach nur gemein.

»Vergiss, dass ich gefragt habe.«

Sie lächelte selbstzufrieden. »Liebend gern. Also? Wie sieht es mit dem Training aus?«

»Habe ich eine Wahl?«

»Nein.«

Ich stieß ein lautloses Lachen aus. »Alles klar.«

»Eins noch.«

»Ja?«

Sie zögerte, reckte dann aber das Kinn vor. »Diese Sache bleibt unter uns, verstanden?«

Ich blinzelte überrascht, nickte jedoch. »Meinetwegen«, erwiderte ich, trank die Tasse aus und stand auf. »Dann lass uns gleich loslegen.«

Überrascht wich sie zurück. »Wie bitte? Jetzt sofort?«

»Dachtest du etwa, du kannst mich um vier Uhr morgens aus dem Bett schmeißen und ich werde dich nicht sofort da rausscheuchen, um dich mit zig Liegestützen zu quälen?«

Sie kniff die Augen zusammen. »Ist das die Rache dafür, dass ich dich um kurz vor fünf geweckt habe?«

»Jepp.« Ich streckte mich. »Denkst du, du kannst es mit mir aufnehmen?«

Statt einer Antwort stieß sie sich von der Kücheninsel ab, machte einen großen Bogen um mich und hob ihre Tasche vom Sofatisch auf. Dann steuerte sie die Tür an. »Und wie ich das kann. Wir treffen uns in zehn Minuten vor dem Wohnheim«, fügte sie hinzu, bevor die Tür hinter ihr zufiel.

Sekundenlang starrte ich auf das dunkle Holz und fragte mich unweigerlich, was um alles in der Welt ich mir da gerade eingebrockt hatte.

Grace

Was um alles in der Welt war in mich gefahren, diese verrückte Idee durchzuziehen und ausgerechnet Mason Lewis darum zu bitten, mit mir zu trainieren? Das war der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, als ich die Treppen nach unten nahm. Ich konnte den Kerl nicht leiden. Er war ein sexistischer Mistkerl, eine Drama-Queen, ein Partytier und jemand, der ständig im Rampenlicht stehen musste. Aber er war auch jemand mit einer unglaublichen Stimme. Einer Stimme, die mir unter die Haut ging, die mich den ganzen Sommer über verfolgt hatte und … Nein. Stopp. Zurückspulen. Er war ein Mistkerl. Ein Idiot. Außerdem hatte er sich im vorletzten Semester dafür eingesetzt, dass ich meine erste Hauptrolle nicht bekam. Und warum? Weil mein Äußeres und meine Stimme angeblich nicht zu der Rolle gepasst hatten. Stattdessen war sie an eine blonde Schönheit mit Sopranstimme gegangen, denn sie schaffte die hohen Töne im Musikstück, die ich nicht erreichen konnte. Nicht mehr.

Unbewusst strich ich über die etwa vier Zentimeter lange Narbe an meiner linken Schläfe und ließ die Hand sofort wieder sinken, als mir klar wurde, was ich da tat. Jetzt war nicht die Zeit und der Ort, um darüber nachzudenken, warum ich eine Rolle nicht bekommen hatte, die man mir früher auf dem Silbertablett serviert hätte. Ich warf einen kurzen Blick auf die schmale roségoldene Uhr an meinem Handgelenk. Noch acht Minuten. Ich musste mich beeilen, wenn ich mich an meine eigene Zeitangabe halten wollte. Und das würde ich, denn Pünktlichkeit und gute Manieren waren die wenigen sinnvollen Dinge, die man mir zu Hause beigebracht hatte.

Ich stieß die Eingangstür auf und hastete über den Platz. Mein Wohnheim war eines von vier Gebäuden, die um eine Grünanlage herum gebaut waren. Mason und Emery teilten sich eine WG in dem einen Haus, mein Einzelzimmer befand sich im Wohnheim gegenüber. Noch hatte die Spätsommerhitze nicht eingesetzt, und es war ein angenehm frischer Dienstagmorgen. Straßenlampen beleuchteten den Weg, und zwischen den Wolken am Himmel meinte ich, ein vereinzeltes Funkeln erkennen zu können. Bei Weitem nicht so viele Sterne wie zu Hause in Montana. Für mehr als einen kurzen Blick nach oben blieb mir jedoch keine Zeit. Ich betrat mein Wohnheim, nahm den Aufzug nach oben und zog mir die Kleider aus, sobald ich mein Zimmer betreten hatte. Meine Sportsachen zu finden, war nicht schwer. In dem winzigen Raum hatte ich einen noch winzigeren Schrank, und bis auf die Sportkleidung warteten so ziemlich alle anderen Sachen darauf, gewaschen zu werden.

