Der Maskenball

Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem










Erstveröffentlichung 1926 unter dem Titel "Der Maskenball in der Ca' Torcelli"

Eine venezianische Liebesgeschichte


„Angelo!“

Keine Antwort. Draußen flimmerte und schimmerte der glorreiche Spätsommersonnenschein auf dem breiten Wasserstrom des Kanals Grande und überzog die ihn einsäumenden Paläste mit dem eigentümlichen, silbernen, schleierartigen Licht, das man nur in Venedig sieht und ganz besonders auffallend um die Mittagsstunden beobachten kann. Mit leisem, kaum hörbarem Ruderschlag zogen Gondeln und Barken den Kanal herauf und herab; dann und wann schnob und pustete ein Motorboot vorbei, ertönte ein Zuruf sich begegnender Ruderer, und das war das ganze Geräusch der Großstadt Venedig, das der Fremde, in dessen gemarterten Ohren der Höllenlärm seiner Städte widerhallt, als die Totenstille empfindet, die ihn glauben läßt, daß die ehemalige Königin der Meere eine tote Stadt wäre, die ihrem Untergang entgegensähe.

Die leichte Seebrise, die wie eine leis streichelnde Hand über den Kanal wehte, flüsterte in den Weiden, Zypressen, Steineichen, Hex- und Lorbeerbäumen, deren wunderbar frisches Grün die hohe, lanzenförmig gezinnte Mauer des Gartens am Palazzo Torcelli dal Giglio überragte; sie raunte leiser noch in den Ranken der wilden, virginischen Weinrebe, die an der Gartenseite den Palast bis hinauf zu den Spitzbogenfenstern des zweiten Stockwerkes überzog.

An einem dieser Fenster, hinter der halb zugestellten Markise war dies scharfe, ungeduldige „Angelo!“ erklungen, das unbeantwortet geblieben war. Vielleicht absichtlich, denn der Angerufene saß in demselben Raum, doch schien er so in seine Lektüre versenkt und konnte ebensogut den Anruf überhört haben. Es war der derzeitige Besitzer des Palastes, Principe oder zu deutsch Fürst Angelo Torcelli dal Giglio, ein 30jähriger Mann mit einer wahren Antinoosgestalt und einem Rassekopf, in dem die venezianischen Eigentümlichkeiten durch ein paar römische Züge zu einem Ganzen zusammengeschmolzen waren, an dem des aufmerksameren Beobachters Blick sicher nicht ohne Verwunderung vorüberschweifte. Den römischen Einschlag hatte Angelo Torcelli von seiner Mutter, der verwitweten Principessa, die eine Römerin aus dem feudalsten Blut der Ewigen Stadt, den Corleone war. Donna Fabiola war einst eine berühmte Schönheit gewesen, stolz, wie nur eine römische Aristokratin sein kann, arm wie eine Kirchenmaus. Jugendlich schlank und schön, wenn auch vielleicht nur für den Liebhaber dieses Typs, war sie noch heute, trotz ihrer achtundvierzig Jahre. Ihr Stolz war durch ihre Verbindung mit einem der ältesten Geschlechter des venezianischen Uradels noch gewachsen, und ihre Verschwendungssucht hatte zuwege gebracht, die vorher sehr soliden, wenn nicht gar brillanten Finanzen des Hauses Torcelli zugrunde zu richten.

„Angelo!“ Der zweite Anruf Donna Fabiolas hatte zur Schärfe und Ungeduld noch eine Gereiztheit im Ton, die den anscheinend so sehr in sein Buch vertieften Leser wie ein Peitschenschlag traf, daß er in die Höbe fuhr und fragend aufsah. Mit einem kleinen Seufzer der Resignation, der nicht viel mehr als ein tieferer Atemzug war, legte er das Buch auf das kleine Tischchen, an dem er saß, und machte mit seinem Kopf eine verbindliche Bewegung nach der Sprecherin.

„Du befiehlst, liebe Mama?“

„Ja, ich befehle“, kam es noch um einen Grad gereizter zurück. „Ich will heute ein für allemal wissen, was du zu tun gedenkst!“

„Was ich – oh, wegen des Verkaufs der Villa am Brentakanal? Ja, der Intendant meint, da doch niemand dort wohnt und die Erhaltungskosten sehr groß sind, wäre es wohl angezeigt, dem Wiener Bankier den Zuschlag auf sein Angebot zu erteilen – –“

„Dieser Hebräer besitzt schon zwei Paläste des Uradels in Venedig; auf dieses Haus hat er längst sein Auge geworfen“, fiel Donna Fabiola heftig ein. „Aber wenn es dir so leichtfällt, diesen Besitz in solche Hände gelangen zu lassen, der noch dazu von deinem Vater als mein Witwensitz bestimmt wurde –“

Ein ausdrucksvolles Achselzucken vollendete die Rede, die nicht nur nicht korrekt, sondern vor allem höchst ungerecht war, da nicht der Leichtsinn des Principe, sondern ihre eigene, glänzende Unkenntnis pekuniärer Mittel die historische Villa am Brentakanal dem Meistbietenden zur Verfügung stellte. Angelo Torcelli erwiderte nichts auf den Ausfall. Er schloß nur den Mund fester und senkte den Blick seiner dunklen, venezianisch samtigen Augen auf die Spitzen seiner eleganten braunen Schuhe herab; er wußte ganz genau, daß er sich noch gegen andere Geschosse zu wappnen hatte, und er tat das mit den allerbesten Vorsätzen, was ihm zur Ehre gesagt werden muß.

