Inhalt

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. 1 – Der Anruf
  7. 2 – Der leuchtende Name
  8. 3 – Alte Wunden
  9. 4 – Der Wetterhahn
  10. 5 – Sturm
  11. 6 – Der Hubschrauber
  12. 7 – Die Klinik
  13. 8 – Chloés Bitte
  14. 9 – Geduldsproben
  15. 10 – Die Rückkehr
  16. 11 – Ankommen
  17. 12 – Das Wiedersehen
  18. 13 – Spannungen
  19. 14 – Der Verdacht
  20. 15 – Der Schlund
  21. 16 – Fast ein Fest
  22. 17 – Die alte Fabrik
  23. 18 – Der Palast der Meerjungfrau
  24. 19 – Der Ausflug
  25. 20 – Die Investorin
  26. 21 – Heimkehr
  27. 22 – Die Bootsfahrt
  28. 23 – Frauenpläne
  29. 24 – Der Banker
  30. 25 – Die Schwiegermutter
  31. 26 – Chloés Vater
  32. 27 – Der Überraschungsgast
  33. 28 – Das Angebot
  34. 29 – Das Fotoalbum
  35. 30 – Die Taufe
  36. Danksagung

Über dieses Buch

Sylvia und Maël erwarten die Geburt ihres lange ersehnten Kindes. Da holt Maël seine familiäre Vergangenheit ein: Seine Mutter, zu der er fast 30 Jahre lang keinen Kontakt hatte, ist schwer erkrankt. Obwohl Sylvia ein ungutes Gefühl befällt, reist Maël ab. Wenig später wütet eine verheerende Sturmflut an der bretonischen Küste. Die Kamelieninsel nimmt schweren Schaden und Sylvia erleidet einen gefährlichen Unfall …

Über die Autorin

Tabea Bach war Operndramaturgin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie wurde in der Hölderlin-Stadt Tübingen geboren und wuchs in Süddeutschland sowie in Frankreich auf. Ihr Studium führte sie nach München und Florenz. Heute lebt sie mit ihrem Mann in einem idyllischen Dorf im Schwarzwald, Ausgangspunkt zahlreicher Reisen in die ganze Welt. Die herrlichen Landschaften, die sie dabei kennenlernt, finden sich als atmosphärische Kulisse in ihren Frauenromanen wieder.

T a b e a  B a c h

HEIMKEHR AUF DIE

KAMELIEN
INSEL

Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

1
Der Anruf

Einen Moment lang herrschte erwartungsvolle Stille. Dann erfüllte ein rhythmisches Klopfen den Untersuchungsraum, gedämpft, so als käme es aus der Tiefe des Meeres.

»Ist das …« Sylvias Kehle war mit einem Mal wie ausgetrocknet.

»Ja, das ist der Herzschlag Ihres Kindes«, beantwortete die Frauenärztin ihre unausgesprochene Frage. Maëls Hand schloss sich liebevoll um die Sylvias.

»Unser Mädchen«, flüsterte er.

»Ob es ein Junge oder ein Mädchen ist, wollten Sie ja nicht wissen, oder?«, wandte die Gynäkologin schmunzelnd ein. »Jedenfalls ist alles in bester Ordnung, Madame Riwall«, fügte sie an Sylvia gewandt hinzu. »Auch die Lage des Kindes. In gut vier Wochen ist es so weit.« Sie warf einen Blick auf Sylvias Patientenakte und stutzte. »Tiens«, sagte sie lächelnd. »Heute ist Ihr Geburtstag? Herzlichen Glückwunsch und alles Gute!«

Während der Heimfahrt hielt Maël weiter Sylvias Hand, wann immer es der Verkehr erlaubte. Sie sprachen wenig, doch das war überhaupt nicht notwendig, das Glück füllte sie beide aus – von der großen Zehe bis zu den Haarspitzen. Wenn Sylvia daran dachte, wie turbulent das vergangene Jahr gewesen war und wie lange es gedauert hatte, bis sie endlich schwanger geworden war, konnte sie es kaum glauben. Obwohl sie schon Ende dreißig war, hatte sie eine völlig problemlose Schwangerschaft, und trotz ihres beträchtlichen Bauchumfangs fühlte sie sich selbst jetzt noch fit genug, um sich um die Geschäfte der Inselgärtnerei zu kümmern.

Je näher sie der Küste kamen, desto klarer wurden die Farben. Es war ein herrlicher Frühlingstag Mitte April, die Luft prickelnd wie Champagner und der Himmel von einem so leuchtenden Blau, als wölbte sich ein riesiger Saphir über die bretonische Landschaft und das Meer. In der Ferne schimmerten die Granitfelsen der Kamelieninsel in der Mittagssonne wie altes Silber.

»Den Rest des Tages machen wir aber frei, ja?«, schlug Maël vor. Seine meerblauen Augen blitzten, als er sie angrinste. »Oder hast du etwa vor, heute zu arbeiten?«

Sylvia lachte. »Sag bloß«, gab sie zurück, »du lässt deine Kamelien im Stich? Musst du nicht mehr ins Labor?«

»Nein«, antwortete Maël. »Meine Frau hat heute Geburtstag! Und es ist ihr letzter Geburtstag ohne Kind.«

»Was ist mit Noah?«, fragte Sylvia fröhlich. »Zählt er etwa nicht? Schade, dass der Junge erst morgen kommen kann«, fügte sie bedauernd hinzu. Maël warf ihr einen zärtlichen Blick zu. Noah war Maëls Sohn, die Frucht einer früheren Beziehung. Es war gerade mal ein Jahr her, dass Chloé völlig überraschend mit dem Kleinen auf der Kamelieninsel erschienen war. Das war nicht nur für Sylvia ein Schock gewesen, sondern vor allem für Maël, der bis dahin nichts von der Existenz seines Sohnes geahnt hatte. Acht Jahre zuvor hatte ihm diese Frau beinahe das Herz gebrochen, als sie von einem Tag auf den anderen einfach aus seinem Leben verschwunden war. Was er damals für die große Liebe gehalten hatte, war für Chloé nichts weiter als ein Urlaubsflirt gewesen.

