Dieses Buch widme ich zwei Männern in meinem Leben.
Den einen, nach dem ich suchte, fand ich, und den anderen, den ich mir wünschte, bekam ich geschenkt.
Frühling 2002
Es war zu warm für einen Frühlingstag und eindeutig zu warm, um ein tiefes Loch im Garten zu buddeln. Wie war sie nur auf diese dumme Idee gekommen? Aber jetzt hatte sie einmal angefangen und sie würde es zu Ende bringen. Sie würde die Zähne zusammenbeißen und so lange weitergraben, bis sie diese verfluchte Teichwanne im Boden versenken konnte. Nicht umsonst hatte sie ihren Vater wochenlang bezirzt, damit er ihr seine ausgediente Wanne überließ und ihr half, diese bis in den Garten zu transportieren.
Obwohl ihre Eltern nach wie vor das Gärtnern liebten, war ihnen die Pflege des Teiches zu viel geworden. Zwar hatte ihre Mutter behauptet, die Nachbarn hätten sich über das laute Gequake der Frösche beschwert, aber Esther kam es so vor, als wären ihre Eltern über den Abbau des Teiches nicht sonderlich traurig gewesen.
Erst vor einer Stunde hatte sie noch mit ihrer Mutter telefoniert und ihr versichert, dass sie das Teil auch ohne die Hilfe ihres Vaters in den Boden bekommen würde. Wäre doch gelacht, wenn sie jetzt klein beigeben würde.
Das gelbe Top klebte an ihrem zierlichen Körper. Kleine Schweißperlen bildeten sich über ihrer Oberlippe. Esther spürte, wie sich auch welche auf ihrer Stirn einen Weg suchten. Ihr blonder Pferdeschwanz wippte bei jeder ihrer Bewegungen im Takt mit. Die Hände taten ihr weh und die Schaufel schien immer schwerer zu werden. Langsam spürte sie im Rücken, dass sie diese Arbeit überhaupt nicht gewohnt war.
Ein kleiner eigener Teich war ein lang gehegter Traum von ihr. Ein verwunschenes Kleinod wollte sie sich in einer Ecke ihres Gartens schaffen, wo sie sich nach einem anstrengenden Tag zurückziehen und entspannen konnte.
Vor zweieinhalb Jahren hatte sie dieses Haus mit Garten, das von jeher im Familienbesitz war, von ihrer kinderlosen Tante geerbt. Esther war zu dieser Zeit in ihrem Job als Rechtsanwaltsfachangestellte immer unzufriedener geworden. Und nach vielen unruhigen Nächten, in denen sie sich Gedanken über ihre Zukunft gemacht hatte, war sie zu dem Entschluss gekommen, einen Kredit aufzunehmen und in dem Haus ein Café im Landhausstil aufzumachen.
Seit zwei Jahren betrieb sie nun in dem alten Gebäude ein kleines verträumtes Café, in dem sie neben selbst gemachten Kuchen Marmelade und Chutneys verkaufte, deren Zutaten, ebenso wie die getrockneten Kräutermischungen, zum größten Teil aus ihrem eigenen Garten stammten. Die Einnahmen aus dem Cafébetrieb und dem Verkauf machten sie zwar nicht reich, aber es war mehr als genug, um ihre Ausgaben zu decken.
Es war nicht leicht für die Dreiundzwanzigjährige, tagtäglich bis spät in die Nacht zu arbeiten, aber hier war sie ihr eigener Chef. Und sie war zufriedener als zuvor. Im Großen und Ganzen war sie sogar glücklich …
Eigentlich …
Bloß die Einsamkeit war manchmal schwer zu ertragen.
Natürlich hatte sie Freunde und Bekannte, mit denen sie sich ab und an traf. Auch ihre Eltern waren immer für sie da und waren ihr eine große Stütze, aber es gab niemand Besonderen. Niemanden, der neben ihr aufwachte, der mit ihr frühstückte, der die Kleinigkeiten des Alltags mit ihr teilte. Zwei Beziehungen hatte sie bereits hinter sich. Doch der richtige Mann, mit dem sie sich vorstellen konnte alt zu werden, war ihr noch nicht begegnet. Da war niemand, der einen Platz in ihrem Herzen beanspruchte. Aber vielleicht würde sie irgendwann, hoffentlich bald, diesen besonderen Jemand finden.
Esther liebte ihren Garten und die Natur im Allgemeinen. Seit sie denken konnte, hatten ihre Eltern einen Garten gehegt. Und schon als Kind hatte sie es genossen, in der Erde zu wühlen, zu beobachten, wie aus hässlichen Zwiebeln in grellen Farben leuchtende Tulpen wurden oder wie ein Regenwurm ringelnd in der Erde verschwand und über Nacht kleine Türme aus Sand baute.
Sie schnaufte, wischte sich die Haare aus dem Gesicht und inspizierte das Loch, welches sie ausgehoben hatte. Noch ein paar Zentimeter, dann hatte sie endlich die Tiefe erreicht, die notwendig war. Als sie weitergrub, hörte sie ein metallisches Knirschen. Die Schaufel schien auf ein Hindernis getroffen zu sein. Ein größerer Stein?
Esther hob die lockere Erde heraus, um den Verursacher des Geräusches aus dem Weg zu räumen. Zum Vorschein kam allerdings kein Stein, wie sie erwartet hatte. Im ersten Moment dachte sie, es wäre ein kleiner Teller, eine Scheibe oder Platte. Sie bückte sich danach, aber als sie das runde Etwas, das völlig verdreckt war, in die Finger nahm, bröckelte die Mitte heraus, die lediglich aus feuchter Erde bestand.
