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Der neue Sonnenwinkel
– 15 –

Roberta schwebt auf Wolke 7

Irrungen, Wirkungen und so viel Sehnsucht

Michaela Dornberg

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-389-1

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Inge Auerbach hatte sich die Worte ihrer Ärztin, Frau Doktor Roberta Steinfeld, sehr zu Herzen genommen und versuchte, ihren Alltag wieder in den Griff zu bekommen. Nicht nur den, sondern ihr Leben insgesamt.

Und sie war ganz stolz auf sich, dass sie das allein in den Griff bekam und nicht auf die blauen Pillen zurückgreifen musste, die die Frau Doktor ihr für alle Fälle mitgegeben hatte.

Natürlich war es bitter, dass ihre über alles geliebte Jüngste nichts mehr von ihr und Werner wissen wollte. Das war nichts, was man einfach so beiseiteschieben konnte. Aber Inge war ehrlich genug, sich zu sagen, dass es einzig und allein ihre eigene Schuld war.

Es war schon verrückt. Sie und Werner hatten es immer wieder hinausgeschoben, ihrer Kleinen zu sagen, dass sie adoptiert war. Zum Teil lag das daran, dass Bambi, die nur noch Pam genannt werden wollte, sich so sehr als eine waschechte Auerbach gefühlt hatte, zum Teil war es auch Feigheit gewesen. Wie auch immer, das Kind war in den Brunnen gefallen, und der Schuss war nach hinten losgegangen.

Wie hatten sie auch ahnen können, dass ihr streng gehütetes Geheimnis einmal so ganz nebenbei ausgeplaudert werden konnte, und dass ausgerechnet ihre Kleine es mit anhören musste. Nein! Daran wollte Inge nicht mehr denken, es brach ihr auch jetzt noch beinahe das Herz.

Aber heute war ein guter Tag, und das lag auch daran, dass draußen die Sonne schien und ihre Eltern von nebenan zum Kaffee herübergekommen waren, und selbst Werner hatte sich Zeit genommen und war aus seinem Arbeitszimmer herausgekommen, Professor Werner Auerbach mochte seine Schwiegereltern sehr. Und eigentlich war er es auch gewesen, der Magnus und Teresa von Roth in den Sonnenwinkel geholt hatte, als von Carlo Heimberg die Siedlung gebaut worden war.

Ja, es war schon merkwürdig, dass sie jetzt alle hier wohnten. Sie hatten nichts geplant, es hatte sich einfach so ergeben, es hatte sich richtig angefühlt. Und es hatte sich alles zum Besten gefügt.

Ihre Ricky hatte sofort am ersten Tag ihres Hierseins den Mann ihres Lebens kennengelernt. Sie waren verheiratet und nun erwarteten sie noch ein weiteres Kind. Die anderen Kinder waren Wunschkinder gewesen, das neue Baby hatten sie nicht geplant, aber sie freuten sich unbändig und betrachteten es als ein Geschenk des Himmels. Ja, so waren sie, ihre Ricky und deren Fabian, der der Direktor eines etablierten Gymnasiums war.

Und dass dann ihr Jörg auch noch Fabians Schwester Stella geheiratet hatte, das fühlte sich auch gut an, wenngleich es bei den beiden Liebe auf den zweiten Blick gewesen war. Auch sie harmonierten wundervoll zusammen, und ihre Kinder waren nicht nur deren großes Glück.

Die Auerbachs waren hingebungsvolle Großeltern, und die Urgroßeltern standen ihnen in nichts nach.

Und dann Hannes, der hatte es genossen, im Sonnenwinkel aufzuwachsen. Dennoch hatte es ihn nach dem Abitur in die Ferne gezogen. Die Weltreise hatten sie ja noch verstanden, doch dann waren sie davon ausgegangen, dass Hannes anfangen würde zu studieren. Mit einem Abitur 1,0 standen ihm alle Tore offen, sogar die ehrwürdige Columbia Universität in New York hatte mit einem Stipendium gelockt.

Hannes war zurückgekommen, aber nicht, um zu studieren, sondern er war nach Hause gekommen, um seinen Eltern zu eröffnen, dass er mit seinem australischen Freund Steve Wymark in Australien eine Surf- und Tauchschule übernehmen wollte.

Inge und Werner waren aus allen Wolken gefallen, doch da Hannes volljährig war, konnten sie nichts unternehmen, sondern nur darauf hoffen, dass er sich irgendwann besinnen und anfangen würde zu studieren.