Ich riss die ordentlich zusammengefalteten Kleidungsstücke aus dem Schrank, schlüpfte hinein, schnappte mir eine Wasserflasche aus dem Minikühlschrank in der Ecke und stürmte zurück in den Flur. Noch im Laufen zog ich ein Zopfgummi aus der Hosentasche, zögerte jedoch. Ich trug meine Haare immer offen. Nicht nur, weil mir das besser gefiel, sondern auch, um diese schreckliche Narbe zu verbergen. Aber wenn Masons Bootcamp auch nur ansatzweise das war, was ich online über Militärtraining gelesen hatte, würde ich mit offenen Haaren sterben. Außerdem konnte es mir sowieso egal sein, was dieser Typ dachte.

Kurz entschlossen band ich mir das schwarze Haar zu einem Zopf zusammen, auch wenn ich diese Frisur verabscheute, und hastete weiter.

Als ich wieder nach draußen trat, war Mason schon da. Er hatte sich eine lange Hose angezogen und ein T-Shirt übergeworfen, dazu trug er ein Basecap auf dem Kopf. Verkehrt herum. Natürlich. Was auch sonst? Ich unterdrückte den Impuls, die Augen zu verdrehen. In seiner Miene war keine Müdigkeit mehr zu erkennen, während er mir entgegensah und dabei auf der Stelle auf und ab sprang, um sich aufzuwärmen.

Er mochte zwar kein Sportler sein wie Luke, der festes Mitglied des Leichtathletikteams war, aber man sah Mason an, dass er noch immer regelmäßig trainierte. Das schlichte graue T-Shirt spannte sich bei jeder Bewegung und betonte die Muskeln darunter. Nett. Genau wie sein Tattoo. Es bedeckte seinen ganzen linken Arm und passte so überhaupt nicht zu jemandem, dem man die Militärvergangenheit noch immer an seinem kurzen Haarschnitt ansah: ein riesiger schwarzer Violinschlüssel, dazu einzelne Textpassagen, die vermutlich aus Songtexten stammten. Da ich jemand war, der sich ein Leben ohne Musik nicht vorstellen konnte, war ich sofort neugierig geworden, als ich die Tätowierung das erste Mal gesehen hatte. Allerdings war ich Mason nie nahe genug gekommen, um die Schrift auf seiner Haut entziffern zu können. Oder vielmehr war ich beim einzigen Mal, bei dem ich ihm tatsächlich näher gekommen war, viel zu sehr von seinen Augen, seinen Händen und dem schmalen Silberring in seiner Unterlippe abgelenkt gewesen.

Ich hatte mich nie gefragt, wie es wohl wäre, jemanden mit einem Lippenpiercing zu küssen, weil diese Leute grundsätzlich nicht mein Typ waren. Aber jetzt hatte ich meine Antwort. Obwohl es nur eine Aufgabe war, die Tate uns beiden im letzten Semester beim Spielen von Wahrheit oder Pflicht aufgezwungen hatte, wurde ich die Erinnerung an diesen Kuss einfach nicht los. Er hatte sich förmlich eingebrannt. So sehr, dass ich nun viel zu lange auf Masons Mund starrte.

Hastig senkte ich den Blick und begann mit meinen eigenen Dehnübungen. Im Hause Watkins aufzuwachsen bedeutete, einen strikten Sport- und Ernährungsplan einzuhalten. Und auch wenn ich mir inzwischen erfolgreich abgewöhnt hatte, bei jeder Mahlzeit Kalorien zu zählen und mich schlecht zu fühlen, wenn ich überhaupt etwas aß, wusste ich noch genau, wie man sich vor dem Fitnesstraining richtig dehnte, um Verletzungen vorzubeugen. Nur dass das hier weder Aerobic noch Pilates oder Bauch-Beine-Po-Übungen sein würden. Ich hatte nach einem Army-Workout gefragt und, wenn ich das Zucken in Masons Mundwinkeln richtig deutete, würde ich genau das bekommen.

Er ließ die Arme sinken. »Bereit?«

Ich nickte.

»Gut. Wir beginnen mit einem kleinen Lauf zum Aufwärmen und damit ich einschätzen kann, wie fit du bist.« Er deutete auf die Grünfläche zwischen den Wohnheimen. »Fünfmal um den Platz sollte reichen.«

Ich zögerte. Joggen war zwar nie mein Lieblingssport gewesen, aber ich kam damit zurecht. Das war es auch nicht, was mich innehalten ließ. Kurz sah ich mich nach allen Seiten um. Hinter ein paar Fenstern der Wohnheime brannte Licht, aber die meisten waren dunkel, weil kaum einer unserer Kommilitonen jetzt schon wach war. Was nicht hieß, dass sich das nicht in der nächsten Viertelstunde ändern konnte.