Esther betrachtete den Ring in ihren Händen, dessen Gewicht sie überraschte. Sicher ein alter Eisenring, der wahrscheinlich schon halb verrostet war, vermutete sie. Doch als Esther ein bisschen von dem Schmutz abschabte, zuckte sie überrascht zusammen, denn gelblich glänzendes Metall blitzte hervor. Konnte das Gold sein?
Vor Aufregung klopfte mit einem Mal ihr Herz heftig und ihr Atem ging etwas schneller. Sie versuchte den Ring zu säubern, was mit den Gartenhandschuhen nicht besonders gut ging. Dennoch konnte sie erkennen, dass es ein Reif war, der einen Durchmesser von knapp zehn Zentimetern und die Höhe einer Fingerkuppe hatte. Ein eingraviertes Muster zierte das Fundstück. Was die Gravur darstellte, die um die ganze Außenseite des Ringes verlief, konnte sie nicht entziffern. Um ihn genauer untersuchen zu können, beschloss Esther gleich ins Haus zu gehen und ihn zu reinigen. Ihre Neugierde war mittlerweile riesengroß.
Sie hastete an das Waschbecken, blieb dabei aber an einem der Küchenstühle hängen, stolperte und schlug auf den Boden auf, wobei sie mit ihrem Kopf gegen den Kühlschrank krachte. »Autsch!«
Ein heftiger Schmerz durchfuhr sie und im ersten Moment sah sie nur Sterne vor ihren Augen tanzen. Leicht schwankend rappelte sie sich auf, den Ring immer noch fest in ihrer Hand. Selbst das dumpfe Wummern hinter ihrer schmerzenden Stirn und die aufsteigende Übelkeit konnten sie nicht von ihrem Vorhaben abhalten. Nachdem der Ring abgewaschen war, lag er sauber und glänzend in ihrer Hand.
Für Esther bestand kein Zweifel mehr: Er musste aus Gold sein. Kleine Sonnen waren in das Metall eingraviert. Ein Rand des Reifens war glatt, während der andere gleichmäßige Wellen aufwies. Es musste ein Schmuckstück sein, und zwar ein sehr altes, denn es sah wie von Hand gearbeitet aus.
Obwohl ihre Klamotten ganz verstaubt waren, setzte sich Esther sofort an den Computer, weil sie auf der Stelle in Erfahrung bringen wollte, ob sie wirklich einen altertümlichen Armreif gefunden hatte. Im Internet suchte sie nach Bildern von antiken Schmuckstücken, und tatsächlich fand sie bereits nach kurzer Zeit ein Foto von einem Ring, der fast genauso aussah wie ihr Fundstück. Als Esther das Foto anklickte, brachte es sie auf die Internetseite eines Museums. Dieser dort präsentierte Ring hatte jedoch kleine Monde als Muster, schien aber ansonsten ihrem Fundstück gleich zu sein.
»Goldener Armreif aus dem Jahre 1410«, las sie sich laut vor.
Großer Gott, hatte sie wirklich einen antiken Armreif in ihrem Garten gefunden?
Und obwohl Esthers Kopf immer noch höllisch wehtat, es ihr durch die aufkommende Übelkeit und den Schwindel stetig schlechter ging, lächelte sie ihren Armreif an. Sie konnte der in ihr aufwallenden übermächtigen Versuchung nicht widerstehen und streifte sich den Ring über die Hand. Kaum hatte sie dies getan, wurde es schwarz um sie herum und irgendetwas zog sie in ein tiefes schwarzes Nichts …
Ihr Kopf schmerzte noch immer, sogar noch stärker als zuvor. Die Sonne schien ihr warm aufs Gesicht. Die Sonne?! Wie …? Warum …? Sie war doch gerade noch in ihrem Haus gewesen.
Flatternd öffneten sich Esthers Lider. Gleißendes Licht blendete sie. Gleichzeitig nahm sie die warme, trockene Erde wahr, die sich unter ihren nackten Schultern kratzig anfühlte. Vorsichtig richtete sie sich auf.
Wo bin ich? Und vor allem, wie bin ich hierhergekommen?, fragte sie sich verblüfft und blinzelte in die Sonne.
Neugierig schaute sie sich um. Sie befand sich auf einem Acker. Seltsam. Keine Straße war zu sehen, nur ein Feldweg. Vereinzelt wuchsen Bäume und Sträucher. Weiter weg sah sie ein kleines Haus und hinter diesem einen Ort mit einem Kirchturm. Sanfte Hügel, die in der Ferne zu einem Gebirge anwuchsen, erhoben sich rechts davon. Auf einem der Hügel thronte eine Burg, die sehr gut erhalten aussah. Ein breiter Fluss bahnte sich von dort einen Weg am Ort vorbei. Irgendwie kam ihr das alles bekannt vor.
Esther versuchte zu schlucken, aber ihre Zunge klebte trocken am Gaumen.
Gerade eben war sie doch noch zu Hause gewesen und hatte im Internet nach diesem Armreif gesucht … Nachdem sie ihn angezogen hatte, war sie … Ja, was eigentlich? Ohnmächtig geworden?
Esther erinnerte sich, dass ihr schwarz vor Augen geworden war. Irgendetwas hatte an ihr gezogen, als befände sie sich in einem Strudel, dem sie sich nicht hatte widersetzen können, fiel ihr ein. Träumte sie das nur? Lag sie womöglich nur bewusstlos in ihrem Haus vor dem Computer?
Sie drückte ihre Fingernägel in die Handinnenfläche, um zu überprüfen, ob das alles nur ein Hirngespinst oder ein Traum war. Nein, sie spürte den Schmerz, und er fühlte sich verdammt echt an. Vielleicht, wenn sie die Lider noch einmal schließen und erneut aufmachen würde …
In der Hoffnung, sich gleich wieder in ihrem Wohnzimmer zu befinden, schloss Esther ihre Augen, atmete tief durch und wartete … wartete auf einen Sog, der sie mitreißen würde. Aber nichts geschah. Sie spürte es an den Sonnenstrahlen, die ihr Gesicht erhitzten und ihr zeigten, dass sie nach wie vor an dem unbekannten Ort war.
