Wenn dir alles genommen wird – woher weißt du noch, was das Richtige ist?
Vincent Busch hat alles verloren: Seinen Traum von einer Profikarriere im American Football. Sein Leben als Berufssoldat, nachdem er verwundet und traumatisiert aus Afghanistan zurückkam. Auch der Job bei der Polizei, den ihm sein Freund, der Kommissar Arthur Weiss, vermitteln wollte, bleibt ihm verwehrt.
Doch da ist jemand, der sich für ihn interessiert: Die undurchsichtige, dominant auftretende Nadeschda Metzmacher will ihn für ihre Personenschutz-Agentur. Vincent wird der Leibwächter des Fleischproduzenten Brunckhorst, der Morddrohungen erhalten hat.
Währenddessen muss Kommissar Weiss den brutalen Mord an einer jungen Prostituierten aufklären. Als immer mehr Leichen auftauchen und es einen Zusammenhang mit der Fleischbranche zu geben scheint, wird langsam klar: Vincent ist da in eine ganz üble Sache geraten …
Guido M. Breuer, geboren 1967 in Düren, machte zunächst eine Ausbildung zum Bankkaufmann, bevor er Wirtschaftswissenschaften studierte. Anschließend war er viele Jahre als Unternehmensberater tätig. Seit 2009 schreibt er Kriminalromane und Thriller. Er ist Mitglied im Syndikat, der Vereinigung deutschsprachiger Krimiautoren, und lebt und arbeitet heute in der Nähe von Bonn.
FINAL GAME
BLUTIGE ABRECHNUNG
beTHRILLED
Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Ralf Reiter
Lektorat/Projektmanagement: Lukas Weidenbach
Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven © Olivier Le Quenec/shutterstock; © Vlue/shutterstock; © worawut2524/shutterstock; © exopixel/shutterstock
eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-5040-1
Dieses eBook enthält eine Leseprobe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes »Das Lazarus-Syndrom« von Guido M. Breuer.
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Solange es Schlachthöfe gibt, wird es auch Schlachtfelder geben.
Lew Tolstoi
Beifall brandet auf, doch es gilt nicht ihm. Vince sitzt auf einer Steintreppe, hoch oben, wo man das Spielfeld gut im Blick und den Geruch des Burgergrills immer in der Nase hat. Er hockt da, seinen knapp zwei Meter großen Körper zusammengeschoben, damit man ihm nicht ansehen kann, dass er eigentlich dort unten sein müsste. Die Bonn Gamecocks wehren sich tapfer, doch die Niederlage ist unabwendbar. Die Offense hat sich totgelaufen, ein letzter verzweifelter Pass ist vom Gegner abgefangen worden. Interception. Der Ballbesitz wechselt auf die denkbar schlechteste Weise. »Defense go!«, skandiert man, angefeuert durch den Stadionsprecher und die Cheerleader, eine Handvoll Mädchen, die sich für die zwei- oder dreihundert Zuschauer die Seele aus dem Leib puscheln. Doch das Match ist gelaufen. Der Gegner schickt die Victory-Formation auf den Rasen. Die Zeit läuft ab.
Schließlich geht Vince hinunter. Shakehands. Es gibt noch ein paar Jungs im Team, die ihn kennen. Seine Rückennummer ist nicht wieder vergeben worden. Der einzige Gamecock aus Bonn, der den Sprung in die amerikanische Football-Profiliga geschafft hatte. Hätte. Beinahe. Scheiße.
Warum tut er sich das an? Die Neulinge im Team, die Rookies, beachten ihn nicht, kennen ihn gar nicht. Die anderen grinsen ihn schief an, give me five, alter Kumpel, arme Sau, lass mich in Ruhe, was machst du eigentlich hier?
Er würde was darum geben, in ihre Köpfe schauen zu können. Wissen, was sie wirklich von ihm denken. Erst wenn er das nicht mehr will, so hat man ihm gesagt, sei er frei für ein neues Leben. Ein anderes Leben. Scheiße, er will kein anderes Leben. Er will das, was man ihm genommen hat, nicht mehr und nicht weniger. Ist das zu viel verlangt? Abgesehen davon, dass es unmöglich ist.
Ein heißer Wind schleift dein Gesicht mit feinem Sand ab. Er dringt dir in alle Poren, durch die geschlossenen Lider und in den Mund, egal wie fest du die Lippen aufeinanderpresst. Du willst dich auf die Seite drehen, das Gesicht mit den Händen schützen und dich so hinlegen, wie du im Mutterleib gewesen bist: entspannt, sicher und glücklich.
Keine Chance. Deine Glieder gehorchen dir nicht. Da ist nur dieser Schmerz, der dich für jeden Versuch, dich zu bewegen, bestraft. Und was bestraft wird, muss schlecht sein, unerlaubt. Also lässt du es.
Nach einiger Zeit – du weißt nicht, ob du Stunden geschlafen hast oder ob es nur Sekunden der Bewusstlosigkeit waren – regt sich trotziger Widerstand in dir. Es muss doch möglich sein, die versandete Fresse aus dem Wind zu nehmen, verdammt noch eins! Und wieder diese Schmerzen. Doch da ist noch etwas. Eine Hand, die über deinen Körper fährt. Du willst die Augen öffnen, diese Hand sehen. Gleichzeitig erwartest du die Schläge. Eine verhüllte Gestalt, ein Tschadri, wie ihn die Frauen in Afghanistan tragen, dann eine Wasserflasche an deinen ausgedörrten Lippen. Oder ist es die bitter und rußig schmeckende Mündung eines russischen Sturmgewehrs AK47?
Er weiß, er muss wach werden, die Augen aufmachen und der Ungewissheit ein Ende setzen. Ich heiße Vincent Busch, denkt er, ich bin Stabsunteroffizier der deutschen Bundeswehr, Special Forces, Afghanistan. Ich kann meine Augen öffnen, selbst wenn ich tot bin, jederzeit und an jedem Ort. Und wenn ich dem Teufel persönlich dabei ins Gesicht blicken muss, dann soll es so sein, und wir werden sehen, wer dieses Zusammentreffen mehr bereut. Und als er seine Lider nach oben zwingt, weiß er, dass es ein verfickter Ausbilderspruch ist, der ihm die Kraft dazu gibt. Und dann wird ihm klar, dass er Angst hat. Beschissene Angst, dass er nicht mehr aus diesem Dreck herauskommt, und wenn doch, dann nur noch als Krüppel, und die Minnesota Vikings haben längst einen anderen Runningback verpflichtet. Und als Vince dann endlich wach ist, weiß er, dass er lebt, dass er zurück in Deutschland ist und es nur wieder ein böser Traum war. Und für den Bruchteil einer Sekunde will der Gedanke aufflackern, dass doch in Wirklichkeit alles gut ist, jetzt, wo er doch wach ist und es nur ein Albtraum war. Und dann ist es plötzlich ein unabänderlicher Teil dieser Wirklichkeit, dass die Vikings nicht auf ihn gewartet haben, dass er zusammengeschossen worden ist in diesem gottverfluchten Land und mehr tot als lebendig zurückgekehrt ist. Und er wundert sich, dass er nicht vor lauter Verzweiflung heult wie ein verlassenes Kind bei diesem elenden Gedanken. Und als er endlich richtig wach ist, merkt er, dass er natürlich doch heult, dass ihm der Rotz aus der Nase läuft und sein Körper geschüttelt wird von einem Weinkrampf, der nicht aufhören will, weil es keinen verdammten Grund gibt, mit dem Weinen aufzuhören.