„Aber tut, was ihr wollt! Wenn der Herr Intendant dekretiert, dann ist ja doch nichts mehr zu machen“, fuhr die Fürstin ungeduldig fort. „Davon wollte ich auch gar nicht reden, aber du mißbrauchst mich absichtlich, Angelo! Gut denn: Ich will wissen, was du wegen Daphne beschlossen hast!“

Nun war aber „Daphne“ niemand anders als Angelo Torcellis leibliche Cousine, die einzige Tochter des Bruders seiner Mutter, des Fürsten Corleone. Dieser hatte als junger Mann seinen mit Hypotheken überlasteten historischen Palast mit der Gemäldegalerie darin, auf die der Staat schon seine Hand gelegt hatte, durch seine Verheiratung mit einer englischen Erbin vor dem Zusammenbruch bewahrt. Die vielbewunderte Engländerin, Herzogin „im eigenen Recht“, hatte allen warnenden Stimmen zum Trotz den ruinierten Römer geheiratet. Zur Ehre von Gaetano Corleone muß aber gesagt werden, daß er die junge Herzogin so leidenschaftlich liebte, wie sie ihn, und daß ihr fabelhafter Reichtum nicht die mindeste Rolle dabei spielte. Daß er ihn ohne Bedenken mitnahm, um damit den lang verblichenen Glanz seines alten Hauses wieder zu erneuern, verdachte ihn in seinen Kreisen niemand; die übergroße Feinfühligkeit, die in dem Reichtum der Erwählten ein Hindernis sieht, ist zudem kein Erbteil der lateinischen Rassen, und da auch die angelsächsischen Magnaten begonnen hatten, ins Land der Dollars zu ziehen, um mit dieser angenehmen Münze ihre Schlösser wieder aufzubauen, so fand auch eigentlich jenseits des Kanals „die Gesellschaft“ nichts Tadelnswertes in der Annahme der Einkünfte der vielbegehrten Erbin, die gelassen den Tag ihrer Volljährigkeit abgewartet hatte, um ohne gesetzlichen Einspruch dem Zug ihres Herzens folgen zu können. In den fünf kurzen Jahren ungetrübten Eheglücks hatte sie nicht einen Tag Ursache, ihren Schritt zu bereuen, und mit der tiefen Trauer im Herzen, die äußere Schaustellungen meidet, zog die junge Witwe sich mit ihrem einzigen Kind in ihre schottischen Hochlande zurück, und folgte dann nach zehn Jahren dem Unvergessenen ins Grab. Dies einzige Kind aber war „nur“ ein Mädchen, auf dessen Kinderschultern schon nach dem Tod seines Vaters die Last des Titels einer Principessa Corleone, Herzogin von Roccosanto, geladen wurde mit der Bedingung, daß der künftige Gatte ihn mit dem alten Namen anzunehmen und fortzuführen hatte in seiner eigenen Deszendenz. Mit dem Tod ihrer Mutter wurde die junge Principessa dazu noch Herzogin von Heatherstone im eigenen Recht. Zwei Vormünder, ein italienischer und ein englischer, wachten über die Wahrung ihrer Rechte und über ihre Erziehung, die eine ganz englische war, weil ihre Mutter bei aller Liebe für ihren Gatten nicht so blind war zu erkennen, daß in ihrer Heimat die jungen Mädchen besser erzogen wurden als in den Kreisen der italienischen Aristokratie; jedenfalls freier, selbständiger und gesünder. Und so wurde aus der mit Titeln beladenen italienischen Fürstin keine Treibhauspflanze, sondern eine Heideblume, gestärkt in der belebenden Luft der freien Berge, ein nur flüchtiger und seltener Gast in den Mauern Roms. Als sie achtzehn Jahre alt geworden war, fand der römische Vormund aber, daß es nun Zeit wäre, sein Mündel mit ihrem Vaterland vertraut zu machen, die Italienerin in ihr zu wecken, welche die Engländerin nachgerade zu ersticken drohte. So wurde die junge Erbin zunächst für ein Jahr der Obhut ihrer Tante Fabiola Torcelli dal Giglio anvertraut. Sie war eine Dame von tadellosem Ruf und die nächste italienische Anverwandte, die in Betracht kam; der Umstand, daß sie einen unverheirateten Sohn hatte und der natürliche Wunsch in ihr rege werden konnte, ihm die Erbin zu sichern, wurde selbstredend nicht außer acht gelassen, aber schließlich von keiner Seite beanstandet, und so hielt Daphne Corleone zunächst ihren Einzug in Venedig, wo sie zum ersten Mal die Bekanntschaft ihres Vetters machte.

Donna Fabiola war es bislang noch nie in den Sinn gekommen, mit Daphne Corleone zu rechnen. Sie hatte angenommen, daß man ihr schon längst einen englischen Gatten bestimmt hatte. So war es Sitte in Italien, und wohlerzogene junge Aristokratinnen finden sich darein. Als ihr aber plötzlich die Anfrage der Vormundschaft ins Haus schneite, sah sie darin geradezu einen Wink des Himmels, eine Rettung aus Schwierigkeiten, die gar nicht abzusehen waren. Wäre Donna Fabiola eine Diplomatin gewesen, so hätte sie den Ereignissen erlaubt, sich mit geschickter Nachhilfe zu entwickeln. Aber sie war gewöhnt, ihren Willen als den allein möglichen und maßgebenden zu betrachten. Kaum hatte sie den Brief der Vormundschaft in den Händen, in welchem Daphne Corleone ihrer Obhut zunächst auf ein Jahr anvertraut wurde, und zwar ohne jede Reserve und Bedingung, da flog sie auch schon zu ihrem Sohne und sagte ihm: Du wirst sie heiraten –! Angelo Torcelli, der ganz genau wußte, daß seine Mutter keinen Widerspruch vertrug, hatte sie reden, planen, bestimmen lassen, ohne auch nur ein Sterbenswort dazu zu sagen, –eine längst von ihm befolgte Diplomatie, die ihm ohne stürmische Szenen erlaubte, zu tun, was er für recht fand. Das war nicht ganz eigene, selbsterrungene Weisheit: sein Vater hatte es schon so gemacht. Außerdem aber war er, – was seiner Mutter durch aus entgangen war, – durch Nachdenken und ernste Lektüre, wozu ein schwerer Unfall ihm Zeit und Geschmack gegeben hatte, stark von der breitgetretenen Bahn traditioneller Anschauungen abgewichen. Während er nach einem Sturz mit dem Pferd bei einem Übungsritt des Gardereiterregiments, in welchem er diente, lange, lange Monate an sein Schmerzenslager gebannt lag, war ihm so manches, das er bisher als richtig und selbstverständlich angenommen hatte, in einem anderen Lichte erschienen. Als er, aus dem Hospital entlassen, für immer in seine Heimat Venedig zurückkehrte, war er innerlich und äußerlich ein anderer geworden. Das erstere nannte seine Mutter, falls sie es überhaupt bemerkte, „den Torcelli'schen Eigensinn“, und das letztere verletzte ihre Eitelkeit, denn ihr Sohn, auf dessen elegante Figur sie bisher so stolz gewesen war, hinkte! Freilich, wohl deckte ihrer Meinung nach sein großer, historischer Name mit der Dogenkrone über dem Wappenschild diesen Defekt reichlich zu, aber doch war sie sich's ständig bewußt, daß ein hinkender Gatte für ihre Eitelkeit Gift und Galle gewesen wäre.

