ISBN: 978-3-96586-340-8
1. Auflage 2021, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2021 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de
Titelbild: Umschlagsgestaltung Klarant Verlag.
Es handelt sich bei dem Ostfrieslandkrimi »Utkiekermord auf Spiekeroog« um eine frei erfundene Geschichte. Eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Personen, Firmen, Gesellschaften, Behörden, Vereinen oder Örtlichkeiten wären rein zufälliger Natur. Lediglich einige Orte und Polizeidienststellen sind real, aber im Zusammenhang mit der frei erfundenen Geschichte ausschließlich fiktiv eingebunden. Allerdings gibt es den Border Collie Paul wirklich, und er hört sogar – wie im Buch beschrieben – auf die Kommandos des Autors und seiner Frau.
Schönster Sonnenschein mit sommerlichen Temperaturen von über zwanzig Grad begrüßte an diesem Samstagvormittag im Mai die Tagesgäste und Vorsaisonurlauber an der ostfriesischen Wattenmeerküste. In Carolinensiel-Harlesiel trafen beim Hundestrand nach und nach die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Wittmunder Boßelvereins »Lang ant Sloot« ein, die sich für eine Wattwanderung vom Strand Harlesiel zur ostfriesischen Nordseeinsel Spiekeroog angemeldet hatten.
Vier Stunden ambitionierter Wanderung durch Priele, Schlick und Morast lagen vor ihnen, aber es sollten auch spannende Begegnungen mit der Natur werden. Das immer wieder zurückfließende Wasser der Nordsee ließ Blicke und Eindrücke zu, die sonst dem Auge und der menschlichen Wahrnehmung verborgen blieben. Abschließend würden sie dann die Salzwiesen in Spiekeroogs Süden erreichen und sich im Nationalpark-Haus Wittbülten frisch machen können. Dort sollte es Tee, Kaffee und Kuchen geben, um wieder etwas Kraft zu sammeln. Denn mit dem Weg zur Unterkunft im Westen der Insel lagen noch einmal gut vier Kilometer Fußmarsch vor ihnen. Auf Spiekeroog rollten grundsätzlich, außer der romantischen Museumspferdebahn, nur die Handbollerwagen der Kurgäste. Und ansonsten nur die Feuerwehr, der Rettungsdienst und einige genehmigte Fahrräder von Einheimischen.
Joris Hüttinga, ein ostfriesischer Hüne und sportlicher junger Mann Ende zwanzig, zudem der beste Boßler im Verein, zählte seine Leute durch. Sie waren mit zweiundzwanzig Personen vollzählig anwesend. Die meisten von ihnen waren noch unter dreißig. Es lagen mehrere Priele auf ihrem Weg und sie mussten sich darauf einstellen, unter Umständen ein feuchtes Hinterteil zu bekommen, wie sich Wattführer Frithjof Bronsema am Telefon ausgedrückt hatte.
Frithjof stimmte sich gerade noch mit einem Kollegen ab, der mit einer kleinen Gruppe von voraussichtlich acht bis zehn Leuten folgen würde. Grundsätzlich ging Frithjof nur mit etwa zwanzig Teilnehmern in einer Gruppe. Deswegen hatte er einen Kollegen gebeten, eine zweite Gruppe zu übernehmen, sodass er sich nur auf seine geschlossene Teilnehmergruppe konzentrieren konnte. Nach der Begrüßung machte er dann als Erstes eine Einweisung in puncto Sicherheit. Dabei überprüfte er auch vor allem das passende Schuhwerk sowie die Bekleidung – oben warm und unten leicht. Er machte unmissverständlich deutlich: Die Flut kommt zurück und manchmal schneller als erwartet. Also keine Zeit für Alleingänge!
Aber danach wurde es gleich spannend, denn Frithjof war nicht nur ein ausgezeichneter Kenner des UNESCO-Weltnaturerbes Wattenmeer, er war auch ein packender Erzähler. Unter seinem Elbsegler lugte ein grauer, etwas längerer Haarkranz hervor, und sein breites, braun gebranntes Gesicht wurde von einem weißen, kurzen Kruselbart umrahmt. Wenn er so mit seiner kräftigen Figur und in watttauglicher Kleidung vor seiner Gruppe stand, hätte man ihn auch für einen mittelalterlichen ostfriesischen Cirksena-Häuptling halten können.
