Auftrag: Mord ! – Deutscher Herbst
Teil 2 aus der Reihe Auftrag: Mord !
von Thomas Herzberg
Alle Rechte vorbehalten
Coverbild: © Friedberg - Fotolia.com
Fassung: 2.0
Die Geschichte ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und/oder realen Handlungen sind rein zufällig. Ebenso sind Namen und Orte zufällig gewählt. Sämtliche Äußerungen, insbesondere in Teilen der wörtlichen Rede, dienen lediglich der glaubhaften und realistischen Darstellung des Geschehens. Ich verurteile jegliche Art von politischem oder sonstigem Extremismus, der Gewalt verherrlicht, zu selbiger auffordert oder auch nur dazu ermuntert!
Lektorat: Michael Lohmann, worttaten.de
Fürchterliche Terroranschläge ungeahnten Ausmaßes erschüttern Deutschland, verbreiten Angst und Schrecken in der Bevölkerung. Erst als die Bundesregierung Martin Seibler auf den Plan ruft, stellt sich den Terroristen ein ernstzunehmender Gegner, der ebenfalls bereit ist, über Leichen zu gehen. Ein Wettrennen beginnt, das seinen Showdown erst vor der Küste Kretas findet ...
Deutscher Herbst. So bezeichnet man bis heute die Zeit im September und Oktober 1977. Seinerzeit wäre es der RAF beinahe gelungen, das politische Gefüge und damit ein ganzes Land ins Wanken zu bringen. Fast vier Jahrzehnte später plant eine Gruppe fanatischer Extremisten, die damaligen Geschehnisse noch bei Weitem zu übertrumpfen.
Terrorverordnung der Bundesregierung:
Nach den verheerenden Terror-Anschlägen der vergangenen Monate tritt mit sofortiger Wirkung die folgende Verordnung in Kraft:
Die im Anhang genannten Einheiten der Bundeswehr werden mit uneingeschränkten Polizeibefugnissen ausgestattet. Ferner wird die Truppenstärke durch Mobilmachung der Reserve auf das verfügbare Maximum erhöht.
Menschenansammlungen sind zu vermeiden beziehungsweise schnellstmöglich aufzulösen. Ferner werden alle Städte ab 100.000 Einwohnern zum Sicherheitsbereich erklärt. Personenkontrollen, Platzverweise oder Festnahmen dienen hierbei nur dem Gesamtwohl der Bevölkerung.
Jeder Mitbürger ist verpflichtet, sich nach Aufforderung umgehend auszuweisen. Sämtliche Sicherheitskräfte sind ausdrücklich angewiesen, notfalls auch ohne vorherige Warnung, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen.
Hamburg, drei Monate zuvor …
Andrea war wie immer spät dran. Es gab nichts, was sie mehr hasste, als diese dämliche Frühschicht. Seit fast einem Jahr arbeitete sie in einer kleinen Boutique, die in der zweiten Etage eines gigantischen Shopping-Centers lag. Warum um diese Zeit, kurz vor acht, bereits eine ganze Horde von Kunden vor den riesigen Drehtüren auf Einlass wartete, konnte sie sich nicht einmal im Ansatz erklären. Es war ja nicht so, dass es in den ersten beiden Stunden alles zum halben Preis gäbe. Oder man jeden zehnten Kunden mit einer Traumreise nach Hawaii überraschte. Wenn man es genau nahm, war vielmehr das Gegenteil der Fall. Ab Mittag, wenn die Umsätze bis dahin nicht ein gewisses Mindestsoll erfüllten, waren die meisten der Verkäuferinnen sogar befugt, Kunden erhebliche Rabatte einzuräumen. Was also wollte diese Horde geifernder Rentner, Hausfrauen und Arbeitsloser um diese Zeit hier?, fragte sich Andrea.
Mittlerweile gründlich genervt schloss sie – es war kurz nach acht – die Tür zu der Boutique auf. Gleich ihr erster Blick fiel aufs Telefon, das auf dem Tresen direkt neben der Kasse stand.
»Verdammte Scheiße«, flüsterte sie, nachdem sie feststellen musste, dass um zwei Minuten nach acht bereits jemand aus der Zentrale angerufen hatte. Nach kurzem Überlegen drückte sie jetzt die Rückruf-Taste. Was sollte schon passieren?
