Als Camilla Rosen am Abendbrottisch Platz nahm, eilte ihre Schwester Dora geschäftig hinaus in die Küche. Sie holte den Tee, goß ihn in die Gläser und warf dann nochmals einen prüfenden Blick auf Camilla. Auch heute bemerkte sie in dem hübschen Gesicht der Schwester wieder jenen verdrossenen Zug, der ihr Sorgen bereitete. Was Dora aber am meisten bedrückte, war, daß sie auf alle ihre Fragen keine Antwort erhielt.
Seit dem Tode der Eltern lebten die beiden Zwillingsschwestern in schönstem Einvernehmen. Während Dora daheim schneiderte und den kleinen Haushalt versah – sie hatten die elterliche Wohnung beibehalten – war die schönere Schwester, die schlanke Camilla, in dem Spitzenhaus Hubermann tätig. Anfangs war sie nur eine einfache Verkäuferin gewesen; bald aber hatte Herr Hubermann ihre Vorzüge erkannt und sie zur ersten Verkäuferin gemacht.
Camilla Rosen bezog ein gutes Gehalt, das es ihr ermöglichte, sich mancherlei Annehmlichkeiten des Lebens zu verschaffen. Auch das kleine Heim erfuhr dadurch manche Verschönerung, und oftmals meinte die stille, fleißige Dora, daß man mit dem kleinen Glück, das man sich geschaffen hatte, zufrieden sein könne.
Kam Camilla abends heim, wurden die Tagesereignisse besprochen; dann plauderten und lachten die Schwestern miteinander. Herzliches Vertrauen herrschte zwischen ihnen.
Seit drei Tagen jedoch war das anders geworden. Camilla gab auf die freundlichen und teilnehmenden Fragen der Schwester nur mürrische Antworten. Anfangs schien es, als läge bei Camilla geschäftlicher Ärger vor. Als Dora aber dringender fragte, schüttelte die Schwester unwillig den Kopf und behauptete, im Geschäft sei alles in bester Ordnung; sie fühle sich auch nicht leidend. Dora solle nicht so viele unnötige Fragen stellen.
Auch heute saß Camilla wieder verdrießlich schweigend beim Abendessen.
»Ich hatte am Nachmittag allerlei Besuch«, begann die blondhaarige Dora und schaute zu Camilla hinüber. »Erst kam der Hauswirt. Er hat sein Haus in der Georgenstraße jetzt endlich verkauft und war in denkbar bester Laune. Anscheinend hat er einen guten Abschluß gemacht.«
»Wo Tauben sind, da fliegen Tauben zu«, erwiderte Camilla und rührte nervös ihren Tee um.
»Das meinte Herr Streng auch. Und weißt du, was er noch sagte? Er würde gern einen Tausendmarkschein nehmen und ihn in fröhlicher Gesellschaft ausgeben.«
»Das kann er ja machen!«
Dora lachte. »Er sagte sogar, es würde ihm ein ganz besonderes Vergnügen sein, einmal mit den ›beiden Schwestern Rosen‹ auszugehen. Er setzte sich zu mir und fragte, ob wir nicht einmal Lust hätten, mit ihm ein Vergnügen zu besuchen.«
»Danke herzlichst!«
»Ich sagte ihm, daß er sich lieber gute Freunde oder Verwandte dazu einladen möge. Aber er hat es gut gemeint; Herr Streng ist ein guter Mensch. Ich glaube, daß er sich leicht leiten läßt.«
»Und doch ist er nicht verheiratet!«
»Ich sagte ihm, daß es für ihn endlich an der Zeit sei, sich eine Frau zu nehmen – eine, die zu seinen fünfzig Jahren paßt.«
»Und zu seiner kleinen Gestalt! Ich möchte mich nicht mit Herrn Streng im Theater oder in einem Lokal sehen lassen; er reicht mir gerade bis zur Schulter.«
»Auf jeden Fall hat er es gut mit uns gemeint. Und ich habe ihm zu dem Hausverkauf herzlich gratuliert. – Kaum war Herr Streng fort, da kamen die beiden kleinen Nehrings, Rosalinde und Gerda.«
»Da hast du ja viel Zeitvertreib gehabt.«
»Mir tun die beiden Würmchen recht leid! Rosalinde ist gerade fünf Jahre alt. Den Kindern fehlt die Mutter.«
»Gewiß! Es ist recht traurig für Herrn Nehring, daß ihm die Frau nach so kurzer Ehe starb. Leider geht es im Leben nicht immer nach Wunsch.«
»Warum sagst du das so bitter, Camilla?«
»Pah – du irrst, mir geht es ausgezeichnet! Herr Hubermann hat mir gerade heute wieder seine Anerkennung ausgesprochen. Aber das nützt ja alles nichts!«
»Das würde mich stolz machen, Camilla!«
»Mich läßt es gleichgültig.«
»Auch etwas Trauriges habe ich heute gehört. Du kennst doch die Familie Franke im Seitenflügel. Ihren Sohn Robert, den man in die Lehre gab, hat der Meister wieder heimgeschickt. Man sagt, er habe Geld veruntreut. Es muß furchtbar sein, wenn Eltern das erfahren. Ich habe heute vergeblich versucht, ihn zu treffen. Ich habe den Jungen doch heranwachsen sehen und glaube, es wäre gut, wenn ich einmal eingehend mit ihm redete. Ich kann mir nicht denken, daß er unehrlich ist. Vielleicht konnte er einer Versuchung nicht widerstehen.«
Es kam keine Antwort.