Seine Hand tastet zitternd nach dem Lichtschalter. Als die Nachttischlampe sein schweißnasses, zerwühltes Bett in ein zuerst viel zu grelles, dann aber zunehmend schummrig erscheinendes Licht taucht, findet er in der Schublade den Zettel, auf dem eine Telefonnummer steht. Es gibt Menschen, hat der Doc ihm gesagt, die kannst du immer anrufen. Egal ob sie gerade mit dem Dalai Lama zu Abend essen oder auf dem Weg zum Mond sind – wenn sie deine Nummer sehen, lassen sie alles stehen und liegen für dich. Die Telefonnummer dieser Menschen schreibst du auf einen Zettel. Das ist deine Lebensversicherung. Wenn du glaubst, sterben zu müssen, weil du das Leben keine Sekunde mehr ertragen kannst, dann denk nicht lange nach, nimm diesen Scheißzettel und ruf die Nummer an, die da draufsteht.
Vince putzt sich die Nase mit dem nächstbesten Fetzen Stoff, den er zu fassen bekommt, und reibt sich die Augen trocken, damit er die Ziffern auf dem Zettel lesen kann. Eigentlich braucht er das nicht, denn die Nummer ist in seinem Handy gespeichert. Ruft er sie an, klingelt das Telefon in jenem kleinen, schmucken Reihenhaus in Godesberg. Dort liegen Edgar und Edith Busch in ihrem altmodischen Ehebett und schlafen den Schlaf der Gerechten. Und seine Mama wird sofort aufspringen, wenn das Telefon klingelt, und mit klopfendem Herzen zu dem Gerät greifen, das immer in ihrer Nähe ist, obwohl er diese Nummer noch nie angerufen hat. Der Vater wird fragen, was der Junge denn hat und wo er ist, noch im Halbschlaf wird er den Trainingsanzug über den Pyjama ziehen und nach dem Autoschlüssel greifen, bevor seine Frau ihm geantwortet hat.
Vince zögert. Ist er wirklich so weit, diese Nummer anzurufen und zu sagen, dass er nicht mehr kann?
Atmen, tief ein- und wieder ausatmen. Und schon wieder ein paar Sekunden überlebt. Wie damals beim Training. Wie viele Liegestütze du noch schaffst, ob du wirklich nicht mehr kannst, weißt du erst, wenn du beim allerletzten Versuch, noch einmal durchzupumpen, zusammengebrochen bist. Und du weißt es umso besser, wenn unter deinem nackten Bauch Glasscherben liegen, die nur darauf warten, dir die Frage zu beantworten, ob du noch kannst. Und du schaffst immer noch eine mehr und immer noch eine, bis der Trainer sieht, dass wirklich nichts, aber auch gar nichts mehr geht, und dann hält ein Kamerad dich auf ein Zeichen hin fest, kurz bevor du hinstürzt.
Und jetzt liegst du da, Rotz und Wasser ins Kopfkissen heulend, und es ist kein Kamerad da und kein Coach. Das ist der Unterschied zwischen Training und dem echten Leben. Und du hast nur die Wahl, stur weiterzuleiden oder aber jetzt anzurufen und zuzugeben, dass du immer noch oder schon wieder dieser kleine Junge bist, der am liebsten in Mamas Bauch zurückkriechen würde. Oder besser noch – niemals dort herausgekommen wäre. Da nützen dir jetzt deine zwei Zentner explosive Muskelmasse gar nichts, auch nicht deine erlaufenen Yards und deine Touchdowns oder die Zahl der Menschen, die du getötet hast.
Irgendwann schreckt Vince auf und merkt, dass er auf diesen beschissenen Notfallzettel gestarrt hat, keine Ahnung, wie lange. Er wird nicht anrufen. Nicht jetzt. Nicht in dieser Nacht. Es werden vielleicht noch schlimmere kommen.
Jeder Montagmorgen ist Scheiße. Auch wenn deine Montage wie Sonn- oder Freitage sind. Vielleicht sogar besonders dann. Weil niemand etwas von dir will, niemand dich erwartet. Zu keiner Zeit. Vince kotzt es an, dass niemand Leistung von ihm abfordert, dass er sich anbieten muss, ohne verlangt zu werden. Auch dieser Bulle, mit dem er nun einen Termin im Polizeipräsidium hat, will ihn sicher nicht. Nach zig Bewerbungen, Tests und Gutachten darf er nun wenigstens ein klärendes Gespräch führen. Nein, führen wird er es natürlich nicht, aber es wird jemand mit ihm sprechen.
Vincent geht an den parkenden Einsatzfahrzeugen vorbei auf den großzügig verglasten Eingangsbereich zu, in dessen Scheiben er sich selbst beobachten kann. Die Sonne scheint. Vor sich kann er kaum eine Gebäudefront ausmachen, eher nur Himmel, Wolken, herumirrende gleißende Lichtstrahlen, Bäume, davor er selbst, eine verloren wirkende Gestalt. Neben dem Glaskubus zwei symmetrische Seitenflügel, höher und größer als die Mitte des Gebäudes. Wie ein tief geduckter Center beim Snap, eingerahmt von zwei bulligen Offensive Guards. Und Vince sucht wie ein verwirrter Runningback, der die Ansage seines Quarterbacks nicht verstanden hat und die vorgegebene Lücke nicht findet, erst nach dem Eingang in der reflektierenden Glasfront und dann, als er endlich eingetreten ist, das Zimmer, wo sein Gesprächspartner ihn erwartet. Er will nicht fragen, sucht etwas herum, weniger ziellos, als es scheint, und was macht es schon, dass er ein paar Minuten zu spät ist, jetzt, da er das richtige Büro gefunden hat und anklopft.
»Guten Morgen. Vincent Busch«, sagt er und schließt die Tür hinter sich, als würde er das ständig machen.
»Guten Morgen, Herr Busch.« Der Mann hinter dem Schreibtisch lächelt ihn an, steht sogar auf, um ihm nicht im Sitzen die Hand zu geben. Man grüßt nicht im Sitzen, das lernt man wohl nicht nur bei der Armee.