Dass die junge Pariserin aus reichem Hause von ihm schwanger geworden war, hatte sie Maël verschwiegen. Ob Chloé wirklich geglaubt hatte, wie sie behauptete, ihr damaliger Verlobter Alain sei Noahs Vater, oder ob sie ihm das Kind bewusst untergeschoben hatte, das würde wohl für immer ihr Geheimnis bleiben. Erst Jahre später, als sich kein weiteres Kind einstellen wollte, hatte Alain Dufèvre erfahren, dass er unfruchtbar war und nicht Noahs Vater sein konnte. Tief verletzt hatte er sich nicht nur von Chloé getrennt, sondern auch von dem Jungen losgesagt, den er all die Jahre für seinen Sohn gehalten hatte, was für den damals Siebenjährigen kaum zu verkraften gewesen war.

Mittlerweile hatten sich die Wogen geglättet. Zwar hatte Chloé versucht, Maël wieder zurückzugewinnen, doch sie hatte einsehen müssen, dass das aussichtslos war, denn Maël liebte Sylvia über alles. Noah besuchte auf eigenen Wunsch ein Internat in England, wo seine Mutter inzwischen lebte. Die schulfreie Zeit verbrachte er stets bei Maël und Sylvia. Nun standen die Frühjahrsferien bevor.

»Vielleicht hätten wir eine Party organisieren sollen«, meinte Maël und warf ihr einen kurzen, prüfenden Blick zu. »Hätte dir das gefallen?«

»Eine Party?«, fragte Sylvia überrascht. »Mit wem denn? Sie sind ja alle so weit fort. Nicht einmal Vero hat Zeit.«

Ja, ein bisschen enttäuscht war sie schon. Es müsste ja nicht gerade ein großes Fest sein, überlegte sie. Und doch hätte sie gern mit den Menschen, die ihr lieb und teuer waren, den Tag verbracht. Das hätte sie schön gefunden, zumal ihr Geburtstag im vergangenen Jahr in der Aufregung um Noahs Ankunft völlig untergegangen war. Aber so war das nun einmal. Jeder hatte sein eigenes Leben.

Und zu ihrem großen Bedauern hatte ihre engste Vertraute Solenn, die eigentliche Besitzerin des Jardin aux Camélias, die einst gemeinsam mit Sylvias Tante Lucie die Gärtnerei aufgebaut hatte, vor einem halben Jahr die Insel verlassen. Was keiner für möglich gehalten hatte, war eingetreten: Nach Lucies Tod hatte sich Solenn tatsächlich noch einmal verliebt. Mit ihrer neuen Partnerin Aaltje lebte sie jetzt in den Niederlanden. Sie hatte Sylvia zwar versprochen, zur Geburt ihres Kindes zu kommen und einige Wochen zu bleiben. Doch heute, an ihrem Geburtstag, hatte sie keine Zeit …

Sie hatten die Auffahrt zu dem schmalen Fahrdamm erreicht, der die Kamelieninsel mit dem Festland verband. Die Ampel stand auf Rot, und Sylvia sah erfreut, dass ihnen einige Autos entgegenkamen, Besucher, die den Morgen zu einem Abstecher in den Jardin aux Camélias genutzt und in der Inselgärtnerei oder im Laden des Besucherzentrums hoffentlich gut eingekauft hatten. Schließlich erreichte der letzte Wagen das Festland, und die Ampel sprang auf Grün.

Die Flut lief zwar ein, doch der Damm war noch befahrbar. In knapp einer Stunde würden die ersten Wellen den Damm überspülen, dann war die Insel bis zum Abend nur per Boot erreichbar.

»Pierrick, wie immer bei der Arbeit«, bemerkte Maël und wies auf ein altes Baggerboot an der Flanke des Dammes. »Jedes Jahr ist es mehr oder weniger dieselbe Stelle, an der die Winterstürme das Fundament aushöhlen. Hoffentlich ist es diesmal nicht so schlimm.«

Der Damm war der Überrest einer Landzunge, mit der die Insel vor langer Zeit mit dem Festland verbunden gewesen war. Die Gezeiten hatten im Lauf der Jahrhunderte so lange an ihr genagt, bis dieser schmale Fahrweg übrig geblieben war. Pierrick, der schon auf der Insel gelebt hatte, als sie noch im Besitz einer Fischerfamilie gewesen war, besserte ihn Frühjahr für Frühjahr aus. Ohne seine außergewöhnlichen Kenntnisse der Strömungen wäre die Verbindung zur Küste wohl längst dem Atlantik zum Opfer gefallen.

»Wer ist denn der junge Mann bei Pierrick?«, erkundigte sich Sylvia, als sie das Baggerboot passierten.

»Das ist Tristan, der jüngste Sohn von Brioc«, antwortete Maël. »Er ist mit seinem Militärdienst fertig. Sein Vater möchte ihn gern am Hafen beschäftigen. Dafür müssen ihm die Behörden allerdings erst eine neue Stelle bewilligen. Solange hilft er Pierrick.«

»Sie scheinen fertig zu sein«, sagte Sylvia erstaunt, die im Rückspiegel beobachtete, wie das Baggerboot die Schaufel einholte und Kurs auf die Insel nahm. »Wieso bringen sie das Monstrum denn nicht zum Festland wie sonst?«

»Keine Ahnung«, meinte Maël und warf ihr einen raschen Blick zu.