Hat es womöglich mit dem Armreif zu tun? Ist der daran schuld?
Bei diesem Gedanken öffnete sie sofort die Augen und griff sich ans Handgelenk, doch da war nichts. Kein Armreif! Aber sie hatte ihn doch übergestreift, das wusste sie genau. Wo war er? Hatte sie ihn verloren?
Voll Panik stand sie auf und sah sich auf dem Boden zu ihren Füßen um. Doch sie konnte ihn nirgends finden. Nun gut, wie gewonnen, so zerronnen.
Sich griff sich an den schmerzenden Kopf und fühlte ihre Beule. Ich sollte als Allererstes herausfinden, wo ich bin und wie ich wieder nach Hause komme, überlegte Esther. Alles andere wird sich dann von alleine ergeben.
Ein Rumpeln, das zunehmend lauter wurde, ließ Esther zum Weg blicken, der durch die Felder führte. Eine grobe Karre, von einem Ochsen gezogen, war die Ursache des Geräusches. Ein Mann in heller Leinenkleidung, der sie auf dem Acker bemerkt hatte, hielt an und stieg vom Karren herunter.
Ein Hardcore-Biobauer?! Eindeutig! Das bewies nicht nur der Ochsenkarren, sondern auch seine langen Haare und die nicht vorhandenen Schuhe. Alter Schwede, der muss schon einen harten Arbeitstag hinter sich haben!, dachte Esther. Der Schmutz klebte dem Typen nur so im Gesicht und er roch nicht gerade nach Rosen.
Misstrauisch beäugte der Mann Esther, die unter seinem Schweigen immer verlegener wurde. Seine Blicke krochen irgendwie gierig über ihre nackten Arme, und dennoch stand auch Ablehnung in seinem Gesicht geschrieben.
Trotz seines unangenehmen Gebarens blieb Esther nichts anderes übrig, als zu fragen: »Entschuldigen Sie, das hört sich vielleicht komisch an, aber … könnten Sie mir sagen, wo wir hier sind?«
»Ihr seid vor den Toren zu Briezbach.« Die Augen des Mannes verengten sich. »Ihr wisst nicht, wo Ihr Euch befindet?«
Esther wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Entweder hatte der Typ einen gehörigen Schlag an der Waffel, weil er nicht nur komisch aussah, sondern ebenso seltsam sprach, oder er war unterwegs zu einer Mittelalter-Convention und war schon voll in seiner Rolle. Vielleicht war der Gute aber auch voll wie eine Haubitze, das konnte natürlich auch sein. Vorsorglich machte sie einen Schritt zurück.
Zumindest wusste sie jetzt, dass sie in der Nähe von Briezbach war, und das war gar nicht mal schlecht, denn dort war ihr Haus. Doch müsste hier nicht eigentlich eine Landstraße verlaufen? Was war nur los mit ihr? War ihr der Orientierungssinn abhandengekommen? Merkwürdig, irgendwie sah alles … anders aus. Oder befand sie sich nur an einer Stelle außerhalb Briezbachs, wo sie noch nie zuvor gewesen war? Andererseits …
»Erinnert Ihr Euch noch an Euren Namen, Weib?«, fuhr der Kerl sie an, was Esther aber fast nicht registrierte, so sehr war sie am Grübeln.
… aber dieser Hügel mit der Burg?
Esther schüttelte den Kopf, dann wurde es ihr erst heiß und dann kalt. Sie erinnerte sich: Bei Briezbach gab es einen Hügel, auf dem eine Ruine thronte. Eine Ruine, ja, aber doch keine gut erhaltene Burg!
Der Bauer wurde lauter: »Weib, wie ist Euer Name?«
Weib? Euer Name?Langsam sickerte die Erkenntnis durch Esthers Verstand. Kreidebleich starrte sie ihr Gegenüber an, nahm ihre Umgebung, die Erscheinung des Bauern und seine eigentümliche Wortwahl wahr. Dann kam ihr ein lächerlicher Verdacht.
»Weib«, hatte er sie angesprochen. So sprach man doch nicht mehr in der heutigen Zeit. War sie etwa nicht mehr in der … Gegenwart?! So ein Unsinn! Unmöglich!
Noch einmal kam ihr der Gedanke, der Mann könnte ein Teilnehmer eines mittelalterlichen Marktes sein. So etwas hatte es zwar in Briezbach noch nicht gegeben, aber in der nächstgrößeren Stadt … Es war nicht auszuschließen, dass dort heute ein Markt stattfand. Allerdings waren auf seinem Karren keine Waren, die er verkaufen konnte. Ebenso war es eher unwahrscheinlich, dass ein Schausteller mit einem Ochsenkarren anreiste.
Esther kam erst wieder zu sich, als der Bauer, dem es wohl seltsam vorkam, dass diese in Gedanken versunkene Frau ihm keine Antwort gab, ihre Oberarme fest umfasste und sie schüttelte.
Erschrocken riss sie sich los und fuhr ihn an: »Ja doch, ich weiß, wie ich heiße! Esther … Esther ist mein Name.«
Und auch auf die Gefahr hin, dass der Typ sie jetzt für total durchgeknallt hielt, ließ sich die nächste Frage beim besten Willen nicht vermeiden. Sie konnte ja selbst kaum glauben, dass sie diese Frage stellte.
»Welches Jahr haben wir?«
Wie sie erwartet hatte, sah der Bauer sie noch seltsamer an. Zögernd wich er drei Schritte vor Esther zurück, denn nun schien sie ihm unheimlich zu werden.