»Ich weiß«, fuhr die Schwester fort, »daß Herr Franke sehr streng ist und Robert sich immer fürchtete, ihm seine kleinen Kümmernisse anzuvertrauen. Vielleicht wurde er dadurch zu diesem Fehltritt verleitet.«
»Wozu erzählst du mir das alles?«
»Als ich es heute hörte, mußte ich an unsere Jugend zurückdenken, Camilla. Erinnerst du dich noch, als wir mit sieben Jahren ein Markstück fanden? Wir hätten damals gar zu gern den schönen Gummiball gehabt, den wir in einem Schaufenster sahen, und überlegten uns, ob wir dazu die Mark verwenden sollten. Es war eine Stunde der Versuchung, wie sie vielleicht auch in das Leben des jungen Franke trat.«
Camilla erhob sich geräuschvoll von ihrem Platz. »Was sollen all diese Erzählungen, Dora?«
»Ich bin in Sorge, Schwester. Mir ist es so, als bedrücke auch dich etwas.«
Camilla lachte kurz auf. »Weil ich ein wenig nervös bin, glaubst du, ich schleppte eine Untat mit mir umher?«
»Nein, Camilla, du täuschst mich nicht; ich kenne dich dazu viel zu genau. In dir wühlt etwas. Habe Vertrauen zu mir! Vielleicht können wir gemeinsam beraten und einen Ausweg finden. Wir haben ja bisher immer zusammengehalten!«
»Ich habe wirklich nichts zu beichten!«
»Und doch ist in mir eine namenlose Angst, Schwester. Ich weiß nicht, wie es kam, aber – als ich heute früh unser Schlafzimmer in Ordnung brachte, blieb mein Blick an dem Bild ›Christus am Ölberg‹ hängen, wie er zu seinen Jüngern spricht: ›Wachet und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet!‹ Da überkam mich plötzlich eine qualvolle Angst, und als ich wenige Stunden später von dem Vergehen des jungen Franke hörte, kam es mir wieder in den Sinn: Herr, führe uns nicht in Versuchung! Liebe, liebe Schwester, droht dir nicht doch ein Unheil?«
Camilla Rosen wandte sich ab. Auch jetzt gab sie der Schwester keine Antwort.
Dora trat zu ihr und legte den Arm um ihre Schulter.
»Hattest du Ärger im Geschäft? Oder hast du Geldsorgen? Ist vielleicht eines der kostbaren Stücke, die du in Verwahrung hast, verschwunden? Ist dir mit einem Stück echter Spitze ein Unglück widerfahren? Sprich doch, Camilla!«
»Quäle mich doch nicht ständig, Dora. Es ist nichts, es ist wirklich nichts von alledem! Doch damit du endlich ruhig wirst und nicht noch weiter grübelst, will ich dir sagen, was in mir wühlt. Verstehen wirst du mich freilich nicht, da du anders geartet bist als ich. Du sitzt tagsüber an der Nähmaschine und bist schon glücklich, wenn du einmal hinaus ins Grüne gehen kannst; du freust dich an jedem Blatt, an jedem Vogelgezwitscher. Wenn die Sonne scheint, fällt sie dir ins Herz und macht dein Inneres warm und hell. Du kennst ja auch das Leben draußen nicht, das große, pulsierende Leben mit all seiner Schönheit, all seinem Rausch.
