Inhalt

  1. Titel
  2. Zu diesem Buch
  3. Widmung
  4. Playlist
  5. I. Teil
  6. Prolog
  7. 1. Kapitel
  8. 2. Kapitel
  9. 3. Kapitel
  10. 4. Kapitel
  11. 5. Kapitel
  12. 6. Kapitel
  13. 7. Kapitel
  14. 8. Kapitel
  15. 9. Kapitel
  16. 10. Kapitel
  17. 11. Kapitel
  18. 12. Kapitel
  19. 13. Kapitel
  20. 14. Kapitel
  21. 15. Kapitel
  22. 16. Kapitel
  23. 17. Kapitel
  24. 18. Kapitel
  25. 19. Kapitel
  26. 20. Kapitel
  27. 2. Teil
  28. 21. Kapitel
  29. 22. Kapitel
  30. 23. Kapitel
  31. 24. Kapitel
  32. 25. Kapitel
  33. 26. Kapitel
  34. 27. Kapitel
  35. 28. Kapitel
  36. 29. Kapitel
  37. 30. Kapitel
  38. 31. Kapitel
  39. 32. Kapitel
  40. 33. Kapitel
  41. 34. Kapitel
  42. 35. Kapitel
  43. 36. Kapitel
  44. 37. Kapitel
  45. 38. Kapitel
  46. 3. Teil
  47. 39. Kapitel
  48. 40. Kapitel
  49. 41. Kapitel
  50. 42. Kapitel
  51. 43. Kapitel
  52. 44. Kapitel
  53. 45. Kapitel
  54. 46. Kapitel
  55. 47. Kapitel
  56. Epilog
  57. Anmerkung der Autorin
  58. Danksagung
  59. Die Autorin
  60. Die Romane von Emma Scott bei LYX
  61. Impressum

EMMA SCOTT

All In

Tausend Augenblicke

Roman

Ins Deutsche übertragen
von Inka Marter

Zu diesem Buch

Schon als Teenager floh Kacey Dawson aus ihrem lieblosen Elternhaus – um Musik zu machen und einen Ort zu finden, an dem sie wirklich zu Hause ist. Doch der kometenhafte Aufstieg ihrer Band ist mehr Fluch als Segen für sie. Denn der Ruhm kann sie nicht über ihre innere Einsamkeit hinwegtäuschen. Nach einem desaströsen Konzert in Las Vegas wacht Kacey mit dem schlimmsten Kater ihres Lebens auf der Couch ihres jungen Chauffeurs Jonah Fletcher auf. Dieser sieht sofort, dass Kacey kurz davor ist, sich selbst zu zerstören. Er bietet ihr Unterschlupf und eine Auszeit von den Versuchungen des Showbusiness. In Jonah findet Kacey eine verwandte Seele – vom ersten Moment an verspürt sie eine tiefe Verbundenheit mit ihm. Es ist, als wäre er der Teil von ihr, der immer fehlte. Was für Kacey die Musik ist, ist für Jonah die Kunst – sein größter Traum ist es, der Welt ein Vermächtnis aus Glas und Licht zu hinterlassen. Ihn zu lieben ist ein Sprung ins Ungewisse; aber ganz gleich, was kommt: Kacey weiß, dass sie nicht mehr zurück kann – und dass Jonah es wert ist, alles zu riskieren …

In diesem Buch geht es nicht zuletzt um Brüder.
Ich widme es meinem Bruder Bob, der mich unabsichtlich
auf meinen Weg gebracht hat, mit einer magischen E-Mail und einem Vorschlag.

Deinetwegen, Bob, habe ich angefangen,
Liebesgeschichten zu erzählen, es ist meine Berufung,
und du hast mein Leben für immer verändert.
Diese ist für dich, mit Dank und in Liebe.

PLAYLIST

Live: Lightning Crashes

Halsey: Hurricane

Sia: Chandelier

Coldplay: Yellow

Celine Dion: My Heart Will Go On

Bishop: Like a River

Tom Petty: Free Fallin’

Snow Patrol: Chasing Cars

Strumbellas: Spirits

Rufus Wainwright: Hallelujah (Text von Leonard Cohen)

I. TEIL

Full tilt (Poker): Emotionales statt rationales Spiel,
bei dem eher impulsive als logische Entscheidungen
getroffen werden.

PROLOG

Jonah

Vor fünfzehn Monaten …

Weißes Licht blendete mich. Ich versuchte krampfhaft, die Augen offen zu halten. Dann gab ich auf, und sie fielen wieder zu. Stattdessen lauschte ich den Maschinen, ließ mich von den Geräuschen aus der Bewusstlosigkeit holen. Das pulsierende Piepen, das war mein Herz. Mein neues Herz, das langsam in meiner Brust pumpte. Gestern gehörte es noch einem dreiundzwanzigjährigen Basketballspieler, der vor Henderson einen Autounfall hatte. Heute gehörte es mir. Trauer und Dankbarkeit tanzten am Rande meines Bewusstseins.

Danke. Es tut mir leid und danke …

Gott, meine Brust. Es fühlte sich an, als hätte ein Amboss mich zerquetscht, meine Rippen zerschmettert. Ein heftiger, anschwellender Schmerz lauerte unter dem Brustbein, wo sie meinen Brustkorb wie einen Schrank aufgemacht und dann wieder zugeklammert hatten. Irgendwo inmitten dieser tiefen, heftigen Pein befand sich mein neues Herz.

Ich stöhnte vor Schmerz.

»Er wacht auf. Bist du wach, Schatz?«

Ich zwang mich, die Augen zu öffnen, und das Licht war gnadenlos.

Vielleicht bin ich tot.

Das Weiß des Krankenhausbetts und die krassen Leuchtstoffröhren brannten in meinen Augen. Dann gewöhnten sie sich an die Helligkeit. Dunkle Formen nahmen Gestalt an. Meine Eltern standen rechts von mir und beugten sich über mich. Meine Mutter hatte geweint und strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn. Sie rückte den Schlauch zurecht, der in meiner Nase steckte, obwohl er wahrscheinlich nicht zurechtgerückt werden musste.

»Du siehst wunderbar aus, mein Lieber«, sagte sie mit zitternder Stimme.

Ich fühlte mich, als wäre ich nach wochenlanger, schwerer Krankheit von einem Güterzug überfahren worden. Aber sie meinte auch gar nicht, dass ich gut aussähe. Sie meinte, dass ich lebendig aussähe.

Für sie brachte ich ein Lächeln zustande.

»Es ist gut gelaufen, Junge«, sagte mein Vater. »Dr. Morrison sagt, alles sieht gut aus.« Er lächelte mich angespannt an, dann sah er weg und hustete hinter vorgehaltener Hand, um seine Gefühle zu verbergen.

»Theo?«, krächzte ich und zog eine Grimasse, als der Schmerz in meiner Brust aufflackerte. Ich atmete flach und sah zu meiner linken Seite.

Da saß er, gebeugt, die Unterarme auf die Knie gestützt. Stark. Verlässlich.