Auf beiden Seiten der Fahrstraße schlugen die Wellen heran, und Sylvia war wie vom ersten Tag an fasziniert von diesem kühnen Zufahrtsweg mitten durch das Meer. Nun hatten sie die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht, und die Einzelheiten der Insel wurden immer deutlicher erkennbar.

Seitlich des Fahrdamms befand sich der Naturhafen, in dem die inseleigenen Boote vertäut lagen und wo das Wassertaxi, das bei Flut zwischen dem Festland und der Insel verkehrte, anlegen konnte. Eine steile, in die Klippen gehauene Treppe führte zum höher gelegenen Parkplatz vor dem Herrenhaus des Jardin aux Camélias, einem stattlichen Gebäude mit zwei Stockwerken, das schon so manchem Wetter getrotzt hatte.

Sie erreichten das Ende des Damms, und Maël lenkte den Wagen die steile Auffahrt zur Insel hoch. Sylvia lebte nun seit drei Jahren hier, und doch schlug ihr Herz jedes Mal höher, wenn sie zu diesem herrlichen Fleckchen Erde mitten im Atlantik zurückkehrte. Sie konnte sich kaum noch vorstellen, dass sie vor gar nicht so langer Zeit in einer Großstadt wie München gelebt hatte. Als gefragte Unternehmensberaterin war sie rund um die Uhr unterwegs gewesen, ihr Privatleben hatte stets zurückstehen müssen. Das hatte sich vollkommen geändert. Nach wie vor besuchte sie zwar ihre treusten Kunden, wenn diese sie brauchten, doch das war inzwischen zur Ausnahme geworden. Sylvia hatte die Geschäftsleitung der Inselgärtnerei in die Hand genommen und den vor sich hin dümpelnden Betrieb zu einem tragfähigen Unternehmen ausgebaut. Diese Aufgabe füllte sie vollständig aus.

»Würdest du bitte kurz halten?«, bat sie Maël, als sie am Besucherzentrum gegenüber dem Jardin aux Camélias vorbeifuhren. »Ich möchte Suzanne gern fragen, ob die Proben aus der Kosmetikmanufaktur angekommen sind.«

»Hat das nicht Zeit bis morgen?«, fragte Maël, doch als er Sylvias erwartungsvolles Gesicht sah, hielt er schmunzelnd an.

»Ich bin sofort wieder zurück«, beteuerte Sylvia und stieg aus dem Wagen, als Suzanne, die den Laden des Besucherzentrums führte, schon aus der Tür trat – einen kleinen Karton in den Händen.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, rief sie und küsste Sylvia auf beide Wangen. »Hier sind die Proben. Vor einer halben Stunde sind sie gekommen. Ach, ich bin ja so gespannt.«

»Hast du sie noch gar nicht geöffnet?«, fragte Sylvia.

Die zierliche junge Frau schüttelte ihre dunklen Locken. »Nein«, antwortete sie mit einem herzlichen Lächeln. »Ich dachte, dass du das sicher lieber selbst tun möchtest, n’est-ce pas?«

»Du bist ein Schatz, Suzanne«, sagte Sylvia. »Warum kommst du später nicht runter zu uns? Dann sehen wir uns die Proben gemeinsam an. Bei Flut sind ohnehin keine Besucher zu erwarten.«

»Gern«, antwortete Suzanne und versuchte ein Grinsen zu unterdrücken.

»Was ist?«, fragte Sylvia.

»Nichts, überhaupt nichts«, wehrte Suzanne ab. »Ich hab nur gerade an was Lustiges denken müssen. Bis später also!« Und damit kehrte sie zurück in den Inselladen.

»Am liebsten würde ich es sofort öffnen«, erklärte Sylvia, als sie wieder im Wagen saß.

Statt durch das imposante hölzerne Tor in den Hof einzubiegen, über dem ein riesiges Holzschild hing mit dem Schriftzug LE JARDIN AUX CAMÉLIAS – BIENVENUS, folgte Maël einem unbefestigten Weg, der außen an der hohen Mauer entlangführte, die das gesamte Anwesen umschloss. Sie war wie das Herrenhaus im vorletzten Jahrhundert aus dem grauen Gestein der Insel erbaut worden und schützte den Park des Kameliengartens vor den rauen Atlantikwinden. So behütet gediehen hier uralte Kamelienbäume, die noch aus den Zeiten der Vorbesitzer, der wohlhabenden Fischerfamilie Kerguénnec, stammten, sowie jüngere Exemplare aus Maëls Züchtung.

Dank seiner Gabe, außergewöhnliche Sorten zu kreieren, und nicht zuletzt dank Sylvias umsichtigem Management hatte sich die Kamelieninsel zu einer wahren Touristenattraktion an der bretonischen Atlantikküste entwickelt. Hatten früher vor allem Spezialisten und Sammler den weiten Weg auf sich genommen, um seltene Sorten zu finden, so kamen inzwischen Blumenliebhaber aus aller Welt an dieses äußerste Ende Europas, um sich an der Schönheit der Winterblüher zu erfreuen. Anders als die meisten anderen Pflanzen entfalteten die Kamelien nämlich von November bis ins Frühjahr hinein ihre außergewöhnlichen Blüten. Im Augenblick standen die allerletzten Sorten in voller Pracht.

Sie hatten das untere Ende des Parkgeländes erreicht, und Maël hielt vor einem einfachen Eisentor. Gleich dahinter lag das Ti Bag, ihr Zuhause. Ti Bag bedeutete »Bootshaus« auf Bretonisch, und es hieß deshalb so, weil hier einstmals die Fischkutter der Kerguénnecs instand gehalten worden waren. Maël hatte das frühere Werkstattgebäude zu einem großzügigen Wohnhaus umgebaut.

