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Kurzbeschreibung:

Bei einem nächtlichen Überfall unter einer Berliner S-Bahnbrücke wird Alexandra von dem zwölf Jahre jüngeren russischen Arzt Andrej gerettet. Beide fühlen sich stark zueinander hingezogen und aus einem Abenteuer wird rasch Liebe. Aber schon bald zeigt sich, wie sehr sich ihre Welten voneinander unterscheiden: Während Andrej von jungen Frauen umschwärmt wird und versucht, seinen Platz im Leben zu behaupten, kämpft Alexandra mit geschäftlichen Problemen, denn ihre edle Dessous-Boutique steht kurz vor der Insolvenz. Der erfolgreiche Unternehmensberater Claus könnte helfen, doch im Gegenzug möchte er von Alexandra mehr als nur Freundschaft. Als Andrej unfreiwillig in Waffengeschäfte mit der Russenmafia verwickelt wird, nimmt das Verhängnis seinen Lauf …

Sabine Strick

Die Nacht der Eisblumen

Roman


Edel Elements

18

Und wieder nahte Weihnachten. Drei Jahre waren vergangen, seit Andrej zum ersten Mal das French Silk betreten hatte. Das Weihnachtsgeschäft lief gut und Manuela hatte alle Hände voll zu tun, da Alexandra sich seit vier Monaten in Moskau aufhielt.

Zumindest glaubte sie das: Die Tür wurde schwungvoll aufgestoßen, und schon stürmte Alexandra herein, ein russisches Pelzmützchen auf den kastanienbraunen Locken und über das ganze Gesicht strahlend.

„Alex, da bist du ja! Du bist zurück!“ Sie schlossen sich in die Arme. „Wie geht es dir?“

„Es ging mir nie besser, Manuela. Aber langsam wird es in Moskau zu kalt, wurde Zeit, wieder herzukommen!“

Hinter ihr tauchte Andrej auf, mit Alexander an der Hand, der seit kurzem zu laufen begonnen hatte.

„Mama!“, rief er und streckte die Hände nach Alexandra aus.

„Ja, mein Schatz.“ Sie hob ihn hoch und sagte etwas auf Russisch zu ihm.

„Donnerwetter“, staunte Manuela. „Du hast ja beachtliche Fortschritte gemacht. Hallo Andrej!“ Sie küssten sich auf die Wangen. „Wie läuft es, ihr beiden?“

„Bestens.“ Andrej, der in seinem schmalgeschnittenen, dunkelblauen Wollmantel eine gute Figur machte, legte den Arm um Alexandra. „Ich habe gerade den Bescheid bekommen, dass ich in Kürze meine Zulassung bekommen werde, um in Deutschland als Arzt zu praktizieren. Und ich habe Kontakt zu einem russischen Internisten, der mich in seine Praxis in Prenzlauer Berg aufnehmen will.“

„Wunderbar, ich freue mich für dich. Dann kann die Hochzeit ja kommen!“

Alexandra erschrak. „Liebling, haben wir die Ringe mitgebracht?“

„Natürlich. Du glaubst doch nicht, dass ich nach Berlin fliege, um zu heiraten, und dann die Trauringe in Moskau vergesse?“

„Nein, noch bist du nicht so alt und schusslig wie ich, da solltest du an so was denken“, sagte sie grinsend. Dann seufzte sie. „Ich bin ganz aufgeregt. Es war keine Kleinigkeit, von Moskau aus eine Hochzeit vorzubereiten, eine Boutique zu verwalten, Russisch-Unterricht zu nehmen und ein Kleinkind zu betreuen, das immer dann nachts zahnt oder Bauchweh hat, wenn der Vater nicht da ist.“ Sie warf Andrej einen erschöpften, aber dennoch liebevollen Blick zu. „Manuela, ich hoffe, du denkst nicht, ich habe auf deine Kosten einen langen Urlaub gemacht, oder?“

„Nein, das denke ich nicht“, versicherte Manuela und grinste dann. „Hast du es wirklich geschafft, monatelang mit sechs anderen Leuten in einer Vierzimmerwohnung zu leben, ohne jemanden zu töten?“