Tja, und Bambi, Pamela, Pam …

Sie und Hannes waren seit ihrer Kindheit sehr eng miteinander, und es war ein großes Glück, dass Hannes aus Australien gekommen war, um die Kleine zu sich zu holen, Hannes war der Einzige, dem sie noch vertraute, und es war schon sehr verantwortungsbewusst von ihm gewesen, seine kleine Schwester nicht nur nach Australien zu holen, sondern auch dafür zu sorgen, dass sie dort in die Schule kam, und dass Mrs Brewster, die Direktorin der Schule, ein Auge auf die Kleine hatte.

Es hätte sie alles viel schlimmer treffen können. Aber wenn man sich zwischen Pest und Cholera entscheiden musste, dann war beides schlimm.

Die heile Welt der Auerbachs hatte einen tiefen, breiten Riss bekommen, und so etwas traf jemanden, der so harmoniesüchtig wie Inge Auerbach war, besonders hart. Ihre Kleine und sie waren so eng miteinander gewesen!

Jetzt hatte sie sich doch in ihre Gedanken verloren, aus denen ihre Mutter sie riss.

»Inge, träumst du?«, erkundigte Teresa von Roth sich. »Ich habe dich jetzt bereits dreimal gefragt, ob du weißt, wer in das Haus der Schneiders zieht.«

Inge riss sich zusammen.

»Mama, keine Ahnung. Ich weiß nur, dass sie es verkauft haben, weil es ihnen zu groß war und zu viel Arbeit machte. Und ihre Kinder wollten nicht hierher ziehen, die fühlen sich in der Großstadt wohler.«

»Ricky hätte ihr Haus auch verkaufen sollen«, bemerkte Werner. »Fabian hat seinen Job in der Stadt, die Kinder haben ihre Freunde, Jörg und Stella wohnen in der Nähe. Sie werden auf keinen Fall wieder hierher in den Sonnenwinkel kommen, und es war doch geplant zu verkaufen. Ich weiß wirklich nicht, warum Ricky sich auf einmal entschlossen hat, an diese Frau mit Tochter zu vermieten. Fabian hätte ihr nicht die Entscheidung überlassen sollen. Ricky ist manchmal zu emotional.«

»Werner, jeder hat seine Gründe für seine Entscheidungen«, bemerkte Magnus von Roth. »Und ich finde es überhaupt nicht so verkehrt, eine Immobilie zu behalten. Alles ist beliebig zu vermehren, Grund und Boden nicht. Bei der Bank gibt es keine Zinsen, wohin also mit dem Geld.«

»Diese Frau Schulz macht keinen Ärger, und die Tochter Leonie ist ein ganz reizendes Mädchen. Ich habe sie jetzt ein paarmal mit Manuel Münster gesehen. Der ist sicherlich froh, einen Ersatz für unsere Pamela zu haben. Die beiden waren ja ein Herz und eine Seele, und Manuel hat es ziemlich getroffen, dass Hannes nicht mehr hierher zurückkommen wollte und nun auch Pam weg war. Australien ist ja nicht gerade um die Ecke.«

»Die Kleine ist wirklich sehr nett«, gab Inge zu, »aber die Mutter, ich weiß nicht. An die kommt man irgendwie nicht ran, selbst als ich ihr Brot und Salz zum Einzug brachte, war sie abweisend. Sie hätte mich ja nicht umarmen müssen, aber so, wie sie drauf war, hatte ich schon ein schlechtes Gewissen, weil ich mir wie ein Eindringling vorkam.«

»Die Menschen sind halt unterschiedlich«, sagte Teresa.

»Wir wissen nichts über sie. Vielleicht trauert sie um jemanden, vielleicht hat sie andere Probleme. Wir wissen es nicht. Was wir wissen ist, dass sie pünktlich ihre Miete zahlt, dass sie das Haus und den Garten in Ordnung hält, nicht herumrandaliert. Wir sind doch auch keine Leute, die an jeder Ecke herumstehen und tratschen. Wenn sie das Bedürfnis nach Gesellschaft hat, braucht sie nur auf den Wochenmarkt zu gehen, da kann sie ohne Ende reden.« Teresa lachte. »Ich denke, dieses Thema müssen wir nicht mehr vertiefen. Auch wenn es mir Hüftgold bescheren wird, esse ich jetzt noch ein Stück von diesem köstlichen Kuchen.«

Jetzt musste Inge herzhaft lachen.