»Ja, Andrea Breuer hier. Ich glaube, jemand von Ihnen hat hier angerufen«, stammelte sie. Ihre Hände waren schweißnass, sodass sie kaum den Hörer vernünftig halten konnte.
»Das war ich, Frau Breuer.«
»Na, das passt ja«, antwortete sie so fröhlich wie möglich. »Ich bin nach dem Aufschließen direkt ins Lager runter. Hab’ das Telefon wohl nicht gehört.« Sie garnierte ihre Märchengeschichte noch mit einem albernen Kichern, das ihr sogar selbst mehr als dämlich vorkam.
»Wann haben Sie denn aufgeschlossen?« Allein die Art der Frage und dazu der eiskalte Ton am anderen Ende verhießen kaum etwas Gutes.
»Kurz vor acht! Wieso?«
»Frau Breuer!« Jetzt war der Ton auf den absoluten Nullpunkt abgesackt. »Ich weiß nicht, ob es Ihnen bekannt ist, aber wir können hier in der Zentrale genau sehen, wann Sie die Alarmanlage deaktivieren. Acht Uhr und vier Minuten.« Allein der letzte Satz wirkte auf Andrea wie ein Hinrichtungsbeschluss. So wie es aussah, müsste sie in den nächsten Wochen mal wieder die Stelleninserate studieren. Und das, obwohl ihr Konto ohnehin bis zum Anschlag überzogen war. Ihr Ex-Mann zahlte den Unterhalt für sie und ihre Tochter in eher unregelmäßigen Abständen. Letztes Jahr zwei Mal – im Februar und im November, glaubte sie sich zu erinnern. Und in diesem Jahr, obwohl es schon Mai war, noch kein einziges Mal.
Herzlichen Glückwunsch, Frau Breuer! Sie haben ihre Eintrittskarte in die Welt der Armut gelöst. Als Hauptdarsteller sehen Sie …
im ersten Akt: ihren aufgebrachten Vermieter
im zweiten: den Gerichtsvollzieher
und im Finale: die freundliche Sachbearbeiterin des Hartz-IV-Jobcenters.
»Ich bin nächste Woche ohnehin in Hamburg«, tönte es am Ende, gefolgt von einem heftigen Schnaufen. »Ich erwarte Sie also am Donnerstag gegen vier zu einem Personalgespräch.« Danach hatte der namenlose Kerl einfach aufgelegt und sie wie einen begossenen Pudel hinterlassen.
»Fick dich doch selbst, du blöder Arsch!«, schrie Andrea, obwohl das Gespräch lange beendet war. Vergessen hatte sie allerdings, dass sie gleich nach dem Aufschließen die breiten Glastüren der Boutique schon vollständig aufgeschoben hatte. Zwei ältere Frauen – die typischen Schnäppchenjägerinnen – schauten verwirrt in den Laden hinein, um danach eiligen Schrittes zu entschwinden. Wütend schleuderte Andrea ihre Handtasche auf den Tresen, was mit lautem Scheppern endete. Dieses stammte zweifellos von dem großen Joghurtglas, das sie in ihrer Tasche verstaut hatte, bevor sie ihre Wohnung verließ. Damit war nicht nur ihr Mittagessen dahin, sondern sicherlich auch der größte Teil ihrer Habseligkeiten. Was die Tasche selbst anging, so dürfte die vermutlich sogar in einigen Wochen noch nach Joghurt stinken.
»Verdammte Sch...«, sie biss sich auf die Zunge.
Als ihr Blick jetzt wieder Richtung Eingang fiel, wartete dort bereits der nächste Tiefschlag: Irgendein hirnverbrannter Kurierdienst-Fahrer stellte in diesem Moment eine monströse Euro-Palette direkt vor der Tür zur Boutique ab.
Hat der Kerl nicht mehr alle Nadeln an der Tanne?
»He, Sie da! Sie wollen das Ding doch nicht allen Ernstes hier vor unserer Tür abstellen. Wie sollen denn die Kunden daran vorbeikommen? Ziehen Sie das Teil wenigstens neben den Pfeiler.«
Der Mann im grauen Overall schaute sie nur verwirrt an. Statt ihr zu antworten, ließ er jetzt die Gabel der Ameise absinken und zog das Transportgerät mit einem heftigen Ruck unter der Palette heraus.
