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Anmerkung: Zur Vereinfachung und besseren Lesbarkeit wird im Folgenden auf gendergerechte Sprache verzichtet. Wenn von Politikern, Lesern, Wählern usw. die Rede ist, sind selbstverständlich Politiker*innen, Leser*innen, Wähler*innen usw. gemeint.

  

Originalausgabe

Veröffentlicht im Carlsen Verlag

Januar 2018

Copyright © 2018 Carlsen Verlag GmbH, Hamburg

Lektorat: Wiebke Andersen-Oberschäfer

Faktencheck: Kathrin Lilienthal, Recherchehaus

Umschlagabbildungen: shutterstock.com © grmarc (142862089)/ © formlabor

Umschlaggestaltung: formlabor

Herstellung: Frederik Rettberg

Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-646-92822-8

 

Einleitung

»Volksverräter«1, »Lügenpresse«2 und »Mischvölker«3. »Kanzlerdiktatorin«4, »Terrorkanzlerin«5 und »Regime«6: Seit einigen Jahren sind Wörter wie diese offenbar normal in Deutschland. Politiker und Bürger werfen mit ihnen um sich, als wäre Deutschland keine Demokratie, sondern eine Diktatur. Wie konnte das passieren?

Der Aufstieg von Populisten hat unsere Gesellschaft und die Politik nachhaltig verändert. Und das gilt nicht nur für Deutschland. Ein Populist, Donald Trump, regiert als Präsident der USA eine Supermacht. Auch in Ungarn, Griechenland und anderen Ländern sitzen Populisten in der Regierung. Ohne den Einfluss von Populisten hätte sich Großbritannien wohl auch nicht für den Brexit entschieden, also den Austritt aus der Europäischen Union.

In einigen Jahrzehnten wird man vielleicht von unserer Zeit als dem Zeitalter des Populismus sprechen. Die Folgen der Flüchtlingskrise, Donald Trumps Wahlsieg und der Brexit: Die größten politischen Themen der vergangenen Jahre haben nicht nur viel mit Populismus zu tun. Sie sind nicht einmal zu erklären, ohne dass man versteht, wie Populismus funktioniert. Aber was genau verbirgt sich hinter diesem Begriff?

Der Begriff Populismus7 kommt von dem lateinischen Wort populus für Volk. Populisten behaupten nämlich, als Einzige das Volk, die »schweigende Mehrheit« zu vertreten. Sie schimpfen deshalb gerne auf andere Politiker, bezeichnen sie als abgehoben, kriminell oder als »Volksverräter«. Auch Journalisten gegenüber sind Populisten nicht zimperlich: Manche nennen Medien zum Beispiel »Feinde des Volkes« oder beschimpfen sie pauschal mit dem Wort »Lügenpresse«.

Populisten vereinfachen komplexe Themen wie zum Beispiel Kriminalität, Einwanderung oder den Klimawandel sehr stark. Sie bieten dafür schnelle, scheinbar simple Lösungen an, meist in sehr reißerischen Worten. Aus ihrer Sicht gibt es nämlich oft einen klaren Schuldigen: Ausländer zum Beispiel, die Europäische Union, die Medien, die Banken oder einfach »die Eliten«.

Besonders demokratisch klingt das alles nicht. Dennoch haben in vielen Ländern, etwa in Frankreich, den USA, Großbritannien, Ungarn, Österreich und auch in Deutschland, Millionen von Menschen für Populisten gestimmt. Was treibt sie und ihre Wähler an? Müssen wir vor Populisten Angst haben? Oder kann eine Demokratie von Populisten profitieren? Woran erkennt man es überhaupt, wenn ein Politiker populistisch redet? Und warum gibt es derzeit so viele von ihnen?

All diese Fragen sollen in den nächsten Kapiteln beantwortet werden. Am Ende muss dann auch die vielleicht wichtigste Frage geklärt werden: Nämlich die, wie man Populisten am besten begegnet. Denn Populismus, so viel sei schon vorweggenommen, ist tatsächlich eine Gefahr für unser demokratisches System.

Demokratie ist nicht nur eine Staatsform, sondern auch eine ständige Herausforderung. Demokraten sollten nicht nur alle paar Jahre wählen gehen. Sie sollten sich auch zwischen den Wahlen wie Demokraten verhalten. Dass viele von uns – Politiker, Bürger, Journalisten – ihre Hausaufgaben in den vergangenen Jahren nicht gut gemacht haben, ist ein entscheidender Grund dafür, dass der Populismus derzeit so verbreitet ist – und dieses Buch entstand.