»Vielleicht hätte ich doch rasch im Büro vorbeischauen sollen«, meinte Sylvia schuldbewusst und sah auf ihre Armbanduhr. Es war kurz nach ein Uhr. »Oh, und wartet nicht Elise oben mit dem Essen?«

»Heute nicht. Komm nur ins Haus, chérie. Das Büro hat wirklich Zeit bis morgen.«

Sylvia folgte ihm widerstrebend. In Gedanken war sie bei einem schwierigen Kunden, der für eine Betriebsfeier am Wochenende unbedingt zwei Dutzend rot blühende Kameliensträucher geliefert haben wollte. Das war an sich kein Problem, nur neigte sich die Blütezeit der Kamelien gerade dem Ende entgegen, und …

»Joyeux Anniversaire!«, schallte es ihr vielstimmig entgegen. »Alles Gute zum Geburtstag!«

Verblüfft sah Sylvia sich um. Die große Halle, wie sie ihren loftähnlichen Wohnraum nannten, in dem einmal Fischerboote mit einer Länge von bis zu zwölf Metern Platz gefunden hatten, war voller Menschen. Bunte Girlanden waren von der Galerie bis zur gegenüberliegenden Seite gespannt, Trauben von Luftballons schmückten die Decke, und Wunderkerzen versprühten ihre silbernen Strahlen. Verwirrt blickte sie in die Gesichter jener Menschen, die ihr in den vergangenen Jahren zur Wahlfamilie geworden waren, und die sie an diesem Tag weit weg geglaubt hatte.

»Solenn!«, rief sie und nahm ihre Freundin in die Arme. Sie war Anfang sechzig, von kleiner, ein wenig gedrungener Gestalt. In ihrem dunklen, wie immer kurz geschnittenen Haar entdeckte Sylvia die ersten silbernen Fäden. »Was machst du denn hier?«, fragte sie gerührt. »Ich denke, du und Aaltje, ihr seid verreist.« Die resolute und doch so feinfühlige Bretonin war einst die Lebensgefährtin von Sylvias verstorbener Tante Lucie gewesen. »Mein Gott, Solenn, du hast mir so gefehlt!«

Dann entdeckte Sylvia den feurigen Lockenschopf von Veronika, ihre Freundin aus Studienzeiten, mit ihrer knapp zweijährigen Tochter Lilianne auf dem Arm. Die Kleine mit den leuchtend roten Korkenzieherlocken strahlte über das ganze Gesicht.

»Du hast gesagt, du hättest keine Zeit«, beschwerte sich Sylvia lachend, drückte ihre Freundin und gab der kleinen Lili, ihrem Patenkind, bisous.

»Ich habe ja auch keine Zeit«, antwortete Veronika. »Meine beste Freundin hat heute Geburtstag. Alles Gute, Sylvia!«

Jemand zupfte an Sylvias Pullover, und als sie sich umsah, glaubte sie, ihren Augen nicht zu trauen. Vor ihr stand ein Junge mit dunkelbraunem Wuschelhaar.

»Noah«, rief sie aus. »Ich denke, du kommst erst morgen!«

»Du hast doch heute Geburtstag«, entgegnete der Kleine, dessen Ähnlichkeit mit Maël unübersehbar war. »Happy Birthday!«

»Ich kann es nicht fassen«, brach es aus Sylvia gerührt heraus, als sie erst Noah und dananch Morgane umarmte, die Schulleiterin auf dem Festland war. »Über eines sprechen wir aber noch«, fügte sie dann mit gespielter Empörung hinzu, während sie herzlich ihre Assistentin Gwen und all die anderen Mitarbeiter begrüßte. »Ihr habt mich alle angeschwindelt! Die einen haben behauptet, verreist zu sein. Und die anderen konnten sich vor Arbeit nicht retten …«

»Ach, das gehört doch dazu«, erklärte Coco grinsend, die seit vielen Jahren als Gärtnerin bei ihnen arbeitete. »Sonst ist es ja keine Überraschung!«

»Genau!«, pflichtete Gurvan, der Maëls engster Mitarbeiter war, seiner Kollegin bei. »Schneide lieber den Geburtstagskuchen an. Ist das etwa ein deutsches Rezept, Elise? Mir läuft das Wasser im Mund zusammen.«

»Den Kuchen gibt es erst zum Dessert«, wies ihn Elise, die Hauswirtschafterin, zurecht und legte fürsorglich den Arm um Sylvia. »Wie war die Untersuchung? Ist alles in Ordnung mit der Kleinen?«

»Ich habe keine Ahnung«, entgegnete Sylvia amüsiert, »woher ihr alle zu wissen glaubt, dass es ein Mädchen ist. Die Ärztin sagt …«

»Ach was, die Ärzte«, unterbrach Pierrick sie, der soeben mit Tristan gekommen war, und Sylvia begriff jetzt, warum es das Baggerboot so eilig gehabt hatte, ihnen zu folgen. »Die haben doch keine Ahnung. Deiz-ha-bloaz laouen!«, sagte der alte Bretone feierlich und nahm Sylvia in seine knorrigen Arme.

»Fest steht«, mischte sich Morgane ein, »dass Sylvia einen ziemlich spitzen Bauch hat. Und meine Mutter sagt immer, ein spitzer Bauch gibt ein gewitztes Mädchen.«

Gelächter brandete auf.

»Sylvie hat keinen spitzen Bauch«, erklärte die kleine Lili empört. »Ihr Bauch ist rund. Weil da ein Baby drin ist!«

»Ganz genau.« Maël hob die Kleine liebevoll hoch und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Und bald bekommen wir so ein gewitztes Mädchen wie dich!«

»Egal, was es ist«, sagte Solenn mit Nachdruck, »wir lieben es bereits. So, und jetzt endlich zu Tisch! Elise hat sich heute nämlich mal wieder selbst übertroffen.«

Das ließ sich die Geburtstagsgesellschaft nicht zweimal sagen und nahm an der riesigen Tafel Platz, die Maël gemeinsam mit Pierrick einst aus alten Schiffsplanken geschreinert hatte.