Aber ich sehe es. Ich stehe draußen am Zaun und man läßt mich nicht hinein! Was nützt es mir, daß ich bei Hubermann hohe Achtung und Anerkennung genieße? Ich will auch einmal etwas anderes vom Leben haben, als daß ich von früh bis abends reichen Damen kostbare Dinge vorlegen muß. Ich will mich auch einmal in den Strudel des Lebens stürzen, und wenn es nur für Stunden wäre! Ich sehne mich nach jener Welt, die für mich verschlossen bleibt; ich bin ja nur eine Verkäuferin im Spitzenhaus Hubermann und werde auch in zehn Jahren noch eine Verkäuferin sein. Meine Jugend vergeht – und ich habe nichts gehabt – gar nichts!«
Mit tiefem Erschrecken hörte Dora die Worte der Schwester.
»Aber wozu sage ich dir das alles?« fuhr Camilla fort. »Du wirst mich doch nicht verstehen. Ich habe lange Zeit das unbestimmte Sehnen in mir nicht deuten können, bis es mir auf einmal zum Bewußtsein kam. Es ist jetzt die Zeit der großen Bälle und Gesellschaften. Fast täglich kommt eine Dame ins Geschäft, um kostbare Spitzen zu erstehen, mit denen sie sich dann schmückt. Tausende werden dafür bezahlt. Man stürzt sich in einen Strudel der Freude – und ich stehe mit leeren Händen und heißen, sehnsüchtigen Augen daneben. Ach, einmal dabeisein dürfen und das Leben genießen! Aber ich bin ja nur eine Verkäuferin, durch deren Hände diese kostbaren Sachen gehen! Ich darf sie nicht festhalten! So, Dora, das ist es. Aber ich werde mich schon wieder zurechtfinden.«
»Camilla, hast du nicht ein schönes, friedliches Heim?«
»Das ist mir nicht genug! Ich will wenigstens hin und wieder einen Blick in die große Welt tun dürfen!«
»Du bist siebenundzwanzig Jahre alt, liebe Schwester – bist hübsch und wirst eine nette Aussteuer haben. Es wird schon die Zeit kommen, in der auch dich ein Mann aus dem täglichen Einerlei hinausführt. Ich kann es begreifen, daß du dich nach der Ehe sehnst …«
»Nein!« brauste die Schwester auf. »Das ist es nicht allein! Ich sehne mich nach Glanz, nach strahlender Helle! Ich will einmal heraus aus diesem ewigen Einerlei, will alles Alltägliche vergessen! Ich könnte meine ganzen Ersparnisse für einen Abend ausgeben, um einmal, nur ein einziges Mal, wirklich glücklich zu sein!«
»Glaubst du, daß solch eine Veranstaltung, nach der du dich sehnst, das Glück bedeutet?«
»Für mich – ja! Ich würde, wenn das Fest vorüber ist, wieder als Verkäuferin bei Hubermann stehen. Doch es würde etwas vorhanden sein, an das sich meine Gedanken klammern: Ich hätte einmal gelebt!«
»Und wenn die Sehnsucht nach solchem Leben nun in dir bliebe? Camilla, ich sprach vorhin die Worte aus: Führe uns nicht in Versuchung! Ist das nicht auch eine Versuchung, was an dich herantritt? Wenn du dich aus dem Alltag heraussehnst, so laß dir doch von deinem Chef einige Tage Urlaub geben und mache eine kurze Reise! Auch das erquickt und beruhigt dich. In den schlesischen Bergen, im Harz und in Thüringen liegt reichlich Schnee. Vor zwei Jahren kauftest du dir Schneeschuhe. Mache eine kleine Reise!«
Camilla lachte auf. »Du verstehst mich nicht, Dora. Sprechen wir nicht mehr darüber! Ich werde diesen heißen Wunsch wieder begraben. Ich werde weiter zu Hubermann gehen und zusehen, wie andere kostbare Spitzen und Kleider kaufen. Tausende von Frauen und jungen Mädchen werden tanzen und fröhlich sein – wir anderen brauchen das ja nicht.«
Hiermit beendete Camilla die Unterredung mit ihrer Schwester, nahm ein Buch zur Hand und las darin bis zum späten Abend. Dann legte sie sich schlafen.