Donna Fabiola lag nun ihrem Sohn dauernd in den Ohren mit der Notwendigkeit seiner Vermählung – und zwar einer reichen Heirat – zwecks Erhaltung seines im Erlöschen begriffenen Namens und des Palastes, dessen Veräußerung sonst nicht zu umgehen war. Dieses Thema hatte sie durchgepaukt, bis sie das Ohr ihres Sohnes glücklich für die immer wiederkehrende Weise abgestumpft hatte. Allmählich aber brachte der Name von Daphne Corleone einen Doppelklang in den einschläfernd gewordenen Ton, der die Nerven vibrieren machte. Das war zwar ihre Absicht, aber sie täuschte sich in dem Erfolg, denn sie erreichte damit nur, daß sich Angelo gegen seine Cousine auflehnte, noch ehe er sie von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte, weil eben der Freiheitsdrang zur Selbstbestimmung in jeder menschlichen Seele die Opposition gegen seine Beschränkung zum Zwillingsbruder hat. Als sie dann kam und sich frank und frei von der ersten Stunde an in ein rein-schwesterlich herzliches Verhältnis zu ihm stellte, in völliger Harmlosigkeit es bedauerte, daß sie ihn so spät erst kennenlernte, da atmete er auf und fühlte sich nach dieser Richtung hin gedeckt; seine Mutter aber nahm im Gegenteil die harmlose Herzlichkeit ihrer Nichte für ein vollkommen planmäßiges Entgegenkommen, das nur nach einer Richtung zielen konnte, und bohrte energisch weiter.

„Ich will wissen, was du wegen Daphne beschlossen hast!“ Das war heute ein neuer Refrain, der dem täglichen Pensum angehängt wurde, gewissermaßen der Peitschenschlag, der den bisher stummen, passiven Widerstand zu einer direkten Äußerung zwang.

„Ich habe beschlossen, das warme, geschwisterliche Verhältnis, das zwischen ihr und mir herrscht, nie und nimmer auch nur durch die leiseste Andeutung nach der von dir gewünschten Richtung hin zu stören“, war die Antwort, deren künstliche Ruhe durch langsames Skandieren der Silben sozusagen unterstrichen wurde.

Donna Fabiola lachte laut und unharmonisch auf.

„Geschwisterliches Verhältnis! Angelo, bist du denn blind? Das Mädchen kommt dir in einer Weise entgegen, die es In unseren Kreisen unmöglich machen würde –“

„Pardon, Mama, wenn ich widerspreche, aber ich, als der zunächst Beteiligte, muß das besser wissen, um so mehr, als mir von jungen Damen aus unseren Kreisen Avancen gemacht worden sind, die geeignet waren, mich über das vollkommen aufzuklären, was sie bedeuten sollten. Daphne ist in einem anderen Lande erzogen worden und vollkommen natürlich. Es hieße sie mißverstehen, wollte man ihrem Benehmen mir gegenüber andere Motive unterschieben, zumal sie bei ihrer Stellung und ihrem Reichtum nicht nötig hat, sich Hals über Kopf einen Krüppel zu angeln, der ihr nichts anderes bieten kann als einen alten Namen und einen reparaturbedürftigen Palast.“

„Warum mußtest du auch diesen unseligen Ritt mitmachen!“ stürzte Donna Fabiola sich nach der Art gewisser Frauen auf den einzigen angreifbaren Punkt in dieser Antwort.

Das Blut stieg dem Fürsten bei der ungerechten und unzarten Attacke in das mit einem gleichmäßigen, warmen Bronzeton getönte Gesicht, aber er beherrschte sich wie immer.

„Das Kommando zu diesem Ritt war eine Auszeichnung, denn es waren nur die besten Reiter dazu ausgewählt worden. Du mußt dich wirklich daran gewöhnen, mamma mia, es nicht zu vergessen, daß ein Gesuch um Entbindung von diesem Kommando so gut wie ausgeschlossen war. Frage lieber, warum gerade mein Pferd bei dem Sprung über jene Mauer mit dem Vorderhuf in ein Maulwurfsloch geraten und zu Sturze kommen mußte, der tödlich für das Tier und verhängnisvoll für mich verlief.“

„Ja, ja, ja, – ich weiß alles! Wer wird denn gleich jedes Wort auf die Goldwaage legen!“ rief Donna Fabiola hastig, vielleicht weil ihr einfiel, daß ihre Art, über den Unfall zu reden, immer die gleiche war. „Darum handelt es sich auch gar nicht. Du bist solch ein Silbenstecher, Angelo! Das ist eine unausstehliche Angewohnheit von dir. Ich sprach von Daphne, dächte ich. Also gut, wenn du nicht findest, daß sie dir entgegenkommt – ich bin eben an eine andere Art und Weise bei wohlerzogenen jungen Damen unserer Kreise gewöhnt, – nun, was hindert dich, es deinerseits zu tun?“

„Erstens der Wohlanstand und das Gefühl der Selbstachtung, die mir verbieten, mich wie die Spinne auf die Fliege zu stürzen, die in ihr Netz geraten ist. Gewiß, Mama, das Gleichnis hinkt, wie alle Gleichnisse, denn Daphne ist nicht in unser Haus ahnungslos geraten, sondern ihm sehenden Auges anvertraut worden. Gerade darum sollten Wohlanstand und Selbstachtung sie als ein Rührmichnichtan betrachten –“

„Aber, das sind doch ganz verrückte Ansichten, die kein Mensch begreifen wird“, fiel Donna Fabiola erregt ein.