KAPITEL EINS

Das Zeitalter des Populismus

Demokratie ist also: Jeder kann seine Überzeugungen haben, die Fakten werden schon mit ihnen fertig.1

Roger Willemsen, Publizist

Treffen sich eine Französin, ein Niederländer, eine Deutsche und ein Italiener in einer der reichsten Demokratien der Welt. Wir schreiben das Jahr 2017. Sagt die Französin: »Alle Völker Europas sind einer Tyrannei unterworfen!«2 Sagt der Niederländer: »Wir werden uns befreien und unsere Länder wieder groß machen.«3 Sagt die Deutsche: »Europa wird die Europäische Union nicht länger dulden.«4 Sagt der Italiener: »Es leben die Nationalisten!«5 Tosender Applaus.

Da fehlt die Pointe? Klar. Es ist ja auch kein Witz. Was hier beschrieben wird, hat sich im Januar 2017 wirklich ereignet, in der Rhein-Mosel-Halle in Koblenz. An diesem frostigen Tag im Winter trafen zum ersten Mal die wichtigsten Rechtspopulisten Europas zusammen.6

Der Niederländer: Das ist Geert Wilders, verurteilt wegen Volksverhetzung.7 Die Französin: Das ist Marine Le Pen, die die Todesstrafe wiedereinführen wollte. Der Italiener: Das ist Matteo Salvini, der andere Politiker »Parasiten«8 und »Verräter«9 nennt. Die Deutsche: Das ist Frauke Petry, die das Wort »völkisch«, bekannt etwa durch die Nazi-Zeitung »Völkischer Beobachter«10, gern wieder als normales Wort in der Politik sehen würde.11

Alle vier waren zu der Zeit Vorsitzende einer populistischen Partei in ihrem Land. Die Zitate stammen aus ihren Reden. So erfolgreich wie heute waren Parteien wie die ihren noch nie: Populisten sitzen mittlerweile in fast allen Abgeordnetenhäusern Europas.12

Wenn vor zehn, fünfzehn Jahren in Deutschland die Rede von Populisten war, dann dachte man eher an Menschen wie Franz Müntefering von der SPD. Er war damals Parteichef, bekannt für seine markigen Worte. Müntefering kritisierte im Jahr 2004 Großinvestoren, denen es nur um schnellen Profit ging, als »Heuschrecken«. Wörtlich nannte er sie »verantwortungslose Heuschreckenschwärme«13. Kritiker warfen ihm danach Populismus und Hetze vor.14

Auch Horst Seehofer, der Vorsitzende der CSU und Ministerpräsident von Bayern, ist schon seit vielen Jahren bekannt für seine populistischen Wahlkampfreden. Zum Beispiel schimpfte er gern darüber, dass das reiche Bayern andere Bundesländer mit Zahlungen durchfüttern müsse.15 Dabei war Bayern lange Zeit ein eher armes Bundesland, das auf das Geld anderer Bundesländer angewiesen war.16 Und so gab es prompt Kritik, Seehofer würde es sich ein wenig zu einfach machen. Viele warfen ihm Populismus vor.

»Populismus« war in diesen Zusammenhängen immer als Vorwurf gemeint. Weder Seehofer noch Müntefering würden sich wohl allzu gerne als Populisten sehen. Volksnah, ja, das schon. »Mit dem Ohr ganz nah am Volk«, wie man so sagt. Einer, der redet, »wie ihm der Schnabel gewachsen ist«, und das ausspricht, was das Volk hören will. Mehr Bierzelt als Doktorarbeit eben.

Diese Art von Populismus gehört zur Demokratie dazu wie das Wahlplakat und der Sitz im Parlament. Alle Politiker möchten ja gerne von den Bürgern verstanden werden. Deshalb meiden sie Fremdwörter, erklären sich in Talkshows und formulieren eingängige Wahlkampf-Slogans. Je einfacher und griffiger, desto besser. Einige schießen dann übers Ziel hinaus – wie Müntefering und Seehofer –, andere lassen ein paar Fakten weg und machen ihre Aussagen so zumindest missverständlich. Populismus ist eine Technik, die alle Parteien gelegentlich anwenden, in mehr oder weniger starkem Maße.