»Haben Sie mich überhaupt verstanden?«, krähte Andrea noch giftiger als zuvor. »Wenn Sie den Mist hier nicht gleich wegschaffen, rufe ich die Center-Leitung an. Dann können Sie Ihren Arsch ab morgen zum Arbeitsamt schleppen.«
Anstelle einer Antwort drehte sich der Kurier nur wortlos um und entschwand mit langen Schritten.
Wütend, fast hysterisch trommelte Andrea mit ihren zierlichen Fäusten auf den Kartons herum, die ihr bis zur Brust emporreichten. Sie betrachtete frustriert den schmalen Durchgang, der zwischen Geländer und den Ladentüren noch übrig war. Ausgerechnet vor einem der gigantischen Stützpfeiler hatte dieser Kerl seine Palette abgestellt. Vier dieser monströsen Bauwerke trugen das komplette Dach, dessen Konstruktion allein über hundert Tonnen wog. Das hatte Andrea in einem Prospekt gelesen, als sie damals auf den Bezirksleiter und ihr Vorstellungsgespräch wartete. Vorsichtig tastete sie sich jetzt zum Geländer vor. Von hier oben konnte man das gesamte Shopping-Center überblicken und direkt bis ins Erdgeschoss hinabschauen. Kopfschüttelnd betrachtete sie einige der herumwieselnden Kunden, die aus dieser Höhe fast wie Ameisen wirkten. Sie wollte schon in die Boutique zurückkehren, als ihr ein weiterer Kerl auffiel, der, ebenso wie sein Kollege, auf der gegenüberliegenden Seite eine Palette absetzte.
Langsam wurde es ihr unheimlich. Konnte das Zufall sein? War es möglich, dass so viele Läden Lieferungen in einer solchen Größenordnung erwarteten? Sie schaute zu den anderen beiden Pfeilern hinüber und stellte fest, dass auch vor diesen bereits identische Kartonberge emporragten.
Andrea spürte, wie ihre Finger zu zittern anfingen. Heiße Schauer erfüllten zuerst ihren Bauchraum und wenig später ihren gesamten Körper. Immer schneller potenzierten sich ihre schlimmsten Befürchtungen. Sie erinnerte sich an die Terrorwarnungen, die seit Wochen alle Tageszeitungen füllten. Pausenlos berichteten die Nachrichten über Hinweise auf bevorstehende Attentate einer ungeahnten Größenordnung. Als ihr Blick dann erneut auf die Palette fiel, erkannte sie, dass zwischen der zweiten und dritten Kartonreihe überdies noch ein paar Kabel herausragten.
Kein Zweifel!
Kein Zufall!
Aber was sollte sie tun?
Obwohl man im Fernsehen gerne die verzweifelte Frau belächelt, der es erst nach Minuten einfällt, die Polizei zu rufen, versagen einem selbst häufig die simpelsten Instinkte. Auf weichen Knien – wie am Freitagabend, nach zwei Flaschen Prosecco und einigen Bieren, die sie am Ende nicht einmal mehr gezählt hatte – wankte Andrea in den Laden zurück. Wie ferngesteuert griff sie nach dem Hörer und musste sogar kurz überlegen, welche Nummer man wählte, um schnellstmöglich Hilfe herbeizurufen.
Die 112 oder die 110?
Notruf oder doch die Polizei?
Ein seltsames Knistern hinter ihr – gefolgt von angsterfüllten Schreien, die eindeutig von derselben Etage herüberdrangen – unterbrach ihre Gedanken. Nein, das Knistern machte Nachdenken überflüssig. Reflexartig hechtete Andrea zur Treppe hinüber, die nach unten führte, in die erste Etage zum Warenlager der Boutique. Sie hatte kaum die Hälfte der Stufen hinter sich, als das passierte, was in den kommenden Wochen die Schlagzeilen sämtlicher Tageszeitungen füllen würde ...