„Vielleicht. Wahrscheinlich sogar“, gab Angelo Torcelli zu. „Aber die Hauptsache ist doch, daß wir sie begreifen, und wenn ich allein damit stehe, nun, so kann ich mir eben nicht helfen. Daphne übrigens liebt mich sicher nicht in dem Sinn, den du meinst. Ich bin für sie ein Gegenstand des Mitleides, vielleicht auch ein besonders werter und angenehmer Verwandter, den sie schätzt, für den sie eine schwesterliche Zuneigung hat – ich hoffe, daß sie diese Gefühle für mich hegt, denn ich habe sie meinerseits sehr gern. Aber ich weiß von ihr selbst, daß sie niemals einem Manne ihre Hand reichen würde, den sie nicht liebt, und bin darin eines Sinnes mit ihr, weil ich es für direkt unmoralisch halte, eine Ehe äußerer Motive wegen zu schließen. Daphne ist mir eine liebe Cousine, sonst aber nichts. Und damit, liebe Mama, bitte ich, dieses Thema ein für allemal ruhen zu lassen. Es ist vollkommen nutzlos, wieder darauf zurückzukommen.“

Angelo Torcelli war kein phlegmatischer Mensch, – im Gegenteil. Wäre er heftig aufgefahren, hätte er seine Opposition herausgesprudelt, hätte er mit seiner gewohnten Lebhaftigkeit sich verwahrt gegen die Pläne seiner Mutter, so hätte diese mit der gleichen Art ihre Wünsche verfochten, mit Heftigkeit auf der Notwendigkeit dieser Verbindung bestanden. Aber die Ruhe, mit der ihr Sohn zum ersten Male sich überhaupt zu der Sache äußerte, der Klang seiner Stimme und ein Etwas in seinem Blick, von dem sie vage empfand, daß es gefährlich sein könnte, auch nur einen Schritt weiter zu tun – das alles warnte Donna Fabiola und flößte ihr unbewußt – den Respekt ein, der sie dazu zwang, wenigstens zur Stunde die Waffen zu strecken. Mutter und Sohn sahen sich sekundenlang stumm in die Augen, und die Warnung, die sie in den seinen las, zeigte ihr blitzähnlich, daß sie schon zu weit gegangen war und mit weniger wahrscheinlich mehr erreicht hätte. Auch Leute, die ganz und vollkommen von sich und der Wirksamkeit ihrer Strategie überzeugt sind, haben manchmal einen Moment der Erleuchtung, in dem sie erkennen müssen, daß sie mit den Mitteln, die sie angewandt haben, nur den Widerspruch erweckt und genährt haben.

„Nun, dann hat es ja gar keinen Zweck, daß Daphne bei uns ist“, sagte Donna Fabiola naiv, indem sie tatsächlich die Augen vor dem Blick ihres Sohnes senkte.

Der Fürst lächelte unwillkürlich, aber es war kein Lächeln der Heiterkeit.

„Du mußt dich eben an die offizielle Parole halten: daß deine Nichte dir anvertraut worden ist, damit sie durch dich und unter deinem Schutz ihren Platz in der italienischen Gesellschaft einnimmt. Du kannst ganz überzeugt davon sein, daß man eine andere Vertrauensperson für diesen verantwortlichen Posten gefunden hätte, wenn dein Sohn – kein Krüppel wäre!“

„Nun, ich hoffe doch, daß dies bißchen Lahmheit meinen Sohn nicht zum Zölibat verurteilt“, fuhr Donna Fabiola auf, froh, einen Ausweg aus der Verlegenheit dieser verlorenen Schlacht gefunden zu haben. „Mein Gott, Angelo, bist du denn nicht imstande, einzusehen, daß es deine Pflicht ist, dich zu vermählen! Den alten, großen Namen zu erhalten, den Glanz deines Hauses wieder herzustellen –“

Das war sonst die Einleitung und die Begründung, wenn die Principessa ihren Sohn mit Gewalt zu seiner Cousine bekehren wollte. Er hatte das eine wie das andere bisher mit stoischem Schweigen aufgenommen; heute aber war er geneigt, auch über diesen Punkt Aufklärung zu geben.

„Meinst du?“ unterbrach er sie, oder vielmehr, er fiel da ein, wo sie nach Worten suchend aufhörte. „Nun, ich will über die Pflicht nicht streiten; das ist Ansichtssache. Meine Privatmeinung ist: ein alter Stamm fällt besser, solange er noch grünt, statt daß er verdorrt oder degeneriert. Eine Pflicht läge für mich nur vor, wenn es sich um die Erhaltung unschätzbarer Familiengüter handelte, wie zum Beispiel die Bildergalerie im Palazzo Corleone. Es ist wahr, dieses Haus hier ist historischer Boden, aber ich darf mir das Zeugnis ausstellen, daß ich für seine Erhaltung wie für die der wenigen, aber erlesenen Kunstwerke darin bisher mannhaft gefochten habe. Darum mag auch lieber die Villa am Brentakanal dahingehen, ehe ich erlaube, daß zum Beispiel der Tizian drunten bei Nacht und Nebel verschwindet, um die Sammlung eines gewissen amerikanischen Millionärs zu schmücken –“

„Angelo –!“ Donna Fabiola war leichenblaß in ihren Sessel zurückgesunken, aus dem sie in der Erregung aufgesprungen war. „Was – was willst du damit sagen?“