„Es gab einige Prügeleien“, sagte Andrej ernst. Dann lachte er. „Nein, sie war toll. Ich hatte ehrlich gesagt auch nicht damit gerechnet, dass sie das durchhält.“

Alexandra stemmte eine Hand in die Hüfte und zog eine Schnute. „Wofür haltet ihr mich denn?“

Manuela tätschelte ihr die Schulter. „Sagen wir mal so: Du scheinst dich recht vorteilhaft entwickelt zu haben.“

Andrej nickte. „Sei ehrlich: zu Beginn unserer Beziehung war es für dich schon ein großer Akt, mir ein Fach in deinem Schrank frei zu machen. Und jetzt bist du damit klargekommen, eine vollgestopfte Wohnung nicht nur mit mir, sondern auch noch mit einem Kleinkind und zwei älteren Ehepaaren zu teilen.“

„Die waren ja anfangs kaum da, das hat die Sache erleichtert“, gab Alexandra zu und lachte.

Andrejs Eltern waren bis Ende September in ihrer Datscha auf dem Land geblieben, während die Mitbewohner einen Monat Urlaub am Baikalsee verbrachten, und so hatten sie in der Moskauer Wohnung mehr Platz gehabt. Anfangs war es Alexandra schrecklich unangenehm gewesen, sich bei ihnen einzuquartieren, doch sie hatten sie herzlich aufgenommen – nicht zuletzt vielleicht auch wegen ihres großzügigen Kostgeldes in harter Währung. Ab Oktober hatten sie und Andrej sich an seinen freien Tagen hin und wieder ein Hotelzimmer gegönnt, um alleine zu sein.

Die Mieteinkünfte aus der Wohnung, die Alexandra von ihrer Großmutter geerbt hatte, waren in den vergangenen Monaten eine willkommene Einkommensquelle gewesen.

Es war Alexandra wichtig gewesen, zur Probe mit Andrej und Sascha in seiner Heimat zusammenzuleben, bevor sie nach Berlin zurückkehrten, um zu heiraten und sich dort niederzulassen. Auch, um Andrejs Welt besser verstehen zu lernen. Wenn sie sich unter den erschwerten Umständen in Moskau gut verstanden, würde es auch in Berlin funktionieren.

Und Alexandra war sich nun sicher, dass es gut funktionieren würde, egal, wo sie zusammenleben würden.

*

„Sie dürfen die Braut jetzt küssen“, sagte die Standesbeamtin drei Tage später feierlich den wohl bekanntesten Satz aller Pfarrer und Standesbeamten.

„Nichts lieber als das!“ Andrej zog mit leuchtenden Augen seine frischgebackene Ehefrau in die Arme und kam der Aufforderung so stürmisch nach, dass ihr cremefarbenes Satinhütchen verrutschte.

Hilde Jaenicke, mit dem kleinen Sascha auf dem Schoß, wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel, während sich Manuela, die Alexandras Trauzeugin war, zu ihrem Mann Claus umdrehte und ihm einen Kuss durch die Luft zuwarf.

Alexandra und Andrej feierten mit ihren Gästen im La Piazza, Alexandras Lieblingsitaliener am Savignyplatz, und kehrten dann nach Hause zurück. Die Hochzeitsreise würde noch einige Monate warten müssen.

In den vergangenen Nächten war es sehr kalt gewesen und da Alexandras Wohnung in ihrer langen Abwesenheit ausgekühlt war, blühten am Küchenfenster Eisblumen in ihrer Hochzeitsnacht.

1

Der Schnee rieselte in feinen Flocken unermüdlich auf Berlin, verwandelte die kahlen Bäume und Büsche in feenartige Gebilde und legte sich wie ein zarter, weicher Teppich auf die Bürgersteige.

Im belebten Viertel um den Savignyplatz, wo sich Cafés, Restaurants und Designer-Boutiquen aneinanderreihten, leuchteten die weihnachtlich geschmückten Fenster mit den Laternen um die Wette.