Am Abend zuvor in Hamburg-Billstedt
Amirs Wohnung vereinte alles auf sich, was eine typische Studentenbude ausmacht. Abgesehen davon, dass es sich nur um einen einzigen Raum handelte, war der auch noch mit einem Sammelsurium aller möglichen billigen Möbel vollgestopft. Direkt neben der Eingangstür auf der rechten Seite hatte Amir ein schmales Paar Schranktüren platziert, hinter dem wohl jeder die Kleidung des Arabers vermutet hätte. Stattdessen stieß man hier jedoch auf eine uralte Küchennische mit zwei Regalen, ebenso vielen Herdplatten und einer Spüle wie aus einer Puppenküche. Gegenüber der Nische: die Toilette. Wer dort eine Drehung um die eigene Achse vollführen konnte, hatte gute Aussichten auf einen Job als Entfesselungskünstler. Die Wände seines Zimmers hatte er wahllos mit Postern zugeklatscht, deren Motive von den üblichen Walfischen bis hin zu einem Sonnenuntergang irgendwo in der Karibik reichten.
Um den Tisch herum, der aus drei Umzugskartons bestand, auf die Amir eine fingerdicke Holzplatte gelegt hatte, saßen an diesem Abend insgesamt elf Männer. Sie hatten ihre Teetassen, so gut wie es eben ging, auf der Platte platziert und lauschten in diesem Moment angespannt den Ausführungen ihres Gastgebers.
»Brüder!«, begann Amir jetzt aufs Neue, nachdem er tief Luft geholt hatte, »am morgigen Tag lassen wir das Feuer der Vergeltung auf unsere Peiniger herabregnen. Ein erster Schritt, der keinen Zweifel daran lässt, wozu wir bereit sind, bis man uns endlich das zurückgibt, was uns zusteht.«
Die Männer klatschten und jubelten, bis Amir ihnen mit einer sanften Handbewegung Einhalt gebot. »Was die Aktion Flammendes Schwert angeht, so sind die Aufgaben eindeutig verteilt: Eyad und Fadi übernehmen gegen sechs Uhr die Kurierfahrzeuge und schaffen die Sprengsätze in den zweiten Stock des Einkaufscenters. Passt auf, dass ihr sie genau dort abstellt, wo wir es in den Plänen eingezeichnet haben«, ermahnte er die beiden mit strengem Blick. »Ich selbst warte schon vor der Tür, eine Stunde, bevor das Center öffnet. Wenn die Bomben platziert sind, dann zünde ich sie per Handy.« Bedeutungsvoll hob er nun sein Smartphone empor, als ob es sich um ein heiliges Relikt handelte. »Wenn Allah es will, dann werden morgen früh Hunderte von Menschen für das büßen, was uns die Ungläubigen seit Jahrzehnten antun.«
Jetzt murmelten die Männer aufgeregt durcheinander und malten sich aus, welche verheerende Wirkung ein solcher Terroranschlag auch langfristig auslöste.
»Ich habe heute Morgen mit dem General gesprochen. Er hat mir mitgeteilt, dass der Topf gestern die Eine-Milliarde-Dollar-Grenze überschritten hat. Damit ist unsere Kriegskasse prall gefüllt. Trotzdem mahnt er uns zur Vorsicht und Bescheidenheit. Allein für die Aktion Bundesliga kann schon leicht die Hälfte davon draufgehen. Es ändert sich also nichts – wir bleiben die Bettelstudenten, die sich über einen Becher Tee oder ein Stück Brot freuen, als sei es das erste an jenem Tage.«
Wieder schwoll lautes Gemurmel an. Keiner hätte auch nur zu träumen gewagt, dass sie irgendwann über eine solche Menge Geld verfügten. Blutgeld, das sie nutzen würden, um weiteres Blut zu vergießen.
»Wir sind alle Mitte dreißig«, protestierte jetzt einer der Männer. »Wie lange nimmt man uns das mit den Dauerstudenten noch ab?«
»Beruhige dich. Uns sieht man nur selten unser Alter an. Du könntest ebenso Ende zwanzig sein ...«
»Stimmt! Mich hat letzte Woche eine Kassiererin nach meinem Ausweis gefragt, als ich ein Sixpack kaufen wollte.«
Die Männer schüttelten sich vor Lachen. Keiner sagte es, aber dieser kurze Moment der Entspannung tat gut und entließ ein wenig von dem Druck, der auf ihnen allen lastete.