»Mama, was war das jetzt? Fi­shing for compliments? Du bist gertenschlank, und daran wird sich auch nichts ändern, wenn du alles in dich hineinstopfst, was dir in die Finger kommt. Warum hast du mir deine Figur nicht vererbt?«

Magnus von Roth mischte sich ein. »Du kommst halt ganz auf deine Großmutter. Aber beklage dich mal nicht, du bist eine tolle Frau, und das sage ich jetzt nicht, weil du meine Tochter bist. Oder was meinst du, Werner?«

»Inge ist das Beste, was mir in meinem Leben passieren konnte«, sagte Werner Auerbach und warf seiner Frau einen verliebten Blick zu. Ja, verliebt war er noch immer in seine Inge, und daran würde sich niemals etwas ändern. Ihr hatte er es zu verdanken, dass er trotz Familie eine so grandiose Karriere machen konnte. Wohin sein beruflicher Weg ihn immer auch geführt hatte, Inge war immer die starke Frau an seiner Seite gewesen.

Und auch hier, im Sonnenwinkel, wo er von zu Hause aus arbeitete, hielt sie ihm den Rücken frei.

Inge gefiel das Kompliment ihres Mannes, doch es machte sie auch ein wenig verlegen, deswegen erkundigte sie sich rasch: »Will noch jemand Kuchen?«

Es gab niemanden, der da jetzt nein sagte. Werner erzählte von seinem nächsten Vortrag, den er in Montevideo halten musste.

»Weiter geht es ja wohl nicht«, lachte Teresa, »was bin ich froh, dass meine Aktivitäten mich nach Hohenborn ins Tierheim führen. Dort ist richtig etwas los, seit Rosmarie Rückert sich dort eingebracht hat. Wer hätte das gedacht.«

»Niemand«, antwortete Werner. »Wenn ich daran denke, wie aufgedonnert sie immer herkam, wie sehr sie nach Äußerlichkeiten lebte. Nun, dass sie endlich eine sinnvolle Aufgabe in ihrem Leben hat, das hat sie dir zu verdanken, Teresa. Du hast sie mit in das Tierheim genommen.«

»Ich glaube, es liegt an Beauty, der kleinen Beagledame. Die beiden haben sich sofort ineinander verliebt.«

»Es ist aber auch ein hübscher Hund«, bemerkte Inge, und das hätte sie jetzt wohl lieber nicht gesagt. Denn Luna, die weiße Labradorhündin, begann beleidigt zu bellen.

Inge beugte sich zu ihr hinunter, streichelte sie.

»Ist schon gut«, sagte sie, »du bist natürlich viel schöner. Du bist die Allerschönste von der ganzen Welt.«

Übertrieben war das nicht, Luna war wunderschön, und Inge versetzte es jedes Mal einen Stich ins Herz, wenn sie daran dachte, dass ihre Eltern mit Pamela ins Tierheim gefahren waren, nachdem Jonny gestorben war. Und auch da war es Liebe auf den ersten Blick gewesen.

Ob Pamela ihre Luna wohl vermisste?

Inge holte ein Leckerli aus ihrer Tasche, gab es Luna, und die legte ihren Kopf auf Inges Schoß und blickte sie so flehentlich an, dass es einem ans Herz gehen konnte.

Auch unter Hunden gab es Staatsschauspieler, und Luna war darin ein Superstar. Man konnte ihr einfach nicht widerstehen, deren Blick konnte jeden erweichen, und so war es überhaupt kein Wunder, dass Inge erneut in ihre Tasche griff und ein weiteres Leckerli hervorholte.

Und dabei störte sie der strafende Blick ihres Ehemannes überhaupt nicht. Teresa und Magnus von Roth blickten zur Seite, enthielten sich jeden Kommentars. Und Inge wusste, warum. Bei denen wäre es nicht bei so wenigen Leckerlis geblieben. Für Luna stand nebenan ein Topf mit den herrlichsten Köstlichkeiten bereit, und man konnte daran fühlen, warum Luna so gern dorthin ging. Labradore hatten viele wunderbare Eigenschaften, aber eine hatten sie ebenfalls, und die war nicht so schön. Sie waren unglaublich verfressen …

*

Es war wirklich eine gesellige Runde, die keiner von den vieren jetzt schon beenden wollte. Und so überlegten die beiden Auerbachs und die beiden von Roths gerade, ob sie noch Karten spielen sollten und wenn ja, welches Spiel.

Sie wurden in ihren Überlegungen jäh unterbrochen, als es an der Haustür Sturm klingelte.

