Simone Krüger

Soziale Arbeit mit Muslimen

Professionelle Kompetenzen im interkulturellen Kontext

2. überarbeitete Auflage

Vorwort zur Neuauflage 2021 von Dr. Sabine Aydt

Vorwort zur Auflage 2019 von Amin Rochdi

Teil 1
Professionelle Kompetenzen in der Sozialen Arbeit mit Muslim*innen

Einleitung

1. Einwanderungsland Deutschland? Muslim*innen in unserer Gesellschaft

1.1 Interkulturelle Öffnung von Regeldiensten und Integrationslotsen in Moscheegemeinden

1.2 Gesellschaftliche Wahrnehmung von Muslim*innen und deren Auswirkung

1.3 Die Zuschreibung von Kollektiven

1.4 Unterschiede in der Verantwortungsübernahme bzw. -abgabe

1.5 Dürfen sich Muslim*innen überhaupt beraten lassen?

1.6 Verhalten sich Muslim*innen muslimisch?

1.7 Facetten der Identität

1.8 Kulturdimensionen von Geert Hofstede

1.9 Stolpersteine in der Aneignung kulturellen Hintergrundwissens

2. Herausforderungen aufseiten der Eltern im Kontext interkultureller Erziehung ihrer Kinder

2.1 Pluralität im Islam

2.2 Moderne versus Tradition

2.3 Die gefühlte Schwächung auf Elternebene

2.4 Der schnelle Rückzug ins Bekannte: die Re-Traditionalisierung

2.5 Die unterschiedlichen Wertehierarchien

3. Herausforderung aufseiten der Fachkräfte im Kontext interkultureller Jugendhilfe

3.1 Das Demokratieprinzip und das Modell Interkulturelle Kompetenz

3.2 Der neugierige Blick in die Welt des Klienten

3.3 Wie können wir einen Kulturschock und die Gefahr von Abwehr verringern?

3.4 Destruktive Kommunikationszirkel

3.5 Der neugierige Blick in die eigene Welt.

3.5.1 Die Subjektive Wirklichkeitskonstruktion

3.5.2 Das Werte- und Entwicklungsquadrat von Schulz von Thun

3.5.3 Fremdheitsfähig werden – die Umwendung zum Selbst

3.5.4 Die Selbstfürsorge – das Sokratische Prinzip

3.5.5 Focusing – eine Methode der Achtsamkeit

3.6 Interaktive Ausgrenzungsmechanismen von Seiten der Fachkräfte im interkulturellen Kontext

3.7 Windows oder Mac?

3.8 Interkulturelle Kompetenz – eine Zusammenfassung

3.9 Die Rolle der Fachkraft in der Unterstützung von muslimischen Kindern und Jugendlichen

3.10 Erziehungsrecht und elterliche Pflichten – die juristische Perspektive

4. Ansätze interkultureller Eltern- und Familienarbeit

4.1 Vom Unterschied zwischen Konsequenz und Orientierung in der Erziehung (von Michael Ströll)

4.2 Türöffner und Stolpersteine in der Elternarbeit

4.3 Kulturelle und religiöse Dolmetscher*innen

Teil 2
Religiöse Quellen als Integrationsinstrument in der Interkulturellen Sozialen Arbeit mit Muslim*innen