»Wir sind im Jahre 1410 des Herrn. Woher kommt Ihr, wenn Ihr nicht mal wisst, welches Jahr wir zählen?«
Ein eiskalter Schauer überfiel Esther und ihr Kopf brummte noch mehr als zuvor. 1410! Also entweder der Typ verarschte sie oder … Nein, das konnte nicht sein! So etwas gab es doch nicht.
Unwillkürlich sah sie sich nochmals um.
Briezbach war zwar kein großer Ort, gerade mal viertausend Einwohner, aber es gab Handwerksbetriebe und einige größere Industrieunternehmen in einem Gewerbegebiet. Aber hier war nichts davon zu sehen, nicht mal ein einziger Strommast war auszumachen. Kein Lärm war zu hören und es lag eine gespenstische Stille über der Landschaft. Kein Geräusch, das auf ein Auto oder etwas Ähnliches hinwies, drang an ihr Ohr. Kein einziger Kondensstreifen war am blauen Himmel auszumachen, der auf Flugzeuge schließen ließ. Alles war so anders, als sie es kannte.
Okay, ganz ruhig, keine Panik! Esther versuchte sich mit diesen Worten zu beruhigen. Wenn sie hier unbeschadet rauskommen wollte, ob Verarsche oder nicht, musste sie dieses kranke Spiel mitspielen. Ob sie wollte oder nicht, sie hatte keine Wahl. Sie sollte in den Ort gehen und sich Gewissheit verschaffen, dass der Mann vor ihr bloß irgendein Scherzbold war, der Freude daran hatte, sie zu verwirren. Allerdings musste sie sich eingestehen, dass die fehlende Infrastruktur und die veränderte Landschaft dafür sprachen, dass er die Wahrheit sagte.
Aus purem Selbstschutz verdrängte Esther die Hysterie, die sie zu überwältigen drohte, und antworte dem Mann: »Ich … ich glaube, ich habe mir den Kopf gestoßen und weiß nun nicht mehr alles.«
Ja, das war gut, so könnte sie immer wieder auf diese Ausrede zurückgreifen. So lange, bis sie wieder … zurück in ihrer Gegenwart war. O Gott, sie konnte selbst nicht glauben, was sie da dachte.
Wenn sie wirklich im Jahr 1410 war, wie kam sie dann zurück?
Der Armreif!
»Goldener Armreif aus dem Jahre 1410«, hatte sie auf der Website des Museums gelesen.
Wenn sie nun wirklich im Jahr 1410 war, dann musste dieses goldene Ding, das sie in ihrem heimischen Garten gefunden hatte, eine … Zeitreisemaschine sein. Und dann konnte auch nur dieser Reif sie wieder zurückbringen, oder?
»Könnt Ihr mir wohl behilflich sein? Ich habe einen goldenen Armreif verloren, er muss hier irgendwo liegen.«
Wieder begann Esther den Boden abzusuchen.
Der Bauer schaute sich ebenfalls um, sah aber nirgendwo einen Goldarmreif. Schade, denn das hätte bestimmt die Belohnung erhöht, die er für dieses seltsame Weibsbild einkassieren würde. Es musste eine Irre sein, so, wie sie herumlief: in Männerbeinkleidern und einer Art Unterwäsche, die ihren halb nackten Oberkörper nur knapp bedeckte. Keine ehrbare Frau würde so etwas tun.
Solche Kleider hatte er auch noch nie zuvor gesehen. Sie waren nicht schwarz, weiß oder braun, wie es nun mal bei armen Leuten wie ihm üblich war, sondern ihre Hosen waren blau und ihr Hemd gelb. Alles saß sehr eng. Der Bauer war überzeugt, diese Frau war entweder eine Irre oder eine Hure, aber so, wie sie aussah, musste sie einen reichen Verehrer haben. Denn nur reiche Leute konnten sich teuer gefärbte Stoffe leisten und enge Kleider tragen. Nur die Oberen, die keine Arbeit zu verrichten hatten und somit keine weite und bequeme Kleidung brauchten, trugen sie so nah am Körper anliegend.
Das Weib war schön, hatte lange Locken, die in der Sonne wie Engelshaar glänzten. Sicher gehörte sie zu den Frauen im Badehaus. Bestimmt würde er eine Belohnung bekommen, wenn er sie zurückbrachte. Und allem Anschein nach war sie nicht nur eine Hure, sondern auch eine Diebin, die auf der Flucht war. Woher sollte sie auch einen Goldarmreif haben? Kein Mann würde einer Hure freiwillig ein solch kostbares Geschenk machen. Er sollte sie auf jeden Fall zurück in die Stadt bringen. Ja, der Herzog würde sich bestimmt erkenntlich zeigen, wenn er ihm dieses entflohene Vögelchen zurückbrachte, denn ihm gehörte das Badehaus. Und wie man sich in der Stadt erzählte, war er dort oft zu Besuch und legte Wert darauf, dass die Weiber dort gut behandelt wurden.
Der Bauer wollte keine Gewalt anwenden, deswegen griff er auf eine List zurück.
»Ihr solltet wegen Eurer Verletzung lieber zu einem Bader gehen. Kommt, ich bringe Euch am besten in die Stadt.«
Esther, die immer noch den Blick auf den Boden gerichtet hielt und die Erde absuchte, überlegte, dass ein Bader wohl so etwas wie ein Arzt sein musste – warum sollte er sich sonst ihre Verletzung anschauen? Verzweiflung ergriff sie, denn der Armreif war wie vom Erdboden verschluckt.
Sie musste einen anderen Weg finden, um aus dieser Geschichte, diesem Albtraum, was immer es auch war, wieder herauszukommen. Wenn sie hier auf dem Acker blieb, würde sie das sicher nicht weiter voranbringen. In die Stadt zu gehen, war im Grunde genau das, was sie auch wollte. Abgesehen davon hatte sie Durst und ihre Kopfschmerzen wurden immer stärker.