»Jetzt, liebe Freunde«, begann Amir aus Neue, »wird es Zeit, letzte Schritte zu planen. Eyad und Fadi, ihr bleibt! Genau so wie Idris und Kamal. Der Rest von euch sollte nachhause zu Weib und Kind gehen. Betet für eure Brüder, dass Allah ihnen die Kraft geben möge, damit sie in der Stunde der Rache standhaft bleiben.«
Nachdem Hunderte von Küssen und Handschlägen ausgetauscht waren, blieben nur fünf Männer zurück, deren Gesichter Entschlossenheit und Härte widerspiegelten.
»Was machen unsere Bierlaster, Kamal?«, wollte Amir wissen, während er vorsichtig an seinem Tee nippte.
»Ab nächste Woche beliefern wir die ersten zwei Stadien. Im Monat darauf kommen weitere drei dazu.«
»Und was ist mit den anderen?«
»Drei können wir komplett vergessen. Ein Stadion, das nach einer Biersorte und damit seinem Hauptsponsor benannt ist, nimmt niemals ein anderes Bier in sein Programm auf, selbst wenn wir es verschenken.«
»Bleibt also noch eines übrig, das wir auf unsere Seite ziehen können? Falls es am Preis liegt, dann gehen wir noch weiter runter.«
»Da sind wir in Verhandlungen – sieht ganz gut aus.«
Amir rieb sich nachdenklich das Kinn und starrte mit leerem Blick auf eines der Poster. »Also soll ich dem General berichten, dass es ganz gut aussieht und dass du dir Mühe gibst, ja?«
Kamal stammelte und haspelte, ohne dass ihm ein vernünftiger Laut über die Lippen kam.
»Was ist?«, schrie Amir und sprang im gleichen Moment auf, was sogar den provisorischen Tisch ins Wanken brachte. »Was soll ich ihm deiner Meinung nach erzählen?«
»Du kannst ihm sagen, dass es ab nächste Woche insgesamt sechs Stadien sind – du hast mein Wort darauf«, antwortete Kamal gepresst. Jetzt klopften ihm seine Gefährten auf die Schulter und nickten anerkennend.
»So will ich dich hören, mein Bruder«, kommentierte Amir knapp die Offenbarung seines Mitstreiters. »Ansonsten kann ich euch verraten, dass ich noch an einer weiteren Sache arbeite, die unsere Aktion Bundesliga sogar um einiges übertreffen könnte.« Zufrieden schaute der junge Araber jetzt in die verwunderten Gesichter seiner Kameraden. »Lasst euch überraschen! Vielleicht kann ich schon beim nächsten Treffen etwas darüber erzählen.«
»Und was planen unsere Brüder aus den anderen Städten?«, wollte Idris wissen.
»Das werden wir erst erfahren, wenn es dort knallt. Aber seid versichert: Dieser Heilige Krieg wird bald ganz Deutschland in seinen Strudel ziehen – von München bis nach Flensburg. Der Stachel unserer Rache wird sich von allen Seiten brennend in ihr Fleisch bohren.«
***
Früher Morgen. Amir hatte kaum ein Auge zugetan, fühlte sich aber trotzdem von einer Urkraft erfüllt, die ihresgleichen suchte. Er passierte die Schranke zum Parkhaus und hielt erst an, als er dessen oberste Etage erreicht hatte. Nach kurzem Überlegen steuerte er seinen klapprigen Polo in eine Parklücke, die nur unweit vom Treppenhaus entfernt lag. Eiligen Schrittes verließ er wenig später den trist wirkenden Betonklotz und überquerte die große Kreuzung, hinter der bereits das riesige Shopping-Center emporragte. Jetzt schaute er auf seine Uhr, um festzustellen, dass er sogar früher als vorgesehen die erste Station seiner heutigen Reise erreicht hatte. Wenn alles wie geplant verlief, dann sollte noch etwas mehr als eine Stunde vergehen, bis er sein Smartphone aus der Tasche ziehen und die verhängnisvolle Nummer wählen würde. Er selbst hätte in diesem Moment das Parkhaus längst wieder verlassen und dürfte sich schon auf dem Rückweg nach Billstedt befinden. Verbittert dachte er an seine Landsleute, die es mit wahnwitzigen Selbstmordattentaten oder sonstigen Himmelfahrtskommandos versuchten. Ganz egal, wie viele Jungfrauen im danach versprochenen Paradies auch auf Märtyrer warteten, für ihn kam eine solche Verfahrensweise nicht infrage – außerdem wirkte sie bei Weitem zu endgültig. Einen treuen Soldaten opferte man nicht, sondern förderte ihn, um alles aus ihm herauszuholen. Was half einem ein Held, der sich nach seiner Tat nur noch um Jungfrauen im Paradies kümmerte, anstatt weitere Ungläubige zu vernichten?