„Genau das, was ich ausgesprochen habe“, war die betonte Erwiderung. „Ich bin überzeugt, daß der erfolgreiche Schweinehändler eine durchaus entsprechende Phantasiesumme für das Gemälde geboten hat, denn schon die Belohnung, die er meinem Majordomo für das Herauseskamotieren versprochen, ist sehr anständig in Anbetracht dessen, daß er das Bild ja nicht stehlen, sondern von der – Herrin des Hauses kaufen wollte, wenn er auch über die Legalität des Verfahrens einige Bedenken gehabt haben muß. Zum Glück für mich – und es hat mich das wirklich so gefreut, wie seit Jahren nichts, ist der Majordomo mehr torcellisch gesinnt, als – als andere, die mich an meine Pflichten als Letzten meines Stammes mahnen. Nach der Meinung der Fremden sind ja alle Italiener bestechlich, aber ich wurde doch von der Gefahr unterrichtet, in welcher der Tizian geschwebt hat und vielleicht noch schwebt, denn ich kann die Hilfe des Gesetzes nicht zum Schutze anrufen oder die Behörden von der geheimen Ausfuhr des Gemäldes verständigen, weil ich ja damit die Person bloßstellen würde, mit welcher der Amerikaner im Einverständnis handelt. Aber vielleicht kann die Person den Handel noch rückgängig machen. Meine Einwilligung zu dem „Kauf“ ist ja nicht eingeholt worden. Und da wir gerade von Geld und von Geschäften reden, liebe Mama, darf ich mir erlauben, dich zu fragen, ob der Kaufpreis für die Villa am Brentakanal zur Begleichung deiner Pariser Schneiderrechnung ausreichend sein dürfte? Das beißt natürlich, falls es dir keine Mühe macht und du eine ungefähre Ahnung von der Summe hast.“

Aber Donna Fabiola war, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, jenseits der Fähigkeit des ihr sonst so geläufigen Wortes. Um zehn Jahre gealtert lehnte sie in ihrem Sessel, die Hände wie abwehrend von sich gestreckt, die Augen von Furcht und Entsetzen erfüllt auf ihren Sohn geheftet, der von seinem Stuhle aus mit gleichmäßig gedämpfter Stimme, jede Silbe gewissermaßen unterstreichend, gesprochen hatte, während die Finger seiner kraftvollen, muskulösen, aber schlanken Rechten zwischen den Blättern seines Buches spielten, auf das er die Augen gesenkt hielt. Als keine Antwort kam, erhob er sich, griff nach dem Stock, der neben seinem Stuhl lehnte, und machte einen Schritt vorwärts, der seine Lahmheit offenkundig machte, aber auch bewies, daß die Selbstbezeichnung „Krüppel“ mehr der Bitterkeit über sein Unglück als dem Augenschein entsprach, denn die schlanke Gestalt hätte in ihrem Ebenmaß einem Praxyteles zum Modell dienen können, und der ausdrucksvolle Kopf mit der kühnen Hakennase fesselte mehr als die Schönheit des Antinoos.

Das Bild sprachlosen Entsetzens, das Donna Fabiola bot, lockte keinen weicheren Ausdruck in seine Augen, die für gewöhnlich zwar fest und frei im Ausdruck, aber doch durchaus nicht hart waren, wie seit dem Beginn dieses Gespräches, bei dessen Eingang er noch nicht die Absicht gehabt hatte, es so enden zu lassen.

„Ich bedaure, dich in Unruhe versetzt zu haben“, sagte er im gleichen Tone wie vorher. „Es war meine Absicht, diese peinliche Angelegenheit persönlich mit dem Amerikaner zu ordnen und dir gegenüber Stillschweigen zu beobachten. Aber auch ein Sohn ist eben nur ein Mensch, und ein einziger Tropfen kann den Becher zum Überlaufen bringen. Dieser Tropfen war für mich die Mahnung an meine Pflicht.“

Das war das Stichwort, an dem Donna Fabiolas Lebensgeister sich wieder aufrichteten.

„So erfülle sie, – heirate Daphne, und ich – ich will dem Amerikaner selbst Bescheid geben!“ rief sie triumphierend, allen Schrecken, alles Entsetzen vergessend.

Wenn ein Tropfen den Becher zum Überlaufen bringen kann, so genügt auch ein Strohhalm, um den Rücken des Kamels zu brechen. Nach allem, was gesagt worden war, langte Donna Fabiola über den Umweg durch die Hölle, die sie selbst sich geheizt hatte, genau auf dem Standpunkt an, den sie eingenommen hatte, als sie heute zum ersten Mal „Angelo“ sagte. Ihren Sohn überkam das Gefühl des Schwindels, das einen Menschen überfällt, der den Boden der Selbstbeherrschung unter sich nachgeben fühlt – für eine heftige Natur, die sich mit dem Aufgebot ihrer ganzen Willenskraft so lange bezähmt hat, ein kritischer Augenblick, in dem von einer Verantwortlichkeit nur noch bedingt die Rede sein kann.

„Nein“, rief er laut, hart und atemlos im Banne eines Zornes, der ihn von Kopf bis zu Füßen schüttelte, „nein, ich werde Daphne nicht heiraten, denn ich liebe sie nicht, und sie steht mir zu hoch, als daß ich ihr meine Hand ohne mein Herz bieten würde. Aber da es dir gleichgültig ist, was mein Herz zu dem sagt, was du – du! für meine Pflicht erachtest, da es sich eigentlich ja nur noch darum handelt, daß der Name Torcelli dal Giglio nicht erlischt, indem die Villa deine Schneiderrechnung decken dürfte und du für künftige immer noch den Amerikaner in Reserve hast, gut! So werde ich heiraten, und zwar das erste weibliche Wesen, das mich in der nächsten Stunde auf dem Weg von diesem Hause bis San Marco anreden wird!“

Angelo Torcelli war zum äußersten getrieben durch die unablässigen Quälereien und Bohrereien seiner Mutter und an erster Linie durch ihren perfiden Plan, den Stolz seines Hauses, den Tizian hinter seinem Rücken zu Geld zu machen. Er war sich kaum bewußt, daß er mit seinen letzten Worten einen ungeheueren Unsinn ausgesprochen hatte, dessen Folgen, wenn er ihn zur Ausführung brachte, nur für ihn selbst zur Strafe werden mußten. Wen aber der Zorn peitscht, den hat die Unvernunft so gut wie ganz in ihrer Macht. Was Angelo Torcelli noch vollends die Besinnung raubte, war das höhnische Lächeln seiner Mutter, mit dem sie sagte: „Nun, dann können wir alle beide ruhig sein über die Person der künftigen Principessa! Weibliche Wesen pflegen Herren auf der Straße nicht anzureden, oder? Bettlerinnen und Blumenmädchen! Die dürfen wir von den „weiblichen Wesen“ wohl von vornherein in Abzug bringen, nicht?“

„Durchaus nicht!“ erwiderte Fürst Torcelli und stieß zur Bekräftigung seinen Stock auf dem Estrich auf – er war in diesem Augenblick jenseits aller Überlegung und Vernunft, in seinem Zorn zu jedem Widerspruch gereizt.