Einleitung

1. Chancen religiöser Quellen in der interkulturellen Arbeit

1.1 Die Religion als lebensweltgestaltendes Element

1.2 Sind interkulturelle Schulungen ausreichend?

1.3 Die Falle des Nichtwissens: das Hauptproblem von Muslim*innen

2. Grundlagen des Islams und deren Schwierigkeiten

2.1 Die Problematik der Koranübersetzungen

2.2 Das islamische Recht und sein Interpretationsspielraum

2.3 Die Scharia

2.4 Pluralität im klassischen Islam

2.5 Trennung Staat und Religion

3. Grundzüge des Glaubens

3.1 Die drei Hauptquellen im Islam

3.2 Die sechs Glaubensgrundsätze

3.3 All inclusive? Die Propheten im Islam

3.4 Das rituelle Gebet der Muslim*innen

3.5 Barmherzigkeit im Islam

3.6 Karma und Islam?

3.7 Paradies und Hölle

3.8 Dschihad und seine Bedeutung

3.9 Der Islam eine Vernunftreligion?

3.10 Spiritualität und Regeln – geht das überhaupt?

3.11 Die 99 Wesenheiten Gottes

3.12 Engel im Islam

4. Christen, Juden und Andersgläubige

4.1 Menschen, die sich über den Propheten oder Gott selbst lustig machen

4.2 Allgemeine Verhaltensregeln gegenüber anderen Menschen

4.3 Kein Zwang im Glauben

4.4 Das Jesusbild

4.5 Die Ostergeschichte

4.6 Jüngster Tag und die Abrechnung

5. Islamische Feste

5.1 Der Ramadan und das Fasten

5.2 Das Opferfest/Abrahamfest

5.3 Kreative Ideen für sozialen Einrichtungen

6. Die Frau und die Sexualität im Islam

6.1 Frauenbild im Koran

6.2 Die koranische Schöpfungsgeschichte

6.3 Kleidung und Kopftuch im Islam

6.4 Islamischer Feminismus: Gender-Dschihad

6.5 Sexualität und Aufklärung

6.6 Schamgefühl, Intimsphäre und Weiblichkeit

6.7 Der lüsterne Blick und Ehebruch

6.8 Sexualkunde und Aufklärung an Schulen

6.9 Kopftuch und der Schwimm- und Sportunterricht

6.10 Homosexualität im Islam

7. Islamische Kindererziehung

7.1 Erziehungsinhalte

7.2 Der Sieben-Jahres-Rhythmus in der Erziehung

Schlussgedanken

Literaturverzeichnis

Danksagung

Über die Autorin

Zur Neuauflage 2021

Nachdem ich das Buch „Muslime in der Sozialen Arbeit. Religiöse Quellen als Integrationshelfer?“ (Krüger, 2019) veröffentlicht hatte, begann für mich ein weiterer Prozess der inhaltlichen Weiterentwicklung. Insbesondere durch die enge Zusammenarbeit mit Frau Prof. Dr. Kriegel-Schmidt, der Professorin und Studiendekanin der Euro FH sowie durch den Kontakt mit Frau Dr. Sabine Aydt, Lehrbeauftragte und Trainerin für interkulturelle Bildung in Wien, wurden Inhalte der ersten Ausgabe überarbeitet, verfeinert und mit neuen Aspekten ergänzt.

Die Tatsache, dass es in der Entwicklung interkultureller Kompetenzen nicht ausreicht, sich mit Hintergrundinformationen über kulturelle und religiöse Aspekte auszustatten, wurde dadurch noch stärker in den Vordergrund gerückt. Meine beiden Studienhefte „Religiöse Quellen als Integrationsinstrument in der Interkulturellen Sozialen Arbeit (2019)“ und „Professionelle Kompetenzen in der Interkulturellen Sozialen Arbeit mit Muslimen (2020), des BA-Studiengang Soziale Arbeit an der Euro FH, fungieren als Grundlage der zweiten Ausgabe des Buches. Die Neuauflage besteht aus zwei Teilen. Insbesondere der erste Teil, der den professionellen Anspruch der interkulturellen Kompetenz beleuchtet, wurde mit Aspekten erweitert, die sich mit der Notwendigkeit der eigenen Auseinandersetzung und unhinterfragten Wahrnehmungs-, Deutungs-, und Verhaltensmustern (vgl. Gaitanides 2004) als auch mit der Selbstfürsorge in der Entwicklung von Fremdheitsfähigkeit (vgl. Schellhammer 2019) beschäftigen. An verschiedenen Stellen des ersten und zweiten Teiles werden den Leser*innen Übungen finden, die beim Lesen zum Innehalten und zur Reflexion einladen.