Esther folgte dem Mann und setzte sich zu ihm auf den Karren. Dass eine Fahrt so ungemütlich sein konnte, wäre Esther nie in den Sinn gekommen. Jeder Stein, jede Kuhle auf dem Weg wurde durch die Holzräder und die harte Sitzbank verstärkt. Ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander, ihr Körper wurde durchgeschüttelt und ihr Allerwertester war bestimmt mit blauen Flecken übersät, so oft, wie sie abhob und abermals darauf landete.
In schnellem Galopp kamen mehrere Reiter auf sie zu, und nun gab es für Esther keinen Zweifel mehr: Hier trieb niemand mit ihr einen Scherz.
Diese Männer auf den Pferden waren viel zu authentisch gekleidet, als dass sie ein Theaterfundus ausgestattet hätte. Ihre Kleider waren aus Samt in kräftigen Farben, verziert mit hauchdünnen Spitzen und Borten. Die Federn an den Hüten, die Ketten und die Fingerringe, sogar die Sättel und das Zaumzeug der Pferde waren viel zu sehr auf Schönheit getrimmt, viel zu perfekt. Kein Faschingskostümverleih würde sich solche Mühe geben.
Aber was Esthers Herz außer Takt geraten ließ, waren die Männer selbst, die ihre Pferde nun zum Stehen brachten. Alle schienen in ihrem Alter zu sein. Groß, athletisch und mit langen Schwertern ausgerüstet saßen sie auf riesigen Pferden und verbreiteten eine Aura von Macht und Arroganz.
Es sind mit Sicherheit Adlige, dachte Esther.
Der vorderste Reiter, der wohl ihr Anführer war, bedachte sie mit einem schneidend kalten Blick und fuhr den Bauern neben ihr harsch an: »Was macht dieses Frauenzimmer bei dir? Du weißt doch, dass du dich strafbar machst? Und wieso trägt dieses Weib Männerhosen?«
Strafbar? Wieso das denn? Was für Probleme hatte denn der feine Pinkel? Und wieso wusste der Bauer, was Sache war, dass er so schleimig unterwürfig antwortete?
»Eure Hoheit, ich fand sie auf dem Felde. Es scheint, als habe sie sich den Kopf gestoßen, denn sie weiß weder, wo sie ist, noch, welches Jahr wir zählen. Ich wollte sie zu Eurem Bader bringen, damit er sie in Augenschein nimmt. Bei Jesu Blut, ich schwöre Euch, ich hab sonst nichts mit ihr zu schaffen.«
Die schwarzen Augen des Adligen glitten unverhohlen über Esthers Körper, was ihr das Blut in die Wangen trieb. Noch nie zuvor hatte ein Mann sie auf diese Weise abschätzend gemustert. Sie kam sich wie ein zum Verkauf stehendes Pferd vor. Sie erwartete beinahe, dass er jeden Moment noch ihr Gebiss begutachten wollte.
Esther bemühte sich Ruhe zu bewahren, denn dieser langmähnige Kerl, dessen Haare wie die blauschwarzen Federn eines Raben glänzten, schien ein Graf oder so etwas zu sein. Und das bedeutete wohl, dass er hier das Sagen hatte.
Er war ein gut aussehender Mann trotz oder gerade wegen dieser Narbe, die knapp unterhalb seines Auges quer über seine rechte obere Wangenhälfte verlief. Seine gerade Nase gefiel ihr, auch wenn die leicht geblähten Nasenflügel ihm einen Ausdruck von angestauter Wut verliehen. Ihr Blick fiel auf seinen Mund mit perfekten Lippen – wie sie sich sofort eingestehen musste –, nicht zu voll, nicht zu schmal. Und mit einer Haut, die sie gleich an einen Sahnekaramell erinnerte, war er für Esther definitiv der heißeste Anwärter auf den Titel des ‚Sexiest Man Alive'.
»Nun gut, ich werde dir glauben. Aber ich werde sie selbst zum Bader bringen und du gehst brav heim zu deinem Eheweib.«
Dieser Satz musste der absolute Brüller unter den Witzen sein, denn seine Gefolgsleute kippten vor Lachen fast vom Pferd.
Der Bauer war froh, mit einer Ermahnung davongekommen zu sein. »Danke, Eure Hoheit. Ach, sie hat übrigens was von einem goldenen Armreif erzählt, den sie verloren hätte. Vielleicht solltet Ihr sie noch nach anderen Wertgegenständen durchsuchen.«
Esther glaubte sich verhört zu haben, bis sie das anzügliche Lächeln des schwarzhaarigen Adligen sah.
»Auf keinen Fall werde ich mich durchsuchen lassen. Ihr seid doch nicht ganz bei Trost!«, schrie sie entrüstet, aber keiner der Männer schenkte ihren Worten Beachtung.
Die dunklen Augen des Herzogs ruhten aber weiter auf ihr und sein »Ja, das sollte ich wirklich« führte zu neuen Heiterkeitsausbrüchen der übrigen Reiter und ließ sogar den Bauern dämlich grinsen.
»Nun komm, Weib, ich bringe dich ins Badehaus!«, bestimmte Herzog Nickolas in herrischem Ton.
Esther schaute unschlüssig zu ihm hin. Verdammt, was sollte sie nur tun? Musste sie nicht an diesem Ort bleiben, um wieder von hier wegzukommen? Angst und Aufregung überfielen sie in gleichem Maße. Ihr Herz pochte so wild, dass sie es im Hals spüren konnte. Das … das passierte doch jetzt nicht wirklich, oder? Sie sollte mit dem Kerl mit?
»Hört auf das, was der Herzog Euch befiehlt.« Der Bauer nickte ihr aufmunternd zu.