„Bettlerin oder Blumenmädchen, jung oder alt, schön oder häßlich, – das erste weibliche Wesen, das mich – mich! in der nächsten Stunde auf dem Weg von hier bis San Marco anredet, werde ich zur Fürstin Torcelli machen! Ob sie mich will oder nicht – gleichviel, ich werde sie zu zwingen wissen, und ist sie schon vermählt, so wird sie sich scheiden lassen, um mich zu heiraten! Nur, damit ich endlich Ruhe vor dir bekomme! Nur deshalb! Ich gebe dir mein Ehrenwort und schwöre dir beim Andenken meines Vaters, daß ich tun werde, was ich dir gesagt habe! Vielleicht tritt sein Geist zwischen mich und die Frau, die den Mund öffnet, um mich anzureden, vielleicht auch nicht! Vielleicht ist's ein Engel, der auf mich wartet, um mich zu retten, vielleicht der Teufel, der mich verderben will. Und dann lege ich mein vernichtetes Leben vor deine Schwelle, Mutter! Ja, wenn in deinem Herzen sich die Mutter noch für mich regt, dann bete, während ich meinen Gang tue, daß Gott der Frau den Mund versiegelt, die den Blick auf mich richtet, um mich anzureden, gleichviel aus welchem Grunde!“

Donna Fabiola, die ihren Sohn eigentlich von allen Menschen am wenigsten kannte, oder ihn auch nur halbwegs verstand, weil er ganz, ganz anders als sie geartet war, wußte aber doch, daß sie seiner Geduld zuviel zugemutet hatte, sie wußte auch, daß er leere Worte selbst im Scherz nicht zu machen pflegte, und sicherlich nicht melodramatische Szenen aufführte. Darum fuhr ihr bei diesem elementaren Ausbruch doch ein Schreck durch die Glieder, den seine beherrschte Bitterkeit nicht auszulösen vermocht hatte. Mit einem leisen Aufschrei war sie mit zwei Schritten neben ihrem Sohne.

„Angelo, Lieber!“ stammelte sie. „Ich will ja nur dein Bestes, ich, deine Mutter! Bleib' bei mir, geh' nicht aus, – du kannst doch nicht im Ernste –“

„Ich habe beim Andenken meines Vaters geschworen und habe dir mein Wort verpfändet, scherzt man damit?“ rief er gereizt. „Also, es bleibt dabei“, setzte er im nächsten Augenblick ruhiger, mit einem seltsamen Gefühl von Hoffnungslosigkeit hinzu. Und mit einem kurzen Kopfnicken ging er hinaus, zunächst in sein Zimmer, um seinen Hut zu holen.

Ein schreckliches Gefühl der Ernüchterung begleitete ihn auf dem Weg durch die langen Korridore und über die Loggia des ersten Hofes, in dem weiße Marmorbilder zwischen Orangen- und Lorbeerbäumen in Kübeln standen und Efeu und Clematis sich über die zierlich durchbrochene Steinbrüstung rankten. Hier über diesem Hof hatte der Fürst seine Zimmer, zu denen er aus der Loggia gelangte. Als er über seine Schwelle trat und die Tür hinter sich schloß, wallte es noch einmal in ihm auf, diesmal aber gegen sich selbst. „Wie der Held einer Schauertragödie hab ich mich aufgeführt!“ knirschte er. „Ich, der ich mir so viel auf meine Selbstbeherrschung zugute getan habe! Aber, da ich mich verschworen, so muß es auch ausgefressen werden. Aber es ist nicht anzunehmen, daß ein weibliches Wesen mich anspricht. Es war wohl mein guter Engel, der diese Einschränkung mir auf die Zunge legte.“

Dann griff Angelo Torcelli nach Hut und Handschuhen und verließ entschlossen sein Zimmer. Als er die Tür aufmachte, huschte oder vielmehr tanzte eine weiße Gestalt daran vorüber, stand aber still, als er auf der Schwelle erschien.

„Guten Morgen, Vetter!“ rief sie laut und lustig und streckte ihm die Hand entgegen. „Guter Gott! Du siehst ja aus wie ein wandelndes Gewitter! Was ist denn passiert?“

„Guten Morgen, Cousine! Du kommst ja daher wie die frische Seebrise nach dem Gewitter“, erwiderte er mit einem tiefen Atemzug, als hätte eben diese Brise etwas Dunkles in ihm verjagt, indem er kräftig die gereichte Hand drückte, die ihm die Erbin von einem halben Dutzend Titeln „im eigenen Rechte“ so frank und frei gereicht hatte, wie es so unkonventionell nie eine seiner Landsmänninnen fertigbringen konnte. Daphne, die Hoffnung seiner Mutter, hatte vom Inselland des Nordens das reiche, silberblonde Haar, den klaren, unvergleichlichen Teint und von ihrer römischen Abstammung die großen, dunklen Augen, deren enorme Iris kaum etwas von dem bläulichen Weiß darum sehen ließ, die geraden, für die feinen Züge und den lachenden Mund fast zu schweren, schwarzen Brauen, die feine, gebogene Nase, wie man sie auf den Büsten der Römerinnen des Altertums sieht, und über ihrer ganzen Erscheinung lag ein Hauch von Jugendkraft, geistiger und körperlicher Gesundheit, der in der Tat etwas von einer Mut einflößenden, erfrischenden Seebrise hatte.