Vorwort zur Neuauflage 2021

Der Soziologe Zygmunt Bauman bringt in zwei Sätzen auf den Punkt, wie viele Fachkräfte die Herausforderung der interkulturellen Arbeit beschreiben würden:

„Es gibt Freunde und Feinde.
Und es gibt Fremde.“1

Viele in der interkulturellen Arbeit Tätige sind motiviert, dazu beizutragen, dass aus Fremden soweit wie möglich Freunde werden. Das ist ein hoher Anspruch und realistischer Weise ist das nicht immer möglich. Der allgegenwärtige, fremdenfeindliche Diskurs lebt davon, Fremde und Feinde gleichzusetzen und damit immer neue Herausforderungen zu schaffen. Dazu wird mit kollektiven Zuschreibungen und Pauschalisierungen gearbeitet. Wir erleben tagtäglich wie die Gesellschaft durch Freund-Feind Schemata gespalten wird. Das Schema Muslime = die Anderen = die Feinde vs. christliche Europäer = wir = Freunde ist dabei seit Jahren sehr wirkmächtig. 2

Dabei wird postuliert, es gehe vor allem um Kultur und Religion. Doch wenn Generationen von Kindern und Jugendlichen als Andere, mit „Migrationshintergrund“, markiert und im Schulsystem auf ihrem Weg in die Gesellschaft nicht die gleichen Chancen bekommen wie „unsere“ Kinder, dann geht es auch um die Verteidigung von Privilegien von Etablierten3. Ein Klima der Konkurrenz trägt dazu bei, dass sich Menschen voneinander abgrenzen und in der Vorstellung von Tradition Stabilität suchen. So entstehen verhärtete Positionen und Polarisierungen. Fachkräfte in den sozialen Professionen können sich dann der Frage kaum entziehen, wie sie sich in einem scheinbaren „Kampf der Kulturen“ bzw. Religionen positionieren. Aus dieser Perspektive ist schon viel erreicht, wenn das Ergebnis ihrer Anstrengungen darin besteht, Feindschaft verhindert zu haben.

Dieses Buch zeigt einen anderen Weg auf. Es lädt auf der Basis von umfangreicher Erfahrung in der Sozialen Arbeit dazu ein, sich auf das Fremdsein – als eigenständige Position jenseits von Freund und Feind - einzulassen. Betrachten wir das Potenzial, das in der Situation des einander Fremdseins liegt: Es ist eine (ergebnis)offene Situation, eine Situation des Zwischen4, in der es (noch) nicht möglich ist, die andere Person eindeutig als Freund oder Feind zuzuordnen. Dieser Freiraum kann genützt werden. Verschiedene, auch widersprüchliche Aspekte der anderen Person können sich zeigen. Das erste Bild, das wir uns voneinander machen, kann in Frage gestellt werden, sich verändern. Wenn es gelingt, die eindeutige Zuordnung eine Weile hinauszuschieben und Beurteilungen in Schwebe zu halten, kann ein Prozess des Kennenlernens beginnen. Ein neues Selbst- und Fremdverständnis kann und muss sich der mehrdeutigen, gemeinsamen Situation entsprechend frisch herausbilden. Fremdheitsfähigkeii5 basiert auf der durchaus nicht einfachen Aufgabe, dem Fremdsein diese produktive und kreative Qualität abzugewinnen.

Professionelles Handeln im Kontext von Fremdsein hat aus dieser Perspektive das Ziel, die Interpretation einer konkreten Situation so lange offen für verschiedene Deutungen zu halten, bis die Beteiligten sich sinnvoll zueinander in Beziehung setzen und situationsadäquate Handlungsmöglichkeiten entwickeln können. Dieses Buch bietet daher zwar viel anschauliches Hintergrundwissen, aber keine abschließenden Erklärungen und keine fertigen Lösungen oder Handlungsanweisungen. Die Leserin/der Leser wird vielmehr dazu motiviert, zu erkunden, wie ihr/sein eigenes Wissen und das Wissen des Gegenübers in die Situation des einander Fremdseins hineinwirken. Die spannende Frage lautet: „Was spielt sich denn da zwischen uns ab?“ Und: „Wie können wir miteinander in Beziehung bleiben?“ Oft schließt das jeweils vorhandene, schon fertig strukturierte Wissen, das „den anderen verstehen“, ja andere, neue Beziehungs- und Handlungsmöglichkeiten aus.