Ehe sie sich versah, packte sie der Herzog um die Taille und platzierte sie seitlich sitzend vor sich auf dem Pferd. Esther wusste nicht, wie ihr geschah. Die ganze unglaubliche Situation, die eigentlich gar nicht stattfinden konnte, überforderte sie. Und zwar so, dass sie nicht in der Lage war, sich auch nur kurz dagegen zu wehren.
»Edmund, gib dem Mann fünf Goldstücke für seine Mühe!«
Mit einer kleinen Kopfbewegung erteilte Herzog Nickolas einem seiner Gefolgsleute den Befehl, der dem glücklich lächelnden Bauern sogleich die Münzen gab.
***
Esther war noch nie auf einem Pferd geritten. Und weil sie nicht wusste, wo und wie sie sich festhalten sollte, so, wie sie jetzt saß mit beiden Beinen auf einer Seite des Pferdes, nahm sie das, was sich ihr bot, und das war nun mal der Hals des Herzogs. Das Pferd war verdammt groß und der Boden ewig weit unter ihr. Das Rumgeschaukele war zudem nicht gerade beruhigend, wenn man, wie sie, an Höhenangst litt. Zwar saß sie nun weicher als auf dem hölzernen Kutschbock, aber sie verkrampfte sich mit jedem Meter, den sie auf den Ort zuritten, immer mehr.
Sie zuckte etwas zusammen, als sie einen warmen Hauch an ihrem Ohr spürte.
»Beruhige dich, ich werde dich nicht vom Pferd fallen lassen! Abgesehen davon erwürgst du mich sonst noch.«
Erschrocken schaute Esther in sein Gesicht. Sie war ihm so nah, wie sie seit Langem keinem Mann gekommen war, und schon gar nicht einem so gut aussehenden. Sie hatte nicht bemerkt, wie fest sie sich in ihrer Angst an den Herzog geklammert hatte. Ihre Arme waren um seinen Nacken geschlungen und ihr Körper an seinen gepresst. Ungläubig starrte sie in seine dunklen Augen, die von langen Wimpern dicht umsäumt waren.
»Ich … ich heiße Esther, und ich bin noch … nie auf einem Pferd geritten«, stammelte sie ängstlich. Dieser hohe Puls, den sie spürte, rührte nur von ihrer Höhenangst her, ganz sicher. Oder? Sie schluckte.
Vorsichtig strich der Herzog über ihren nackten Arm und lockerte so ihre verkrampfte Umklammerung.
»Du bist also noch nie geritten? Vertrau mir, dir wird nichts passieren, kleine Esther.« Zärtlich streichelte er jetzt ihren Rücken entlang und die Anspannung in ihren Muskeln ließ merklich nach.
»Ja, so ist es gut, kleine Esther.« Gelassen nahm er wieder die Zügel in die Hand.
Zwar war ihr Körper jetzt entspannter, doch ihre Atmung geriet irgendwie aus dem Takt. Obwohl sie einen Atemzug nach dem anderen tat, schien sie nicht genug Luft zu bekommen. Sie wollte es nicht, aber wie von selbst suchten ihre Augen den Weg zu seinem Mund. Der dunkle Herzog lächelte sie sinnlich an und zeigte ihr dabei herrliche weiße Zähne. Esthers Herz schien in diesem so surrealen Moment stillzustehen und ihre Augen fanden seine, die sie aufmerksam beobachteten.
***
Herzog Nickolas fühlte sich beschwingt. Ja, heute war eindeutig ein guter Tag. Der Tag hatte wie unzählige andere begonnen, mit einem eintönigen Frühstück, seinen morgendlichen Schwertübungen und dem Ausritt, bei dem er seine Ländereien kontrollierte. Nun hingegen schien er eine seltene Kostbarkeit gefunden zu haben.
Schon auf den ersten Blick hatte er gesehen, dass dieses Weib etwas Besonderes war. Nicht nur ihre Kleidung, die aus Hosen und einem Unterhemdchen bestand und die jede Kurve ihres Körpers deutlich zeigte, vielmehr ihre ganze Erscheinung war außergewöhnlich.
Ihre Haut hatte einen Schimmer wie die teuren Perlen, die die Kaufleute anboten. Das Haar erinnerte ihn an gesponnenes Sternenlicht. Ihre Brüste, die sich vor seinen Augen so erregend hoben und senkten, waren ihm wie süße Früchte, voll und reif. Sie roch nach Aromen, die ihm völlig unbekannt waren, und er zweifelte keinen Augenblick daran, dass sie einen goldenen Armreif besessen hatte, wie der Bauer erwähnt hatte. Denn jeder Mann, der genügend Reichtum besaß und Leben in seinen Lenden hatte, würde dieses Wesen mit Gold überschütten, um von seinem Liebreiz kosten zu dürfen. Ja, er würde sie in sein Badehaus bringen, und dort sollte sie ihm zur Verfügung stehen. Er wollte sie haben, denn sein Blut pulsierte unruhig durch seinen Körper.
***
Der Herzog und sein Gefolge erreichten die Stadt, die von einer hohen Mauer umgeben war. Esther spürte einen Knoten im Magen, als sie an die wenigen Überreste der alten Stadtmauer dachte, die sie aus ihrem Briezbach kannte. So, wie es hier aussah, war sie wirklich in der Vergangenheit gelandet, denn die Eindrücke waren zu real. Das, was sie hier sah, war eine massive, völlig intakte steinerne Mauer, die sicher nicht nur als Scherz oder für eine dieser Fernsehsendungen, bei denen ahnungslose Passanten hinters Licht geführt wurden, aus Pappmaschee erbaut worden war.