Es gab Elises Spezialität Poulet à l’armoricaine, Hähnchen in einer wundervollen Sauce, deren Rezept die Hauswirtschafterin nicht preisgeben wollte, sooft Sylvia sie auch danach fragte. Als Vorspeise hatte sie eine riesige Platte mit überbackenen Austern auf den Tisch gebracht, die hier an der Küste gesammelt worden waren, und Maël entkorkte einige Flaschen Sauvignon Blanc.

»So schön, dass du schon jetzt gekommen bist«, sagte Sylvia zu Solenn und drückte ihre Hand. »Du bleibst doch bis zur Geburt?«

»Nein, Sylvie«, erklärte Solenn bedauernd. »Die ist ja erst in einem Monat. Aaltje hat nächste Woche einen Termin in der Augenklinik. Der graue Star. Das ist zwar eine Routine-OP, aber sie wünscht sich trotzdem, dass ich bei ihr bin.«

»Natürlich«, antwortete Sylvia ein wenig enttäuscht. Einmal mehr fühlte sie, wie die ältere Freundin ihr fehlte.

»Sie hat den Termin extra so gelegt, dass bis zur Geburt alles vorbei ist«, fügte Solenn beruhigend hinzu. »Und dann bin ich zur Stelle, keine Sorge! Außerdem ist meine Schwester ja auch noch da. Wo steckt Rozenn überhaupt? Hat ihr etwa keiner Bescheid gesagt?«

»Doch, natürlich«, versicherte ihr Gwen. »Sie muss auf Übernachtungsgäste warten und kommt ein bisschen später.«

Solenns jüngere Schwester Rozenn war Keramikerin und wohnte auf dem Festland in einem verwunschenen Haus, außerdem vermietete sie Zimmer an Sommergäste.

»Kann ich noch etwas Brot haben?«, fragte Noah und angelte sich zwei Scheiben von Elises hausgebackenem pain breton, das halb aus Weichweizen- und halb aus Vollkornmehl bestand. Durch die Zugabe von ein wenig gesalzener Butter im Teig schmeckte es herrlich saftig und mürb. Elise beobachtete mit Freuden, wie Noah sich eine weitere Auster nahm.

»Was gibt es denn im Internat so zu essen?«, erkundigte sie sich. Bevor Elise zu ihnen gekommen war, hatte sie die Küche eines Internats in Nordfrankreich geleitet.

»Och«, meinte der Junge, »das Essen ist schon in Ordnung. Aber Austern hat es noch nie gegeben.«

Die Erwachsenen lachten.

»So gut wie hier bei uns isst du nirgendwo, mein Junge«, erklärte Pierrick. »Wollen wir die Tage mal wieder miteinander zum Angeln gehen und ein paar schöne Fische fangen?«

»Klar«, erklärte Noah mit einem Strahlen. »Gleich heute Nachmittag?«

»Jetzt mal sachte«, meinte Pierrick mit einem breiten Grinsen. »Du bist ja gerade erst angekommen.«

»Bald kommt Alain mich besuchen«, berichtete Noah eifrig, und Sylvia horchte auf. Noahs Ziehvater wollte wieder Kontakt zu dem Jungen aufnehmen?

»Hat er sich denn bei dir gemeldet?«, fragte Sylvia.

Noah hatte sich gerade die zweite Scheibe Brot einverleibt und nickte mit vollem Mund.

»Er hat mir geschrieben«, erklärte er, nachdem er geschluckt hatte. »Stell dir vor, er möchte auf die Insel kommen. Dann zeig ich ihm, wie gut ich segeln kann.«

Sylvia dachte an den smarten Jungpolitiker mit der vielversprechenden Zukunftsperspektive, der bei ihren Begegnungen stets so unnahbar gewirkt hatte. Wie konnte man einen Jungen, den man sieben Jahre lang für seinen Sohn gehalten hatte, einfach so aus seinem Leben streichen? Sie hatte das bedauert und gehofft, dass Alain Dufèvre es sich irgendwann anders überlegen würde. Offenbar war dies nun der Fall.

»Wann kommt er denn? Und … sag mal, wer hat dich eigentlich vom Flughafen abgeholt?«, fragte Sylvia, einen Moment lang besorgt wegen Maëls Aufsichtspflicht dem Jungen gegenüber.

»Wir haben ihn am Pariser Flughafen eingesammelt«, erklärte Solenn. »Das lag ja auf unserer Strecke. Maël hat alles bestens organisiert.«

Staunend betrachtete Sylvia ihren Mann. Normalerweise war sie diejenige, die alles bis ins kleinste Detail organisierte. Vielleicht nahm sie ihm immer zu viel ab? Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte sie. Wenn das Kind erst einmal da war, würde sie sich nicht mehr um alles kümmern können. Es war so gut, Maël an ihrer Seite zu wissen. Er würde auch bei der Entbindung dabei sein, das hatte von Anfang an festgestanden. Erst in der vergangenen Woche hatten sie die Geburtsklinik besucht.

Rozenn erschien mit einem riesigen Blech Kouign Amann und wurde mit großem Hallo empfangen. Elise nahm ihr den berühmten bretonischen Butterkuchen ab und trug ihn hinüber zur offenen Küchenzeile.

»Wo hast du denn Maart gelassen?«, erkundigte sich Pierrick.

»Der hat leider zu tun«, antwortete Rozenn und hob Lili hoch, um ihr Küsschen zu geben. »Ich soll euch alle schön grüßen. Vor allem dich, Sylvie.«

»Wer ist denn Maart?«, fragte Veronika erstaunt.