Mit interessanten Fragestellungen lädt die Autorin dazu ein, das eigene Wissen für neue Bedeutungen zu öffnen und zu erkunden. Sie gibt dazu auch konkrete Anregungen und Übungsmöglichkeiten zur Hand. Dieses Buch begleitet die Leserin/den Leser informiert, lebensnah und behutsam durch ein unübersichtliches Terrain, in dem viele Fallstricke lauern. Es macht Mut, sich darauf einzulassen, gemeinsam mit anderen, fremden Menschen kulturell kreativ zu werden. Die Lektüre zeigt viele Möglichkeiten auf, aus den Fallstricken feine Fäden herauszuziehen und neu zu verweben, sodass sie einen Teppich ergeben, auf dem wir uns als Gäste in einer gemeinsamen Welt für eine Weile niederlassen können.

Dr. Sabine Aydt, im Januar 2021.

1 Bauman, Zygmunt(2005): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamborg: Hamburger Edition.

2 In jüngster Zeit geht die Spaltungsdynamik auch durch die „autochtone“ Bevölkerung, wie wir es nun bei unterschiedlichen Haltungen zur Corona Politik erleben.

3 Erkurt, Melissa (2020): Generation Haram. Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben. Wien: Paul Zsolnay Verlag.

4Jullien, Francois (2018): Es gibt keine kulturelle Identität. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

5 Schellhammer, Barbara (2019): Fremdheitsfähig werden. Zur Bedeutung von Selbstsorge für den Umgang mit Fremdem.Freiburg/München: Verlag Karl Alber

Vorwort zur Auflage 2019

Ich erinnere mich, als wäre es gestern. Im Frühjahr 2015 fiel für mehrere Wochen der Islamische Religionsunterricht aus. Grund hierfür waren die Winterferien, aber auch zahlreiche Fortbildungen, die ich damals hielt, um bayernweit für den Islamischen Unterricht an Schulen zu werben und Lehrkräfte fortzubilden. In diese Zeit fielen die schrecklichen Anschläge in Paris, bei welchen viele Menschen ihr Leben verloren und deren Drahtzieher sich einer religiösen Verblendung hingaben, hier im Namen ihrer Religion etwas Wertvolles vollendet zu haben. Die Diskussionen in ganz Europa über einem restriktiveren Umgang mit Muslim*innen waren in vollem Gange. Mir war es wichtig, mit meinen Schüler*innen der zehnten Klasse darüber zu sprechen. Dies wollte ich anhand der beeindruckenden Kölner Rede des Islamwissenschaftlers und Schriftstellers Navid Kermani machen, die ich in ihrem Tiefgang für hervorragend geeignet für ein unterrichtliches Setting hielt. So begann ich die Stunde, indem ich „Paris“ an die Tafel schrieb. Nach meinem letzten Buchstaben ging ein Raunen durch die Klasse und ein Schüler sprang auf und rief: „Nicht auch noch Sie, Herr Rochdi!“ Ich war überrascht, da ich damit absolut nicht gerechnet hatte und bat, mich über den Missmut der Klasse aufzuklären. Man berichtete mir, dass bereits in der Woche nach den Anschlägen die Lehrkräfte – unabhängig vom Fach – sich diesem Ereignis angenommen hatten. Auf meinen Einwand, dass es Ausdruck eines guten Unterrichts sei, auch tagesaktuelle Geschehnisse v.a. mit einer Abschlussklasse einer Realschule zu besprechen und zu thematisieren, wurde von der Klasse entgegnet: „Nein, Herr Rochdi. Wir sprechen nicht über die Geschehnisse. Die anderen sprechen darüber und wir werden als Muslim*innen ständig gefragt, was wir davon halten. Was sollen wir davon halten? Da sind doch auch Muslim*innen gestorben! Wieso sollen wir uns für etwas rechtfertigen, dessen Opfer uns näherstehen als dessen Täter?“