Nein, sie musste sich mit der unglaublichen, aber bitteren Wahrheit abfinden: Sie war durch die Zeit gereist und im tiefsten Mittelalter aufgeschlagen. Der Schock überrollte sie in diesem Moment mit ganzer Macht und machte sie zu einer willenlosen Hülle ihrer selbst, die alles tatenlos über sich ergehen ließ.
Als sie das Stadttor durchritten, erfasste Esther ein Ekelgefühl, wie sie es noch nie zuvor in ihrem Leben empfunden hatte. So viel Dreck und Unrat hatte sie noch nie gesehen. Der Gestank war bestialisch und es würgte sie immer wieder aufs Neue. Sie hätte sich gerne die Nase zugehalten, aber dann hätte sie den Hals des Herzogs loslassen müssen. Ihre Nase in seinem Wams zu verbergen, um dem Übel zu entkommen, traute sie sich nicht.
Die Straße, wenn man den Weg so nennen wollte, war ein stinkender Morast, der aus Essensresten, Küchenabfällen, Dreck und Exkrementen aller Art bestand. Hühner und Schweine liefen durch die Gassen und verrichteten überall ihre Notdurft. Aus einigen Fenster und Türen wurden Eimer ausgeleert, deren stinkender Inhalt sich ebenfalls auf den Weg ergoss.
Esther konnte nicht fassen, was sie hier sah. Das sollte Briezbach sein, welches letztes Jahr zum saubersten Ort seines Kreises gewählt worden war? So eine unglaubliche Schweinerei und die Leute liefen zum Teil auch noch barfuß darin herum. Die Gesichter schmutzig, schauten sie Esther unwillig an. Die meisten Frauen hatten Hauben auf, nur junge Frauen trugen ihr Haar offen oder zu Zöpfen gebunden. Die Kleidung der Bürger war fast immer grau oder schwarz, weit geschnitten und aus grobem Stoff.
Schließlich hielt der Herzog vor einem Haus, das größer als die umliegenden Wohnhäuser war. Drei steinerne Stufen führten zur Eingangstüre hinauf, die wesentlich sauberer war als die der anderen verwahrlosten Gebäude.
»Hier kannst du bleiben und man wird für dich sorgen. Komm, kleine Esther!«
Die Männer saßen ab, auch der Herzog, der Esther die Hände um die Taille legte, um ihr beim Absteigen zu helfen. Mit einem kräftigen Ruck beförderte er sie an seinen Körper und versank für einen Atemzug lang in ihren Augen. Nur diese eine Sekunde in seinen Armen und Esther vergaß fast, wo sie war. Verwirrt fragte sie sich, wieso sie dermaßen auf ihn reagierte. Schüchtern räusperte sie sich und löste sich von ihm. Dann tänzelte sie auf Zehenspitzen durch den Morast, um ihre hellen Turnschuhe nicht total zu verschmutzen, was ihre Begleiter mit amüsiertem Blick verfolgten.
Sie betraten das Haus und eine dicke Frau begrüßte den Herzog mit höfischem Knicks. »Eure Hoheit, Ihr sucht Gesellschaft?«
»Nein, Kriemhild. Ich bringe dir ein Juwel.« Damit schob Nickolas Esther vor sich.
Esther war allerdings mehr mit der Wahrnehmung ihrer Umgebung beschäftigt, als damit, sich die Frau anzuschauen, die sie aufmerksam musterte.
Das Haus roch nach Kräutern, der Dielenboden war sauber und mit Webteppichen ausgelegt, was Esther beruhigte. Denn als sie die Straße gesehen hatte, hatte sie befürchtet in einem verschmutzten Haus unterzukommen, in dem es vor Ungeziefer nur so wimmelte.
»Ist dieses Juwel nur für Euch bestimmt?«, hakte Kriemhild nach, was Esther jetzt doch komisch vorkam.
»Das wird sie selbst entscheiden. Gib mir einen Zimmerschlüssel, ich werde sie in ihre Kammer begleiten.«
Abermals lachten die Männer des Herzogs auf.
Witzig, dachte Esther mittlerweile knurrig, weil sie fühlte, dass hier irgendwas faul war.
Nickolas öffnete im ersten Stock ein spärlich eingerichtetes Zimmer und ließ Esther den Vortritt. Er schloss die Türe hinter sich und verfolgte amüsiert, wie die hübsche Frau den Raum und die wenigen Möbel vorsichtig begutachtete.
»Wie heißt Ihr eigentlich? Wie soll ich Euch nennen?«, fragte sie nach ihrer Inspektion.
»Nickolas von Gerwulf. Und ich habe ein Anrecht auf den Titel Herzog, Hoheit oder Durchlaucht«, stellte er sich ihr vor.
Esther wartete auf ein Grinsen, welches seinen Scherz, für den sie seine Worte hielt, bekräftigte, doch das blieb aus. Er meinte es also tatsächlich ernst, dass sie ihn jedes Mal mit einem Titel ansprechen musste.
»Herzog?«, fragte sie baff.
»Ja, ganz richtig. Sag, wo kommst du her? Du trägst nur Unterkleidung, was sogar für dich als öffentliche Frau ungewöhnlich ist. Du lässt dein Haar unbedeckt, was nur einer Jungfrau zusteht. Und dann sprichst du seltsam und weißt nicht, wo du bist und welches Jahr wir haben. Welchem Volke gehörst du an, Esther?«
Esther hatte ihm gespannt zugehört, wenngleich sie vieles nicht verstanden hatte.
»Wieso trage ich Unterkleidung?«, fragte sie verständnislos und schaute an sich herunter.
Pah, der war lustig. Wenn sie mit ihm so reden würde, wie sie es gewöhnlich tat, würde er sicher total ausflippen. Aber eins musste sie dem Kerl lassen: Er war süß. Wie er sie auf dem Pferd beruhigt hatte und wie er nun vor ihr stand, wirbelte er ihre Sinne ganz schön durcheinander.