»Bitte, nehmen Sie Platz.«
Die Hand, die Vince gerade noch geschüttelt hat, weist nun auf den Stuhl, der auf seiner Seite des Tisches steht. Vincent setzt sich hin, muss dann noch einmal aufstehen und den Stuhl weiter vom Schreibtisch wegziehen, damit seine Beine Platz haben. Er kommt sich ungeschickt vor, obwohl er nicht weiß, wie man sich bei dieser Tätigkeit geschickter anstellen könnte, als er es gerade tut. Der Mann, der wie er keine Uniform trägt, lächelt weiter, als er eine Akte zur Hand nimmt, von der Vince annimmt, dass sein Name darauf oder darin steht.
»Herr Busch, ich sagte Ihnen ja dieser Tage bereits am Telefon, dass es für Ihren Eintritt in den Polizeidienst unüberbrückbare Hindernisse gibt. Von daher werden Sie hoffentlich nicht enttäuscht sein, wenn ich Ihnen nun nichts Positiveres mitteilen kann.« Das Lächeln nimmt keineswegs ab, als er gleich fortfährt: »Wir sind ja hier auch eigentlich gar nicht zuständig für Bewerber. Aber in Ihrem Fall ...«
Nun macht er eine Pause, fast so, als käme es ihm gelegen, wenn Vincent ihn unterbrechen würde. Doch den Gefallen tut er ihm nicht. Immer noch Lächeln.
»In Ihrem Fall ist es doch gut, wenn wir einmal persönlich miteinander reden. Mein Kollege KHK Weiss von der Mordkommission hat sich sehr für Sie eingesetzt, wie Sie wissen. Und Sie sind auch kein üblicher Bewerber.« Nun sieht er in die Akte, als würde er dort einen Spickzettel haben, auf dem alles Unübliche an dem jungen Mann vermerkt sei. »Sie haben im Auslandseinsatz in einer Spezialeinheit gedient. Ihre Ausbildung und Erfahrung prädestiniert Sie natürlich für Sondereinsatzkommandos. Aber andererseits, ich erzähle Ihnen ja nichts Neues, leider ...« Er sieht Vince direkt an, und jetzt ist das Lächeln verschwunden. »Ihre schwere Verwundung und die posttraumatischen Störungen lassen eine Tätigkeit bei der Polizei einfach nicht zu.«
Vincent schießen viele mögliche Entgegnungen durch den Kopf, aber keine scheint ihm geeignet, das auszudrücken, was er dem Beamten sagen will.
»Arschloch.«
»Wie bitte?«
Das Lächeln setzt wieder ein, aber diesmal ist es ein anderes. Professionell. Aufgesetzt. Falsch. Vincent macht eine Handbewegung, so als wolle er einem Schiedsrichter, der gerade eine Fehlentscheidung gegen ihn getroffen hat, den Ball zuwerfen.
Aber er sagt nichts weiter.
»Wissen Sie, Herr Busch.« Die Stimme klingt nun kühl und überheblich. »Es macht mich natürlich nicht froh, dass Sie mich beleidigen wollen. Aber andererseits zeigt Ihre Entgleisung, dass meine Beurteilung, die meiner Kollegen sowie aller beteiligter Mediziner mehr als zutreffend ist. Wie wollen Sie im Polizeidienst zurechtkommen, wenn Sie jeden, der in gewisser Weise Entscheidungsgewalt über Sie hat und Ihnen nicht passt, als Arschloch titulieren? Lernt man das in Afghanistan?«
»Nein«, sagt Vince. »Die Arschlöcher leben da nicht lange genug, als dass man das nötig hätte.«
Der Mann nickt, als würde er verstehen. Dann greift er zum Telefon und wählt eine Nummer. »Arthur? Du kannst deinen Schützling bei mir abholen, wenn du magst. Das Gespräch hat sich sehr schnell festgefahren. Du verstehst?« Er legt den Hörer wieder auf die Station. »Also, Herr Busch. Ich bin Ihnen nicht wirklich böse, immerhin habe ich die psychiatrischen Gutachten gelesen. Ich rate Ihnen, arbeiten Sie weiter an sich und suchen Sie sich einen Job, in dem Sie nicht mit Gewalt konfrontiert werden. Kommen Sie zur Ruhe. Und vergessen Sie bitte den Militär- oder Polizeidienst, das ist Ihnen ein für alle Mal versperrt. Aus guten Gründen.«
Vince steht mit einer heftigen Bewegung auf. Für einen kurzen Moment sieht es so aus, als könnte er mit einem Satz über den Tisch springen und sein Gegenüber zusammenfalten. Ob er das vielleicht wirklich im Sinn hat, wird nicht auf die Probe gestellt, denn die Tür öffnet sich und jemand tritt ein. Vince wendet sich dem Mann zu und mustert ihn, als wenn er ihn nicht genau kennen würde. Arthur Weiss sieht man seine neunundfünfzig Jahre nicht wirklich an. Dafür sorgen sein strenger, wenn auch grauer Bürstenschnitt und die kleine, sehnige Figur, die ständig den Eindruck großer Körperspannung erweckt.
»Alles klar, Vince?«
Der Klang seiner Stimme lässt erkennen, dass er genau weiß, dass dem Jungen nichts klar ist. Der Kriminalhauptkommissar tritt näher an Vince heran. Es macht dem drahtigen Polizisten nichts aus, dann noch weiter zu ihm hoch sehen zu müssen. Vince zuckt mit den Achseln, antwortet nicht. Arthur Weiss nickt dem Kollegen zu und zieht Vincent aus dem Zimmer.
Als die Tür hinter ihnen geschlossen ist, sagt er: »Mein Junge, dir war schon klar, dass er die Ablehnung nur begründen wird. Entschieden haben das doch längst andere. Wir wissen beide, was du durchgemacht hast und dass es für dich noch lange nicht vorbei ist. Wir sollten ...«
Er verstummt, denn sie sind am Ende des Gangs angelangt, wo mehrere Leute beieinanderstehen und in Hörweite geraten sind. Vincent scheint das nichts auszumachen. Er antwortet, ohne seine Stimme zu dämpfen: »Ich kenne nichts außer Football und Krieg, kann mit jeder Waffe umgehen. Was soll ich denn sonst machen? Ich habe den Arsch hingehalten für mein Land, und jetzt soll ich auf Schuhverkäufer umschulen?«
»Das hatten wir doch alles schon«, sagt Arthur leise. »Was meinst du, wollen wir was essen gehen? Ich wette, du hast noch nicht einmal richtig gefrühstückt, oder?«
»Doch, schon«, meint Vince und erinnert sich an sechs rohe Eier mit Milch im Shaker verquirlt.