Dieses Erlebnis im Islamischen Unterricht – ein Unterricht, den ich als Schlüssel für die Entwicklung der Theologie des Islams in Deutschland sehe – prägt mich und meine Arbeit bis heute. Was ist in den letzten Jahren schiefgelaufen, dass sich junge Menschen, deren Eltern oftmals bereits in Deutschland die Schulbank gedrückt haben und die das Herkunftsland der Großeltern nur aus dem Urlaub kennen, sich nach teilweise drei Generationen noch immer fremd und missverstanden fühlen? Ist es die Ignoranz der Lehrkräfte, welche die Bedürfnisse ihrer Schülerschaft nicht ernst nimmt? Ist es der gesellschaftliche Diskurs, der häufig von sog. Scharfmachern dominiert wird und nicht selten schnell die Motive der Täter gefunden zu haben scheint und mit einfachen Antworten auf komplexe Fragestellungen – bewusst oder unbewusst – dafür sorgen, dass sich junge, praktizierende Muslim*innen zunehmendem Rassismus ausgesetzt sehen? Oder sind es doch rückwärtsgewandte Agitatoren innerhalb der muslimischen Community, die ein Klima des Nichtangenommen-Seins verstärken?

Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint, ist der Islam, besser gesagt, sind die Muslim*innen und Muslime Deutschlands immer mehr auch ein gefühlter Teil der deutschen Gesellschaft. Noch vor gut 25 Jahren wussten die wenigsten, was der Islam ist und welche Rolle diese Religion für knapp vier Millionen Menschen bedeutet. An immer mehr Schulen genießen inzwischen Muslim*innen einen Islamunterricht – ganz selbstverständlich neben dem katholischen und evangelischen Religionsunterricht – und die Möglichkeiten für junge muslimische Abiturient*innen, sich in ihrem Studium aus der Binnenperspektive mit ihrer Religion zu beschäftigen und ein islamisch-theologisches Studium aufzunehmen, sind inzwischen beträchtlich. Knapp ein halbes Dutzend Hochschulen bieten inzwischen ein Studium der Islamischen Theologie oder Religionspädagogik an.

Selbst im Bereich der Medien – dank zahlloser oftmals internetbasierter Non-Profit-AV-Projekte – gibt es immer mehr deutschsprachige Programme mit einem Format für muslimische Konsument*innen. Es zeichnet sich ab, dass diese Veränderung der Gesellschaft weiter voranschreiten wird.

Zeitgleich mit all den positiven Entwicklungen rund um die Beheimatung der Muslim*innen in Deutschland, wird die Diskussion über Muslim*innen und die Rolle des Islams zunehmend von extremen Positionen bestimmt. Die zahllosen „Kopftuchdebatten“, die Frage, ob der Islam Teil Deutschlands sei, die Muslim*innen zu Deutschland gehören oder man historisch begründen könne, der Islam sei ein Teil der imaginären deutschen DNA, werden oft hitzig, wenig objektiv-faktengestützt, dafür umso subjektiv-emotionaler geführt. Die pauschale Vorverurteilung religiös begründeter Veränderungen in einer staatlich-öffentlichen Domäne wie der Schule haben in den letzten beiden Jahrzehnten immer wieder die Gemüter der Gesamtgesellschaft bewegt. So beispielsweise der Wunsch junger Menschen, einen Raum für ihr ritualisiertes Gebet zu nutzen oder die Rücksichtnahme auf religiöse Speisevorschriften in den Mensen der Schule. Oft verliefen die Diskussionen asynchron an den Bedürfnissen, Vorstellungen und Meinungen der in Deutschland lebenden Muslim*innen vorbei. Man sprach oft über die Betroffenen, aber selten mit ihnen. Viele dieser Punkte wurden vor Gerichten gelöst oder aufgeschoben, um wenige Jahre später in Tageszeitungen, Magazinen oder Polit-Talks erneut diskutiert zu werden. Die oben skizzierte Episode aus meiner schulischen Erfahrung zeigt, dass gerade im Bildungsbereich diese nicht selten oberflächlich geführten Diskussionen durchaus einen praktischen Nachhall und Auswirkungen auf das Zusammenleben sowie die Selbst- und Fremdwahrnehmung junger Heranwachsender haben.