Alexandra Wittenberg kniete im Schaufenster ihres kleinen Dessous-Fachgeschäfts French Silk und befestigte eine weitere Weihnachtsdekoration zwischen den eleganten Auslagen aus Spitze, Seide und Satin. Dabei bemerkte sie einen schlanken, hochgewachsenen jungen Mann, der vor dem Geschäft stand und die feine Lingerie betrachtete.

„Da ist wieder dieser hübsche Kerl, der sich schon seit Tagen die Nase an unserem Schaufenster plattdrückt“, sagte sie lächelnd zu ihrer Verkäuferin Manuela, als sie in den Verkaufsraum zurückkrabbelte. „Bin gespannt, ob er sich entschließt, mal hereinzukommen.“

Und Andrej Menshikov entschloss sich an diesem Spätnachmittag, endlich die Boutique zu betreten, deren verlockendes Angebot ihn vor ein paar Tagen auf eine Idee gebracht hatte.

Etwas eingeschüchtert und gleichzeitig neugierig wie ein kleiner Junge, der Erwachsenenterritorium betritt, schlenderte er über den weichen, nougatbraunen Teppich, nachdem er sich sorgfältig die Schuhe auf dem Fußabtreter am Eingang gesäubert hatte.

Es kam ihm verrucht vor und war daher unwiderstehlich, die koketten Stücke zu berühren, die dazu dienten, die intimsten Stellen einer Frau zu bedecken oder vielmehr zur Geltung zu bringen. Dort, wo er aufgewachsen war, hatte es das nicht gegeben, zumindest nicht in seiner Kindheit und Jugend.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte Alexandra mit gewinnendem Lächeln, nachdem er eine Weile verschiedene BHs, Tangas und Korsagen betrachtet hatte.

„Meinen Sie, das gefällt einer jungen Frau?“ Andrej hob ein gewagtes Modell der französischen Marke Scandale in die Höhe.

„Kommt drauf an. Was ist Ihre Freundin denn für ein Typ?“

„Sie ist Russin“, sagte er, als würde das alles erklären. Er selbst hatte ebenfalls einen unverkennbar russischen Akzent.

Alexandra stellte sich unter einer jungen Russin spontan eine stark geschminkte und blondierte Frau mit Ohrringen groß wie Donuts vor, der ein extravagantes Dessous sicher gefallen würde. Nur der junge Mann schien nicht zu so einer Frau zu passen. Er war gut, aber unauffällig gekleidet, wirkte dezent und zurückhaltend.

„Ist sie in Ihrem Alter?“, tastete sie sich behutsam vor.

„Jünger. Anfang zwanzig.“

„Wie kleidet sie sich denn?“

„Am liebsten trägt sie Jeans, bis hierher.“ Er zeigte auf seine Leistengegend. „Und das T-Shirt bis hier.“ Er hielt die Handfläche unter die Brust.

Und der Bauchnabel ist sicherlich gepierct und das Steißbein unter dem hervorschauenden String tätowiert, dachte Alexandra amüsiert.

„Dieses Modell wird ihr bestimmt gefallen“, versicherte sie. „Kennen Sie ihre genaue Größe?“

„Ja.“ Er kramte einen Zettel aus seiner Jackentasche und hielt ihn Alexandra hin. „Diese Größe steht auf dem Etikett von ihrem – äh ... Büstenhalter.“ Das Gespräch war ihm sichtlich peinlich, aber er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen.

„Sehr schön.“ Sie lächelte in sich hinein und suchte die angegebene Größe heraus. „Sie kann es umtauschen, wenn es ihr nicht passt oder nicht gefällt.“

„Gut. Und wenn es mir an ihr nicht gefällt?“ Seine Augen blitzten übermütig auf und sein Mund gab beim Lächeln den Blick auf ebenmäßige Zähne frei.

Alexandra hatte plötzlich Lust zu flirten. „Früher hätte ich es Ihnen vorführen können, damit Sie wissen, wie es wirkt, aber jetzt mache ich das nicht mehr.“

„Das haben Sie gemacht?“, fragte er verblüfft.