»Ach, habt ihr euch noch nie getroffen?«, fragte Rozenn.

»Maart ist Rozenns Winterliebe«, antwortete Pierrick an ihrer Stelle. »Sie kennen sich schon seit ihrer Jugend, doch damals wurde nichts aus den beiden. Er ist einer der erfahrensten Lotsen hier an der Küste.«

»Was ist denn eigentlich das für ein Wagenrad hier?«, erkundigte sich Elise und wies auf einen großen Käselaib, der einen Teil der Arbeitsfläche beanspruchte.

»Den hab ich aus Holland mitgebracht«, sagte Aaltje und lachte verlegen. »Ich weiß, Käse nach Frankreich zu bringen ist ein bisschen wie Eulen nach Athen zu tragen. Aber so ein durchgereifter, zwölf Jahre alter Gouda ist schon etwas Besonderes.«

»Und ob er das ist«, stimmte Sylvia ihr zu. »Ganz lieben Dank! Ihr habt wirklich einen ganzen Laib davon mitgebracht?«

Suzanne, die inzwischen zu ihnen gestoßen war, half Elise, den Käse anzuschneiden, ihn auf mehreren Brettern anzurichten und zu Tisch zu bringen. Lili griff gleich mit beiden Händen nach Aaltjes Gouda und knabberte andächtig an einem Stück, und selbst Noah, der außer dem einheimischen Palet de Chèvre, den ein alter Freund von Pierrick herstellte, kaum Käse mochte, fand den Gouda akzeptabel.

Elise hatte gerade all die vielen kleinen Kerzen auf Sylvias Geburtstagskuchen, einem überdimensionalen Frankfurter Kranz, angezündet, als das Telefon läutete.

»Das ist sicher jemand, der dir gratulieren will«, meinte Noah und lief, um Sylvia den Hörer zu bringen.

»Zut alors«, maulte Coco. »Ausgerechnet jetzt, wo Sylvie die Kerzen ausblasen muss!«

»Ich mach’s kurz«, beschwichtigte Sylvia sie und nahm das Gespräch an.

»Bonjour, Madame«, erklang eine förmliche Männerstimme. »Kann ich mit Monsieur Riwall sprechen? Maël Riwall?« Sylvia reichte den Hörer weiter. »Das ist ohnehin nicht für mich«, sagte sie fröhlich in die Runde und wandte sich den vielen Kerzen zu.

»Wer ist es denn?«, wollte Maël wissen.

»Ein Kollege, nehme ich an«, sagte sie. »Oder ein Kunde.«

Maël runzelte die Stirn. »Der uns auf unserer Privatnummer anruft?«

Er nahm den Hörer, und während Sylvia es tatsächlich schaffte, alle Kerzen mit einem einzigen Atemzug auszublasen, und ihre Gäste damit zum Jubeln brachte, zog er sich ins Schlafzimmer zurück.

Maël kam erst zurück, als alle anderen ihren Kuchen bereits aufgegessen hatten, und zeigte kein Interesse an seinem eigenen Stück.

»Wer war es denn?«, fragte Sylvia leise und musterte ihn besorgt. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Er wirkte geradezu verstört.

»Ich erzähl es dir später«, antwortete er ebenso leise.

»Du siehst aus, als ob jemand gestorben wäre«, sagte Solenn und betrachtete ihn genau.

Es gab nur wenige Menschen, die Maël so gut kannten wie sie. Schließlich hatte sie ihn gemeinsam mit Lucie großgezogen, nachdem er eines Tages im Alter von zwölf Jahren bei ihnen aufgetaucht war. Aller Augen wandten sich nun ihm zu.

»Niemand ist gestorben«, antwortete er unwirsch. Er wollte sich Kaffee einschenken, doch die Kanne war leer. »Es ist alles in Ordnung. Soll ich noch mal Kaffee machen?«

»Mais non«, erklärte Elise und erhob sich. »Das erledige ich.«

»Willst du deinen Kuchen nicht?«, erkundigte sich Noah mit Blick auf Maëls unberührten Teller.

Da endlich lächelte er. »Möchtest du ihn haben?«, fragte er. »Nimm ruhig und lass ihn dir schmecken.«

Er legte den Arm um Sylvia, und sie konnte seine Anstrengung fühlen, an der allgemeinen guten Laune teilzuhaben. Etwas war nicht in Ordnung, sie spürte deutlich, dass Maël sich Sorgen machte. Und was ihn betraf, das ging auch sie etwas an. Sie wechselte einen Blick mit Solenn, die offenbar Ähnliches dachte. Beide kannten Maël allerdings gut genug, um abzuwarten, bis er von selbst anfing zu berichten.

»Möchtest du jetzt mein Geschenk öffnen?«, riss Noah Sylvia aus ihren Gedanken. Er reichte ihr ein flaches, rechteckiges Päckchen.

»Das ist ja ganz schön schwer«, sagte Sylvia erstaunt.

Noah nickte eifrig und bekam rote Wangen. »Gib acht, es ist zerbrechlich«, warnte er sie. »Ich hab es den ganzen Flug über auf dem Schoß behalten, damit nichts passiert.«

Sylvia löste das Klebeband und mehrere Lagen Papier. Zum Vorschein kam eine bemalte Glasscheibe, und als sie sie vorsichtig mit beiden Händen hob und gegen das Licht hielt, konnte sie einen Ausruf der Bewunderung nicht zurückhalten.

»Glasmalerei«, rief sie aus. »Wie zauberhaft! Hast du das gemacht?«

»Ja«, antwortete Noah vor Stolz strahlend. »Gefällt es dir?«

»Und wie! Es ist wunderschön«, erklärte Sylvia bewundernd.