»Hey, Bro«, sagte er, und ich hörte die gezwungene Lockerheit in seiner tiefen Stimme. »Mom nimmt dich auf den Arm. Du siehst scheiße aus.«

»Theodore«, sagte sie. »Das stimmt nicht. Er sieht wunderbar aus.«

Ich hatte nicht die Kraft, für meinen Bruder einen Witz zu reißen. Ich schaffte es nur, zu lächeln. Er lächelte zurück, aber es wirkte verkrampft und hart. Ich kannte meinen Bruder besser als jeder andere. Ich wusste, wann ihn etwas quälte. Wut brannte ununterbrochen in ihm wie eine Kontrolllampe, und jetzt war sie leuchtend rot.

Warum …

Ich blickte mich im Raum um und wusste es. »Audrey?«

Die Atmosphäre war plötzlich angespannt, und meine Mutter sprang auf, als hätte jemand sie mit einer Nadel gestochen. Blicke wurden getauscht, flogen wie Vögel über meinem Bett hin und her.

»Es ist spät«, sagte mein Vater. »Sie … ist nach Hause gegangen.« Er war Stadtrat und hatte die Politikerstimme angeschaltet, die er immer benutzte, wenn er auf möglichst angenehme Weise eine unangenehme Wahrheit aussprechen musste.

Meine Mutter, Kindergärtnerin und geübt im Trösten, sprang ihm bei. »Aber du musst dich jetzt ausruhen, Schatz. Schlaf ein bisschen. Du wirst dich besser fühlen, wenn du geschlafen hast.« Sie küsste mich auf die Stirn. »Ich hab dich lieb, Jonah. Alles wird gut.«

Mein Dad fasste meine Mom bei den Schultern. »Lass ihn schlafen, Beverly.«

Und ich schlief. Oder sagen wir, ich fiel immer wieder kurzzeitig in einen unruhigen, von Schmerz durchdrungenen Schlaf, bis eine Schwester eine Infusion anschloss und ich richtig einschlief.

Als ich aufwachte, war Theo da. Audrey nicht. Mein neues Herz begann dumpf und schwer zu pochen. Die Adrenalinproduktion funktionierte wieder … oder welches Hormon eben ausgeschüttet wurde, wenn etwas vorbei war, wovon man geglaubt hatte, dass es ewig halten würde.

»Wo ist sie?«, fragte ich. »Sag mir die Wahrheit.«

Theo wusste, wen ich meinte. »Sie ist gestern Morgen nach Paris abgereist.«

»Hast du mit ihr gesprochen? Was hat sie gesagt?«

Er rückte mit dem Stuhl heran. »Sie hat mir eine beschissene rührselige Story aufgetischt. Dass sie einen Plan für ihr Leben hätte und dass das hier …« Sein Blick wanderte durch den Raum.

»… nicht passte«, sagte ich.

»Sie hat es nicht gepackt.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Scheiße, ich hätte den Mund halten sollen.«

»Nein«, sagte ich und schüttelte leicht den Kopf. »Ich bin froh, dass du es mir gesagt hast. Ich musste es wissen.«

»Tut mir leid, Bro. Drei Jahre. Du warst drei Jahre mit ihr zusammen, und sie ist einfach …«

»Es ist okay. Es ist besser so.«

»Besser? Wie kann das bitte besser sein?«

Meine Lider wurden wieder schwer, und ich wollte die Augen schließen, den Vorhang fallen lassen und noch einmal für eine Weile im Nichts versinken. Ich hatte nicht die Kraft, ihm zu sagen, dass ich Audrey nicht dafür hasste, dass sie mich verlassen hatte. Ich hatte es kommen sehen. Selbst krank und mit einem in absehbarer Zeit versagenden Herzen hatte ich bemerkt, wie sie sich gewunden hatte, wie sie heimlich zur Tür geblickt und überlegt hatte, wie sie vor meiner Krankheit und dem Leben, das sie mit sich brachte, fliehen könnte.

Es tat weh. Ich spürte jedes der drei Jahre, die wir zusammen gewesen waren, wie einen Messerstich in meinem neuen Herzen. Aber ich hasste sie nicht. Ich hasste sie nicht, weil ich sie nicht liebte. Nicht so, wie ich eine Frau lieben wollte – mit jeder Faser meines Seins.

Audrey war weg. Theo konnte sie für mich hassen. Meine Eltern konnten sich über ihre Hartherzigkeit mir gegenüber wundern. Aber ich ließ sie einfach gehen, denn in diesem Moment wusste ich noch nicht, dass sie die Letzte sein würde …

1. KAPITEL

Kacey

Ein Samstagabend im Juli

Ich war betrunken.

Warum hätte ich mein Handy sonst in der Hand haben sollen, mit dem Daumen direkt über der Festnetznummer meiner Eltern in San Diego?

Betrunken anrufen, dachte ich. Und das jetzt nicht mehr nur bei Exfreunden.

Ich lachte schnaubend. Es klang allerdings eher nach einem Schluchzen, das in dem Treppenhaus widerhallte. Ich saß mit angezogenen Knien in der Dunkelheit und versuchte, mich klein zu machen. Unsichtbar. Auf der anderen Seite der Betonwand hörte ich die gedämpften Schreie und Pfiffe der dreitausend Leute, die darauf warteten, dass Rapid Confession die Bühne betrat. Jimmy Ray, unser Manager, hatte uns vor gut zwanzig Minuten mitgeteilt, dass wir in zehn Minuten dran seien, und meine Bandkolleginnen suchten wahrscheinlich schon nach mir.

Ich nahm einen Schluck aus der Evian-Flasche, die ich zu Dreivierteln mit Wodka gefüllt hatte – ich bin ziemlich clever –, und betrachtete mein Telefon. Ich forderte mich dazu heraus, sie anzurufen. Ich warnte mich. Riet mir, es zu lassen. Das Ding einfach wegzustecken und zu meiner Band in den Backstagebereich zu gehen. Wir würden die Bühne betreten und erneut vor einem ausverkauften Saal spielen. Ich würde verdammt berühmt werden, ’ne Menge Geld verdienen und weiter jede Nacht mit einem anderen Typen vögeln.

Rock ’n’ Roll eben.

Von wegen. Rock ’n’ Roll hatte nichts mit mir zu tun. Ich sah nur so aus, besonders heute Abend in Minirock, Overknees und Bustier-Top. Das Haar, fast weiß gebleicht, fiel mir in perfekten Locken auf die Schultern. Perfekt wie bei einem Pin-up-Girl. Roter Lippenstift, schwarzer Eyeliner. Ich war tätowiert, und das trug noch zu dem Bild eines Grunge-Chicks bei, aber die Tattoos waren nicht Teil des Kostüms. Sie gehörten zu mir.

Ich sah vielleicht nach Rock ’n’ Roll aus, aber ich fühlte mich wie zerbrochenes Glas, das überall verstreut war. Ich wusste nicht mehr, wer oder was ich war, aber ich glitzerte hübsch im Rampenlicht.

Ich nahm noch einen Schluck Wodka, und mir rutschte fast das Telefon aus der Hand. In letzter Sekunde konnte ich es festhalten, aber als ich es hochhielt, sah ich, dass ich auf den dicken grünen Anruf-Button gedrückt hatte.