Camilla Rosen ahnte nicht, daß sie der Schwester mit ihren Worten qualvolle Unruhe bereitet hatte. Der Wunsch Camillas, den sie so leidenschaftlich hervorgestoßen hatte, stand, einem drohenden Gespenst gleich, noch vor Doras Augen, als sie sich bereits zur Ruhe begeben hatte.
Dora wollte alles nüchtern überlegen: Es würde wirklich nicht schlimm sein, wenn die Schwester einmal einen der öffentlichen Bälle, die zur Zeit stattfanden, mitmachte. Ob Camilla davon freilich befriedigt sein würde, erschien ihr, Dora, fraglich. Camilla kannte niemand auf solch einem Fest, und wenn sie als Tänzerin nicht begehrt würde, wäre der Zweck des Abends nicht erfüllt. Die Schwester wollte fröhlich sein, wollte lachen – und das konnte sie nur in Gesellschaft.
Gewiß, Camilla war eine schöne, stattliche Erscheinung; aber unter all den anderen Frauen, die kostbar gekleidet waren, würde sie nicht hervorstechen; denn es war unmöglich, daß sie wertvollen Schmuck und ein teures Gewand anlegte, wie es die anderen Frauen trugen. Und wenn sie bei Hubermann Spitzen erstand, die zurückgesetzt waren, aber trotzdem kostbar wirkten, war es noch immer fraglich, ob ihre Sehnsucht an einem solchen Abend gestillt würde.
Ja, wenn Camilla schon Braut wäre! Sie würde sich zur Frau und Mutter vortrefflich eignen. Ihr Herz schien auch nicht mehr frei zu sein. Dora hatte aus manchen Andeutungen entnehmen können, daß es die Schwester beglückte, wenn sie mit Benno Hubermann eine längere Unterhaltung hatte.
Oft sprach sie mit leuchtenden Augen von dem jungen Chef, der im Herbst nach jahrelangem Aufenthalt in der Schweiz, in Frankreich und Belgien – wo er sich in der Tüll- und Spitzenbranche fortgebildet hatte – zurückgekehrt war. Nach seiner Heimkehr war er zum Mitinhaber ernannt worden. Camilla berichtete häufig von seiner Tüchtigkeit, seinem guten Geschmack und seiner Zurückhaltung den Angestellten gegenüber.
Aber es gab vielleicht noch einen anderen, der für Camilla in Betracht kam: Ingenieur Nehring, dessen Frau vor Jahresfrist gestorben war. Er wohnte im gleichen Haus und hatte einen gutbezahlten Posten inne. Die Schwestern kannten ihn schon lange. Dora hatte sogar die Trauerkleider seiner beiden Kleinen gearbeitet. Manchen Abend hatte der Ingenieur bei ihnen verbracht; und dabei war es Dora stets vorgekommen, als seien seine Blicke häufig zu Camilla gewandert.
Ein leiser Seufzer hob ihre Brust. Die kleinen Waisen waren ihr lieb; und die Stunden, die Nehring unten bei ihnen verbrachte, machten ihr Leben sonnig.
»Wenn er Camilla zur Gattin wählte, würde ich – würde ich – beiden von Herzen Glück wünschen«, sagte Dora leise vor sich hin; sie konnte es nicht verhindern, daß ihr dabei Tränen in die Augen traten.
Noch um Mitternacht überlegte Dora, ob sie nichts dazu beitragen könnte, die Wolken von der Stirn der Schwester zu vertreiben. Sie selber war eine geschickte Schneiderin. Ein Kleid war rasch hergestellt. Camilla brauchte keinen teuren Stoff auszuwählen; für einen Festabend genügte eine billige Seide, und von der Firma Hubermann erstand Camilla Tüll, Spitzen und Band.
Gleich morgen würde sie ein schönes Modell aussuchen und abends die Schwester mit dem Vorschlag überraschen, ihr ein Kleid für eines der großen Feste zu nähen. Dann sollte Camilla hingehen und ihren Herzenswunsch erfüllen. Kam sie nicht auf ihre Kosten, würde das vielleicht die beste Medizin sein.
Als Camilla am anderen Morgen ihrer Arbeitsstätte zufuhr, fielen ihr an den Anschlagsäulen große Zettel auf. Eine Schwarz-Weiß-Redoute war angekündigt, die am übernächsten Sonnabend in den Gesamträumen des Zoologischen Gartens veranstaltet wurde.