„Ja, früher war ich mal Model für Unterwäsche. Aber das ist lange her.“

Sie biss sich auf die Lippen und schalt sich eine dumme Gans. Was ging ihn das an? Vielleicht dachte er jetzt, sie wäre eines der zahlreichen „Models“ gewesen, die ihre Dienste in den Kleinanzeigen der Berliner Zeitungen anboten.

„Ich meine, ein richtiges Fotomodel für Katalog- und Werbeaufnahmen“, ergänzte sie hastig.

„Da haben Sie sicher viel von der Welt gesehen.“ Es klang sehnsüchtig, und Alexandra verlor sich einen Moment lang in seinen großen braunen Augen, die voller Leben waren.

„Nein, die meisten Aufnahmen fanden in Studios in Berlin oder Hamburg statt. Hin und wieder gab es auch Vorführungen auf Fachmessen in Düsseldorf oder London. Einmal war ich zu einem Shooting für Bademoden in der Karibik.“

„Karibik …“, seufzte er mit seinem rollenden R und starrte verträumt durch die Glastür auf das glitzernde Schneetreiben.

Alexandra fand seinen Akzent ausgesprochen klangvoll und charmant. „Darf es noch etwas sein?“

Andrej blickte sich um. „Ist das ein Nachthemd oder Partykleid?“ Er zeigte auf ein freches Mininachthemd aus schwarzem Satin mit silbernem Aufdruck aus Sternen und Herzchen.

Alexandra lachte, nahm das Kleid vom Bügel und hielt es sich an. „Ich verkaufe es eigentlich als Nachthemd, aber Ihre Freundin kann es gerne als Partykleid tragen, wenn sie will.“

„Was kostet es?“

„Fünfundneunzig Euro.“ Sie vermutete, dass er es zu teuer finden würde.

„Kein Problem“, erwiderte er würdevoll, zückte seine Brieftasche und legte zweihundert Euro auf den Tresen, während Alexandra die Diebstahlsicherung löste. „Soll ich es Ihnen als Geschenk einpacken?“

„Ja, bitte.“

„Einzeln oder getrennt?“

„Getrennt. Die Unterwäsche ist für Weihnachten und das Kleid für Samstagabend“, entschied er.

Alexandra lächelte und nahm zwei kleine Geschenkkartons. „Sie müssen ja sehr verliebt sein …“

Er blickte sie an und ein Strahlen überzog langsam sein Gesicht. „Ja.“

Alexandra seufzte kaum hörbar und wünschte sich, sie wäre noch einmal zwanzig, in einem Alter, wo die Männer romantisch und nahezu unverdorben waren – manche jedenfalls. So wie dieser hier es zu sein schien.

„Ich wünsche Ihnen eine schöne Adventszeit“, sagte sie herzlich, als er sich mit seinen Päckchen zum Gehen wandte.

„Danke, für Sie auch.“

Die Ladentür schloss sich klingelnd hinter Andrej und Alexandra wandte sich zu Manuela um. „Ist das nicht süß? Diese jungen Männer … Denkst du, in fünf Jahren Ehe habe ich einmal ein raffiniertes Dessous von Thomas bekommen?“

Manuela lachte. „Nein, weil du die Schubladen voll davon hattest. Du hast das als Model jahrelang gratis nachgeschmissen bekommen, warum hätte er dir so was kaufen sollen?“

„Da hast du recht. Aber ihm ging einfach der Sinn für solche Geschenke ab. Der Tiefpunkt war, als ich von ihm einen Staubsauger zu Weihnachten bekommen habe! Aber da war er ja auch schon mit dieser mannstollen Schnepfe zusammen und ich war nur noch die gute Fee, die alle Rechnungen bezahlt, seine Hemden gebügelt und sein Konto aufgefüllt hat, wenn er in den Miesen war.“