Auch Medien tragen zu einem gewissen Populismus in der Politik bei.17 Boulevardzeitungen wie etwa die BILD erscheinen mit großen, reißerischen Überschriften auf ihrer Titelseite. Je emotionaler, je skandalöser die Geschichte, desto besser. Für Feinheiten ist in dieser Welt der Großbuchstaben oft kein Platz. Das führt dazu, dass sich Politiker selbst gerne populistisch äußern, um in die Schlagzeilen zu kommen (»Politiker fordert: Kriminelle Ausländer raus!«, »Banken enteignen!«). Die Grenzen zwischen Popularisierung, also einer manchmal nötigen Vereinfachung, und Populismus sind eben fließend.

Seit geraumer Zeit aber wächst in vielen Ländern der Welt ein anderer, radikalerer Populismus heran. Von ihm handelt dieses Buch. Es ist ein Populismus, der die Welt aufteilt in ein »Wir« (die Guten) und ein »Die« (die Bösen). Die Vereinfachung von politischen Problemen ist bei diesem Populismus nicht nur ein Mittel, um beim Wähler zu punkten. Begriffe wie »Heuschrecken« sind bei ihm keine Ausrutscher und kein taktisches Mittel. Sie sind eine Strategie.

Für die meisten Menschen hat das Wort Populismus einen negativen Klang. Doch viele moderne Populisten tragen den Vorwurf mit Stolz, als wäre er ein Orden. Konrad Adam etwa, einer der Gründer der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD): Er rief auf dem ersten Parteitag dazu auf, »den Vorwurf des Populismus als Auszeichnung zu betrachten«. Man solle »alle Welt daran erinnern, dass die Demokratie insgesamt eine populistische Veranstaltung ist, weil sie das letzte Wort dem Volk erteilt: dem Volk, wie gesagt, nicht seinen Vertretern«18.

Auch die Französin Marine Le Pen, Chefin des rechtspopulistischen Front National, hält den Begriff »Populistin« für ein Ehrenabzeichen: »Wenn [Populist sein] heißen soll, dass man sich um das Volk kümmert und das Volk ins Zentrum der politischen Debatte stellt, dann, ja, dann bin ich Populistin. Danke für dieses Kompliment.«19 Klarer hätte sie es kaum sagen können.

Schauen wir uns nun beispielhaft einige populistische Parteien in Europa an.

NIEDERLANDE

Mit seinen wasserstoffblonden Haaren ist der Niederländer Geert Wilders der vielleicht auffälligste Populist Europas. Aber auch mit seinen fremdenfeindlichen Äußerungen macht er von sich reden. Seine »Partei für die Freiheit«, auf Niederländisch Partij voor de Vrijheid (PVV), gründete er 2006. Seither provoziert er gerne und häufig. Er will zum Beispiel den Koran als Buch verbieten lassen20 und das Europäische Parlament abschaffen.21 Wilders forderte auch, eine »Kopftuchsteuer« für Musliminnen von 1000 Euro pro Jahr einzuführen.22 Den Islam hält er nicht für eine Religion; er vergleicht ihn lieber mit Faschismus und Kommunismus.23

Mit der Demokratie in der eigenen Partei nimmt es Wilders allerdings nicht so genau. Er ist nicht nur der Vorsitzende seiner Partei, sondern auch ihr einziges Mitglied.24 Die Kandidaten für Wahlen nominiert er allein, die Parteiprogramme verfasst er weitgehend selbst.25

Ergebnis bei der Wahl 2017: 13,1 Prozent, zweitstärkste Partei der Niederlande.

FRANKREICH

Marine Le Pen ist die derzeit wohl dienstälteste Populistin in Europa, und die erfolgreichste noch dazu. Jeder dritte Wähler stimmte bei der Präsidentschaftswahl 2017 in Frankreich im zweiten Wahlgang für sie. 2011 übernahm sie den Vorsitz der Partei »Front National« von ihrem Vater. Er war als Rechtsextremist bekannt. Aus dem rechtsradikalen Front National machte Marine Le Pen in wenigen Jahren das Flaggschiff des europäischen Populismus. Der Front National wehrt sich gegen eine »Islamisierung Europas«. Le Pen setzt sich für einen Austritt aus dem Militärbündnis Nato ein26 und wollte lange Zeit das Volk über die Einführung der Todesstrafe entscheiden lassen.27

ITALIEN

Beppe Grillo ist eigentlich Komiker. Doch weil er als Bürger die Korruption in seinem Land leid war, ging er selbst in die Politik. Im Jahr 2009 gründete er die »Fünf-Sterne-Bewegung«.28 Heute hetzt Grillo gegen das politische System als Ganzes, also nicht nur gegen einzelne Politiker. Eine Zusammenarbeit mit anderen Parteien lehnt er vehement ab. In zwei der größten Städte Italiens – Rom29 und Turin30 – stellt die Fünf-Sterne-Bewegung sogar jeweils die Bürgermeisterin.