„Kein Wunder, ich komme ja eben von der See“, sagte sie fröhlich. „Und einen Hunger habe ich mir angerudert – Cecco, der Koch, hat mir unten schon verraten, daß es Makkaroni mit Tomaten zum Lunch gibt und frischen, gestovten Tunfisch. Wenn ich's nur bis dahin aushalte, ohne die Ca' Torcelli anzubeißen. Warum bist du denn nicht mitgekommen, Angelo? Ich hab dir doch sagen lassen, daß ich heut rudern wollte! Soll ich dir etwa eine gedruckte Einladung auf Büttenpapier schicken, damit ich wieder einmal die Ehre deiner hoben Gesellschaft auf hoher See habe?“

„Ich – ich konnte nicht kommen, Cousine“ wich er aus, denn die frei erzogene Erbin hätte nicht begriffen, wie schnell man in ihrem legalen Vaterland ein solches Stelldichein mißdeutet hätte.

„Konnte nicht!“ wiederholte sie vorwurfsvoll. „An solch einem Morgen wie der heutige muß man können. Was hattest du denn so entsetzlich Wichtiges zu tun?“

„Ich – ich mußte das Buch beenden, dessen Umfang schon dein Mißfallen erregt hat“, erwiderte er.

„Warum nicht gar!“ protestierte sie lachend. „Jetzt soll ich am Ende noch an deiner Ungenießbarkeit schuld sein! Hast du dich glücklich durch den Gallimathias durchgearbeitet?“

„N–nein“, gestand er mit der Wahrheitsliebe, die ihm im Blute lag, und die er an Daphne so zu schätzen wußte. „Ich beging den Fehler, mich mit dem Buch in den Salon zu setzen, weil ich den gelegentlichen Blick auf den Kanal liebe, und meine Mutter kam und bestand darauf, von – Geschäften zu reden.“

„Tante Fabiola und Geschäfte!“ rief Daphne. „Ich begreife, daß dir der Kopf davon brummt! Und du, wie es scheint, jetzt das Bedürfnis hast, ihn in die frische Luft zu führen! Nun denn, auf Wiedersehen beim Lunch, Vetter!“

Damit nickte sie ihm zu und sprang durch die Loggia, ein Bild strahlender Jugend.

Angelo Torcelli setzte den Stock, der ihn stützte, fester auf und ging seines Wegs der Treppe zu, die Daphne heraufgekommen war. Es war ihm besser zumute nach dieser Begegnung, und doch wieder schien er sich mühsamer als sonst zu bewegen.

„Gott erhalte ihr den frohen Mut und lasse sie nicht das Opfer eines Mannes werden, der nur ihr Geld begehrt“, dachte er mit einem Seufzer. „Ich hab' sie lieb, die blonde Daphne – wie eine Schwester. Ich wollte, ich hätte das Recht, ihr wie ein Bruder zur Seite zu stehen –“

„Gehst du aus, Angelo?“ unterbrach ihn eine tiefe Stimme, und der Fürst sah, als er aufblickte, Don Orso Torcelli, einen kleinen, dünnen, mit peinlichster Sorgfalt gekleideten Herrn. Er war einer der permanenten „Gäste“ des Hauses, ohne die ein großer italienischer Palazzo unvollständig wäre, vielleicht weil er Raum genug hat, die armen Verwandten zu beherbergen, für die man sonst anderweitig zu sorgen hätte. Don Orso war ein Vetter von Angelos Vater, ein Gelehrter und kompetenter Kenner der Geschichte des großen Hauses, dem er angehörte, und daneben ein so hoffnungslos fürs praktische Leben unpraktischer Mensch, daß man ebensogut ein Wickelkind hätte auf der Straße aussetzen können, als diesen Sechziger, der es nach den Begriffen seines Landes für ganz selbstverständlich hielt, in der Ca` Torcelli Asylrecht zu genießen. „Gehst du aus, Angelo?“ wiederholte er, als sein Neffe ihn, in Gedanken versunken, verständnislos ansah.

„Sage mir, Onkel“, stammelte nun der Fürst, „glaubst du, daß ein Mensch, ein Mann meine ich, verpflichtet ist, ein Gelübde zu halten, das eine maßlose Erregung ihm erpreßt hat?“

Don Orso nahm den Hut ab und kratzte sich mit dem kleinen Finger das bürstenartig aufstrebende Haar seines Kopfes, indem er die buschigen, weißen Brauen hochzog.

„Das ist eine kitzlige Frage“, meinte er, indem er seinen Neffen zärtlich ansah. „Eine Gewissensfrage, und ehe man die näheren Umstände nicht kennt – aber ich sollte meinen, Gelübde ist eben Gelübde, von dem nur ein Gewissensrat oder aber das eigene Gewissen entbinden kann. Es kommt eben dabei alles auf die Umstände an.“