„Du hattest wirklich Pech mit deinem Mann. So sind sie nicht alle.“

„Und was war mit Daniel, Anfang des Jahres? Der mich nur angerufen hat, wenn ihm nach Sex war? Na schön, zwischendurch hat er mir auch mal ein tolles französisches Menü gekocht, um mich bei Laune zu halten. Aber ich sage dir, der hatte den Hummer kiloweise in seinem Tiefkühler – ich war nicht die Einzige, für die er gekocht und die er anschließend zum Dessert vernascht hat. Und da sagt man immer, Männer, die Porsche fahren, haben ein Problem mit ihrer Potenz – das ist nicht wahr!“

Manuela, die sich die Höhen und Tiefen dieser Affäre monatelang geduldig angehört hatte, lächelte milde. „Es liegt mir fern, diesen Kerl zu verteidigen, aber er hat dir von Anfang an gesagt, dass er vor Beziehungen flieht.“

„Ja, das hat er. Und als ich mich in ihn verliebt habe, ist er sogar für drei Wochen bis nach Australien geflohen“, knurrte Alexandra.

„Die Reise hatte er doch bereits gebucht, als ihr euch kennengelernt habt. Sag mal, ich dachte, du bist über Daniel hinweg?“

„Bin ich auch. Ich bin bloß angewidert von dem, was aus der Liebe geworden ist. Ich würde zu gerne noch mal eine so leidenschaftliche und romantische Liebe erleben, wie man sie scheinbar nur kennt, wenn man jung ist. Die Männer in unserem Alter wollen sich nicht mehr wirklich auf Beziehungen einlassen, habe ich den Eindruck. Alle, die ich in den letzten Jahren kennengelernt habe, hatten Angst, verletzt zu werden. Wo sind die risikobereiten Kerle geblieben?“

„Die gibt es bestimmt noch, man muss sie nur finden.“

„Und inzwischen geht die Jugend dahin, die Schönheit auch, und es wird immer schwieriger, überhaupt noch jemanden zu finden“, klagte Alexandra.

„Na, wenn du das schon sagst, Miss Big Eden 1985!“ Manuela nahm sie bei den Schultern und schob sie vor einen der langen, schmalen Spiegel.

Sie lachten beide, doch dann betrachtete Alexandra nachdenklich ihr Spiegelbild. Gut zwanzig Jahre war es jetzt her, seit sie im Bikini über den improvisierten Laufsteg der bekannten Berliner Diskothek stolziert war und dieses alberne Krönchen aufgesetzt sowie die Schärpe umgehängt bekommen hatte. Immerhin war sie dabei von einem Fotografen entdeckt worden, der für eine Mannequin-Agentur arbeitete und Probeaufnahmen von ihr gemacht hatte. Das war der Beginn einer kurzen Karriere als Fotomodell für Dessous und Bademoden gewesen.

Eigentlich hatte sie sich, zumindest äußerlich, nicht sehr verändert. Durch eiserne Disziplin passte sie noch immer in die engen Jeans von damals, wenn man davon absah, dass sie mittlerweile ziemlich kniffen. Ihre Haare trug sie inzwischen nicht mehr schulterlang und goldblond, sondern kupferrotbraun und in einem kinnlangen Bob, dessen stufige Spitzen weich in Stirn und Wangen fielen, was ihrem Gesicht schmeichelte. Ihre blauen Augen waren jetzt in ein feines Netz aus Fältchen gebettet, aber dafür hatten sie an Ausdruck gewonnen.

Innerlich hatte sich allerdings viel verändert. Nach unerfüllten Träumen von einer internationalen Karriere als Topmodel, einer schmerzhaften Scheidung, einigen schnell gescheiterten Beziehungen und lieblosen Affären fühlte sie sich vom Leben enttäuscht. Zu viele vertane Chancen und unerfüllte Sehnsüchte. In zwei Monaten würde sie vierzig werden, und da sie einen großen Teil ihrer Selbstsicherheit stets aus ihrem guten Aussehen bezogen hatte, machte ihr das Älterwerden an manchen Tagen zu schaffen.