»Lass mal«, fügt er hinzu. »Du musst doch arbeiten. Ich komm schon klar.«
Der Polizist zwinkert ihm zu und hebt die Hand zum Gruß. »Wie du meinst. Ruf mich an, ja?«
Vince nickt, als würde er zustimmen, und Arthur verschwindet im Treppenhaus. Vincent wendet sich dem Ausgang zu, wo ihm zwei durchtrainiert wirkende Männer in Zivil den Weg versperren. Zwischen den beiden steht eine Frau, die Vince eindringlich ansieht. Etwas an dem Blick dieser Frau warnt ihn, sagt ihm, dass Gefahr von ihr ausgeht. Diese Augen wirken so, als hätten sie schon vieles gesehen. Vince kennt diesen Blick genau. Die harten Augen scheinen so gar nicht zu der attraktiven Erscheinung zu passen. Doch wenn er auch sonst nicht viel gelernt hat, er weiß, wie trügerisch ein schönes Gesicht sein kann. Aber was immer er auch gerade denkt und fühlt, er geht, ohne seine Schritte zu verlangsamen, auf den Ausgang zu. Auf einen Wink von ihr machen die beiden Jungs die Tür frei. Als er an ihnen vorbeigeht, sieht er die winzigen Kommunikationsgeräte, die hinter ihren Ohren klemmen.
Draußen weht ein lauer Wind. Die Sonne hat an Kraft gewonnen. Geblendet kneift Vince die Augen zusammen. Vor dem Gebäude parkt ein auffälliger Wagen, ein Hummer. Vince erkennt auf Anhieb ein paar militärische Modifikationen, die ihm aus Afghanistan geläufig sind. Panzerplatten gegen Minen, verstärkte Seitenbleche, sicherlich mit geschosshemmender Füllung, Vollgummireifen. Vor dem Wagen steht ein Mann, der offenbar gerade mit jemandem spricht, mit dem er über Funk verbunden ist. Als Vince näher kommt, nickt der Mann ihm zu, öffnet die Tür des Hummer und spricht ihn an: »Meine Chefin möchte dich gerne kennenlernen. Bitte steig ein.«
Vincent schaut den Mann überrascht an. Dann dreht er sich um, sieht die Frau mit den beiden großen Jungs immer noch am Eingang stehen, scheinbar ohne ihn zu beachten.
»Ist sie das?«, fragt er.
Der Mann nickt wieder und weist in das Innere des Wagens. Vince hat das intensive Gefühl, dass er einen großen Fehler begeht, als er in den Hummer einsteigt. Aber er tut es, und warum auch nicht? Erst als er sich in die luxuriösen Lederpolster fallen lässt, denkt er über die Alternative nach. Zurück in das Kellerloch, in dem er wohnt, wo er beim hellsten Sonnenschein das Licht anmachen muss. Souterrain nennt man das in dem schönen Bonner Stadtteil Poppelsdorf, den er nur aus der Rattenperspektive kennt. Keine Alternative.
Er ist neugierig auf diese Frau, auf die Pläne hinter jenen harten Augen, die offenbar irgendetwas mit ihm zu tun haben. Geduldig wartet er ab, was geschieht. Es dauert noch eine ganze Weile, bis sie einsteigt. Ihre Jungs schwingen sich in die Fahrerkabine und setzen den aufgemotzten Geländewagen in Bewegung. Sie sitzt ihm gegenüber und mustert ihn aufmerksam. Vince hat das Gefühl, dass sie nach wenigen Sekunden so viele Details von ihm gespeichert hat, dass sie nach Jahren noch eine exakte Beschreibung seiner Person liefern könnte. Vielleicht hätte sie das sogar bereits gekonnt, nachdem er vorhin an ihr vorbeigegangen war. Vince versucht sich umgekehrt nun auch ein Bild von ihr zu machen. Sie trägt einen sehr kurzen Rock, der viel von ihren straffen, ja muskulösen Oberschenkeln zeigt. Er überlegt, ob der Rock so kurz ist, damit ein Mann möglichst viel von ihr zu sehen bekommt oder damit sie maximale Bewegungsfreiheit hat, wenn es darauf ankommt. Sie bemerkt seinen Blick und lächelt. Nicht lasziv, auch nicht verschämt. Sie lächelt einfach, und Vince spürt, wie beherrscht diese Frau ist. Was immer er gerade über ihre Schenkel gedacht haben mag, sie weiß es. Er zwingt sich, ihr gerade in die Augen zu sehen. Dabei streift sein Blick über ihren Oberkörper. Ein leichter Blazer gibt den Blick auf ein hauteng anliegendes Kompressionsshirt frei. Under Armour. Seine bevorzugte Marke in Sportbekleidung. Sie sieht atemberaubend darin aus. Jetzt endlich schaut er ihr ins Gesicht. Kurze schwarze Locken über einer strengen Stirn, die Augen kalt und dunkel, wie Bombentrichter in der Nacht. Scharfe Nase, fast zu groß, um schön zu sein. Aber diese Frau ist schön. Sie ist älter als er, aber nicht alt. Vielleicht dreißig, vielleicht vierzig. Nein, vierzig eher nicht, aber wer weiß, Vince kann das schwer schätzen, besonders bei einer Frau wie ihr. Ihre Lippen sind schmal, nicht voll und rund und sinnlich wie bei den Mädchen, auf die er steht, aber dennoch kann er die Augen nicht von diesem Mund wenden, als sie zu sprechen beginnt.
»Vincent«, sagt sie und betont dabei das »e« auf eine ungewöhnliche, hell klingende Weise. »Ich weiß, was du gemacht hast, und ich weiß, was du willst. Ich weiß auch, warum deine Bewerbung abgelehnt wurde und was der Mann von der Kripo eben mit dir besprochen hat. Und du weißt überhaupt nichts von mir. Macht dir das Angst? Oder findest du das okay?«
Vince sucht nach einer passenden Antwort, aber die Frau scheint nicht darauf erpicht zu sein und spricht weiter: »Es sollte okay sein, denn wenn du für mich arbeitest, wird sich das niemals wirklich ändern. Egal was du erfährst, es wird immer nur ein winziger Teil von dem sein, was ich von dir weiß. Der Tag, an dem du das nicht mehr akzeptieren kannst, wird unser letzter Tag sein. Dein letzter Tag.«
Sie reicht ihm eine Visitenkarte, schiebt sie ihm in die Hand und schließt sie mit einem sanften, aber bestimmten Druck. Als sie ihn loslässt, streift einer ihrer Finger an seinem Handrücken entlang und hinterlässt eine Gänsehaut auf seinem Unterarm. Vince ist das peinlich, er sieht zur Seite, aus dem Fenster. Um von sich abzulenken, fragt er: »Wohin fahren wir?«
»Nach Poppelsdorf, in die Blücherstraße«, antwortet sie.
»Da wohne ich.«
»Natürlich. Ich bringe dich nach Hause. Wir sind schon da.«
Der Hummer hält in der engen Straße, die zu beiden Seiten mit parkenden Autos vollgestellt ist und den breiten Geländewagen so gerade aufnehmen kann. Die Tür wird geöffnet.
