Impressum
Texte© Copyright by Anna Gyger
Umschlag© Copyright by Simon Gyger
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
Anna Gyger Schänzlistrasse 43, 3013 Bern, Schweiz
anna.gyger@me.com - Illustrationen© und Copyright by Anna Gyger
Erscheinungsdatum: November 2020
ISBN Nr: 9783743119789
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die
Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut
schen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
Internet über www.dnb.de abrufbar.
Mein Name ist Marlon und ich habe bereits acht Geburtstage gefeiert, meine Geburt eingeschlossen. Meine Mama findet das ganz schön viel. Ich nicht, denn es dauert schlicht eine Ewigkeit, bis der nächste Geburtstag da ist. Eigentlich ist der Geburtstag das Allerschönste im Jahr. Weil es eben ganz alleine mein Tag ist. Es ist schön, wenn einem ein Tag gehört, denn sonst muss man ja immer alles teilen mit anderen. An meinem Geburtstag aber, da wache ich auf und laufe so schnell ich kann aus meinem Zimmer in die Stube. Alles ist dort schön geschmückt, da Mama am Vorabend immer lange aufbleibt und meinen Tag vorbereitet, wenn ich eingeschlafen bin. Es ist das allergrösste Glück, wenn am Morgen ein Geburtstagstisch bereit steht mit bunten Servietten, Kerzen und Schokolade drauf. Natürlich hat es auch ein paar Geschenke auf dem Tisch stehen und eine Girlande aus Wimpel Fahnen hängt an der Wand. Manchmal hängt die Mama auch Fotos von mir auf, von der Zeit als ich noch klein war. Und sie backt Kuchen. Sie backt eigentlich sehr viele Kuchen, denn es gibt hier viele Leute, die mitessen wollen.
Ich bin nämlich ein Breitsch- Kind. Das bedeutet, ich bin ein Junge, der mitten in der Stadt wohnt. Nicht in irgendeiner Stadt, nein, sondern in Bern. Und eben, im Breitsch. Das ist ein berüchtigt verrücktes Stadtquartier, das man mit dem 9er Tram vom Bahnhof her finden kann. Wenn man an der Zytglogge vorbei über die grosse Brücke fährt, von wo man so schön das Münster und die Berge sehen kann, dann ist man im Breitsch. Das ist mein Lieblingsort auf dieser Welt. Über die grosse Brücke hinunter in die Stadt - oder hinauf zu unserem Haus - zu gehen, macht mich immer froh, weil es einfach so schön ist. Die Brücke ist so hoch, dass man lieber nicht runterschauen möchte, aber wenn man mutig ist und es doch tut, dann sieht man weit unten die Aare, unseren Lieblingsfluss. Er ist so schön, weil er türkisblau ist und einen riesigen Bogen um die Stadt zieht. Man kann also - wenn man gross ist - mit einem Boot mitten durch die Stadt fahren und beinahe einmal rund herum. Im Sommer kann man von dieser Brück hinunterschauen und sieht ganz viele Gummiboote und kleine Köpfe von Leuten, welche durch die Stadt schwimmen. Wir finden das lustig, mein Bruder und ich und hoffen, dass wir bald gross werden, um mitmachen zu dürfen. Bern ohne den türkisblauen Fluss wäre nicht Bern, sagt Papa. Ich bin auch glücklich, dass die Aare da ist, so gibt es auch viele grosse Brücken in der Stadt, die mich froh machen.
Wenn ich nicht über die grosse Brücke gehe, sondern einfach beim grossen Aarehang runterlaufe, hat es viele steile Treppen, die bis hinunter zum türkisfarbenen Fluss führen. Oder man geht noch etwas weiter nach Osten - bis zum Rosengarten. Wart ihr schon mal im Rosengarten?
Es ist mein Garten - den ich mit ganz vielen anderen teile weil er zu schön ist für jemanden alleine.