Das, was mancher Stadtmensch vielleicht auf den ersten Blick als leblose, leicht gewellte Sand- und Schlicklandschaft ansehen würde, ließ Frithjof lebendig werden. Er machte auf die unzähligen Muscheln und Krebse aufmerksam, die dabei waren, sich im Schlick zu verstecken, denn das Wattenmeer war bei Ebbe ein Gourmet-Buffet für unzählige Seevögel. Er zeigte auf die plötzlich aus dem Wattboden wachsenden kleinen Sandberge und Kringel. Kurz darauf hatte Frithjof einen Wattwurm ausgegraben und zeigte ihn auf seiner Hand der staunenden Gruppe.
»Sind das die berühmten Würmer, die man sprichwörtlich manchen wortkargen Ostfriesen aus der Nase ziehen muss?«, wollte einer der Teilnehmer mit einem leichten Schmunzeln wissen. »Ich habe ja keine Ahnung, bin erst vor drei Jahren aus Dortmund nach Wittmund gezogen.«
»Also, bisher habe ich die nur hier gefunden. Einem Krabbenfischer habe ich noch keinen aus der Nase gezogen«, erwiderte Frithjof und erntete das zustimmende Gelächter der Gruppe.
Nicht lange nach ihrem Abmarsch erreichten sie den ersten Priel. Kein Problem. »Und wo is nu mein feuchter Hintern?«, wollte der Dortmunder lachend wissen.
»Lass dich überraschen«, antwortete Frithjof feixend, denn er kannte die Strecke wie seine Westentasche.
Auch den nächsten Priel schaffte die Gruppe ohne Probleme. Aber dann hatten auf einmal alle ein nasses Hinterteil, bis auf den langen Joris, der sich über die anderen lustig machte: »Ich verstehe das nicht, meine Oma sagte immer: ›Lügen haben kurze Beine.‹ Seid ihr das etwa, die die ganzen Fake News in den Social Media verbreiten? Dann bin ich ja wohl der Einzige, der immer die Wahrheit sagt.«
»Ha, mein Lieber, das wüsste ich aber«, protestierte seine Frau Edda. »Von wegen gestern Überstunden! Bei Kalli habt ihr euch die Kante gegeben! Deine Schnapsfahne kam ja schon durch die geschlossene Tür herein, bevor du den Schlüssel ins Loch gefummelt hattest.« Damit hatte sie jetzt die Lacher auf ihrer Seite.
»Ach, Edda, deswegen durftest du heute euer Auto fahren, ich hab mich schon gewundert«, sagte eine Boßlerin zu ihrer Kollegin zur offensichtlichen Erheiterung der Gruppe.
»Hätte ich dich vorher in die Promilletüte blasen lassen müssen?«, fragte Frithjof gespielt besorgt. »Alkohol im Blut kostet im Watt zwar keinen Führerschein, kann aber das Leben kosten. Ich glaube, das ist wohl ein bisschen teurer!«
»Lat man, ik hebb ja ok keen natt Moors kregen, mi geiht good!«, war die flapsige Antwort von Joris.
Die Salzwiesen der Südseite von Spiekeroog waren schon zum Greifen nah, als sich ein breiter Priel vor ihnen auftat.
»Frithjof, können wir den nicht umlaufen?«, fragte der Dortmunder, der sich mit seinen kurzen, stämmigen Beinen eine ziemlich nasse Hose geholt hatte.