»Shit …«

Langsam hob ich das Telefon ans Ohr. Nach dem dritten Klingeln meldete sich meine Mutter.

»Dawson.«

Das Herz rutschte mir in die Hose. Mein Kiefer arbeitete, aber ich brachte keinen Ton heraus.

»Hallo?«

»Ich …«

»Hallo? Wie kann ich Ihnen helfen?«

Sie wird auflegen!

»Hey, Mom. Ich bin’s, Kacey.«

»Cassandra.«

Ich hasste den Namen und hatte ihn seit Jahren nicht benutzt. Trotzdem hörte ich in diesen drei Silben die Erleichterung in der Stimme meiner Mutter. Ich hörte sie wirklich.

»Ja. Hi!«, sagte ich fröhlich und zu laut. »Wie äh … Wie geht’s euch?«

»Es geht uns gut«, erwiderte sie. Sie dämpfte die Stimme, als wollte sie nicht, dass jemand sie hörte. »Von wo rufst du an?«

»Las Vegas«, sagte ich. »Wir sind hier auf Tournee. Ich und meine Band. Rapid Confession. Unser Konzert ist ausverkauft, den zweiten Abend in Folge. Eigentlich sind die meisten Konzerte auf der Tour ausverkauft. Es ist ziemlich super. Wir kommen ganz groß raus.«

»Ich freue mich sehr für dich, Cassandra.«

Ich hörte den Einfluss meines Vaters in ihren Worten, der sie zu einem verdammten Roboter gemacht hatte, der nur ausspuckte, was er sie unter Zwang hatte auswendig lernen lassen.

»Hast du unsere letzte Single gehört? ›Talk Me Down‹? Also …« Ich biss mir auf die Lippe. »Sie ist auf Platz sechs der Charts. Und ich … also, ich hab den Song geschrieben. Ich meine, meine Band und ich haben ihn zusammen geschrieben, aber der Text ist vor allem von mir. Und ›Wanderlust‹? Den hab ich auch geschrieben. Der ist auf Platz zwölf.«

Keine Antwort.

Ich schluckte. »Wie geht’s Dad?«

»Es geht ihm gut«, erwiderte meine Mutter, ihre Stimme nur noch ein Flüstern.

»Ist … ist er da?«

Mom seufzte, ein winziges Ausatmen. »Cassie … bist du gut aufgehoben? Kümmert sich jemand um dich?«

»Es läuft gut bei mir, Mom«, sagte ich. »Ich bin erfolgreich. Diese Band … Wir sind der totale Hit.«

Gott, wie ich es hasste. Ich klang so jämmerlich, und dann diese Prahlerei mit der Band – ich flehte meine Mom geradezu an, sich über unseren Erfolg zu freuen, obwohl ich selbst kaum etwas empfand, bis auf das Bedürfnis, geliebt zu werden. Es war wie ein Hunger, der nicht gestillt werden konnte. Er hatte sich so in meinem Innern festgesetzt, dass ich ihn niemals loswerden würde. Die einzige Möglichkeit war, ihn für eine Weile in Alkohol zu ertränken und zu versuchen, ihn am nächsten Tag auszukotzen.

»Mom? Bitte sag Dad …«

»Cassie, ich muss auflegen.«

»Halt, warte, kannst du ihn nicht ans Telefon holen? Oder sag ihm einfach, dass du gerade mit mir telefonierst. Tu das bitte, Mom. Mal sehen, was er sagt.«

Schweigen. »Ich glaube, das ist keine gute Idee«, sagte sie endlich. »Er war … gut gelaunt in letzter Zeit. Keine Aufregung. Ich will ihn nicht stören.«

»Ist er noch böse auf mich?«, fragte ich mit schwankender Stimme. »Es ist vier Jahre her, Mom. Ich bin nicht mal mehr mit Chett zusammen.«

Chett hatte mich vor vier Jahren in Las Vegas abserviert, pleite, mit gebrochenem Herzen und völlig aus der Bahn. Und eine halbe Tournee, einen Plattenvertrag, unzählige One-Night-Stands und zwei neue Tattoos später saß ich nun hier, wieder nichts als ein ungeratenes Kind, das seine Eltern um Verzeihung bat.

Ich kämpfte gegen die Tränen an. »Ich habe es dir erzählt, Mom. Aber hast du es ihm auch gesagt? Hast du Dad je gesagt, dass ich obdachlos war und im YMCA geschlafen habe, nachdem Chett mich rausgeworfen hatte? Obdachlos, Mom. Ich war verdammt noch mal erst siebzehn.«

Ich hörte, wie sie schluckte. Sie unterdrückte die Tränen und die Gefühle und alles, was sie sagen wollte, aber nie sagen würde. Sie hatte Dad nichts von mir erzählt. Höchstens, dass ich noch lebte, dass sie von mir gehört hatte und es mir gut ginge. Sie hielt sich an seine Vorgaben, egal wie inständig ich sie bat, mal was Neues auszuprobieren.

»Du hättest diesen Jungen nicht mit nach Hause bringen sollen«, sagte meine Mutter, jetzt mit ein wenig festerer Stimme. »Du hast gewusst, wie sehr es deinen Vater aufregen würde.«

»Alles, was ich gemacht habe, hat ihn aufgeregt«, schrie ich, und meine Stimme hallte schrill durch das Treppenhaus. »Ihm war sowieso nie was gut genug. Ich wusste genau, dass es eine beschissene Idee war, Chett nach Hause mitzubringen, und ich wollte erwischt werden. Und weißt du auch, warum? Damit Dad endlich mit mir redet. Und wie traurig ist das bitte? Seine eigene Tochter. Sein eigenes Kind

»Cassandra, ich muss jetzt auflegen. Ich sage deinem Vater, dass ich von dir gehört habe und …«

»Dass es mir gut geht?«, beendete ich ihren Satz. »Mir geht’s besser als gut, Mom«, sagte ich wütend und wischte mir die Nase mit dem Handrücken ab. »Wir sind ’ne verdammte Sensation. ’ne echt große Nummer.«

»Du weißt, ich mag es nicht, wenn du fluchst, Cassandra«, entgegnete sie. Ihre Stimme war jetzt hart wie Stein, sie machte dicht. Aber ich konnte nicht aufhören.

»Sag das Dad, okay? Sag ihm, ich hab’s geschafft, und zwar ohne seine Hilfe oder Anerkennung oder … sein beschissenes Dach über meinem Kopf.«

»Ich werde jetzt auflegen, Cassandra.«

Ich holte tief Luft, bereute sofort jedes Wort. Ich musste ihre Stimme noch ein wenig hören. »Mom, warte. Es tut mir leid. Es tut mir so leid …«

Schweigen am anderen Ende, und ich dachte schon, dass sie aufgelegt hätte, als ich hörte, wie sie zittrig einatmete.

Erleichtert schloss ich die Augen. »Es tut mir leid. Sag Dad …« Ich schluckte die Tränen hinunter. »Sag ihm, dass ich ihn lieb hab, ja? Bitte.«

»Das werde ich«, sagte sie, auch wenn ich ihr nicht glaubte. Keine Sekunde.