Ergebnis bei der letzten landesweiten Wahl im Jahr 2013: rund 25 Prozent, drittstärkste Partei.31

SPANIEN

»Wir können das« ist nicht nur der Wahlspruch der spanischen Partei »Podemos« – es ist auch die wörtliche Übersetzung ihres Namens. Podemos wurde erst 2014 gegründet, geht aber aus einer älteren Protestbewegung hervor. Die Linkspopulisten kritisieren vor allem die Sparpolitik der EU in Spanien. Der Parteichef Pablo Iglesias Turrión ist bekannt für seine markigen Worte. Einen politischen Gegner bezichtigte er schon, eine »Marionette der Mächtigen«32 werden zu können.

Ergebnis bei der Wahl 2016: 21,1 Prozent, drittstärkste Partei.33

GRIECHENLAND

Seit 2015 wird Griechenland von einer ungewöhnlichen Kombination regiert: »Syriza« und »Anexartiti Ellines« (auf Deutsch »Unabhängige Griechen«).34 Syriza ist ein Bündnis linker und linksradikaler Parteien. Die »Unabhängigen Griechen« hingegen sind Rechtspopulisten. In Deutschland wäre das in etwa so, als würde die rechte Alternative für Deutschland (AfD) mit der Linken zusammenarbeiten. In der Parteizeitung von Syriza erschien 2015 eine Karikatur des damaligen deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble. Sie zeigt ihn in Wehrmachtsuniform als Nazi-Soldaten, der die Griechen zu Asche verbrennen und aus ihrem Fett Seife machen will.35

DEUTSCHLAND

Die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) wurde ursprünglich im Jahr 201336 als Reaktion auf die Euro-Krise gegründet. Seit Hunderttausende Asylsuchende nach Deutschland zogen, hat sie sich radikalisiert. Mehrere ranghohe Mitglieder der Partei fielen durch rechtsradikale Aussagen auf. Der heutige AfD-Bundestagsabgeordnete Markus Frohnmaier etwa forderte im Juli 2016, für die nächsten Jahre dürfe es »keinen einzigen ausländischen Muslim geben, der nach Europa kommt«37.

Ergebnis bei der Bundestagwahl 2017: 12,6 Prozent.38

Die Liste könnte man noch lange weiterführen. Auch in Ländern wie Schweden, Österreich oder Norwegen gibt es Populisten. In Ungarn, Polen und der Slowakei sitzen sie sogar in der Regierung. Allgemein kann man sagen: Im Süden Europas, in Spanien, Griechenland und Italien, blüht der linke Populismus. Die Arbeitslosigkeit in diesen Ländern ist hoch, die Staaten sind seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 stark verschuldet.39 Bei vielen Menschen in Südeuropa hat sich dadurch der Eindruck verstärkt, politische Eliten wollten ihnen schaden. Zu den Eliten zählen sie zum Beispiel Politiker, große Unternehmen und Banken in ihrem Land, die Europäische Union oder den globalen Finanzmarkt.40

Im reicheren Norden Europas und in den USA gedeiht vor allem der rechte Populismus. Viele Menschen nehmen hier Ausländer, allen voran Flüchtlinge, als Bedrohung wahr. Als Fremde, die den Einheimischen ihren Wohlstand wegnehmen wollen. Gefragt, ob sie eher ein weltoffenes Land oder eine Betonung nationaler Grenzen bevorzugen, antworteten 85 Prozent der AfD-Wähler 2017: nationale Grenzen.41

Die Ablehnung der modernen Rechtspopulisten richtet sich deshalb nicht nur gegen »die da oben«, sondern auch gegen Fremde. Populistische Politiker wollen ganz bewusst ausgrenzen, Ängste schüren und oft sogar Verachtung erzeugen. In den deutschsprachigen Ländern haben rechte Populisten weit mehr Erfolg als linke. Deshalb ist ihnen der Großteil dieses Buchs gewidmet.

Ob links oder rechts, ob in Europa oder den USA: Außer ihrem Erfolg haben diese Populisten noch einiges mehr gemeinsam. Die wichtigsten Merkmale werden im nächsten Kapitel erklärt.