»Keine Sorge«, beruhigte Frithjof ihn und die anderen. »Der ist zwar breit, aber nicht tief, und gleich haben wir es schon geschafft. Im Nationalpark-Haus Wittbülten könnt ihr euch frisch machen und Kleidung und Schuhe wechseln. Dort warten schon leckerer Ostfriesentee, Kaffee und Kuchen auf euch.«
Auf der Toilette im Nationalpark-Haus nahm Joris seinen Freund Thor Schiffer auf die Seite. »Wir haben es so eingerichtet, dass der Platz am Kaffeetisch neben Bente gleich für dich frei bleibt. Und ich habe in der Pension von Eddas Schwester schon mal vorsorglich für euch ein Doppelzimmer reserviert. Die Gemeinschaftsunterkünfte im Haus der Begegnung sind zwar preiswert, aber für ein erstes Date wohl kaum das Richtige. Also, Thor, den Rest musst du dann selbst erledigen. Das wirst du ja wohl hinkriegen«, raunte ihm Joris mit einem Augenzwinkern zu. Und mit einem leisen Lachen fügte er noch hinzu: »Wenn ich für dich auch noch mit Bente ins Bett gehen müsste, bekäme ich ganz schön Stress mit meiner Frau, und dann noch in der Pension ihrer Schwester. Obwohl … zu verachten wäre sie ja nicht.«
»Das werde ich schon selbst besorgen, Joris! Vielen Dank für deine Hilfe! Und du meinst, dass Bente wirklich interessiert ist?«
»Man, wie die Edda über dich ausgehorcht hat. Edda ist sich schon wie bei einem Polizeiverhör vorgekommen. Also, wenn du dich nicht ganz dämlich anstellst … Mach es, wie ich schon sagte. Und wenn wir nach dem Kaffeetrinken zum Nordstrand gehen und an der Abzweigung zum Utkieker vorbeikommen, dann sagst du, dass Bente da ein paar Bilder machen will. Und dann verzieht ihr euch. Ich werde es den anderen später schon verklickern, warum ihr nicht zum ›Westpoint‹ nachgekommen seid.«
Bente Heidkamp war eine attraktive Mittzwanzigerin, die vor allem durch ihre rotblonden, langen, leicht gelockten Haare und ihre sexy Figur auffiel. Sie war erst seit kurzer Zeit im Verein, nachdem sie sich als Altenpflegerin von Aurich nach Wittmund hatte versetzen lassen. In Wittmund war ihr Großvater, der dort nach dem Tod ihrer Großmutter in einer Eigentumswohnung allein gelebt hatte, verstorben. Bente und ihre Tante, der jetzt die Wohnung gehörte, hatten sich bis zum Schluss um den alten Mann gekümmert. Und der hatte verfügt, dass seine Enkelin nach seinem Tod mietfrei darin wohnen könnte und nur die Mietnebenkosten übernehmen müsste.
Sie hatte bereits in Aurich aktiv geboßelt. Was lag also näher für sie, als auch hier in den Boßelverein einzutreten? Sie war seit einiger Zeit Single, und Edda hatte unter den Frauen schon verbreitet, dass Bente sich wohl für den schüchternen Thor interessieren würde. Insofern hatte Joris auch gleich Unterstützerinnen gefunden, die dafür sorgen wollten, dass Bente neben Thor zu sitzen kam.
Thor Schiffer war Einzelhandelskaufmann und seit seiner Jugend durch seine Eltern im Boßelverein. Aufgrund seiner Schüchternheit tat er sich bei der Suche einer Partnerin etwas schwer. Dabei war er mittelgroß und sehr sportlich. Außer Boßeln spielte er auch noch Fußball im Verein. Mit seinen blauen Augen und seiner blonden Strubbelfrisur wirkte er eigentlich wie der liebe Junge von nebenan. Zudem war er ein bei allen sehr beliebter Kumpel. In seiner Kindheit litt er an Epilepsie, hatte aber nach mehreren Klinikaufenthalten keine Anfälle mehr gehabt. Schon beim letzten Vereinstreffen hatte er ein Auge auf Bente geworfen, sich jedoch nicht getraut, sie mal zu einem Date einzuladen. Ihr war das allerdings nicht verborgen geblieben, und er hatte schon für ein paar Schmetterlinge in ihrem Bauch gesorgt. Irgendwie gefiel ihr dieser schüchterne Junge. Vor allem hatte er nicht diesen lüsternen Blick, mit dem ihr manche Männer begegneten.
Nach dem Tee- und Kaffeetrinken verabschiedete sich Frithjof. Er wollte mit seinem Kollegen die Spätnachmittagsfähre nach Neuharlingersiel zum Festland zurück nehmen. Kurz darauf brach auch die Boßelgruppe auf. Zehn Teilnehmerinnen und Teilnehmer wollten noch einen Bummel durch das Dorf machen und von dort direkt zum Haus der Begegnung »Westpoint« beim Weststrand gehen. So eine Tour machten die meisten nicht zum ersten Mal. Obwohl auch verheiratete Pärchen dabei waren, teilten sie sich im »Westpoint«, Männer und Frauen getrennt, jeweils die Vier- beziehungsweise Fünf-Bettenräume der Ferienanlage.