»Danke, Mom. Und dich hab ich auch lieb. Wie geht es …«

»Ich muss jetzt auflegen. Pass auf dich auf.«

Und damit war das Gespräch wirklich beendet.

Ich blickte das Handy noch eine Weile an. Eine Träne platschte auf das Display, und ich wischte sie mit dem Daumen weg. Ich überlegte, noch einmal anzurufen. Ich könnte ihr sagen, dass es mir leidtat, dass ich geflucht hätte. Oder ich könnte ihr sagen, dass es mir verdammt noch mal überhaupt nicht leidtäte. Ich würde nie wieder anrufen. Ich war so fertig mit ihnen wie sie mit mir.

Sind sie wirklich fertig mit mir?

Bei dem Gedanken tat mir das Herz weh.

Aber nein, noch nicht. Meine Mutter hielt noch an mir fest. Sie brauchte meine Anrufe. Das wusste ich. Aber sie würde mich niemals von sich aus anrufen, selbst wenn ich mich nie wieder melden würde. Das wusste ich auch. Sie war eine Zuschauerin im Leben ihres eigenen Kindes.

Ich lehnte mich an die Betonwand, hörte die Menge auf der anderen Seite unruhig werden. Es klang wie ein Gewitter, das näher kam. Wenn wir nicht bald auf die Bühne gingen …

Ich musste eine rauchen.

Ich bewahrte eine zerdrückte Zigarettenpackung oben in einem meiner Stiefel auf. Ich zog sie heraus und zündete mir mit den Streichhölzern, die ich unters Zellophan geschoben hatte, eine an.

Nach einem tiefen Lungenzug sackte ich noch ein bisschen mehr in mich zusammen, heruntergezogen von den Tränen, die ich in den letzten vier Jahren nicht geweint hatte. Sie drohten, sich jetzt in einem ganz persönlichen Gewitter zu ergießen. Ich kämpfte die ganze Trauer zurück. Atmete sie ein, umhüllte sie mit Rauch und drückte sie tief in mein Inneres, wo sie wie ein Bleigewicht liegen blieb.

Dad würde nicht einmal mit mir reden.

Ich stieß den Gedanken mit dem Atem wieder aus. Na und? Wen kümmert schon, was er denkt? Zweiundzwanzig Jahre lang war ihm alles egal, warum sollte das jetzt anders sein? Scheiß drauf!

Große Worte, nur dass ich alles darum gegeben hätte, die Stimme meines Vaters zu hören – ohne den wütenden oder enttäuschten Ton. Ich wollte hören, dass er mich vermisste, mich lieb hatte. Ich wollte hören, dass ich jederzeit nach Hause kommen könnte und die Tür für mich offen stünde …

Aber er hatte diese Tür vielleicht für immer geschlossen, und das Fundament, auf dem ich gebaut war, zerfiel zu Staub.

Die Menge auf der anderen Seite der Wand brüllte. Die Leute riefen nach uns. Nach mir. Sie liebten mich.

Und wie Roxie Hart in dem gleichnamigen Film sagte: Ich liebte sie dafür, dass sie mich liebten.

Ich trank noch einen Schluck Wodka und rappelte mich auf. Im selben Moment kam Jimmy Ray hektisch einen Treppenabsatz über mir durch die Tür gerannt.

Unser Manager war Mitte vierzig und hatte schütteres Haar. Sein Anzug – er trug nur noch Armani, seit ein mittelgroßes Label uns vor drei Monaten unter Vertrag genommen hatte – saß ein bisschen locker an seiner schlaksigen Gestalt. Sobald er mich sah, griff er sich ans Herz und brach theatralisch vor Erleichterung an der Wand zusammen.

»Gott, Süße, ich krieg noch einen Herzinfarkt. Der Gig hätte vor einer halben Stunde starten sollen.«

Ich trat die Zigarette mit dem Absatz aus und kleisterte mir ein Lächeln ins Gesicht. »Sorry, Jimmy, wichtiger Anruf. Aber jetzt ist alles okay. Kann losgehen.«

»Freut mich zu hören. Die Leute fressen uns bei lebendigem Leib auf, wenn ihr nicht so schnell wie möglich da draußen seid.«

Ich ging an ihm vorbei, aber er hielt mich fest, nahm mein Kinn und betrachtete mein Gesicht.

»Hast du geweint?«

Ich erstarrte eine Sekunde. Jimmy Ray war nicht gerade eine Vaterfigur, aber er war gut zu uns gewesen. Gut zu mir. Ich spürte, wie seine Freundlichkeit mich weich werden ließ, und wollte ihm sagen …

»Dein Make-up ist verschmiert«, sagte er. »Bring das in Ordnung, bevor du auf die Bühne gehst, okay?«

Ich nickte stumm.

»Braves Mädchen.«

Er gab mir einen leichten Klaps auf den Hintern und folgte mir aus dem Treppenhaus in den Aufenthaltsraum, wo der Rest der Band wartete.

2. KAPITEL

Kacey

Alle trugen ihre Konzertmontur: Leder, Lack und einen Haufen fette Modeklunker. Violet, unsere Bassistin, hatte das braune Haar seitlich zu einem Zopf gebunden, damit man den kleinen schwarzen Raben sah, der in die rasierte Haut über ihrem Ohr tätowiert war. Sie nickte mir zu und machte das Peace-Zeichen.

Meine beste Freundin Lola saß in einem Sessel und ließ die Drumsticks geschickt um die Finger rotieren. Sie sprang auf, kam auf mich zu und starrte mich durch die Strähnen ihres schwarzen und kobaltblauen Haars an. Ihre dunklen Augen blickten aufmerksam und voller Sorge.

»Geht’s dir gut? Wo warst du?«

Die Antwort wurde mir durch Jeannie, unsere Leadsängerin, erspart. Sie war dabei, sich einzusingen, und brach mitten in einer Tonleiter ab.

»Was ist bitte los, Kacey?« Ihre Augen, umrahmt von Kajal, so schwarz wie ihre hautenge Lederhose, hefteten sich auf mich. Sie war hübsch, unsere furchtlose Anführerin, oder wäre es jedenfalls gewesen, wenn sie nicht ständig ein Gesicht gezogen hätte, als litte sie unter Verstopfung.

Die gesamte Aufmerksamkeit aller im Raum lag schwer und anklagend auf mir. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sagte näselnd und mit einem Akzent aus dem mittleren Westen: »Tag, Jeannie, na, wer geht dir denn jetzt schon wieder auf den Wecker

Lola kicherte, und Violet verbarg ihr Lachen hinter ihrer Hand.

»Wer mir auf den Wecker geht? Du …« Jeannies Verwirrung schlug in Wut um. »Zitierst du etwa schon wieder aus einem dämlichen Film?«

»Dämlich?« Dramatisch riss ich die Augen auf. »Ferris macht blau ist ein absoluter Klassiker. Ein nationales Kulturgut …«

Jeannie winkte ab, ihre Armbänder klirrten. »Meinetwegen. Wenn du der Band ebenso viel Zeit widmen würdest wie dem Feiern und Relikten aus den Achtzigern …«

»Jetzt komm schon, Jeannie«, sagte Violet seufzend. »Fang nicht direkt vor dem Konzert damit an. Sie ist hier. Wir sind spät dran, aber nicht so, dass es nicht noch cool wäre. Na und?«

Lola nickte. »Nur Anfängerinnen gehen pünktlich auf die Bühne. Sie ist bereit für die Show, stimmt’s Kace?«

»Hör bloß auf, sie zu verhätscheln, mein Gott«, fuhr Jeannie Lola an, aber Jimmy ging dazwischen, nahm sie beiseite und redete leise und beruhigend auf sie ein.