»Lass mal sehen«, bat Pierrick, zu dem der Junge als Erstes Vertrauen gefasst hatte, als ihn seine Mutter ein Jahr zuvor ohne Vorwarnung aus Paris auf die Insel gebracht hatte. »Dis donc, ist das etwa ein Boot?«

Noah nickte stolz. »Es ist die La Brise. Und an Bord, da stehen wir alle: Du, Sylvie, Maël und ich.« Gerührt betrachtete Sylvia die Malerei. Das Boot war gut getroffen, und auch die vier kleinen Gestalten konnte man deutlich erkennen. »Es ist früh am Morgen«, fuhr Noah fort, »seht ihr? Da hinten geht gerade die Sonne auf.«

»Dafür müssen wir einen besonderen Platz finden. Was hältst du von dem Fenster hier, das nach Osten zeigt?«, schlug Sylvia vor. »Dann sehen wir beim Frühstück, wie die ersten Morgenstrahlen dein Bild erleuchten.«

Noah nickte zustimmend und begleitete Pierrick, um das nötige Werkzeug zu holen. Während die beiden die bemalte Scheibe vor das Fenster hängten, packte Sylvia noch weitere Geschenke aus. Eine praktische Babywippe von ihrer Freundin Veronika. Einen federleichten und doch kuschelwarmen Bademantel mit passenden Pantöffelchen aus einem Wolle-Seide-Gemisch von Solenn und Aaltje.

»Gefällt dir die Farbe? Man nennt sie Rosenholz, glaube ich«, erkundigte sich Aaltje gespannt.

»O ja«, antwortete Sylvia.

»Die steht dir ausgezeichnet«, stimmte Veronika zu. »Sie passt perfekt zu deinem dunkelblonden Haar und bringt deine blauen Augen zum Leuchten. Damit wirst du die eleganteste Mutter der Entbindungsstation sein, Sylvia!«

»Das ist sie sowieso«, bemerkte Maël stolz.

Die größte Überraschung bereitete ihr Pierrick. Er hatte auf dem Dachboden des Herrenhauses eine antike bretonische Wiege gefunden und wieder hergerichtet, ein wunderschönes Stück aus Kastanienholz mit geschnitzten Seitenteilen und gedrechselten Griffen.

»Die gehörte bestimmt zu einem lit clos«, erklärte er, »so wie man es hier üblicherweise hatte.« Er erzählte Sylvia, dass man früher in der Gegend in einer Art Schrankbett schlief, das aussah wie ein Himmelbett, nur dass Dach und Seitenwände nicht aus Stoff, sondern aus geschnitztem Holz waren, und mit einer Schiebetür statt Vorhängen. »In diesen alten Häusern zog es fürchterlich, besonders im Winter«, erzählte Pierrick und schmunzelte. »Außerdem schliefen alle in ein und demselben Raum. Da war es praktisch, ein Bett mit einer Tür zu haben, die man schließen konnte.« Von einem lit clos hatte er allerdings auf dem Speicher nichts mehr entdecken können. »Viele dieser alten Kästen hat man später zu begehbaren Schränken umgebaut«, erklärte er. »Oder man zerlegte sie und verwendete ihre Einzelteile anderweitig. Und so manch eines landete wohl auch als Brennholz im Kamin, wer weiß.«

Sylvia lauschte ihm aufmerksam und fuhr mit der Hand über die feine Schnitzarbeit der Wiege, deren Holz Pierrick mit Leinöl aufpoliert hatte.

»Was für ein wundervolles Geschenk«, sagte sie. »Vielen Dank, Pierrick! Wer wohl früher in diesem Bettchen gelegen haben mag?«

»Vielleicht Nolff, der Letzte aus dem Clan der Kerguénnecs«, sinnierte Pierrick. »Er war mein Freund, und er würde sich gewiss freuen, wenn er wüsste, dass jetzt euer Kind darin schlafen wird.«

»Bevor es so weit ist«, ergriff Gwen das Wort und reichte Sylvia einen Umschlag, »solltest du unser Geschenk öffnen. Es ist von uns allen.«

Sylvia öffnete das Kuvert und zog eine Doppelkarte daraus hervor.

»Was ist das?«, fragte sie erstaunt. »Ein Gutschein für ein Wochenende in einem Hotel?«

»In einem fabelhaften Wellnesshotel«, korrigierte Gwen sie. »Für euch beide. Ich war einmal dort, es ist ein Traum.«

»Ihr solltet den Gutschein unbedingt vor der Geburt einlösen«, warf Morgane ein, »denn danach wird es aus sein mit der Ruhe, fürchte ich.«

Der Klang von Metall gegen Glas ließ sie alle verstummen.

»Wir wollen euch etwas mitteilen«, erklärte Coco, die mit ihrer Gabel gegen ein Glas geklopft hatte. Sie stupste Gurvan leicht in die Rippen, worauf er sich erhob.

»Die Sache ist die«, begann er verlegen und suchte nach den richtigen Worten, was noch nie seine Stärke gewesen war. »Ich meine, Coco und ich, wir kennen uns ja seit einer ganzen Weile. Und da … na ja, da dachten wir …«

»Herrje«, unterbrach ihn Coco und verdrehte die Augen. »Mach’s kurz, Gurvan. Kurz und bündig.«

»Wir … wir wollen heiraten«, brach es aus dem Gärtner hervor. Er ließ sich erleichtert zurück auf seinen Stuhl fallen.