Die anderen zwölf wollten noch zum Nordstrand der Insel, um bei der angenehmen Temperatur die Nachmittagssonne für ein kleines Sonnenbad zu nutzen. Später wollten sie dann den ganzen Strand entlang bis zum »Westpoint« gehen. Nach dem Abendbüfett sollte ab einundzwanzig Uhr ein DJ für Stimmung und Tanz sorgen. Da auch für den nächsten Tag gutes Wetter vorausgesagt worden war, wollten sie erst am Sonntag mit der Abendfähre wieder zum Festland zurückfahren.
Etwa zweihundert Meter vor der Strandhalle erreichte die Gruppe die Abzweigung zur Aussichtsdüne mit der Bronzeplastik de Utkieker von Hannes Helmke. Bente, die den ganzen Weg bis dahin direkt neben Thor gegangen war und sich mit ihm unterhalten hatte, blieb stehen und sagte: »Leute, ihr habt doch sicher nichts dagegen, wenn ich mich mal kurz absetze. Ich fotografiere gern und Thor hat mir von der beeindruckenden drei Meter fünfzig hohen Bronzefigur erzählt … Und dann noch ein nackter Mann, da muss doch jede Singlefrau schwach werden«, schob sie mit einem Augenzwinkern nach.
»Kein Problem, Bente. Wir wünschen dir viel Spaß …«, antwortete Joris, um dann noch mit einem Grinsen anzufügen: »… mit dem Utkieker, und zur Not ist Thor ja auch noch da. Ihr findet uns später dahinten am Strand. Andernfalls immer nach Westen dem Strand folgen, und vom Weststrand aus ist das Freizeithaus ›Westpoint‹ ausgeschildert.« Dann machte er sich mit seiner Gruppe auf den Weg.
Bente und Thor folgten dem schmalen, gepflasterten Weg, der dem kurvigen Auf und Ab des Dünenverlaufes angepasst war, bis zur Aussichtsdüne. Die Dünenlandschaft von Spiekeroog war durch eine vielfältige Vegetation gekennzeichnet. Es gab auf der gesamten Insel zudem relativ viel und vor allem auch alten Baumbestand, was ihr den Beinamen »die grüne Insel« eingebracht hatte.
Da stand sie, die große, beeindruckende Bronzeplastik. Der überschlanke nackte Utkieker mit seinen übergroßen bloßen Füßen auf dem Betonsockel hielt nach Nordwest zum Strand hin mit durch seine Hände abgeschatteten Augen Ausschau. Kein Mensch weit und breit. Auch auf dem Weg von und zur Aussichtsdüne, den man von oben zum großen Teil gut einsehen konnte, war niemand unterwegs.
»Man merkt, dass noch Vorsaison ist«, sagte Thor, um überhaupt etwas zu sagen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er mit Bente ganz alleine! »Vielleicht sonnen sich die meisten Gäste, wie unsere Leute auch, dahinten am Strand.«
»Umso ungestörter sind wir hier«, fügte Bente mit einem hintergründigen Schmunzeln hinzu. Dann begann sie den Utkieker aus unterschiedlichen Perspektiven, auch aus den Dünen heraus, zu fotografieren. Schließlich stellte sie sich direkt unter der Figur vor Thor hin und meinte mit einem schelmischen Lächeln: »Was hatte Joris vorhin noch gesagt? Zur Not ist ja auch noch Thor da. Und was mache ich jetzt? Bis da oben komme ich schlecht hin.«
Wobei nicht zu erkennen war, ob sie auf den Kopf der Plastik zeigte oder etwas tiefer, wo der Künstler unübersehbar eine nackte Männlichkeit kreiert hatte. Jedenfalls stellte sie sich auf die Zehenspitzen, schlang ihre Arme um Thors Hals und drückte ihm ihre leicht geöffneten Lippen auf den Mund. So standen die beiden eine ganze Weile und vergaßen die Welt um sich herum.
»Was hältst du von ein wenig Sonnenbaden?«, sagte Bente schließlich. »Es ist immer noch so schön warm, fast wie im Sommer.«
»Können wir nicht noch ein wenig hier bleiben?«, antwortete Thor und zog die junge hübsche Frau zu sich heran, um sie erneut zu küssen.