Camilla schloß die Augen. Solch ein Fest schwebte ihr vor: strahlende Räume, geschmückte Frauen, kostbare Toiletten, Herren in eleganten Fracks, dazu auserlesene Musik. Ach, wie schön müßte das sein! War es nicht, als ob dieses Fest nach ihr riefe? Wurde ihre Sehnsucht durch das Erblicken der Plakate nicht noch mehr erhöht? Ob sie sich diesen Luxus gestatten durfte? Die Eintrittskarte war ja zu bezahlen, aber alles andere würde wohl zuviel Geld kosten. In einem schlichten Tanzkleid konnte sie nicht erscheinen, o nein; wenn sie zu solch einem Fest ging, wollte sie durch Eleganz auffallen. Und dazu brauchte sie Geld, viel Geld!
An diesem Tage hatte sie noch schlechtere Laune, als sie im Geschäft die Kostbarkeiten aus den Glasschränken hervorholte. Ihre Blicke blieben an den auserlesensten Sachen haften. Diese kostbaren Spitzenüberwürfe würden sich gerade für die angezeigte Redoute trefflich eignen – besonders der eine mit den großen schwarzen Blumen auf weißem Grund.
Camilla warf das kostbare Stück über ein weißes Seidenunterkleid. Ja, wenn sie solch ein Gewand trüge und damit zur Redoute ginge, würden die Augen der Kenner ihr folgen. Aber der Preis, der unerhört hohe Preis überstieg alle ihre Ersparnisse.
»Nicht wahr, ein schönes Stück?«
Camilla schrak zusammen. Sie hatte das Näherkommen des jungen Hubermann nicht bemerkt. Nun stand er neben ihr.
»Soeben lese ich, daß am übernächsten Sonnabend im Zoologischen Garten eine Schwarz-Weiß-Redoute veranstaltet wird. Drücken Sie die Daumen, Fräulein Rosen, daß wir diese teuren Spitzen verkaufen!«
»Sie sind sehr hoch im Preis, Herr Hubermann!«
»Ja, wir sind ein gewisses Risiko eingegangen, als wir sie kauften. Aber unser Haus ist ja bekannt, und wir haben zahlungsfähige Kundschaft. Vielleicht gelingt der Verkauf.«
»Sollen wir den kostbaren Überwurf nicht ins Fenster stellen, Herr Hubermann?«
»Für wenige Stunden, Fräulein Rosen; Sonne haben wir ja zur Zeit nicht zu befürchten. Sorgen Sie dafür, daß das kostbare Stück den Vorübergehenden recht in die Augen fällt!«
Dann ging der junge Chef davon. Camilla blickte ihm nach. Ihr Herz pochte stark in der Brust. Warum sprach er stets nur geschäftlich mit ihr, warum fragte er niemals nach persönlichen Dingen, nach ihren Wünschen? Mit der Kundschaft konnte er fröhlich lachen und scherzen und angeregt plaudern; doch ihr gegenüber zeigte er immer nur eine sich gleichbleibende Freundlichkeit – nicht mehr. Und doch behaupteten einige ihrer Arbeitskameradinnen, daß der junge Hubermann ganz besonders viel von seiner Ersten Verkäuferin halte. Schon manche Neckerei hatte Camilla sich gefallen lassen müssen.
»Zu Ihnen kommt er immer, Fräulein Rosen; er muß sich sehr zu Ihnen hingezogen fühlen«, hatte neulich erst jemand gesagt.
Aber alle irrten sich, meinte Camilla. Der junge Hubermann sah in ihr nur die tüchtige Kraft. Eine Frau würde er sich aus den Geschäftsräumen seines Vaters wohl nicht wählen.
Als Camilla die Aufstellung des Spitzenkleides im Schaufenster überwachte, fielen ihre Blicke wieder neiderfüllt auf das schöne Stück. Und wenn sie die Augen schloß, sah sie das Plakat an den Säulen: Schwarz-Weiß-Redoute in den Gesamträumen des Zoologischen Gartens.
Ehe sie mittags heimgehen wollte, wurde sie nach vorn, ins Privatkontor des Chefs, gerufen. Herrn Hubermann gegenüber saß eine junge Dame, in der Camilla sogleich die berühmte Filmschauspielerin Ilo Videra erkannte.
»Bitte lassen Sie den Spitzenüberwurf aus dem Fenster nehmen, Fräulein Rosen, und bringen Sie ihn her! Fräulein Videra möchte sich ihn ansehen.«
Das Überkleid wurde aus dem Fenster genommen. Camilla brachte es selber nach vorn.