»Nun, du trägst Hosen! Frauen tragen niemals Hosen. Und ein kleines Hemdchen, das alles entblößt. Das Oberkleid fehlt. Oder kleiden sich alle öffentlichen Frauen in deinem Land so?«
»Verratet Ihr mir, bitte, was Ihr mit … öffentlicher Frau meint?« Esthers Augen verengten sich. Sie vermutete die Antwort zu kennen, hoffte jedoch falschzuliegen.
»Frauen, die ihren Körper und Dienstleistungen anbieten.«
Er lächelte gewinnend und Esther blieb die Spucke weg, gleichzeitig spürte sie, wie Wut in ihr hochstieg.
»Ich bin keine Prostituierte, Mann!«, empörte sie sich.
»Wenn du keine Hure bist, warum ist dein Hemd dann gelb? Jedes Kind weiß, dass eine Hure sich mit dieser Farbe kenntlich machen muss. Und warum bist du dann mit in ein Badehaus gegangen? Wo doch allerorts bekannt ist, dass dort auch Huren Unterkünfte haben und ihre Dienstleistungen feilbieten.« Nickolas schaute sie verwundert an.
Esthers Mund öffnete und schloss sich gleich wieder. Was sollte sie sagen? Wenn sie erzählen würde, sie käme aus der Zukunft, würde er sie mit Bestimmtheit in eine Gummizelle sperren. Obwohl, gab es schon Gummi? Verflixt! Sie musste sich also schnell etwas einfallen lassen.
»Ich … ich komme aus … Mordor … Und mein Gebieter ist Sauron, dessen Lieblingsfarbe Gelb ist. Und die Unterwäsche, wie Ihr sie nennt, ist eine Art Uniform für die … die Angehörigen des Palastes.«
Verdammt und zugenäht, sie war noch nie besonders gut im Lügen gewesen. Warum war ihr jetzt nur der letzte Kinofilm eingefallen, den sie sich allein angeschaut hatte.
Nickolas kam auf sie zu und nahm eine ihrer Locken zwischen seine Finger. »Mordor, hm? Ich kenne dieses Land nicht. Es muss wohl recht klein sein und weit weg von unserem liegen?«
Esther nickte energisch und pflichtete ihm bei: »Ja, es ist geradezu winzig und ist furchtbar weit weg.«
Aber irgendwie schien das den Herzog nicht weiter zu interessieren, denn er rückte noch dichter an sie heran und fragte sie, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt: »Du behauptest also, du wärst noch eine Jungfrau und hättest noch nie bei einem Mann gelegen?«
Mein lieber …, der war ja überhaupt nicht neugierig. Jetzt aber vorsichtig. Ganz vorsichtig, ermahnte sich Esther. Sie musste wirklich aufpassen, dass sie sich nicht mit ihrem Gerede unglücklich machte.
Sie trat einen Schritt zurück, sodass die Haarsträhne seinen Fingern entglitt. Jetzt konnte sie auch wieder etwas freier atmen, denn der Kerl verursachte ihr wirklich Atemnot. Am liebsten hätte sie dem Herzog gesagt, dass ihr Sexleben ihn einen feuchten Kehricht angehe. Aber um ihn nicht wütend zu machen, was sich als Nachteil für sie erweisen könnte, zwang sie sich ihn in ruhigem Ton in die Schranken zu weisen.
»Ich behaupte gar nichts, … Durchlaucht. Aber eine Hure bin ich sicher nicht!«, erwiderte sie kühl und schaffte es, dass sein Titel wie ein Schimpfwort klang.
Nickolas' Gesicht verfinsterte sich. »Ihr seid verheiratet?«
Esther überlegte fieberhaft. Wenn sie zustimmte, würde er sie sicher zu ihrem Ehemann bringen wollen. Würde sie aber sagen, sie wäre noch ledig, würde er sich womöglich als ihr Vormund ausgeben können. Irgendwo hatte sie mal gelesen, dass volljährige Witwen es damals am besten hatten, weil kein Mann über sie bestimmen konnte. Hoffentlich lag sie damit nicht falsch.
»Nicht mehr, Herzog, ich bin Witwe, aber keine Hure«, sagte sie deshalb mit allem Nachdruck. Sie wollte nur noch mal auf Nummer sicher gehen, aber aus irgendeinem Grund hatte diese Antwort den Herzog zufriedengestellt, denn sein Gesicht klärte sich.
»Gut! Und wie willst du deinen Unterhalt bestreiten? Hast du Besitztümer wie Gold oder Ländereien? Oder hast du …«, dabei schmunzelte er anzüglich, »… besondere Talente oder … Vorzüge, die du anbieten kannst?«
Esther schluckte. Himmel, Arsch und Wolkenbruch, jetzt war sie in der Zwickmühle. Der Kerl war kein Trottel und sie keine Idiotin, daher verstand sie sofort, auf was er hinauswollte.
»Nun, Weib?«
Er bedrängte sie sowohl mit Worten als auch mit Körpereinsatz. Nickolas kam näher und näher, bis Esther die Wand hart in ihrem Rücken spürte. Esther konnte nicht mehr klar denken, völlig konfus machte er sie. Ihr Herz raste und heiße Schauer rannen über ihren Rücken. Was wollte er noch mal wissen?
Dann beugte er sich langsam vor und küsste Esthers Mund. Überrascht und ohne Widerstand zu leisten, bot sie ihm ihre Lippen dar, die er genießerisch liebkoste. Er saugte mit weichen Lippen, biss zärtlich mit seinen Zähnen und leckte begehrlich mit seiner Zunge. Auf diese Art war Esther noch nie geküsst worden, oder vielmehr hatte es sich noch nie so angefühlt. Wirbel aus süßer Lust sprudelten in ihr hoch und zogen sie mit sich.