„Ja, freilich – ich verstehe“, murmelte Fürst Torcelli mit einem Seufzer und ging weiter, indem er seinem Verwandten zunickte. Das Treppensteigen war für seine lahme Hüfte immer ein Stück mühseliger Arbeit. „Gelübde ist Gelübde“, klang es ihm auf jeder Stufe in den Ohren. Unten in der Halle stand er still und zündete sich eine Zigarette an, um sie nach dem ersten Zuge wieder fortzuschleudern, hinaus auf das glitzernde Wasser, das durch die geöffneten, kassettenartig geschnitzten, mit bronzenen Beschlägen verzierten Torflügel sichtbar war; der Tabak, der geliebte Tröster, wollte ihm jetzt nicht munden. Doch genügte der kurze Aufenthalt, um vor seinem Heraustritt einer Dame Einlaß zu gewähren, die von einem Ausgang in den Palast zurückkehrte. Ganz jung war sie nicht mehr, die Dame, sie war eine andere, permanent in der Ca' Torcelli residierende Verwandte das Hauses, Donna Laura Torcelli, die als das einzige Kind eines älteren Bruders des verstorbenen Fürsten das erste Anrecht auf dies Asyl hatte, das freilich groß genug war, um noch ein ganzes Regiment von Verwandten zu beherbergen, die meist Dornen im Fleisch der Familie sind. Donna Laura war um weniges älter als ihr Vetter und Gastfreund, ein stolzer Typus einer stolzen Rasse, eine der Lilien des Feldes, die zwar nicht spinnen, aber sich mit Gelassenheit im Bewußtsein ihres guten „Rechtes“ an den Tisch des Hauses setzen und scharf kritisieren, was ihnen nicht behagt. Zwar, einer Lilie glich sie nicht, eher war sie schon mit einer der prächtigen, aber duftlosen Dahlien zu vergleichen, die nichts zu tun haben, als den Garten zu schmücken, in den sie gepflanzt wurden. Regelmäßige, aber scharfe Züge, Augen, die unzufrieden und unbefriedigt vor sich schauten, nicht rückwärts und nicht nach innen, eher gelegentlich seitwärts nach unerreichbaren Früchten, nachtschwarzes, wohl-frisiertes Haar, eine hochaufgerichtete, königliche Figur, das alles nannte Donna Laura ihr eigen und ohne eigentlich schön zu sein, machte sie doch einen rassigen Eindruck.

„Ah – Angelo!“ rief sie, indem sie ein verbindliches Lächeln auf ihren schmalen Mund zauberte, ohne damit die verbitterten Falten, die um ihn eingegraben waren, zu verwischen. „Willst du ausgehen? Soll ich dich begleiten?“

„Sehr gütig, – danke vielmals, aber es ist mir viel besser und gesünder, mich im Alleingehen zu üben“, erwiderte er hastig und irritiert, denn es ärgerte ihn, sich als hilfsbedürftig angesehen zu wissen.

„Aber ich meine es doch so gut“, fiel Donna Laura mit einer demütigen Hingabe ein, die sie nicht kleidete.

„Selbstverständlich – ich bin dir auch sehr dankbar, aber es geht sehr gut so“, entgegnete der Fürst, indem er zeremoniell den Hut zog.

„Ist Tante Fabiola zu Hause?“ rief sie ihm nach. Das Lächeln war von ihrem Munde verschwunden und die Falten darum tiefer eingegraben denn je.

„Ja. Meine Mutter war noch vor zehn Minuten droben im Salon“, antwortete er kurz und ohne sich umzusehen.

„Oh –! Ich eile zu ihr, um zu fragen, ob ich ihr mit irgend etwas behilflich sein kann.“

„Ja, tue das nur“, sagte er grimmig. Seine Cousine ging ihm immer auf die Nerven, heute aber doppelt, und in dieser Stimmung gönnte er ihr den Empfang, dessen sie heute bei seiner Mutter mehr denn je sicher war, denn Donna Fabiola pflegte kein Hehl daraus zu machen, daß sie diese Verwandte, die so tat, als ob sie die eigentliche und legitime Herrin der Ca' Torcelli wäre, gelegentlich herzhaft ins Pfefferland wünschte.

Gottlob, dachte er aufatmend, als die Tür hinter ihm zugefallen war, gottlob, daß das verlängerte Zwiegespräch mit meiner Mutter mich vor der Szylla wie vor der Charybdis bewahrt hat! Denn zehn Minuten eher auf der Straße und mir wäre vielleicht Daphne bei ihrer Landung am Campo begegnet, sicher aber Laura! Er schauderte zusammen. Lieber die greulichste Bettlerin von der nächsten Kirchentür als Laura. Vor Daphne bewahrt mich meine brüderliche Zuneigung, vor Laura aber bewahre mich der Leibhaftige, wenn's nicht so schon mein guter Engel getan hätte. Herrgott! Ein Leben mit einer Frau wie Laura! Ich habe so schon Neigung, unhöflicher gegen sie zu sein, als in meiner Natur und in meiner Eigenschaft als Herr dieses Hauses liegt, um mich durch keinen Blick, keine Bewegung zu kompromittieren – oder sie! Denn sie geht darauf aus wie die Spinne auf die unglückliche Fliege, die harmlos an ihrem Netz vorübersurrt. Arachne! Ich weiß nicht, warum sie mich immer an diese klassische Spinne erinnert! Und meine Mutter – sie wäre in Krämpfe gefallen, wenn ich ihr jetzt, in diesem Augenblicke Laura als Schwiegertochter gebracht hätte. Und doch wird sie vielleicht noch schlimmere Krämpfe bekommen, wenn ich von meinem Ausgang heimkehre.

Er wandte sich vor der Tür nach rechts, schwenkte aber ab, denn trotz seiner eben gerühmten Bevorzugung der „greulichsten alten Bettlerin“ erinnerte er sich mit Schaudern einer gewissen alten Hexe, die den lieben langen Tag der Rückseite des Palastes gegenüber auf einer Türschwelle saß und die sich mit tödlicher Sicherheit ihren Obulus von ihm eintrieb, falls er einmal in Gedanken an ihr vorüberging, ohne die erwartete Steuer der Nachbarschaft zu entrichten. Nein, es konnte keine Umgehung des Gelübdes sein, wenn er die alte Rita vermied. Freilich, die Gefahr war mit Donna Laura Torcelli und der alten Rita keineswegs überwunden. Sie lauerte überall, besonders vor der Markuskirche, die sein Ziel war.

Der Gedanke an die Bettlerinnen, Andenkenverkäuferinnen und Blumenmädchen erfüllte seine Seele mit bitteren Selbstvorwürfen über die Zorneswallung, die ihn das rasche Wort hatte aussprechen lassen, das ihm zum Verhängnis für das ganze Leben werden konnte, welches nach menschlichem Ermessen noch vor ihm lag. Aber er biß die Zähne zusammen und setzte den Stock fester auf: hundertmal war er den Weg gegangen, ohne daß eine Bettelnde ihn angesprochen hatte – warum nicht auch heute? Nur um ihn für einen Schwur zu strafen, den ein unerträglich gewordener Druck, die Entrüstung und Qual ihm erpreßt hatten?