Sie begegnete Manuelas Blick im Spiegel. „Entschuldige. Das ist nur mein üblicher Jahresende-Blues. Hör nicht hin.“

Vor Manuela schämte sie sich für ihre Klagen, hätte diese doch viel mehr Grund dazu gehabt. Manuela war fünfzig, litt oft unter schmerzhaften Gelenkentzündungen und war als Krankenschwester berufsunfähig geworden sowie viele Jahre arbeitslos gewesen. Auch nach einer Umschulung zur Bürokauffrau waren die Stellenangebote ausgeblieben. Ihr Äußeres war lange nicht so vorteilhaft wie das von Alexandra. Sie träumte von Heirat, hatte aber noch nie eine längere Beziehung geführt. Dabei war sie intelligent, gebildet, dynamisch und warmherzig und Alexandra war froh, mit ihr zu arbeiten. Sie hatten sich vor acht Jahren bei einem Kurs für Seidenmalerei kennengelernt und waren seitdem befreundet. Als Alexandra vor fünf Jahren French Silk eröffnet hatte, hatte sie Manuela die Teilzeitstelle als Buchhalterin und Verkäuferin angeboten und es nie bereut. Sie ging fast genauso in ihrer Arbeit auf wie Alexandra, für die ihre Boutique der Hauptlebensinhalt war.

Jetzt tätschelte Manuela ihr die Schulter. „Mach dir keine Sorgen, du wirst schon noch jemanden kennenlernen, der dich glücklich macht. Pass auf, das kann ganz schnell gehen!“

2

Am folgenden Montagabend fuhr Alexandra nach Ladenschluss ins Meridian Spa, ein Fitness- und Wellness-Center in Spandau, wo sie zwei- bis dreimal pro Woche trainierte. Da es ein hektischer Tag gewesen war, gönnte sie sich nach der Aerobic-Stunde noch einen Saunagang und etwas Entspannung am Swimmingpool, und so war es fast dreiundzwanzig Uhr, als sie den U-Bahnhof Wilmersdorfer Straße verließ, um nach Hause zu laufen. Ein Auto besaß sie nicht mehr, seit sie ihr Geschäft hatte, das nur ein paar hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt lag. Der Stuttgarter Platz war um diese Zeit eine düstere Ecke, aber dort auszusteigen ersparte ihr, in die S-Bahn umsteigen zu müssen, die um diese Zeit nur noch selten fuhr.

Alexandra schulterte ihre Sporttasche und schritt kräftig aus. Die Absätze ihrer Stiefel klackten auf dem Pflaster. Der Schnee war am Wochenende weggetaut. Es war still in den Straßen, doch sie hatte das Gefühl, dass ihr jemand folgte, und drehte sich um. Zwei schlampig gekleidete Männer mit ungepflegten Haaren und verquollenen Gesichtern liefen hinter ihr und holten schnell auf.

„Wohin denn so schnell des Weges, meine Schöne?“, fragte der eine mit schmieriger Stimme und griff zu ihrem Entsetzen nach ihrem Arm. Eine ekelerregende Alkoholfahne schlug ihr entgegen.

Sie machte sich mit einer heftigen Bewegung los und schritt energisch weiter aus. Ihr Herz klopfte mit ihren Absätzen um die Wette.

„He, nich so stolz, Puppe“, zischelte der Zweite.

Sie befanden sich genau unter der S-Bahn-Brücke, und kein Mensch war auf der Straße zu sehen, wo es weder Gaststätten noch Imbissbuden gab. Feuchtkalter Nebel hüllte Berlin an diesem Abend ein und niemand ging freiwillig spazieren.

Alexandra ließ ihre sperrige Sporttasche fallen und setzte zu einem Spurt an. Noch bevor sie vom Fleck kam, hatte einer der Männer sie erneut gepackt.

„Renn doch nich weg, Süße. Wir woll’n uns ja bloß mit dir unterhalten, wa?“

„Wenn Sie Geld wollen, bedienen Sie sich in meiner Tasche!“, sagte Alexandra mit zitternder Stimme und deutete auf ihre Sporttasche. Sie wusste, dass sie kein Portemonnaie dabei hatte, höchstens fünf Euro Reserve in einem Seitenfach.