»Husch, hinaus, geh in deinen Keller«, sagt sie lächelnd und macht eine winkende Handbewegung, die Vince den Weg aus dem Wagen weist. Er verabschiedet sich nicht, und sie scheint das auch nicht anders erwartet zu haben. Wortlos steigt er aus und geht zum Hauseingang. Er zwingt sich, nicht zurückzublicken. Als er den Schlüssel ins Schloss steckt, rollt der Hummer davon.
Erstes Dämmerlicht. Arthur Weiss sieht auf seine Armbanduhr. Vier Uhr einundfünfzig. Quietschende Geräusche vom Bahngelände nebenan. Am nahe gelegenen Westbahnhof hält pünktlich die Linie 18. Alles scheint ein Matsch aus dunklen Grautönen, sogar die Innenbeleuchtung der Straßenbahnwagen, die jetzt schon wieder anrollen und Richtung Köln verschwinden. Aber das Blut, das an der Leiche des Mädchens und rund herum am Boden klebt, schimmert rot im Licht der Strahler, die die Kollegen der Kriminaltechnik aufgebaut haben. Der Kommissar will es nicht sehen, hat so eine gottverdammte Scheiße schon zu oft gesehen, gar nicht einmal wirklich häufig in mehr als dreißig Jahren Mordkommission, aber dennoch viel zu oft. Jedes einzelne Mal war zu viel, und es wird mit zunehmendem Alter nicht besser. Er sieht einen geschundenen Kinderkörper, Wunden überall. Eine dünne Bluse, verdreckt und voller Blut, weit offen über kleinen Brüsten, ein sehr kurzer dunkler Rock, der die rasierte Scham nicht bedeckt, und weiße Strümpfe, die über die knochigen Knie reichen. Das lange Haar ist zu Zöpfen geflochten. Das Mädchen sollte jung aussehen, dabei brauchte es dieses Outfit gar nicht. Sie ist jung, sehr jung. Ganz sicher zu jung für den Straßenstrich an der Bonner Immenburgstraße. Arthur sieht sich um. Nicht weit entfernt stehen die Holzverschläge, in denen die Freier ihre Autos parken und mehr oder weniger unbeobachtet die Dienstleistungen der Freilufthuren in Anspruch nehmen können. Arthur zwingt sich, wieder hinzuschauen. Die große Wunde am Kopf ist nicht zu übersehen. Ebenso wenig die vielen Stellen am Körper, aus denen vor kurzer Zeit Blut ausgetreten ist. Er ist froh, nicht näher an die Leiche herantreten zu können. Rund um den Körper herum befinden sich Marker, die kriminaltechnische Indizien kennzeichnen.
»Das Mädchen ist noch nicht lange tot.«
Eine Frau kommt auf Arthur zu. Sigrid Conradt leitet die Untersuchungen am Tatort. Arthur ist froh darüber. Conradt ist eine erfahrene Kollegin, ihr kann er getrost all die unangenehmen Details überlassen, die ihn seit Jahren nur noch ankotzen.
»Todesursache offensichtlich?«
Conradt zuckt mit den Achseln. »Der Schädel ist gebrochen, Hirn ist ausgetreten, ich würde sagen, diese Verletzung hat schnell den Tod herbeigeführt. Es gibt aber auch Wunden, die ich vorläufig als Messerstiche deute, allesamt eher nicht tödlich, ohne der Rechtsmedizin vorgreifen zu wollen. Daneben eine Vielzahl frischer und weniger frischer Hämatome, auch bei diesen beschissenen Lichtverhältnissen glaube ich sagen zu können, dass dieses Mädchen regelmäßig Prügel bekommen hat. Und gedrückt hat sie, die Armbeugen sind voller Einstichmale.«
Arthur schließt für einen Moment die Augen, als könnte er das Elend damit wegschieben, auslöschen. Einfach nicht hinsehen. »Was glaubst du, wie alt sie ist?«
Sigrid Conradt zuckt erneut mit den Achseln. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie volljährig ist. Aber das ist verdammt schwer zu sagen. Ich bin aus dem Alter raus, eine Sechzehnjährige auf Anhieb von einer Neunzehnjährigen unterscheiden zu können. Zumindest unter diesen Umständen.«
Arthur nickt, ihm geht es nicht anders. Sein in vielen Jahren Kriminaldienst geschulter Blick nützt ihm dabei gar nichts. Irgendwie tröstlich, dass es einer Frau genauso geht. Nein, eigentlich nicht. Das Ganze ist völlig trostlos.
»Wer hat sie gefunden?«
Conradt weist zur Seite, wo ein Krankenwagen steht. Eine junge Frau, bekleidet mit fast nichts außer einer Decke um die Schultern, daneben ein Sanitäter und zwei Männer in Uniform. Arthur ist froh, der Leiche den Rücken kehren zu können. Das ist ohnehin nicht wirklich sein Job. Sigrid Conradt und ihr Team von der KTU werden das erledigen.
Die Kleine am Krankenwagen sieht nicht wesentlich älter aus als die Tote.
»Du hast sie gefunden?«
Sie nickt. Von ihrer Schminke ist nicht viel übrig. Von dem, was sie einmal war oder vielleicht hätte werden können, auch nicht.
Der Mann neben ihr in der Uniform eines privaten Wachdienstes sagt: »Ich habe hier Aufsicht. Diese Stelle ist aber außerhalb meines Beobachtungsbereichs. Hier ist auch kein Verkehr. Diese Nacht war wenig los, die meisten Mädchen sind früh weg. Sie hier war die Letzte, ging von den Verrichtungsboxen hier entlang, dann hörte ich sie schreien. Ich rannte hin, sah die Scheiße. Hab dann die Polizei verständigt. Das Mädchen spricht nicht.«
Arthur schaut den Polizisten neben dem Wachmann an. Der nickt bestätigend. »Kein Wort. Ich habe den psychologischen Dienst verständigt, müsste eigentlich längst da sein. Sie trägt keinen Ausweis bei sich. Ich denke, wir nehmen sie mit.«
»Macht das, und gebt ihr was Warmes zu essen. Ich spreche später mit ihr. Hinten im Puff wird man sie vielleicht kennen. Vielleicht doch eher die Mädchen, die morgen Abend wieder hierherkommen werden.« Arthur winkt den Wachmann zur Seite. »Die Tote ist übel zugerichtet worden. Das kann nicht ohne Lärm vonstattengegangen sein. Wirklich gar nichts bemerkt?«
Der Mann schüttelt energisch den Kopf. »Nix. Ich bin natürlich auch nicht pausenlos auf der Lauer. Ich schaue immer wieder vorbei, sehe zu, dass kein Freier pöbelt oder dass sich keine Zuhälter bei den Mädchen aufhalten. Manchmal schlichte ich Streit, wenn die Mädels sich schlagen.«
»Kommt das oft vor?«
Der Wachmann atmet laut aus. »Und ob. Die meisten hier sind von der RumBul-Fraktion. Deutsche stehen kaum noch hier. Die Kleine dahinten ist neu, die hab ich noch nie gesehen.«
»Wer – das Mädel, das die Leiche gefunden hat?«
»Nee, die Tote mein ich. Kenne sie nicht. Die andere schon. Steht schon das ganze Jahr hier. Bulgarin, schätze ich.«
»Wie heißt sie?«
»Keine Ahnung.«
Arthur fragt nicht weiter, streicht sich nachdenklich mit beiden Händen über seinen Bürstenschnitt.