»Können wir vielleicht woanders trainieren?« Ich versuchte, meine Stimme völlig neutral klingen zu lassen, damit Mason nicht auf die Idee kam, dass mir das irgendwie wichtig sein könnte.

Mason starrte mich einen Moment lang stumm an, dann bogen sich seine Mundwinkel nach oben. »Angst, mit mir gesehen zu werden, Prinzessin?«

Prinzessin?

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Es ist mein Gefallen, oder nicht? Du hast mir damals alles versprochen, was ich will. Und ich will einen anderen Trainingsort.«

Theatralisch rollte er mit den Augen. »Ich wusste, dass ich das eines Tages bereuen würde. Okay, lass uns gehen.«

»Wohin?«

»Hinter dem PAC gibt es eine Wiese, auf der höchstens mal ein paar unserer lieben Kommilitonen für ihre Rollen üben, aber frühestens nachmittags. Jetzt ist da niemand. Und keiner kommt vorbei und sieht dich zufällig mit mir«, fügte er sarkastisch hinzu.

Ich presste die Lippen aufeinander, um eine ebenso sarkastische Antwort zurückzuhalten, und nickte stattdessen. »In Ordnung.« Ich zögerte einen Herzschlag lang, rang mir dann aber doch ein leises »Danke« ab.

Mason schnaubte. »Stets zu Diensten.«

Er joggte los, und ich folgte ihm. Das Schweigen zwischen uns dehnte sich aus, und keiner von uns versuchte, es zu brechen. Nicht einmal dann, als es zunehmend angespannter wurde.

Warum tat ich mir das doch gleich an? Ach ja. Eine schlaflose Nacht und ein Kommentar von meinem Freund Daniel, den er inzwischen sicher längst wieder vergessen hatte. Aber ich nicht.

Bist du sicher, dass du noch Nachtisch essen möchtest?

Eine simple, beinahe unschuldige Frage, aber darin schwang so viel mehr mit. Am Samstag waren wir vor dem offiziellen Semesterstart mit ein paar Leuten ausgegangen. Im Diner hatte ich nur einen Salat bestellt, anschließend jedoch mit den Desserts geliebäugelt – die Auswahl von Eiscreme über New York Cheesecake bis hin zu Mini-Donuts war einfach zu verlockend gewesen. Zumindest bis Daniel diesen Spruch rausgehauen hatte. Es war nur ein Scherz gewesen, und der ganze Tisch hatte gelacht. Mich eingeschlossen. Aber gegen das Ziehen in meinem Bauch war ich machtlos gewesen. Genauso wenig wie gegen meinen Entschluss, doch kein Dessert zu bestellen, auch wenn Daniel sich entschuldigt und regelrecht darauf bestanden hatte, dass ich eins nahm. Keine Chance. Weil ich mein Leben lang zu viele solcher Kommentare gehört hatte und sie sich in meinem Bewusstsein verankert hatten. Und dabei spielte es offenbar keine Rolle, ob ich zu Hause in Montana, in einem Umkleideraum bei einer Miss-Wahl irgendwo in den Staaten oder an der Blackhill University in West Virginia war. Kommentare wie diese verfolgten mich und kamen immer wieder, ganz egal, wie sehr ich dagegen ankämpfte und versuchte, sie aus meinem Gedächtnis zu verbannen.

Oh, Schätzchen, wie siehst du nur aus? Keine Sorge, das kriegen wir schon wieder hin.

Mit diesen Worten hatte mich Mom am Anfang der Sommerferien zu Hause willkommen geheißen, mich in die Arme genommen und mir anschließend die Wange getätschelt, als müsste sie mich trösten, weil ich mittlerweile fast so etwas wie ein Normalgewicht erreicht hatte. Die nächsten Wochen über waren nur noch Salate, Smoothies und Fitnessdrinks auf den Tisch gekommen, gepaart mit jeder Menge strenger Blicke und den üblichen Sticheleien von ihrer Seite aus. Und zum Abschied hatte sie mir einen neuen Ernährungsplan in die Hand gedrückt. Ich hatte ihn wortlos eingesteckt, obwohl ein Teil von mir mich selbst dafür verachtete.