»Mmm-mmm, was für’n kleines Arschloch«, sagte ich.

Violet brach in Lachen aus, aber Lolas Blick wanderte zu meinem »Evian«. Die Frau war ein wandelnder Alkoholdetektor. Ich warf die Flasche in den Papierkorb, bevor Lola spitzkriegte, was drin war, und mir eine ihrer patentierten Predigten hielt. Der Wodka hatte sowieso schon angefangen zu wirken. Er versetzte mich einen Riesenschritt weit weg von der Realität, als befände ich mich hinter einer Glasscheibe.

»Nicht streiten, Ladies«, mahnte Jimmy und kam mit Jeannie in die Mitte des Raums zurück. »Dreitausend Leute mit einer Eintrittskarte warten auf euch.«

»Er hat recht«, sagte Jeannie und setzte ihre »Furchtlose Anführerinnen«-Miene auf. Starr und ernst sah sie uns der Reihe nach an. »Konzentration! Wir müssen ihnen die Show unseres Lebens bieten. Bildet einen Kreis.«

Wir stellten uns in einen Kreis und hielten uns an den Händen, während Jeannie eine Art Beschwörung murmelte. Violet war Buddhistin und Lola Atheistin, also ging es bei dem gemeinsamen »Gebet« hauptsächlich darum, unsere Energien zu bündeln, dankbar für unsere Chancen zu sein und uns auf eine Wellenlänge zu bringen, damit wir wie eine geschlossene Einheit spielen konnten.

Während Jeannie positive Affirmationen herunterleierte, grübelte ich, ob ich das hier überhaupt wollte. Ich ahnte, dass die Antwort Nein lautete, aber dafür war es jetzt zu spät. Lola zählte auf mich. Ohne sie wäre ich noch immer auf der Straße. Sie hatte mich aufgenommen, nachdem Chett mich hatte sitzenlassen, und zusammen hatten wir mit der Band angefangen. Für sie war wichtig, dass ich bei dieser Sache nicht versagte; für mich war wichtig, keine Versagerin zu sein.

»Vergesst die anderen Konzerte«, sagte Jeannie, und es folgten die üblichen Sprüche, die sie am Ende brachte: »Vergesst, dass wir seit Monaten auf Tour sind. Die Fans verdienen unser Bestes, also lasst uns rausgehen und spielen, als wär’s der erste Tag. Blut, Schweiß und Tränen, Ladies.«

Wir äußerten laut unser Einverständnis, um ein bisschen auf Touren zu kommen, dann gingen wir raus.

Lola nahm mich beiseite. »Geht’s dir wirklich gut?«

»Klar geht’s mir gut. Absolut.«

»Wo warst du?«

»Ach, ich … ich hab meine Eltern angerufen.«

Lola ließ die Schultern hängen und schlug sich die Hand vor die Augen. »Oh, Scheiße, nein. Nein, nein, nein. Ich sag dir ständig, dass du das lassen sollst. Es macht dich jedes Mal total fertig, Kace. Jedes Mal. Du wirst traurig, und dann säufst du noch mehr als sonst.«

»Nein, nein, es war super!«, sagte ich. »Ich hab nur mit meiner Mom gesprochen, aber … Na ja, mein Dad hat Hallo gesagt. Ich hab ihn im Hintergrund gehört. Das ist ein Anfang, oder?«

Ist es so weit mit dir gekommen? Nach allem, was sie für dich getan hat, lügst du deine beste Freundin an?

Lola war regelrecht fassungslos. »Wirklich? Er hat mit dir geredet?«

»Er hat Hallo gesagt, Lola. Wirklich.«

Sie betrachtete mich aus schmalen Augen und lenkte schließlich ein.

»Das ist toll, Kace«, sagte sie und umarmte mich. »Ich freue mich wirklich für dich. Ehrlich gesagt war ich in letzter Zeit ein bisschen besorgt. Du feierst ununterbrochen und gehst jede Nacht mit einem anderen Typen ins Bett.«

»Nicht jede Nacht«, sagte ich. »Ich lege auch Pausen ein. Dienstag zum Beispiel.«

Lola schnaubte.

»Los, Mädels.« Jimmy tauchte wieder in der Tür auf. »Sie warten.«

Ich warf Lola ein beruhigendes Lächeln zu. »Wir liefern ’ne Supershow ab, heute. Versprochen.«

»Mir wär’s lieber, du würdest mir versprechen, hinterher nicht so heftig zu feiern. Vielleicht könntest du dich dann auch daran erinnern, wie geil die Show war.«

Ich tat gekränkt. »Das ist das Unrock ’n’ rolligste, was ich je gehört habe. Keith Richards würde sich im Grab umdrehen, wenn er dich so reden hörte.«

Ein Lächeln ließ Lolas Lippen zucken. »Keith Richards lebt noch.«

»Ach so? Na, dann müssen wir uns ja keine Sorgen machen.«

Sie verdrehte die Augen, lachte und umarmte mich. Beschützend wie immer.

Hugo Williams, der Sicherheitschef des Pony Clubs, tauchte an der Tür unseres Aufenthaltsraums auf, um uns zur Bühne zu geleiten. Seine dunklen Augen waren warm und freundlich, als er mir zulächelte, die Zähne weiß und hell im Kontrast zu seiner dunklen Haut.

»Hey, Hugo«, sagte ich, als wir rausgingen.

»Hey, Kleine«, antwortete er in seinem tiefen Bariton.

Es war erst der zweite Abend im Pony Club, aber Hugo schien mir gegenüber besonders aufmerksam zu sein. Er gab sich wirklich Mühe, damit ich mich sicher fühlte.

Jimmy drückte meine nackte Schulter. »Klingt nach ’nem ungehobelten Haufen heute Abend, Hugo.«

Ich lächelte dem Bodyguard zu. »Hugo passt auf mich auf. Er ist mein Held.«

Der Mann nickte wie ein Soldat, der einen Befehl erhalten hatte, und führte uns zur Bühne. Wir gingen durch einen langen Gang mit Rohren an der Decke. Unsere Schritte klapperten auf dem Beton.

Jimmy drehte sich zu mir um. »Bist du bereit?«

»Ich bin immer bereit, Jimmy.«

»So ist’s richtig, Mädchen.«

Auf der kurzen Treppe vor dem Eingang zur Bühne schloss ich zu meinen Bandkolleginnen auf. Ein Brüllen erhob sich – die Menge reagierte, da wir angesagt wurden.

»Las Vegas! Seid ihr bereit für Rapid Confession?«

Wieder schwoll der Lärm an wie eine Lawine, die den Laden fast zum Einstürzen brachte.