Der Wachmann fühlt sich genötigt weiterzuerzählen. »Vorher hab ich schon mal auf der Geest in Köln gearbeitet. Da war’s besser. Zusammenarbeit mit der Polizei, katholische Frauen, Sozialarbeiterinnen vom Amt. Hier biste allein und kannst nix anderes tun, als den Anbahnungsbereich und die Verrichtungsboxen im Blick zu behalten. Scheiße. Echt Scheiße ist das.«
Der Kommissar hat dem nichts hinzuzufügen. Er wird den Wachmann noch einmal befragen, morgen oder übermorgen. Vielleicht hat er dann doch etwas bemerkt.
Langsam wird das Grau heller. In einer Stunde vielleicht wird hier die Sonne scheinen. Unvorstellbar.
Die Visitenkarte liegt seit gestern auf der Bettkante. Sieht sehr nüchtern aus, sehr klar. Privater Personenschutz. Geschäftsführung: Nadja Metzmacher. Vincent dreht den kleinen, weißen Karton mit der dunkelblauen Schrift zwischen den Fingern. Seltsam. Dieser Name hat so gar nichts mit jener Frau zu tun, die ihm gestern im Auto gegenübersaß. Und sie hat sich nicht persönlich vorgestellt. Das fällt ihm jetzt erst auf. Macht man das in diesem Business so? Dem anderen stattdessen eine Karte zuschieben?
Das Internet sagt nichts über ihre Firma, außer dass es sie gibt. Eine Adresse, ein Name und zwei Worte: Diskretion und Sicherheit. Diese Nadja will, dass er für sie arbeitet. Und sie weiß anscheinend alles über ihn. Von Arthur Weiss? Oder wird er observiert? Rekrutiert sie ihre Mitarbeiter über abgelehnte Bewerber bei der Polizei? Warum interessiert sie sich für ihn? Vince hasst Fragen, die er unmöglich beantworten kann. Es sei denn, er geht dorthin und stellt ihr genau diese Fragen. Er ist nicht besonders klug, das weiß er, aber er hat einen guten Instinkt. Und der sagt ihm, dass diese attraktive schlanke Frau so gefährlich für ihn ist wie ein zweihundertfünfzig Pfund schwerer Linebacker, der hinter der Verteidigungslinie seiner Mannschaftskameraden nur darauf wartet, dass er seinen Weg kreuzt. Doch das würde voraussetzen, dass er immer noch Runningback ist und den Angriff vorträgt. Ist er für diese Nadja ein Ballträger? Wäre er nicht so unendlich müde, könnte er darüber nachdenken. Doch er hat wieder eine schlaflose Nacht hinter sich, wie schon so oft. Jetzt, wo die Sonne schon hoch am Himmel steht und draußen in der Welt außerhalb seines Kellers vielleicht eine sommerliche Wärme verbreitet, jetzt könnte er vielleicht doch endlich etwas schlafen. Doch er hat auch Hunger. Etwas kochen wäre gut. Kochen ist immer gut, es hat etwas von Normalität, den Alltag bewältigen, sein Leben im Griff haben. Das tun, was Eltern für ihre Kinder, Ehefrauen für ihre Männer … oder Scheiße, vielleicht auch umgekehrt … wie auch immer, kochen ist gut. Und essen. Vince überlegt. Etwas Einfaches, was satt macht. Reis, Kartoffeln oder Nudeln. Nudeln haben mehr Protein, also Spaghetti. Dazu irgendwas. Er schaut in den Kühlschrank. Bratwurst, Eier, Koteletts. Er kann sich nicht entscheiden. Erst einmal das Wasser für die Nudeln aufsetzen, Zeit für die Auswahl gewinnen. Er öffnet das Fenster, durch das zwar nicht wirklich viel Licht, aber dafür etwas warme Luft eindringt. Er legt sich auf das Bett, wartet, bis das Wasser kocht. Noch ein Blick auf den Kessel. Es brodelt und dampft. Er steht wieder auf und sieht nach. Tatsächlich kocht das Wasser bereits. So schnell? Er muss eingeschlafen sein. Kopfschüttelnd greift er sich eine Packung Spaghetti, stößt sie auf die Tischplatte, sodass die Nudeln am oberen Ende die Kunststoffhülle durchbrechen. Rein in den Topf. Jetzt sollte er vielleicht umrühren, damit die Nudeln nicht verkleben. So hat es seine Mutter immer gemacht. Scheiß drauf. Umrühren wird überbewertet. Vince legt sich wieder hin. Eine halbe Stunde später schlingt er einen Haufen zerkochter Nudeln mit notdürftig angebratener und deshalb fast roher Bratwurst hinunter. Er hat schon wesentlich schlechter gegessen. Dennoch ist er froh, als die Türklingel seine Mahlzeit unterbricht. Mittagszeit. Das wird der Paketdienst sein, der mittlerweile gewohnt ist, ihm die Sendungen für die anderen Hausbewohner zu übergeben. Arthur Weiss’ Stimme in der Gegensprechanlage überrascht ihn. Der Polizist ist nicht allein. Sein Sohn Alexej ist bei ihm.
»Hi, Vincent!«, ruft der Kleine und springt Vince an, in der sicheren Erwartung, dass der ihn auffangen und hochheben wird. Der Vierjährige mag diesen großen Kerl mit den beeindruckenden Muskeln.
»Wie geht’s dir?«, fragt Arthur, als Alex wieder auf dem Boden ist.
»Keine besonderen Vorkommnisse. Und selbst?«
»Danke. Könnte besser sein.« Arthur sieht den jungen Mann forschend an. Er fragt nicht, was Vince als besonderes Vorkommnis deuten würde und ob das Gespräch mit einer Sicherheitsfirma nicht dazu zählt. Er wartet auch nicht darauf, dass Vincent nachfragt, warum es ihm besser gehen könnte.
»Hast du was vor?«, fragt er stattdessen.
»Nö.«
»Gehen wir ’ne Runde raus? Draußen ist schön.«
»Warum nicht?« Vince schiebt die Reste des Mittagessens irgendwohin, wo es – warum auch immer – aufgeräumter aussieht, und nimmt die Schlüssel von dem Nagel, den er neben der Tür in die Wand geschlagen hat.