Wir spazieren oft dorthin, manchmal im Frühling, manchmal im Sommer, manchmal im Herbst oder im Winter. Zu jeder Jahreszeit blüht etwas anderes. Mal sind es die Pfingstrosen, dann blühen alle Büsche zusammen um die Wette und ich muss ihnen ganz lange dabei zuschauen. Später kann man die Seerosen im Teich bestaunen und im Spätsommer dann die richtigen, echten Rosen. Es gibt sie in allen Sorten und Farben. Sie duften alle verschieden, das schwöre ich. Aber es gibt dort auch Kletterbäume, Büsche um sich zu verstecken, Bänke um lange nur da zu sitzen und einen Drachenspielplatz, wo man den ganzen Tag klettern kann. Und es gibt die eine Mauer, auf welcher immer alle sitzen müssen, weil Bern so hübsch ist und man es von der Mauer ebenso gut sehen kann.
Wenn ich also beim Rosengarten rechts runter laufe, dann kommt eine Allee mit riesigen, knorrigen Bäumen die sich den ganzen weiten Abhang hinunter bis zum Fluss zieht. Dort unten, bei der Aare, da wohnen die Bären.
Und wer sie besucht, der bekommt ein heiteres Herz, das weiss ich. Manchmal muss man sie suchen, weil sie sich verstecken. Manchmal kann man ihnen beim Schwimmen oder beim Fressen zuschauen. Abends, wenn ich im Pyjama auf der Fensterbank sitze, winke ich ihnen manchmal zu und wünsche ihnen eine gute Nacht.
Weil nämlich sie es sind, die Bern zu Bern machen.
Eine Legende erzählt, das vor langer, langer Zeit der Herzog Berchtold von Beringen die neue Stadt nach dem ersten Tier benennen würde, das er auf der Jagd antreffen würde. Und da war es eben ein Bär, der ihm zuerst vor die Armbrust oder die Lanze geriet. Das ist es, warum wir Bären mögen und warum man sie hier so oft antrifft. Die hocken auf Brunnen, auf Dachzinnen, können Seiltanzen, Tram fahren, verstecken sich mit Mandelgeschmack in den Bäckereien und sind einfach unsere besten Freunde.
Wenn ich gross bin, werde auch ich im Wald nach Bären jagen, das steht fest.
Sie ist alt, diese Stadt, wirklich alt. Das mag meine Mama besonders. Sie sagt, sie sehe - wenn sie über die grosse Brücke geht - nur das alte, schöne Bern. Nur im Winter, sagt sie, da könne die Stadt manchmal etwas traurig machen, weil sie so grau ist. Fast alle Häuser sind nämlich aus graubraunem Stein gebaut. Wenn der Himmel tagelang dieselbe Farbe hat und keine Geranien mehr an den Fenstern hängen, dann möchte meine Mama die Stadt heimlich in der Nacht mit vielen verschiedenen Farben bemalen, damit sie nicht so grau daherkommt. Im Winter - habe ich festgestellt - da nehmen auch die Menschen die graue Farbe an und ich würde gerne ihre Kleider etwas farbiger zaubern.
Im Sommer aber, da hängen die Menschen rote Geranien vor die Fenster, stellen Palmen auf die grossen Plätze, hissen Fahnen und beleben die Gassen. Dann strahlt der graue Stein einem entgegen. Dann tragen die Leute bunt und strahlen zurück. Im Sommer ist Bern am allerschönsten.
Also, ich bin Marlon. Marlon der Stadtjunge. Der Bub aus dem Breitsch. Dort, mitten im Gewühl. Wie ist das, ein Stadtjunge zu sein? Wie wäre es, kein Stadtjunge zu sein?