Denn im Grunde war ich zufrieden mit meinem Gewicht. Ich hatte nie zu viel auf den Rippen gehabt, sondern war immer eher zu dünn gewesen. Im Gegensatz zu meiner Schwester Gillian, die Kurven besaß, auf die jede Frau neidisch sein konnte, war ich immer ein Strich in der Landschaft gewesen. Als alle anderen Mädchen in meinem Jahrgang Brüste bekamen, musste ich meinen BH noch ausstopfen, um wenigstens halbwegs mithalten zu können und nicht wie ein zu klein geratener, knochiger Junge zu wirken. Erst ein paar Jahre später war das nicht mehr nötig gewesen, aber ich war noch immer so schlank gewesen, dass mich Lehrerinnen in der Schule sogar darauf angesprochen hatten. Ob ich auch genügend essen würde und dass ich jederzeit zu ihnen kommen konnte, wenn ich irgendwelche Probleme hätte. Das hatte schlagartig aufgehört, als ich den ersten Schönheitswettbewerb gewann. Plötzlich sorgte sich niemand mehr um mein Gewicht – abgesehen von Mom, für die es immer ein, zwei Kilo weniger sein könnten.

Inzwischen hatte ich einen gesunden Body-Mass-Index. Mein Bauch mochte nicht mehr so trainiert und flach sein wie früher, sondern weich, weil ich hin und wieder etwas Süßes aß und weniger Sport machte als früher. Und das war in Ordnung. Zumindest war es das, bis ich diesen Sommer zurück nach Hause gefahren war.

»Runter auf den Boden. Dreißig Liegestütze!« Masons laute Stimme holte mich in die Gegenwart zurück. Ohne dass ich es gemerkt hatte, waren wir hinter dem Performing Arts Center angekommen. Um diese Zeit war wirklich noch niemand hier unterwegs. Wir waren völlig allein. Keine Zuschauer. Genau so, wie ich es gewollt hatte.

Ich zögerte nicht, stellte keine Fragen. Innerhalb von Sekunden kniete ich auf dem Gras, nahm die richtige Haltung ein, hievte mich hoch und wieder runter. Einmal. Zweimal. Dreimal. Zehnmal. Fünfzehnmal. Meine Muskeln begannen zu schmerzen und zu zittern. Gott, war ich wirklich so aus der Übung? Ich drückte mich ein weiteres Mal hoch und wieder hinunter. Meine Handgelenke gaben fast unter mir nach. Mein Atem kam nur noch in kurzen, flachen Stößen.

»Komm schon, Watkins!« Er ging neben mir in die Hocke. »Zwanzig Liegestützen müssen drin sein! Das ist das Minimum für den halbjährlichen Army Physical Fitness Test. Wenn du das nicht hinkriegst, kannst du das Training auch gleich sein lassen.«

Ich stemmte mich ein letztes Mal hoch, dann gaben meine Arme unter mir nach und ich sank ins weiche Gras. Mein ganzer Körper zitterte, aber Mason war noch nicht fertig mit mir. Er hatte gerade erst angefangen. Als Nächstes waren Sit-ups an der Reihe. Okay, wenigstens darin hatte ich Übung.

Dachte ich. Nach dreißig begannen die Schmerzen, nach vierzig das Muskelzittern und nach fünfzig war ich völlig erledigt.

Eine Hand tauchte in meinem Blickfeld auf. Ich zögerte kurz, ergriff sie dann jedoch und ließ mich schwungvoll in die Höhe ziehen.

»Was kommt als Nächstes?«, keuchte ich, eine Hand auf dem Bauch, die andere in die Seite gestemmt, um mich wenigstens halbwegs aufrecht halten zu können.

»Zwei Meilen laufen«, antwortete Mason und nahm ein paar Schlucke aus seiner Wasserflasche. »Wir variieren zwischen Sprinten und Joggen. Dein Ziel ist es, die Strecke in weniger als neunzehn Minuten zu schaffen. Kriegst du das hin?«

Ich war kurz davor, laut aufzulachen – ob vor Belustigung oder Verzweiflung wusste ich nicht einmal selbst –, aber dafür taten meine Bauchmuskeln zu sehr weh. Stattdessen nickte ich nur und trank selbst etwas Wasser. »Klar!«

Mason lief los, und ich hetzte ihm nach. Wir ließen das PAC – das Performing Arts Center – hinter uns, schlugen aber nicht den Weg zurück zu den Wohnheimen ein, sondern bogen an der nächsten Kreuzung ab. Ich war zu sehr damit beschäftigt, mich auf meine Atmung zu konzentrieren und das kurz darauf einsetzende Seitenstechen zu ignorieren, um auf den Weg zu achten. Außerdem musste ich aufpassen, ob Mason gerade auf der Stelle joggte, weil wir darauf warteten, dass eine Ampel umschaltete, oder ohne Vorwarnung lossprintete. Er war ein unnachgiebiger Trainer, und obwohl ich ihn innerlich dafür verfluchte, war ich ihm gleichzeitig auch dankbar. Denn es war genau das, was ich wollte. Genau das, was ich brauchte. Ein hartes Training, um wieder in Form zu kommen. Und vielleicht würde ich dann auch endlich all diese Kommentare vergessen können, die mich bis ans andere Ende des Landes verfolgt hatten.