»Kann ich die Wurst?«, fragt Alex und zeigt auf den Teller.
»Klar, wenn du das magst«, antwortet Vince.
Der Kleine nimmt den Rest der Bratwurst und beißt ein Stück ab. Es ist salzig und fett, also schmeckt es. Arthur kramt nach einem Taschentuch, während sie die Wohnung verlassen.
Vince spürt die Sonne auf der Haut und ist dem Polizisten dankbar, dass er unangemeldet vorbeigekommen ist. Die Wärme und das Licht sind gute Freunde. Anders als die nervende Hitze Afghanistans, das ewige Sich-schützen-müssen vor Wind, Staub, Sonnenbrand und mehr schlecht als recht gezielten Schüssen aus dem Hinterhalt. Hier, in seiner betulichen Heimat am Rhein, sind die Tage weniger heiß und die Nächte weniger kalt. Bonn ist ein Paradies, selbst aus einem Kellerloch betrachtet. Alexej sitzt auf Vincents Schultern und genießt die Perspektive aus der Höhe. Sie gehen an der viel befahrenen Reuterstraße entlang und gelangen bald an einen Spielplatz. Der Kleine will herunter von Vincent und zur Rutsche. Die beiden Männer nehmen auf einer Bank Platz. Vince sieht sich um. Außer ihnen sind nur Frauen mit Einkaufstüten und praktischen Taschen für Kindersachen da, die einige Minuten ruhigen Sitzens genießen, aber immer mit einem angenervten Mutterblick. Alex winkt ihnen zu, will, dass sie ihm zusehen, wenn er heruntersaust.
Arthur sagt: »Ich habe ihn aus dem Kindergarten abholen müssen. Seine Mutter war kurzfristig verhindert.«
Vince nickt und tut so, als würde er darüber nachdenken oder gar eine Ahnung davon haben, was es für ein im Streit geschiedenes Paar bedeutet, sich ungeplant und ad hoc über die täglichen Pflichten der Kinderbetreuung einig werden zu müssen.
Arthur spricht weiter: »Dabei habe ich eigentlich gar keine Zeit. Letzte Nacht wurde am Straßenstrich ein Mädchen ermordet. Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren. Und ich muss idiotischerweise jetzt warten, bis meine Holde von einem Ich-will’s-gar-nicht-wissen-Termin zurück ist.«
»Ein Mord?«
»Ja. Eine verdammt junge Hure. Wurde an der Immenburgstraße gefunden. Kennst du das Gelände?«
Vince nickt. »Klar. Ich bin Bonner.«
»Wie gut kennst du dich da aus?«
»War schon da, wenn du das meinst.«
Arthur sieht ihn von der Seite streng an. »Wenn es möglich wäre, dass wir an oder in dem toten Mädchen auch deine DNA finden, solltest du es lieber gleich sagen.«
Vince lächelt freudlos. »Nein, in letzter Zeit war ich nicht dort. Es war überhaupt nur einmal, und ich will’s nicht wieder tun.«
»Aber du hast es dir da schon mal besorgen lassen?«
Vince nickt, und Arthur sieht, dass es dem jungen Mann tatsächlich peinlich ist.
»Verdammt noch mal, wenn dir eine süße Maus für fünfundzwanzig Mücken ohne Gummi einen bläst, ist das schon eine Versuchung.«
Arthur krault seinen grauen Bürstenschnitt. »Denke schon. Wenn man das Elend nicht sieht. Vielleicht bist du zu jung dafür. Ich gönne es dir. Irgendwie.«
Vince blickt erschrocken auf. »Sie war keine Drogennutte, wenn du das meinst. Sie sah sehr sauber und gesund aus. Es war eine hübsche Schwarze, und ganz sicher war sie volljährig. Mit einer kleinen drogenabhängigen Schülerin hätte ich bestimmt nicht ...«
Arthur legt Vincent eine Hand auf den Arm, dessen Muskeln vor Anspannung ganz hart sind. »Schon gut«, sagt er dann. »Bei einer Farbigen sieht man die Einstiche nicht so wie bei einer Weißen. Aber vielleicht war sie wirklich clean, wer weiß das schon.«
»Ich war einsam«, meint Vince nach einer langen Pause, und damit ist für ihn alles gesagt.
Arthur fügt noch eine Frage an: »Und? Hat es deine Einsamkeit gelindert?«
Vincent antwortet nicht, aber sein müder Blick sieht aus wie ein Kopfschütteln. Arthur will ihn nicht weiter quälen. Er ist alt und erfahren genug, um zu wissen, dass niemand den Dreck hinter den notdürftig aufrechterhaltenen Fassaden sehen will. Oft sind nicht einmal Fassaden notwendig. Nichtsehenwollen reicht.
Das Lachen seines Sohnes erinnert ihn daran, wie porös auch seine Fassade ist. Er ist eigentlich viel zu alt für so ein kleines Kind, könnte der Großvater sein. Sowohl die Beziehung zu der Mutter wie auch die Zeugung war ein Unfall. Und dann war da noch dieser andere Unfall. Ein unüberlegter Schuss, ein toter junger Mensch, der keine Waffe bei sich trug. Auszeit. Therapie. Dort hatte er Vince kennengelernt. Ein Kerl wie ein Baum, nicht mal halb so alt wie er selbst, doch innerlich mehr als zerbrechlich. Und er hat mehr getötet, als für einen Menschen gut sein kann. Arthur fühlt sich für den jungen Mann verantwortlich, und das ist mehr als nur ein unbestimmtes Gefühl. Dieser große Kerl, der abgesehen von seiner hünenhaften Gestalt so unscheinbar wirkt, hat schreckliche Dinge erlebt. Und er hat diese Dinge nicht nur gesehen. Er ist auch Täter. Einer, der niemals zur Rechenschaft gezogen werden wird, weil er für sein Land getötet hat. Oder wofür auch immer, wer weiß das schon in dieser verrückten Zeit? Arthur schaut auf die Uhr. Er ist nervöser, als ihm lieb ist. Verdammt, er muss zu seinem Team. Die ersten vierundzwanzig Stunden sind die wichtigsten in einer Mordermittlung, und er sitzt auf einem Spielplatz in Poppelsdorf und wartet auf den Anruf seiner Exfrau. Und er ist hundemüde.
Es erscheint ihm als Erleichterung, wieder in seinem Zimmer zu sitzen, nachdem der Kommissar und sein Sohn abgezogen sind. Und kaum ist Vince mit sich allein, hofft er auf Ablenkung. Er nimmt zum hundertsten Mal die Visitenkarte dieser Frau in die Hand, dreht sie hin und her, als könne er dem Stück Pappe noch irgendetwas entlocken, was es ihm bis jetzt vorenthalten hat. Nadja Metzmacher. Diskretion und Sicherheit. Mehr nicht. Vincent kann immer noch nichts davon mit dieser Frau in Übereinstimmung bringen. Aber er muss wissen, was sie mit ihm vorhat. Und er braucht einen Job. Das Übergangsgeld der Bundeswehr reicht nicht ewig. Aber das ist es nicht. Er will gebraucht werden, zu etwas nütze sein.