Inge zuckte zusammen.

Es machte den Eindruck, als wolle gerade jemand die Klingel abreißen, und auf diese Weise schellte nur einer, und das war … Nein!

Ihre Gedanken wirbelten durcheinander.

Das konnte nicht sein. Außerdem hatte er sich nicht angekündigt …

Das tat er doch nie.

Inge wusste nicht, was mit ihr geschah, und Werner stand wütend auf.

»Welcher Idiot veranstaltet denn dieses Klingelkonzert? Dem werde ich es zeigen.«

Er lief zur Tür, und während Inge wie gelähmt dasaß und von ihren Gefühlen hin und her gerissen wurde, fanden ihre Eltern es unmöglich, dass jemand so unverschämt sein konnte und klingelte wie ein Irrer.

Teresa wollte gerade etwas sagen, als in der Diele Stimmengewirr erklang. Sie hielt inne, blickte ihre Tochter an.

Inge war kreidebleich geworden. Es konnte doch nicht wahr sein, oder?

Als ihr bewusst wurde, dass sie sich nicht irrte, gab es für sie kein Halten mehr. Sie sprang auf, rannte hinaus in die Diele und blickte hinein in das lachende Gesicht ihres jüngsten Sohnes Hannes.

Der war wirklich für jede Überraschung gut!

Mutter und Sohn fielen sich in die Arme, denn sie waren sehr eng miteinander. Und dann, als Inge begriff, dass es kein Traum war, sondern dass Hannes wirklich vor ihr stand, schob sie ihn ein wenig von sich weg.

Hannes sah großartig aus. Er war so richtig erwachsen geworden. Und wenn er das letzte Mal, nach Rückkehr von seiner Weltreise in Räuberzivil vor ihnen gestanden hatte, mit wilden Haaren und einem noch wilderen Bart, sah er jetzt ganz anders aus. Er trug seine Haare noch immer lang, doch er hatte sie, wie es jetzt bei den jungen Männern, die etwas auf sich hielten, oben auf dem Hinterkopf zu einer Art Dutt zusammengebunden. Es war stylisch, es stand ihm ganz ausgezeichnet, doch bei den Auerbachs waren derartige Eskapaden nicht üblich. Für Werner war es auf jeden Fall gewöhnungsbedürftig, das sah man ihm an. Dass er nichts sagte, lag daran, dass die Freude, seinen Sohn so unverhofft zu sehen, vorrangig war.

Inge konnte sich an Hannes nicht sattsehen. Sein Gesicht war­ schmaler geworden, er war braun gebrannt, sehr viel muskulöser geworden, was bei dem Job, den er in Australien machte, kein Wunder war.

Und er trug einen Anzug, darunter ein T-Shirt.

Er wirkte lässig, er wirkte umwerfend, und das war nicht nur Inges subjektive Meinung. Das sagten auch Teresa und Magnus, die natürlich, angelockt durch die aufgeregten Stimmen, ebenfalls in die Diele gekommen waren.

Hannes warf seine Reisetasche in eine Ecke, dann umarmte er seine Großeltern.

»Omi, du siehst immer jünger aus«, rief er, dann wandte er sich an seinen Großvater, »Opi, pass auf, dass dir nicht jemand diese tolle Frau wegschnappt.«

»Die Sorge musst du dir nicht machen«, lachte Magnus vergnügt, »wir zwei gehören zusammen, und für uns gilt der Satz, bis dass der Tod euch scheidet, so wie wir es uns vor dem Traualtar geschworen haben. Daran halten sich viele junge Leute leider nicht, und die glauben, eine Ehe ist ein Bäumchenwechsel-dich-Spiel. Aber das müssen wir jetzt wirklich nicht diskutieren. Junge, ist das eine Überraschung, dich hier zu sehen, damit hat niemand gerechnet.«

»Ich bin sehr froh, hier zu sein, Opi«, lachte Hannes und ließ seine schönen weißen Zähne blitzen. »Aber der Sonnenwinkel scheint immer mehr zu schrumpfen.«

»Kein Wunder«, rief Werner, »du bist die Weiten Australiens gewohnt.«

Inge rief: »Ich denke, wir sollten nicht länger hier herumstehen, mein Sohn, wie ich dich kenne, hast du Hunger. Also lasst uns in die Küche gehen.«

Luna kam vorgeschossen, begrüßte Hannes. Und obwohl sie ihn doch so lange nicht gesehen hatte, freute sie sich.

Hannes bückte sich hinunter, streichelte sie.