Für eine Millisekunde war es still in der großen Halle. Obwohl die beiden Tag für Tag zusammen arbeiteten, war nicht einmal Elise, von der man sagte, dass sie das Gras wachsen höre, darauf gekommen, dass die beiden, die sich tagtäglich kabbelten und zankten, ein Paar werden könnten. Dann redeten alle gleichzeitig los, sprangen auf und schlossen Coco und Gurvan in die Arme. Wenn Sylvia es sich recht überlegte, passten sie ausgezeichnet zueinander, und das nicht nur, weil sie beide ihr stoppelkurzes Haar in leuchtenden Farben trugen, Coco in Karottenrot und Gurvan in Neongrün. Der dritte im Bunde, der Auszubildende im zweiten Lehrjahr, Iven, der seinen Haarschopf zitronengelb gefärbt hatte, frotzelte: »Na, wenn da mal nichts im Busch ist«, und erntete prompt eine schmerzhafte Kopfnuss von seiner Chefin.

»Ja, wir erwarten was Kleines«, erklärte Coco stolz und funkelte Iven zornig an. »Attends un peu!«, fügte sie halblaut hinzu, nachdem der allgemeine Jubel über diese Neuigkeit verebbt war. »Ich weiß jetzt schon, wer morgen Glashaus IV putzt. Und zwar ganz allein.«

»Dann feiern wir heute also auch Verlobung«, sagte Maël und erhob sich. »Darauf müssen wir unsere Gläser erheben. Elise, bist du so lieb und holst uns die Sektkelche? Ich geh mal nachsehen, ob ich einen passenden Tropfen finde.«

Während sie ausgelassen miteinander anstießen, die Schwangeren und Kinder mit Mineralwasser und alle anderen mit einem erlesenen Crémant Brut aus Maëls Spezialreserven für besondere Anlässe, beobachtete Sylvia nicht ohne Sorge, wie ihr Mann trotz der fröhlichen Stimmung abwesend vor sich hin starrte.

»Alors, les enfants«, rief Solenn schließlich, der das ebenfalls nicht entgangen war. »Sylvie ist müde. Wir lassen die beiden jetzt ein bisschen in Ruhe. Und wisst ihr was? Ich leg mich ebenfalls ein Stündchen hin. Wir treffen uns wie jeden Abend um sieben oben im großen Haus. D’accord?«

Es dauerte eine Weile, bis jeder seine Siebensachen beisammenhatte. Pierrick schlug Noah vor, mit ihm in sein kleines Häuschen auf der anderen Seite des Gartens zu kommen, um den Seewetterfunk abzuhören, was dieser für sein Leben gern tat. Elise wiederum erklärte, nicht eher zu gehen, bevor sie den Tisch abgedeckt und das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine geräumt hatte.

»Und wenn ich schon dabei bin, kann ich auch noch rasch die große Halle durchfegen«, fügte sie hinzu.

In der Zwischenzeit zeigte Sylvia ihrer Freundin Veronika und Lili die Kammer neben ihrem Schlafzimmer, die sie für das Baby hergerichtet hatten. Sie war gerade groß genug für ein Kinderbett, eine Wickelkommode und einen bequemen Sessel unter dem quadratischen Fensterchen, durch das man direkt aufs offene Meer hinausblickte.

»Das ist zauberhaft geworden«, schwärmte Veronika. Und angesichts der zartrosa gestrichenen Wände fügte sie hinzu: »Wie ich sehe, rechnet ihr tatsächlich mit einem Mädchen?«

Sylvia lachte, und Lili klatschte in die Hände.

»Maël ist davon nicht abzubringen, das stimmt«, meinte sie. »Aber ich wollte ohnehin diese Farbe, egal, ob es ein Junge wird oder ein Mädchen. Ich habe nämlich gelesen, dass Babys im Mutterleib das Tageslicht durch den Bauch hindurch schimmern sehen. Stell dir vor, sie sehen alles wie durch eine rosarote Brille! Vielleicht kommt die Redewendung ja daher. Deswegen wirkt diese Farbe auf jeden Fall beruhigend auf Neugeborene, egal ob Mädchen oder Junge. Es erinnert sie an ihre ersten visuellen Eindrücke vor der Geburt.«

»Wie interessant! Das wusste ich gar nicht«, sagte Veronika staunend. »Wie gefällt dir die Farbe?«, fragte sie Lili.

»C’est joli!«, antwortete sie ernsthaft.

Sylvia öffnete eine Schublade der Wickelkommode. Zum Vorschein kamen winzig kleine, aus feinem weißem Garn gehäkelte Jäckchen, Mützen, Schühchen und Fäustlinge. Lili griff nach einer Mütze und versuchte, sie überzuziehen, merkte jedoch gleich, dass sie viel zu klein für sie war.

»Die Sachen sind für Sylvias Baby«, erklärte Veronika. »Komm, wir legen sie zurück zu den anderen.«

»Das sind alles Geschenke von den Frauen aus der Handarbeitsgruppe, die damals die Spitze für mein Brautkleid geklöppelt haben«, sagte Sylvia glücklich. »Du weißt ja, sie haben mich quasi adoptiert. Ich glaube, sie hoffen, dass ich eines Tages ihrer Gruppe beitrete und selbst mit dem Häkeln und Klöppeln anfange.«

Veronika lachte schallend. »Da können sie lange warten«, prustete sie.

»Wer weiß«, sagte Sylvia und kicherte. »Vielleicht wenn ich mal alt bin und mich langweile?«

»Ich werde schon dafür sorgen«, gab Veronika zurück, »dass du dich niemals langweilst.« Dann wurde sie ernst. »Ist alles in Ordnung mit Maël?«, erkundigte sie sich. »Er sieht so besorgt aus.«

»Das stimmt«, pflichtete Sylvia ihr bei und schloss die Schublade. »Seit diesem Anruf heute Mittag. Ich habe keine Ahnung, wer das war.«

»Wir lassen euch jetzt mal ein bisschen allein, nicht wahr, Lili? Wollen wir bei dem schönen Wetter einen Spaziergang machen und nach den Blumen sehen? Weißt du noch, wie die heißen?«

»Die heißen … Kamele«, antwortete Lili, und brachte Sylvia und Veronika erneut zum Lachen.