Die Mama hat mir erzählt von damals, als sie noch klein war. Das Haus, in dem sie Kind war, stand neben einem grossen Wald. Der Papa - mein Grossvati - ging im Herbst mit ihnen zum Pilze sammeln, hat sie erzählt. Und im Sommer ist er mit dem Einachser durch den Wald gefahren, während sie auf dem Anhänger sassen, ohne Kindersitze und Sturzhelme. Sie hat mir erzählt, dass am sie am Morgen vor ihrem Zimmerfenster nur eine Wiese mit zwei Bäumen vor dem dahinterliegenden Wald gesehen habe. Da haben Schafe gegrast, und die beiden Esel, die ebenfalls in dem Haus am Waldrand wohnten. Ein Esel wäre auch schön, denke ich. Aber wir haben noch nicht mal eine Garage für das Auto und auf der Strasse ist es für Esel gar ungemütlich.
Meine Mama hat gesagt, sie sei als Kind manchmal einfach still dagesessen und habe sich gewünscht, dass der Augenblick nie vergehen würde, weil es einfach so herrlich war.
Weil im Spätsommer das Heu so wunderbar roch und die Abendsonne die Felder goldig malte. Weil man den Äpfeln beim Wachsen zuschauen konnte und im Sommer in der Dämmerung den Weizenfeldern entlang wandern konnte um die feinen Härchen zwischen den Fingern spüren. Die Grillen haben gezirpt in den Sommernächten und im Frühling die Vögel vor dem Fenster den Morgen begrüsst. Es sei so schön gewesen, weil es kleine Wäldchen gab, die einem ganz alleine gehörten und die man besuchte, wenn man sie vermisste. Dort störte niemand und man konnte sitzen und horchen und riechen, so viel man wollte. Es war schön, weil es noch so viel Zeit gab, die einem gehörte. Weil es Trauerweiden gab am Bach und man sich darin verkriechen konnte, wenn man nachdenklich war. Weil man allein sein konnte, wenn man es wollte - oder springen und jauchzen, wenn man sich freute - ohne gehört zu werden.
Sie hat erzählt, es habe bei ihr keinen Spielplatz gegeben, noch nicht mal eine Gelateria oder eine Bäckerei mit den vielen herrlichen Kuchen. Da tut sie mir etwas leid.
Sie hat gesagt, sie habe im Wald gespielt und mit Schwertern gegen die Bäume gekämpft - die in der Phantasie stets schwarze Skelette waren - die dringend besiegt werden mussten. Viele Schlachten habe sie da geschlagen. Sie haben Hütten gebaut und Detektiv Geschichten gespielt. Das hat sie all die Jahre getan. Ich kann das verstehen, denn ich finde Detektiv Geschichten auch toll. Und Schwerter habe ich auch viele.
Der Garten vom Grossvati ist voll mit Apfelbäumen und Beerensträucher. Um sein Haus gibt es überall Gemüse, Früchte und Beeren, so dass er fast nie in die Migros fahren muss. Des Grossvatis beste Freunde sind die Hühner, die heute und schon immer bei ihm wohnten. Deshalb hat er immer zu viele Eier und bringt sie mit dem Zug zu uns in die Stadt. Ich freue mich immer, dass Eier so weit reisen dürfen. Denn ich reise auch gerne zum Grossvati. Es ist weit. Man muss drei Mal umsteigen und kann lange aus dem Zugfenster sehen. Dann zähle ich immer die Tunnels, durch die wir hindurchmüssen, bis wir dann beim Grossvati sind. Er macht uns fast immer Omelette mit Apfelmus und Honig. Weil es uns so glücklich macht.
Dass hinter seinem Haus meistens Kühe grasen, freut mich. Und auch Pferde gibt es zu sehen. Bei uns in der Stadt, da hat’s dafür wie gesagt Bären. Die echten, die wohnen gleich unten am Berg bei uns und wir können sie so oft besuchen, wie wir möchten. Aber im Winter sieht man sie nicht, weil sie da schlafen. Da hat man’s mit Kühen besser.
Wenn wir zur Oma und ihrem neuen Mann fahren, sieht es auch so schön aus wie bei dem Grossvati.
Auch bei ihr gibt es Hühner. Sie mag Vögel und erzählt mir immer Geschichten von ihnen. Man kann sie vom Küchen