„Nee, Jeld woll’n wa nich, nur ’n bisschen Spaß.“ Er stierte sie aus glasigen Augen lüstern an. Von seiner Fahne aus Knoblauch und Schnaps wurde ihr übel.

„Hilfe!“, brüllte Alexandra und versuchte, ihm das Knie in den Schritt zu stoßen, aber ihr langer Wollmantel hinderte sie daran. Der Angetrunkene schubste sie wütend von sich, und Alexandra landete auf allen vieren auf dem Bürgersteig. Während er sie von hinten packte, um sie hochzuziehen, schrie sie nochmals um Hilfe und bereute, dass sie nicht öfter am Fight-Club-Kurs im Meridian Spa teilgenommen hatte.

Plötzlich stürzte ein Schatten von der Straße auf ihre Angreifer zu, riss den einen zurück und versetzte ihm einen Kinnhaken, wurde dann aber von dem zweiten von hinten umklammert. Alexandra trat dem Kerl kräftig in die Kniekehle, so dass er zusammensackte. Der Mann, der ihr zur Hilfe gekommen war, konnte sich befreien und rammte seinem Angreifer einen Ellenbogen in den Magen. Der andere hatte sich inzwischen von dem Kinnhaken erholt und Alexandra erschrak, als sie im Halbdunkel eine Messerklinge aufblitzen sah. Ihr Helfer bemerkte sie ebenfalls noch rechtzeitig und wich dem Mann, der auf ihn losging, elegant wie ein Torero aus. Er wirkte nicht wie ein geübter Kämpfer, war aber äußerst wendig.

Alexandras erneute Hilferufe wurden von der S-Bahn übertönt, die in diesem Augenblick über sie hinwegdonnerte. Sie wurde von einer Faust getroffen, verlor das Gleichgewicht und landete noch einmal im Dreck.

Da erklang ganz in der Nähe das Heulen einer Polizeisirene. Die beiden Angreifer fluchten und ergriffen die Flucht.

Das Polizeiauto fuhr auf einer Querstraße vorbei ohne anzuhalten; die Sirene hatte nicht ihnen gegolten. Aber die beiden Schläger waren weg, das war die Hauptsache.

Alexandras Retter half ihr auf die Beine und sie erkannte überrascht den jungen Russen, der vergangene Woche in ihrer Boutique Geschenke für seine Freundin gekauft hatte.

„Was machen Sie denn hier?“, platzte sie heraus.

„Ich wohne nicht weit von hier und war auf dem Heimweg. Ist Ihnen was passiert?“, fragte er besorgt.

„Dank Ihnen nicht. Vielen herzlichen Dank.“

„Ich habe Sie schreien hören.“

„Sie sind gerade noch im richtigen Moment aufgetaucht. Mein Gott, Sie sind ja verletzt!“ Erst jetzt bemerkte sie, dass aus seinem linken Ärmel Blut auf die Straße tropfte.

„Der hat mich mit dem Messer noch am Arm erwischt.“

„Ich wohne nur ein paar Straßen weiter, kommen Sie mit, ich werde Sie verarzten.“

Ein feines Lächeln huschte über sein Gesicht, und er nickte.

Alexandra nahm ihre Sporttasche vom Boden. „Tut es weh?“

„Es geht. Aber ich will Ihnen keine Unannehmlichkeiten machen.“ Er sprach dieses schwierige Wort sehr vorsichtig aus, als habe er es gerade erst im Deutschunterricht gelernt. „Ich wohne gleich da drüben, ich kann auch …“

„Kommt nicht in Frage. Ich lasse Sie nicht einfach blutend abziehen, nachdem Sie mich gerettet haben! Wie heißen Sie?“

„Andrej Michailovic Menshikov.“

„Das ist ja ein ganzes Programm. Ich heiße Alexandra.“

Wenige Minuten später erreichten sie das Gebäude, in dem sich Alexandras Eigentumswohnung befand. Es war ein schönes Wohnhaus mit einer liebevoll restaurierten Fassade im Alt-Berliner Stil, einem roten Teppichboden im Treppenhaus und Briefkästen aus Messing.