Dann öffnete sich die Tür – vor uns ein dunkles Viereck, in dem die Bühnenscheinwerfer blitzten. Wir stiegen die Treppe hinauf und betraten die Bühne. Meine rote Fender wartete auf einem Ständer auf mich. Ich hängte sie mir um und sah, dass Jeannie nervös lächelte und mir zunickte – ein Friedensangebot. Ich nickte und lächelte zurück – Angebot angenommen.

Lola schlug die Drumsticks über ihrem Kopf zusammen, um den Takt zu »Talk Me Down« anzuzählen.

Ich spielte mir das verfluchte Herz aus dem Leib. Ich hatte »Talk Me Down« für mich geschrieben. Der Song handelte von allem, was mir Angst machte an meiner Zukunft und an dem, was ich mir selbst antat. Niemand wusste, dass der Song von mir war. Ich sang nur den Background zu Jeannies Melodie. Aber wenn ich spielte, dann zeigte sich mein Herz. Die Musik riss mir die Brust auf, spreizte die Rippen und zeigte der Welt alles, was darunter lag.

Ich ging total ab bei jedem Solo. Der Alkohol, den ich auf leeren Magen getrunken hatte, verwandelte die Bühnenscheinwerfer in unscharfe weiße Gestirne. Die Gesichter der Menge verschmolzen zu einer einzigen brüllenden, wogenden, aufgeladenen Masse. Ich lebte von dieser Energie, nahm die Beifallsschreie in mich auf und gab sie mit jedem Akkord, jedem Lauf zurück, bis meine Finger bluteten und ich die Fender am Ende des Konzerts fast auf der Bühne zertrümmerte.

Als die letzten Noten des letzten Songs in der Luft vibrierten, rastete die Menge völlig aus. Ich war voll wie ’ne Granate, rannte am Rand der Bühne entlang und klatschte die Leute ab, die vorn standen. Sie packten mich und zogen mich runter. Ich lachte und lachte und surfte auf der mich anbetenden Menge, total breit und high von dem Gefühl, geliebt zu werden.

Der wirklich kräftig gebaute Hugo und sein Team schoben sich ins Getümmel, holten mich runter und eskortierten mich hinaus. Aber ich wollte nicht, dass es aufhörte. Ich lud die Leute ein, die in der Nähe standen.

»Ich liebe euch alle! Kommt mit …« Ich zeigte wahllos auf irgendwelche Leute. »Los, kommt mit! Lasst uns weiterfeiern …«

Hugo schleppte mich in den Aufenthaltsraum, wo die Band schon feierte. Champagner schoss golden in schaumigen Bögen durch die Luft. Ich nahm jemandem eine Flasche aus der Hand und kippte die Hälfte des Inhalts in einem Zug runter. Dann brüllte ich die Security an, dass sie die Leute reinlassen sollten, die ich eingeladen hatte.

»Sie gehören zu mir!«, rief ich.

Etwa zwei Dutzend drängten sich rein. Meine Bandkolleginnen waren zu high von dem Erfolg, als dass es ihnen etwas ausgemacht hätte. Jimmy sah aus, als würde er gleich abheben.

Ich warf den Champagner weg und nahm irgendeine Flasche von dem langen Tisch, auf dem Getränke und Essen für nach dem Konzert standen. Jägermeister.

Riskante Entscheidung, dachte ich lachend und stieß einen heiseren Jubelschrei aus, nachdem der Alkohol mir brennend die Kehle hinuntergeronnen war. Meine neuen Freunde schrien zurück. Fremde Gesichter, die ich nicht kannte und an die ich mich morgen nicht mehr erinnern würde. Leute, die wegen Musik, Gratisalk und Spaß hier waren und wegen mir, der Schutzpatronin des Partymachens. Ich stieg auf einen Tisch, und sie jubelten mir zu und hoben ihre Flaschen.

Sie lieben mich.

Plötzlich fing der Raum an, sich zu drehen, als säße ich in einem Karussell. Es war zu voll. Keine Luft. Die Security versuchte, sich zwischen den Leibern hindurchzudrängeln. Glas zerbrach. Ein paar Leute in der Menge jubelten, andere fluchten.

Lola schrie, ich solle da runter kommen, bevor ich mir sämtliche Knochen bräche; dann wurde sie von der Menge verschluckt. Hugos massige Gestalt teilte das Meer wie Moses. Ich versuchte, die grüne Flasche für einen letzten Schluck an die Lippen zu heben, denn die Party war kurz davor zu platzen, und ich würde auf dem Boden aufkommen und in eine Million Teile zerbrechen.

Die Worte meines Vaters von vor vier Jahren hallten in meinem Kopf wider, so klar, als wäre es gestern gewesen: Raus! Raus aus meinem Haus!

»Nein«, sagte ich. Dann wurde ich lauter, mein Mund formte die Worte nur schwerfällig und ungeschickt. »Du gehst. Das ist mein Haus. Mein Haus.«

Ich hob die Flasche in die Höhe. »Das ist mein Haus!«, schrie ich, und hundert Millionen Leute hoben auch ihre Flaschen und feuerten mich an, bis der Lärm durch mich hindurchfegte wie Wind durch ein Papiertaschentuch.

Ich lachte oder weinte vielleicht, dann stolperte ich seitwärts. Die Flasche rutschte mir aus der Hand, und ich fiel vom Tisch, direkt in Hugos Arme. Ich sah sein schwarzes T-Shirt, dann wurde mir schwarz vor Augen.

3. KAPITEL

Jonah

Das Schild über mir blinkte. Rot und weiß. Pony Club. Das Metall war am Rand verrostet, und drei der Glühbirnen, die den Namen umrahmten, waren durchgebrannt. Es sah billig aus. Geschmacklos. Wie vieles in Las Vegas. Aber wenn ich die Augen zusammenkniff …

Die Lichter verschwammen, und ich stellte mir Kugeln aus weißem und rotem Glas vor. Glasperlen vielleicht. Mit Draht zu einem Strauß verbunden. Meine Phantasie zog die roten Perlen in die Länge und machte flache Blütenblätter daraus. Ein Weihnachtsstern mit Schleierkraut. Ein weihnachtlicher Strauß aus Glas, den man nie gießen musste. Meiner Mutter würde das gefallen. Oder Dena. Ich holte das abgewetzte kleine Notizbuch heraus, das ich in der Brusttasche meines Hemds aufbewahrte, um den Gedanken zu notieren. Dann hielt ich inne.

Bis Weihnachten waren es noch sechs Monate.

Ein leiser Schmerz versuchte, in mir Wurzeln zu schlagen, aber ich zerdrückte ihn mit einer geübten Leichtigkeit, als würde ich einen Kaugummi unter einen Tisch kleben.

Halt dich an die Routine.

Ich steckte das Notizbuch wieder ein.

Es wurde laut im Pony Club. Das Konzert hätte seit einer Stunde vorbei sein sollen, aber der Jubel und die Schreie irgendeiner Wahnsinnsparty waren, leicht gedämpft, aber dennoch laut und deutlich, durch den Beton der Rückwand des Ladens zu hören.