Nach einer Weile machte sie sich frei und sagte: »Ich hatte nicht vor, den anderen nachzugehen. Ich habe vorhin bei meiner Fotosession da vorne hinter dem großen Busch ein lauschiges Plätzchen entdeckt. Was meinst du?«
»Es ist ja eigentlich Betreten verboten«, antwortete Thor verlegen. »Aber wenn du meinst.«
Kurz darauf waren die beiden in einer kleinen Mulde hinter dem Busch verschwunden. Bente holte eine Decke aus ihrem Rucksack und breitete sie aus. Dann begann sie sich bis auf den BH und den String zu entkleiden.
»Wir wollen doch sonnenbaden«, sagte sie fast entschuldigend und hatte wieder ihr verschmitztes Lächeln im Gesicht. Dann legte sie auch ihren BH ab und posierte sich verführerisch auf die Decke. Thor war ihrem Beispiel bis auf die Unterhose bereits gefolgt, bevor er sich neben sie legte. Sie schmiegte sich an ihn und sie küssten sich erneut. Den weiteren Verlauf bestimmten dann die Hormone.
So war ihnen auch der große Typ mit der dunklen Baseballkappe entgangen, der sie, durch den Busch verdeckt, schon eine ganze Weile beobachtet hatte. Erst als ein Schatten auf Bentes Gesicht fiel, bemerkte sie, dass jemand neben ihnen stand. Im gleichen Augenblick, als eine Hand mit einem mehr als faustgroßen Stein auf Thors Kopf niedersauste, erkannte Bente die Gefahr und stieß einen spitzen Schrei aus.
Unbeeindruckt beförderte der Mann Thor mit einem Stoß seines Fußes vom Körper der jungen unbekleideten Frau herunter. Bente versuchte verzweifelt, ihre Blößen zu bedecken, und befürchtete, jetzt von diesem brutalen Typen mit Gewalt genommen zu werden. Er stand mit gespreizten Beinen gebückt über ihr. Dann schnellte seine Faust vor in Richtung ihres Kopfes. Reflexartig versuchte sie sich mit hochgerissenen Händen zu schützen. Im gleichen Moment ließ er sich auf seine Knie fallen und drückte damit ihre in Richtung Kopf angewinkelten Arme auf den Boden. Die junge Frau wimmerte vor Schmerz und Schreck. ›Die Baseballkappe habe ich doch schon irgendwo gesehen‹, schoss ihr durch den Kopf. ›Aber wo?‹
Im gleichen Augenblick fragte er: »Wo hast du das Päckchen, das dir Jutta gegeben hat?«
In ihrem Kopf lief ein Film ab. Jutta war ihre Freundin aus Aurich. Sie hatte ihr vor Kurzem tatsächlich ein Päckchen gegeben und gesagt: »Bring das an einen sicheren Ort! Das ist meine Lebensversicherung! Wenn mir was passieren sollte, dann übergib das der Polizei! Und stell keine Fragen! Je weniger du weißt, umso besser für dich!« Sie hatte in dieser Woche schon das Gefühl gehabt, dass jemand in ihrer Wohnung in Wittmund gewesen war, als sie im Altenpflegeheim Nachtdienst gehabt hatte. Wer war der Typ und was hatte Jutta mit dem zu tun? Irgendwie glaubte sie fast, Todesangst bei Jutta gespürt zu haben, die sonst eigentlich immer ganz cool drauf war. Deshalb hatte sie auch keine Fragen gestellt.
Ihr blieb nicht viel Zeit zum Überlegen. Dann fühlte es sich an, als wenn eine eiserne Hand sich um ihren Hals legte. »Wo ist das Päckchen?! Meine Geduld hat Grenzen und dein Leben auch!«
Bente überlegte. Von dem Bankschließfach konnte er nicht wissen. Einen Schlüssel gab es für sowas nicht mehr. Der Zugang war ihre Bankkarte mit PIN. Und den Zettel mit der PIN für das Schließfach hatte er nicht entdeckt. Danach hatte sie gestern noch geschaut. Den Zettel hatte sie mit Tesafilm in einem Küchenschrankunterteil für die Kochtöpfe unter die obere Platte geklebt. Nicht einmal Jutta hatte sie von dem Bankschließfach erzählt. Sie musste den Typ loswerden. Deswegen beschloss sie, ihn in die Irre zu führen, und sagte: »Das Päckchen habe ich in meinem Auto im Handschuhfach liegen. Ich hab gemerkt, dass jemand diese Woche in meiner Wohnung gewesen ist.«
»Wow, du bist ja eine ganz Schlaue. Okay, wo steht der Wagen?«
»Wir sind von Harlesiel durchs Watt hierhergekommen. Ein alter dunkelblauer Opel Astra. Steht beim Außenparkplatz Schwerinsgroden beim Campingplatz am Strand Harlesiel«, antwortete Bente mit vor Aufregung brüchiger Stimme, in der Hoffnung, dass der Mann ihr glauben und von ihr ablassen würde. Sie nannte ihm dann auch noch die Autonummer.