Wieder schaute Amir auf seine Uhr. Noch genau eine Stunde, dann würde er es regnen lassen ...
Zwei Männer in dunklen Anzügen, die wie Banker aussahen, hatten Andrea am Nachmittag aus dem Krankenhaus abgeholt. Obwohl sie bewusstlos eingeliefert wurde, hatte sie – bis auf ein paar leichte Prellungen und Schürfwunden – keine ernsthaften Verletzungen davongetragen. Auf der Fahrt durch die Stadt bis zum Bahnhof Dammtor hatte sie die ganze Zeit nur fassungslos aus dem Fenster gestarrt. Hamburg wirkte, als ob Bürgerkrieg herrschte. Überall rasten Polizeiwagen durch die Straßen. An fast jeder Kreuzung standen Polizisten mit Maschinenpistolen. Selbst Stunden nach dem verheerenden Anschlag schienen viel zu viele Rettungswagen unterwegs zu sein. Immer wieder flogen Hubschrauber über sie hinweg, die alle möglichen Ziele anpeilten. Die Sonne versank bereits hinter den hohen Gebäuden an der Alster. Das Zwielicht verstärkte die ohnehin trübe Stimmung, die überall zu spüren war. Im Vorüberfahren erkannte Andrea die Gesichter vieler Passanten. Angst war ihnen anzusehen. Furcht vor einem Gegner, den man nicht kommen sah. Einem Widersacher, der heimtückisch, aber mit brutalster Gewalt zuschlug. Ob irgendetwas je wieder so sein könnte wie zuvor? Ob man – vielleicht in einem oder zwei Monaten – wieder unbesorgt durch ein Shopping-Center bummeln könnte? Ohne Angst vor weiteren Bomben oder sonstigem Terror?
Vom Auto aus wurde Andrea in ein unscheinbares Bürogebäude geführt. Gleich in der zweiten Etage brachte man sie in einen riesigen Konferenzraum, wo sie bereits ein gutes Dutzend Männer erwartete.
»Frau Breuer! Bitte entschuldigen Sie diese abrupte Entführung, aber die Zeit drängt, wie Sie sich vielleicht denken können.« Ein hochgewachsener Mann, der sich als Holger Stein vorstellte, erhob sich und kam ihr entgegen. Sein Gesicht verriet einiges über die Anspannung, die allen Anwesenden in den Knochen steckte. Ein zweiter Schlipsträger wies mit einladender Geste auf einen der freien Stühle. »Setzen Sie sich bitte, Frau Breuer.« Danach schenkte er ihr Kaffee und auch gleich Wasser dazu ein.
»Wie viele?«, fragte sie, bevor ein anderer erneut das Wort ergreifen konnte.
»Bis jetzt sind es vierhundertachtzig ... aber bei der Zahl von Schwerverletzten können es bis morgen leicht über fünfhundert werden«, informierte sie dieser Herr Stein tonlos. Er schien so etwas wie der Chef hier zu sein, überlegte Andrea. »Sie sind die Einzige, die einen der Täter gesehen hat, Frau Breuer. Wir brauchen Ihre Hilfe. Je früher wir wissen, wer für diesen Anschlag verantwortlich ist, desto schneller können wir weitere verhindern.«
»Weitere?« Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Wollen Sie damit etwa sagen, dass der Wahnsinn nicht zu Ende ist?«
»Lassen Sie das bitte unsere Sorge sein.« Ein schmächtiger Anzugträger mit viel zu großer Hornbrille schaltete sich jetzt ein. »Wir brauchen Sie, damit Sie uns den Tathergang noch einmal so genau wie möglich beschreiben, aus Ihrer Sicht. Außerdem steht im Nebenraum ein Computer, auf dem die Profile aller uns bekannten Terrorverdächtigen gespeichert sind. Wir hoffen natürlich, dass Sie einen davon wiedererkennen ...«
Nachdem Andrea in nur fünf Minuten ihren Morgen beschrieben und alles erzählt hatte, was sie über diesen Anschlag wusste, führte man sie in den nächsten Raum. Hier saßen zwei junge Frauen vor einem gigantischen Monitor; die Beamtinnen schienen Andrea erwartet zu haben. Wieder bekam sie Kaffee und Wasser dazu.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann hätte ich gerne ein paar Augenblicke zum Durchatmen, bevor wir anfangen«, presste Andrea gequält hervor.