Ich zog mein Handy aus der Tasche der Uniformhose und sah nach, wie spät es war. Fast ein Uhr. Die Limousine war bis zwei Uhr gebucht, aber ich konnte jetzt schon sagen, dass ich gezwungenermaßen Überstunden machen würde.

Doch was kümmerte es mich, wenn ich länger arbeiten musste? Ich schlief ohnehin nicht gut im Moment, und das Geld konnte ich gebrauchen. Ich würde warten, bis die Band und ihr Manager betrunken und stinkend aus dem Club herauskamen, und sie zu der Riesenvilla in Summerlin zurückfahren, wo ich sie um fünf Uhr nachmittags abgeholt hatte.

Das Gute an der Nachtschicht war, dass ich tagsüber Zeit hatte zu arbeiten. Das Schlechte war die Wartezeit. So viele ungenutzte, unausgefüllte Stunden wartete ich auf meine Fahrgäste, bis das Dinner oder die Show zu Ende war oder sie endlich, Alkohol und Rauch ausdünstend, aus dem Casino kamen und – meistens jedenfalls – ihre Verluste an den Blackjack- und Pokertischen beklagten.

Limousinenfahrer fanden sich bei Events gern zusammen; ihre schicken weißen oder schwarzen Fahrzeuge parkten in einer Reihe vor dem Veranstaltungsort. Ich sah bei verschiedenen Aufträgen dieselben Gesichter, manchmal auch Kollegen von A-1-Limousinen. Aber ich musste Rauch meiden und war nicht an neuen Freunden interessiert. Ich blieb für mich und hielt mich an meine Routine.

Ich lehnte mich an die Limousine und schaute hoch. Kein einziger Stern war vor lauter Licht in Las Vegas zu sehen. Ich würde auf den Campingausflug zum Great Basin warten müssen, den mein bester Freund für in ein paar Wochen geplant hatte. Aber der Strip war auch eine Art Sternbild. Grelles Neon und flackernde Lichter. Solange man nicht nach unten sah, war es auf seine eigene Weise schön.

Zu meinen Füßen im Rinnstein zwischen Straße und Gehweg lagen Zigarettenkippen, ein zerdrückter Pappbecher von Dairy Queen und ein Flyer für eine Nacktshow in einer Seitenstraße. Zerbrochenes Glas glitzerte grün unter einer Straßenlaterne.

Einer der anderen Fahrer kam auf mich zu. »Hast du vielleicht ’ne Kippe?«

Der Typ war jung. Jedenfalls jünger als ich mit meinen sechsundzwanzig Jahren. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn, und er sah mich hoffnungsvoll an. Trotz der Sommerhitze trug er die Uniform seiner Firma – ein weinrotes Polyesterjackett mit Goldpaspeln. Anfänger. Meine schwarze Jacke lag auf dem Beifahrersitz, und zwar seit die Band und ihr Manager vor ungefähr sieben Stunden aus meiner Stretch-Limousine ausgestiegen waren.

»Ich rauche nicht«, sagte ich. »Sorry.«

Das »Sorry« war ein Codewort für »Gespräch beendet«, aber der Typ kapierte das nicht.

»Mist, ich hab seit einer Stunde keine mehr«, murmelte er. Auf seinem Namensschild stand Trevor. »Hey, wen fährst du? Ich hab ein paar betuchte Sechzehnjährige, die sich das Rapid-Confession-Konzert ansehen.« Er lachte auf. »Verwöhnte, reiche Gören. Ich meine, gibt’s was Schlimmeres?«

»Wahrscheinlich nicht«, murmelte ich.

Mein Telefon vibrierte, als eine Nachricht reinkam. Vermutlich von meinem Bruder Theo, der sich etwa stündlich meldete. Ich zog das Telefon aus der Hosentasche. Jepp.

Wie geht’s? Alles klar?

Ich verdrehte die Augen, machte einen Screenshot der Nachricht, die er um Mitternacht geschickt hatte – mit exakt demselben Wortlaut –, und schrieb, dass es mir gut ging. Ich drückte auf »Senden«.

Er schrieb zurück. Arschloch.

Ich grinste. Du machst es mir zu leicht. Geh schlafen, Teddy. Ich ruf dich morgen an.

»Ich frage mich, wer die Band fährt«, sagte Trevor und blickte über die Reihe der Limousinen. »Wär’ echt der Wahnsinn, wenn ich die Bitches hätte. Die Nacht wär’ gerettet.«

Ein Foto von Theos Mittelfinger kam an. Er hasste es, wenn ich ihn Teddy nannte. Fast so sehr, wie ich es hasste, wenn Typen zu Frauen Bitches sagten.

Ich wandte mich Trevor zu und wollte ihm gerade sagen, dass er sich verpissen sollte, als die Hintertür des Pony Clubs aufgestoßen wurde und heiseres Gelächter, Schreie und das Klirren von zerbrechendem Glas auf die Straße schwappten. Ein riesiger Bodyguard lief mit dem schlaffen Körper einer Frau auf den Armen hinaus. Ihr Lederrock war über die Oberschenkel hochgerutscht, und der Kopf hing so runter, dass ihr blondes Haar dem Typen über den Arm fiel.

Ich schob Trevor aus dem Weg und öffnete die Passagiertür der Limousine. Der Bodyguard wurde nicht langsamer, bückte sich nur leicht beim Einsteigen und legte die junge Frau auf die lange Sitzbank gegenüber der Tür.

Trevor atmete hörbar ein. »Alter, das ist sie, die Blonde … die Gitarristin von Rapid Confession.« Er sah mich an, als wäre ich sein Held. »Du fährst die Band?«

Der Bodyguard kam aus dem Wagen und richtete sich auf, seine Hände ballten sich zu Fäusten. »Geht Sie das was an?«

Trevor zuckte zusammen und trat einen Schritt zurück. »N-nein, Sir.«

»Werden Sie jemandem erzählen, was Sie hier gesehen haben?«

»Nein. Natürlich nicht.«

»Gute Antwort.« Er wandte sich jetzt an mich. »Bringen Sie sie nach Hause. Schnell. Bevor die Paparazzi auftauchen. Da drinnen ist die verfluchte Hölle los.« Er deutete mit dem Kopf auf den Pony Club, wo die Schreie lauter wurden, untermalt von schrillen Flüchen und mehr zersplitterndem Glas. »Ich muss zurück.« Er stieß mir einen Finger auf die Brust. »Sie kümmern sich darum, dass sie sicher nach Hause kommt.«

Seine dunklen Augen sahen mich eindringlich an, und ich erkannte die Besorgnis darin. Dann lief er zurück in den Club. Sirenen heulten in der Ferne und kamen näher.

Sobald der riesige Bodyguard weg war, linste Trevor in die Limousine. »Mann, Alter, die ist echt scharf.«

Ich musste Trevors Einschätzung zustimmen, aber sie war außerdem betrunken und völlig weggetreten. Für mich musste eine Frau bei Bewusstsein und klar im Kopf sein, bevor ich auch nur im Entferntesten auf den Gedanken an Sex kam. Trevor dagegen hing buchstäblich die Zunge aus dem Mund, und angewidert knallte ich ihm die Tür vor der Nase zu.