So viel wenigstens ist ihm klar.
Er wird zu dieser Frau gehen. Am besten jetzt gleich. Dann kommen Zweifel. Aber warum nicht jetzt gleich? Vince wandert unruhig in seinem Kellerloch auf und ab, versucht zu denken. Aber was denken? Nerven beruhigen. So kann er nicht zu ihr gehen. Er nimmt die P12 aus der Schublade, geladen und entspannt, nicht vorschriftsmäßig, aber scheiß drauf. Das Magazin fasst zwölf Patronen des Kalibers .45 ACP, Unterschallmunition. Schalldämpfer abschrauben, Magazin entnehmen, Verschluss entriegeln und abziehen. Komplett zerlegen und zusammensetzen. Wieder zerlegen, ölen, zusammensetzen. Das beruhigt. Die Augen schließen und auf den Rücken legen. Wieder zerlegen, jedes Einzelteil hat auf dem Oberkörper einen bestimmten Platz. Zusammensetzen.
Vince weiß, dass er dies bei vollständiger Dunkelheit und unter Beschuss in weniger als einer Minute schafft. Er fühlt sich besser, sicherer. Die Waffe verschwindet wieder in der Schublade. Nun ist er bereit. Noch einmal nimmt er die Visitenkarte zur Hand. Eine Adresse in Beuel. Andere Rheinseite. Eigentlich hat er keine Lust, schon wieder die Straßenbahn zu bemühen. Vielleicht ist die XT 500 wieder einsatzbereit. Er gibt sich einen Ruck und geht ins Treppenhaus. Mit jedem Schritt wird es heller. Die alte, aber gepflegte Holztreppe knarzt unter seinen Füßen. In der zweiten Etage angekommen, klingelt er bei Hans.
»Hi, Vince.«
»Hi.«
»Was geht?«
»Weiß nicht. Die XT?«
Hans lächelt. »Hab ich eben fertig gemacht. Läuft wie ’ne Eins. War nur der Vergaser verstopft. Willste fahren?«
»Muss.«
»Okay.« Hans geht nach hinten, kommt nach wenigen Sekunden mit dem Schlüssel zurück. Vincent nimmt den Schlüssel und wendet sich zum Gehen. »Ach so – was kriegste dafür?«
Hans zuckt mit den Achseln. »Lass mal. Hab gern was gut bei dir.«
»Nee, komm. Im Ernst.«
»Okay. Was hältste von ’ner Karte fürs nächste Football-Spiel?«
»Kriegst ’ne Jahreskarte für die Gamecocks.«
»Cool.« Hans weiß sicher, dass Vincent diese Karte keinen Cent kostet. »Die Kiste steht umme Ecke, wie immer.«
»Dank dir.«
Vince eilt die Treppe hinunter, holt Helm, Handschuhe und Lederjacke. Als er wenig später auf der Yamaha sitzt und den Kickstarter betätigt, fühlt er sich besser. Das harte Klopfen des Einzylinders unter ihm gibt ihm Sicherheit.
Es ist immer noch warm. Fahren mit offener Jacke. Viel los in der Stadt. Mit der XT braucht es nur wenige Minuten von Poppelsdorf bis Beuel. Als er die Maschine abgestellt hat, fühlen sich die Knie auf den wenigen Metern bis zum Eingang wieder weich an. Das Gebäude sieht aus wie eine Lagerhalle. Er sieht auf die Türkamera, durch die er gerade vermutlich schon bemerkt worden ist, atmet tief durch und klingelt.
Der Summton bedeutet ihm nur einen kurzen Augenblick später, die Tür aufzudrücken. Er tritt ein.
Der Lagerhalleneindruck verstärkt sich. Ein weiter Raum, Trainingsgeräte, der Hummer. Kein Mensch zu sehen. Ein Schild mit der Aufschrift Büro. Er folgt dem Pfeil, der darauf abgebildet ist. Ein dunkler Gang, den er mit zögernden Schritten durchmisst. Wieder eine Tür, Milchglas. Er klopft an und horcht.
»Komm rein, Vincent!«
Die Stimme ist ihre. Wieder diese helle Betonung des »e«.
Vince holt nochmals tief Luft, fühlt sich bereit.
Die Frau steht an einem Schreibtisch, lässig vornübergebeugt, einen aufgeklappten Laptop vor sich. Camouflage-Hose, ein weißes ärmelloses Bundeswehr-T-Shirt, Schweiß auf der Haut. Die schwarzen Locken werden durch ein dünnes Haarband daran gehindert, in die Stirn zu fallen. Vince bemerkt sofort ein paar Narben auf Schultern und Oberarmen, auch auf der Brust, oberhalb des Adleremblems, das mittig auf dem Shirt sitzt.
»Ist Büroarbeit so schweißtreibend?«, versucht er den Einstieg. Hintergründiges Lächeln ihrerseits. »Hier stelle ich die Fragen, Soldat«, erwidert sie. »Wer viel weiß, wird schnell alt.«
Er kennt den Spruch nicht, nickt aber, findet keine Fortsetzung.
»Du überlegst also, für mich zu arbeiten, Vincent.«
Er nickt schweigend, würde gerne stattdessen etwas Relativierendes sagen, weiß aber nicht, was. Sie klappt den Laptop zu und setzt sich, ohne ihm ebenfalls einen Stuhl anzubieten. Unschlüssig steht Vince da, eine Hand auf der Lehne des Bürostuhls, der auf seiner Seite des Schreibtischs steht. Als er sich endlich anschickt, ebenfalls Platz zu nehmen, weil er meint, das wäre angebracht, sagt die Frau: »Du kannst gleich stehen bleiben.«
Er sieht sie verwundert an. Dann zwingt er sich zu fragen: »Was meinst du – Nadja?«
Er zögert, die Frau zu duzen und mit ihrem Vornamen, den er nur von der Visitenkarte kennt, anzusprechen. Aber alles andere würde ihm jetzt nur allzu dumm vorkommen. Sie spürt seine Unsicherheit, lächelt wieder. Dann erwidert sie: »Niemand nennt mich Nadja. Du kannst Nadeschda sagen. Und jetzt zieh dich aus.«
Vince wollte gerade zustimmend nicken, doch bei der letzten Bemerkung zuckt er zusammen. »Was?«
»Natürlich. Musterung. Das kennst du, mein kleiner großer Soldat.«
»Du meinst …?«
»Ja.« Nadeschda grinst. »Come on, steh hier nicht so rum. Du brauchst mir keinen Lebenslauf vorzubeten. Ich weiß schon viel mehr von dir, als du ahnst. Aber richtig anschauen muss ich dich!«