»Das ist kein Problem! Lassen Sie sich so viel Zeit, wie Sie wollen. Die Nacht wird ohnehin lang und wir brauchen bei dieser Sache Ihre volle Konzentration.« Die junge Frau deutete auf den Monitor, auf dem bereits ein erstes Gesicht flimmerte.
»Wie schlimm ist es gewesen«, stammelte Andrea. »Ich meine, wie sah es aus – also danach?«
»Wie 1945! Das komplette Center ist zusammengestürzt. Nur ein paar Einzelne sind unbeschadet davongekommen. Alle, die sich zum Zeitpunkt der Explosion in den Treppenhäusern befunden haben so wie Sie.«
»Und wie bin ich da rausgekommen?«
»Man hat Sie mit dem Hubschrauber aus einem Treppenschacht gezogen. Die Dinger waren alles, was aus dem Schuttberg noch herausragte.«
Andrea spürte Tränen über ihr Gesicht laufen. In diesem Moment erinnerte sie sich daran, wie sie an diesem Morgen alles und jeden verflucht hatte. Auch das Telefonat mit der Zentrale kam ihr wieder in den Sinn. Das Personalgespräch hatte sich vermutlich erledigt.
Eine Dreiviertelstunde später stöhnte Andrea zum ersten Mal erschöpft. »Wie viele waren es bis jetzt?«
»Etwa hundertfünfzig«, antwortete die ältere der beiden Frauen.
»Und wie viele sind es noch?«
»Insgesamt haben wir über tausend in der Datenbank.«
»Dann sollten wir keine Zeit verlieren – gibt es hier auch etwas Essbares?«
Zwei belegte Brötchen und ein hartgekochtes Ei später flimmerten erneut Bilder von Terrorverdächtigen über den Bildschirm. Andrea hatte sich bereits an das obligatorische »Nein« als Kommentar gewöhnt und versuchte nur, von Zeit zu Zeit den Tonfall zu variieren. Im Prinzip sahen diese Araber doch ohnehin alle gleich aus. Es schien im Nahen Osten sowohl eine Einheitsfrisur als auch genormte Bärte zu geben. Nach weiteren fünfzig Gesichtern hatte sie das Gefühl, als ob ihr Schädel explodieren wollte. Lange schon brannten ihre Augen und auch ihr Rücken beklagte sich mehr und mehr über die verkrampfte Haltung, mit der sie auf ihrem Stuhl kauerte.
»Stopp!«, schrie sie dann, als das Gesicht eines seltsam lächelnden Kerles schon fast wieder dem nächsten Platz machen wollte. Andrea atmete nur noch stoßweise. Erneut spürte sie heiße Schauer, die sich bis unter ihre Kopfhaut ausdehnten.
Was war es, das diesen Typen von den anderen unterschied?
Der Leberfleck neben der Nase?
Das spitze Kinn?
Seine stechenden Augen, die keinerlei Wärme oder Gefühl verstrahlten?
Die Antwort auf all diese Fragen war denkbar einfach: Sie kannte den Kerl. Nur wenige Stunden zuvor hatte sie ihn wüst bepöbelt und gedroht, dass sie ihm seinen Arbeitsplatz streitig machen wolle.
***
Im Nebenraum diskutierte man noch immer aufgeregt, ohne dabei auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen.
»Wir sind seit heute Morgen auf Terror-Warnstufe 4! Das hatten wir zum letzten Mal, als Baader und Meinhof unser schönes Land in die Knie zwingen wollten. Was also können wir tun, um diese Kerle zu finden und weitere Anschläge zu verhindern?« Erschöpft ließ sich Holger Stein in seinen Stuhl zurückfallen. »Was, meine Herren ... was?«
Bevor einer der Männer antworten konnte, klopfte es an die Tür und eine der jungen Kolleginnen stolperte herein. »Eyad Afrasi«, rief sie aufgeregt. »Ein Palästinenser, den wir schon seit Jahren auf dem Radar haben.«