»Was wirst du mit ihr machen?«, fragte Trevor.

Ich blieb neben der Fahrertür stehen und starrte ihn an. »Sie nach Hause bringen, Arschloch.«

Trevor hob abwehrend die Hände. »Mein Gott, beruhig dich. Ich meinte nicht …«

Mehr konnte ich nicht hören, weil ich in den Wagen stieg und die Tür zumachte.

Trevor würde das Versprechen nicht halten, das er dem Bodyguard gegeben hatte. Keine Chance. Und was auch immer im Pony Club passiert war, es würde sowieso durchsickern – die Sirenen waren eine Garantie dafür.

Bring sie einfach nach Hause, mach deinen Job, halt dich an die Routine.

Ich ordnete mich in den Verkehr auf dem Strip ein und fuhr die Trennscheibe runter, um zu prüfen, ob es der Frau gut ging. Der Rock war immer noch hochgerutscht, und man sah einen Oberschenkel in Netzstrumpfhose und ein Stück von einem Tattoo. Weitere verliefen über die helle Haut ihrer Unterarme, ein größeres bedeckte ihre rechte Schulter. Ihre Brüste quollen aus dem knappen Top, aber ich achtete nur darauf, ob ihre Brust sich bewegte. Ob sie atmete.

Ich fragte mich, ob ich einen Umweg übers Sunrise Hospital machen sollte – mein zweites Zuhause –, als die Frau stöhnte und sich auf die Seite rollte. Ich blickte auf die Straße, während ich hörte, wie sie sich auf den Boden der Limousine übergab – der Menge nach zu urteilen, hatte sie ein ganzes Fass geleert. Der Geruch nach erbrochenem Alkohol füllte den kleinen Raum.

»Großartig«, murmelte ich. »Und dafür zahlen sie mir das dicke Geld.«

Als sie nicht mehr würgte, ließ sich die Frau – laut Trevor die Gitarristin – auf die Sitzbank zurückfallen und stöhnte leise. Ihre Augen waren geschlossen, und das weißblonde Haar klebte an ihrer Wange.

Ich fuhr vom Strip runter, um in einer dunklen, leeren Seitenstraße zu halten. Dann stieg ich aus und kletterte in den Passagierraum. Ich ging vorsichtig um das Erbrochene herum, setzte mich neben die Frau und strich ihr das Haar aus dem Gesicht.

Es gefiel mir gar nicht, in irgendetwas mit Trevor einer Meinung zu sein, aber sie war wirklich schön. Selbst bewusstlos, betrunken und nach Alkohol, Erbrochenem und Zigarettenrauch stinkend war sie unglaublich. Große Augen mit langen, dunklen Wimpern, ein breiter Mund mit vollen, roten Lippen und dunkle, ausgeprägte Augenbrauen, die mit dem weißblonden Haar kontrastierten.

Ich ermahnte mich, keine Zeit damit zu verplempern, sie anzustarren, sondern einfach nur sicherzustellen, dass sie nicht sterben würde. Ich hatte in den letzten Monaten viele hübsche Frauen gefahren. Betrunkene hübsche Frauen. Die hier war nicht anders.

Die Frau – ich wünschte, ich hätte den Bodyguard nach dem Namen gefragt – atmete jetzt ruhiger und hatte wieder etwas Farbe im Gesicht. Wahrscheinlich hatte es ihr geholfen, einen halben Liter Alkohol auszuspucken. Ich war zufrieden, dass sie nicht ins Krankenhaus musste – auch wenn ich sie nicht um den heftigen Kater beneidete, mit dem sie aufwachen würde –, und konzentrierte mich wieder darauf, sie nach Hause zu bringen, um endlich Feierabend zu machen.

Ich fuhr in nordwestlicher Richtung nach Summerlin. Die riesige Villa dort war pfirsichfarben gestrichen, hatte weiße Säulen, eine kreisförmige Auffahrt und war völlig dunkel.

»Mist.«

Ich stieg aus dem Wagen und klingelte an der Haustür, in der Hoffnung, dass vielleicht ein persönlicher Assistent oder jemand von der Security da war. Nichts. Dann drückte ich auf die Klinke. Vielleicht war ja nicht abgeschlossen. Aber das war es.

Ich holte das Telefon aus der Tasche und rief die Zentrale von A-1 an. Tony Politino war dran.

»Tony? Ich bin’s, Jonah. Ich brauch die Kontaktnummer für den Rapid-Confession-Auftrag.«

»Du hast den Job gekriegt?« Tony stieß einen bewundernden Pfiff aus. »Hast du ein Glück.«

»Nicht so viel Glück, wie man meinen sollte«, murmelte ich. »Hast du die Nummer?«

»Moment.«

Ich rieb mir die Augen, während ich zum Wagen zurückging und wartete, bis Tony wieder am Apparat war.

»Jimmy Ray. Das ist der Manager«, sagte er. Er nannte mir die Nummer. »Und, hey, mach ein paar Fotos für mich, okay? Die Blonde ist echt heiß.«

Ich blickte zu der Frau auf der Sitzbank, und mir kam ein hinterhältiger Gedanke. Ich könnte wirklich ein paar Bilder von ihr machen und sie für einen Haufen Kohle an ein Klatschblatt verkaufen. Natürlich würde ich meinen Job verlieren, aber den würde ich dann nicht mehr brauchen. Ich könnte jeden Tag komplett in der Werkstatt verbringen und müsste mir keine Sorgen mehr machen, ob meine Installation rechtzeitig zur Ausstellungseröffnung im Oktober fertig werden würde.

Es war eine verlockender Gedanke, abgesehen von der unbedeutenden Tatsache, dass ich mir niemals verzeihen könnte, mich so mies verhalten zu haben. Es war schon widerwärtig, es überhaupt in Betracht zu ziehen. Ich schob es auf die Müdigkeit und auf die große Angst, die hinter jedem Gedanken lauerte und hervorkam, sobald ich es zuließ. Die Angst, dass mir nicht genügend Zeit bliebe und ich die Installation niemals fertigstellen würde.

»Halt dich an die Routine«, murmelte ich.

»Was hast du gesagt?«, fragte Tony.

»Nichts. Danke für die Nummer.«

bis zur Besinnungslosigkeit betrunkenundweiblich

Um zwei Uhr nachts zeigte Las Vegas seine dunkle Seite. Auf den Straßen waren nur noch die ganz Verzweifelten unterwegs: Spieler, die hofften, etwas von ihren Verlusten zurückzugewinnen, hoffnungslose Säufer, Drogendealer und Prostituierte. Ich hasste dieses Las Vegas, aber als ich den Strip kreuzte und nach Osten fuhr, kam ich am Bellagio vorbei. Mein Lächeln war zurück. Es gab wahre Schönheit in dieser Stadt. Man musste nur wissen, wo man suchen musste.

Zum Beispiel in der Lobby des Bellagio. Oder in meinem Rückspiegel.

Die bewusstlose Frau dort auf der Sitzbank bedeckte ihre Augen mit einem ihrer tätowierten Arme und stöhnte leise.

»Wir sind fast da«, sagte ich sanft. »Alles wird gut.«