»Wo ist der Wagenschlüssel?«
»Am Schlüsselbund in der Seitentasche meines Rucksacks«, erwiderte die junge Frau und schöpfte Hoffnung.
Aber statt sie loszulassen, drückte der Typ ihr den Hals zu, bis ihr junges Leben erlosch. Dann durchsuchte er das Gepäck der beiden jungen Leute, nahm Bentes Schlüsselbund mit Autoschlüssel, ihr Portemonnaie, in dem sie auch ihren Ausweis hatte, sowie beide Handys des Pärchens und steckte alles in seine Tasche. Ohne sich weiter um Bente und Thor, der immer noch bewusstlos neben der Decke lag, zu kümmern, ging er mit langen Schritten den Weg zurück, auf dem er hergekommen war. Ein diabolisches Grinsen lag auf dem Gesicht des Mannes. Den Lover würden nachher eine böse Überraschung und später bei der Polizei ein Erklärungsproblem erwarten. Gut, dass er noch an die Handys gedacht hatte.
***
Thor dröhnte der Schädel, als er langsam wieder zu sich kam. Neben seinem linken Ohr lag ein mehr als faustgroßer, von Wasser und Sand glattgeschliffener Meeresstein. Was war geschehen? Er drehte vorsichtig den Kopf zur anderen Seite. Bente lag nackt auf der Decke und schien zu schlafen. ›Wieso ist sie nackt?‹, tropfte ein Gedanke langsam durch sein Gehirn. Er wollte sprechen, aber außer einem Krächzen kam nichts aus ihm heraus. Dann traf es ihn eiskalt. Nicht schon wieder! Er kannte das Gefühl. Über fünfzehn Jahre hatte er Ruhe gehabt und schon gedacht, es sei für immer vorbei. So langsam kam die Erinnerung. Er war mit Bente beim Utkieker gewesen. Ja, sie hatten sich geküsst, und dann?
In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass auch er nackt war, und es fröstelte ihn. Er hatte keine Ahnung, wie lange er hier schon gelegen hatte. Es könnten Minuten, aber auch Stunden gewesen sein. Er versuchte vorsichtig den Kopf zu heben. Dann fasste er sich an den schmerzenden Hinterkopf. Er blutete. Wahrscheinlich hatte er wieder einen Anfall gehabt und war nach hinten genau mit dem Kopf auf den Stein gefallen. Da war auch frisches Blut dran. Anders konnte es gar nicht sein.
Er versuchte sich aufzusetzen. »Bente! Bente, wach auf!«, kam es schließlich krächzend aus ihm raus. Die Sonne war schon ziemlich im Westen angekommen. Er schaute auf seine Uhr: siebzehn Uhr fünfzehn. »Bente, wir müssen uns was anziehen!«, versuchte Thor die junge Frau zu wecken. Erst jetzt erkannte er, wie hübsch sie eigentlich war, auch und gerade unbekleidet. Es fiel ihm schwer, den Blick von ihr loszureißen und sich aufzurichten. Es schwindelte ihn für einen Moment.
Verdammt, wieso konnte er sich nicht erinnern? Hatten sie oder hatten sie nicht? Er wusste es nicht. Schließlich rappelte er sich hoch und schüttelte Bente leicht am Arm. »Bente, wach auf! Es wird Zeit, dass wir uns anziehen. Du bist ja schon ganz kalt.« Er kniete neben ihr, küsste sie auf den Mund und erschrak. Erst jetzt merkte er, dass sie gar nicht mehr atmete. Panik kroch in ihm hoch. Was war passiert? Dann sah er die Flecken an ihrem Hals und tastete nach ihrem Puls. Nichts! Bente war tot! Wie konnte das sein? Er war inzwischen aufgestanden und hatte ganz automatisch begonnen sich anzuziehen. Weit und breit niemand zu sehen.