»Wundervoll! Entzückend!« rief die Künstlerin aus und ließ das kostbare Gewebe durch die Finger gleiten. »Ich möchte es auf der Schwarz-Weiß-Redoute tragen. Ich liebe solche Feste über alles. Wahrscheinlich trage ich eine Gesichtsmaske dazu.«
»Ich habe gleichfalls die Absicht, das Fest zu besuchen«, ließ Herr Hubermann sich da vernehmen.
»Ach? Dann sehen wir uns vielleicht«, meinte die Schauspielerin. »Was kosten übrigens diese Spitzen?«
Hubermann wandte sich an Camilla, die den Preis nannte.
»O weh!« rief Fräulein Videra aus. »Das ist allerdings sehr viel! Ich weiß nicht, ob ich diese Summe dafür ausgeben kann.«
Camilla pries die Vorzüge des Überwurfes mit beredten Worten.
»Gewiß, Sie haben recht«, sagte die Filmdiva. »Für diese Arbeit ist der Preis nicht zu hoch. Aber in meiner Kasse ist zur Zeit große Ebbe. Ich muß es mir noch überlegen, ob ich mir diese Ausgabe jetzt leisten kann.«
Camilla trug das Spitzengewand wieder hinaus und ließ es erneut ins Fenster stellen. Dabei dachte sie mit Neid und Mißgunst an alle, die das Fest im Zoologischen Garten besuchen würden. Sogar Hubermann trug sich mit der Absicht, hinzugehen. Er würde dort die schönsten Frauen im Arm halten – und sie würde daheim sitzen und – währenddessen ihre Strümpfe stopfen.
Brennend heiß stiegen ihr die Tränen in die Augen. Wenn nur die Redoute erst vorüber wäre, die ihr so viele Schmerzen bereitete!
Am Abend legte Dora der Schwester verschiedene Modenblätter vor.
»Ich habe über deine Worte nachgedacht, Camilla«, sagte sie, »und bin zu der Überzeugung gekommen, daß es das richtigste ist, wenn du einmal solch ein Fest mitmachst. Wir kaufen Stoff, und ich nähe dir ein Kleid für diesen Abend. Ich werde mir die denkbar größte Mühe geben, daß es recht gut sitzt. Wir wollen aus den Bildern ein Modell aussuchen, damit ich bald damit anfangen kann.«
»Du bist so gut zu mir. Ich verdiene das gar nicht. Nimm die Hefte wieder fort. Ich schlage mir diese überflüssigen Ausgaben aus dem Kopf.«
»Nein, Camilla, du sehnst dich nach einer großen Veranstaltung. Es läßt dir keine Ruhe mehr. Und du sollst sie auch besuchen. Wir werden dich schon herausputzen, daß du ein vergnügtes Fest verleben kannst.«
Wieder wehrte Camilla ab, doch Dora gab nicht mehr nach.
»Du hast in drei Wochen Geburtstag. Die Eintrittskarte schenke ich dir, dazu schöne neue Schuhe. Und du nimmst von deinem Gehalt etwas fort, kaufst dir einen schönen Stoff und bringst dir von Hubermann gute Spitzen mit, die du ja erheblich billiger bekommst. Dann nähe ich dir das Kleid – und du wirst zufrieden sein.«
Immer heftiger wehrte Camilla ab, und als Dora nicht nachließ, brauste sie schließlich auf.
»Was soll ich auf solch einem Fest? Ich kann mir doch nicht leisten, was andere Frauen sich leisten. Und den Plunder, den ich für billiges Geld erstehen kann, mag ich nicht haben. Sprich also nicht mehr davon. Du sagtest doch selber, man solle sich vor Versuchungen hüten. Nun laß mich endlich in Ruhe!«
So verlief der Abend, von dem Dora sich so viel versprochen hatte, für beide Schwestern unbefriedigt. Trotzdem beschloß Dora, eine bessere Gelegenheit abzuwarten, um mit Camilla nochmals über den Besuch eines Festes zu reden. Heute hatte es keinen Zweck.
Diese Gelegenheit fand sich schon am nächsten Tage. Auch in den Zeitungen wurde die Redoute angekündigt. So wagte Dora es, die Schwester auf dieses Fest aufmerksam zu machen.
Bitter lachte Camilla auf: »Herr Hubermann wird es besuchen!«
Dora ließ sich nicht beirren.