Konnte das sein? Hatte er ihr das angetan? Hatte er nach ihr gegriffen, um nach Halt und Hilfe zu suchen? Wenn der Krampf kam, war möglicherweise alles denkbar. Er wusste es aber nicht genau, weil er an diese Phasen, auch von früher, keine Erinnerungen hatte. Das war immer schon bis heute wie ausgelöscht gewesen. Wobei er in den letzten Jahren versucht hatte, die Gedanken an die schlimme Krankheit in seiner Kinder- und frühen Jugendzeit zu verdrängen.
Tränen schossen ihm in die Augen und eine unheimliche Traurigkeit erfasste ihn. Die zarte, gerade erwachte Liebe zu dieser jungen, reizvollen Frau so jäh beendet, und das durch ihn?! … Aber nein! Wenn, dann doch nur durch seine Krankheit! Aber war es wirklich so? Hatte sie sich vielleicht gewehrt? Er wusste es nicht, musste aber vom Schlimmsten ausgehen. Was sollte er nur tun? Er versuchte, Bente ihren String überzustreifen. Aber er konnte es nicht. Weiter als bis zu ihren Kniekehlen kam er nicht.
Thor versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, und suchte nach seinem Handy. Er konnte es nicht finden. Wahrscheinlich war es ihm irgendwo, vielleicht sogar im Watt, aus der Tasche gefallen. Er musste doch eigentlich die Polizei benachrichtigen. Aber auch das würde Bente nicht wieder lebendig machen. Und was sollte er den Beamten sagen?
Schließlich kam er zu einem Entschluss. Sollte er tatsächlich Bente bei seinem Anfall zu Tode gewürgt haben, dann war er juristisch gesehen nicht verantwortlich. Aber vielleicht war es ja ganz anders gewesen? Es könnte doch genauso sein, dass ein Spaziergänger vorbeigekommen war und dass Bente für ihn sogar um Hilfe gerufen hatte. Was wäre, wenn der Mann die Gelegenheit genutzt hätte, um Bente zu vergewaltigen und anschließend zu erwürgen?
Wenn er jetzt die Polizei informieren würde, dann wäre er ja der Verdächtige und die Polizei käme doch gar nicht mehr auf den Gedanken, dass da ein Vergewaltiger dahinterstecken könnte. Die kämen vielleicht – wenn sie von seiner Krankengeschichte erfahren würden – zu dem Schluss, dass er es gewesen war, aber durch seine Krankheit ja sowieso nicht zur Verantwortung gezogen werden könnte. Dann würde er zwar nicht in den Knast gehen, aber der Makel würde bei seinen Freunden und Nachbarn doch ewig an ihm hängen bleiben.
Bei dem Gedanken flossen ihm wieder die Tränen runter. Wie sollte er selbst damit überhaupt weiterleben?! Einen Moment dachte er darüber nach, seiner geliebten Bente nachzufolgen. Aber wie? Sollte er vielleicht auf den Utkieker klettern und sich von oben runterstürzen? Nicht hoch genug, kam er schließlich zu dem Schluss. Das würde höchstens zu ein paar Knochenbrüchen führen. Und dann sah er das traurige Gesicht seiner Mutter vor seinem geistigen Auge und hörte seinen Vater fragen, wer jetzt mal das Geschäft übernehmen sollte. Also auch keine Option! Das wollte er zu allem Unglück für ihn selbst nicht auch noch seinen Eltern antun, dass sie ihren einzigen Sohn zu Grabe tragen müssten.
Ganz automatisch hatte er begonnen aufzuräumen. Bentes Kleidung legte er neben sie auf die Decke, mit der anderen Hälfte der Decke versuchte er sie zuzudecken. Aber sie lag ziemlich mitten drauf. Wie ein Roboter schob er sie zum Deckenrand hin und deckte sie dann, so gut es ging, zu. Vorher hatte er ihr mit Tränen in den Augen noch einmal über ihre schönen Haare gestrichen und ihr einen langen Kuss auf die inzwischen kalte Stirn gedrückt. Ihren Rucksack schob er unter den Busch. ›Und jetzt?!‹, dachte er.
Sollte er jetzt zu den anderen gehen? Was sollte er denen sagen? Schließlich kam ihm der Gedanke, dass Joris doch für ihn ein Zimmer bei seiner Schwägerin gebucht hatte. Er wusste, wo das war, weil sie mal vor Jahren zusammen dort gewesen waren. Der Pensionswirtin konnte er doch einfach sagen, dass Bente einen alten Freund getroffen hätte, der hier einen Wochenendurlaub machte, und mit dem sei sie mitgegangen. Und da es ihm nicht gut ging, weil er gestürzt war, wollte er nicht mehr bis zum »Westpoint« laufen. Das Zimmer hätte er sowieso morgen mit der Karte bezahlt, und dann könnte er mit der ersten Fähre zum Festland zurückfahren.
***
Joris und seine Frau Edda hatten sich frisch gemacht und waren auf dem Weg zum Speisesaal, in dem bereits das Büfett aufgebaut war. Aber die Glastüren zum Fest- und Speisesaal waren noch geschlossen. Sie würden sich noch gut fünfzehn Minuten gedulden müssen.
»Wir könnten doch mal bei deiner Schwester nachfragen, ob Bente und Thor schon eingecheckt haben«, sagte Joris zu seiner Frau.
»Gute Idee«, antwortete sie und kramte ihr Handy aus der Handtasche.
Nachdem die beiden Schwestern sich begrüßt und die aktuellsten Neuigkeiten ausgetauscht hatten, fragte Edda: »Haben eigentlich Bente Heidkamp und Thor Schiffer schon eingecheckt?«
»Der junge Mann kam vorhin hier an und wollte sich gleich hinlegen. Dem ging es wohl nicht so gut. War auch ziemlich blass um die Nase. Er erzählte, dass seine Begleiterin einen alten Bekannten getroffen hätte, der hier das Wochenende verbringt. Mit dem wäre sie mitgegangen. Und er wollte morgen mit der ersten Fähre nach Hause und zu seinem Hausarzt gehen.«
Nachdem die beiden Schwestern das Telefonat beendet hatten, sagte Joris: »Hättest du mit so etwas gerechnet?«
»Eigentlich nicht. So wie sich Bente für das Liebesleben von Thor interessiert hatte, war die irgendwie wirklich an ihm interessiert. Und dann läuft ihr ausgerechnet hier ein alter Bekannter über den Weg. Ich fasse es nicht. Hätte ich eigentlich nicht von ihr erwartet. Aber man weiß ja nicht, in was für einem Verhältnis sie zu diesem alten Bekannten steht. Vielleicht ist das ja ein Ex-Freund, dem sie insgeheim noch nachtrauert. Über ihr bisheriges Liebesleben hat sie nicht mit mir gesprochen.«
»Na, wie auch immer. Aber für Thor tut es mir unheimlich leid. Ich hätte mich so für ihn gefreut. Ich glaube, er leidet bis heute noch an traumatischen Erlebnissen aus seiner Kindheit mit seiner Epilepsie. Ich habe es auch zweimal miterlebt, einmal in der Schule und einmal bei uns zu Hause beim Spielen. Plötzlich fiel er um und fing fürchterlich an zu zittern und sich zu verkrampfen. Er war deswegen auch mehrmals in Krankenhäusern und irgendwann trat es wohl nicht mehr auf. Jedenfalls glaube ich, dass er deswegen auch gegenüber Mädchen schon immer so schüchtern war.«
»Ich weiß, ich kenne seine Geschichte auch von früher. Damals sind wir beide uns ja noch irgendwie aus dem Weg gegangen. Jedenfalls war das eine Zeit, da haben ihn auch Mädchen aus meiner Klasse gerne gehänselt. Heute erledigen das die Social Media. Damals gab es zwar schon Handys, aber Smartphones und Cyber-Mobbing waren da noch nicht so verbreitet wie heute. Aber wie auch immer, tut mir unheimlich leid für ihn. Dabei ist er so ein netter Typ. Immer hilfsbereit und zurückhaltend. Übrigens: Später hätte er so manche aus meiner Klasse haben können, die ihn früher ausgelacht haben, wenn er nicht so schüchtern gewesen wäre. Deswegen hatte mich auch nicht überrascht, dass Bente auf ihn zu fliegen schien. So, ich glaube, sie haben aufgeschlossen. Das Büfett ist eröffnet.«