Mit dem Zuzug Zuflucht suchender Menschen aus von Krieg und Misswirtschaft gebeutelten Staaten des Nahen Ostens und Afrikas hat sich die Sprache und der Umgang miteinander verschärft und teils unwürdige Züge angenommen. Diese Menschen werden immer häufiger als Kollektiv für Vergehen Einzelner rassistisch diskriminiert oder werden Opfer von Gewalt. Der anfangs noch offene Umgang mit den Geflohenen wurde zunehmend härter und mündet in manchen Teilen der Öffentlichkeit in blankem Hass. Gleichzeitig fehlt es an strukturellen Zielsetzungen und sicheren Bleibeperspektiven für neue MitbürgerInnen. Nicht selten fürchten Schülerinnen und Schüler bzw. deren Eltern eine Abschiebung oder jungen unbegleiteten Flüchtlingen ist es schwierig zu erklären, dass eine solide Schulbildung nachhaltiger ist als der direkte Eintritt ins Berufsleben als sog. „ungelernte(r)“ Arbeiter*in.

Ich als (muslimischer) Religionspädagoge und Berater für interkulturelle Schulentwicklungsprozesse an Schulen suche selbst in scheinbar ausweglosen Situationen immer noch einen Hoffnungsschimmer. Bildung – in diesem Fall Professionalisierung des Lehrpersonals – ist ein probates Mittel. Ich bin mir sicher, dass man durch professionelles Handeln vielen Problemen und Vorurteilen entgegenwirken kann. Das, was auf den ersten Blick als religiös begründet, fremd und wenig nachvollziehbar wirkt, kann mit einem anderen Blick auf das Gleiche durchaus zu einer Lösung führen. Delinquentes Verhalten kann in falschen Kontexten verortet werden und führt so zu Missverständnissen und nicht selten zu falschen Wahrnehmungen. Im schlechtesten Fall ziehen diese falschen Schlussforderungen folgenschwere Entscheidungen nach sich. In unzähligen Lehrer*innen-Fortbildungen hat sich ein solcher veränderter Blick bewährt und zu Bewusstseinsveränderungen bzw. einem sensibilisierteren Umgang in entsprechenden Situationen geführt.

Nicht selten stoßen gerade Betreuer*innen, Berater*innen, Coaches und Mitarbeiter*innen kommunaler, staatlicher oder freier Träger mit den bisherigen Instrumenten an ihre professionellen Grenzen. Viele der ursprünglich gelehrten und in den Ausbildungen dieser Berufsgruppen vermittelten Ansätze bedürfen einer Überarbeitung und eines geänderten Blicks auf das Individuum mit all seinen Bedürfnissen, einschließlich seiner Religiosität sowie einer rassismuskritischen Perspektive auf das tägliche Tun.

Das vorgelegte Handbuch schließt hier eine lang angemahnte Lücke. Aus einer professionellen Sichtweise einer routinierten Beraterin mit einem Erfahrungsschatz aus vielen Jahren der Beratungs- und Fortbildungstätigkeit gibt Simone Krüger Multiplikator*innen, Pädagog*innen und Berater*innen sowie auch Lehrkräften Werkzeuge an die Hand, um mit entsprechender Sensibilität und fundiertem Wissen auf die Situation der Klient*innen individuell einzugehen und bestmöglich zu beraten. Dabei unterstützt Simone Krüger die Leser*innen bei der inzwischen schier nicht mehr zu greifenden Bandbreite an Büchern über den Islam, indem sie die zentralen Konfliktfelder der Beratung multiperspektiv beleuchtet und so dem interessierten Publikum einen fundierten Zugang ermöglicht.

Ich beglückwünsche die Autorin zu diesem wichtigen Werk im Bereich der Sozialen Arbeit mit muslimischen Klient*innen, wünsche den Leser*innen dieses Handbuches eine spannende und zugleich lehrreiche Lektüre und hoffe, dass dieses Buch einen positiven Einfluss auf das Zusammenleben von Muslim*innen und der Mehrheitsgesellschaft hat.

Amin Rochdi, im April 2019.

Teil 1

Professionelle Kompetenzen in der Interkulturellen Sozialen Arbeit mit Muslim*innen

Einleitung

Die Inhalte des ersten Teils ermöglichen einen intensiven Einblick in fachliche Fragestellungen für die Arbeit im interkulturellen Kontext, insbesondere in der Sozialen Arbeit mit Menschen aus Ländern des Orients. Es wird der Schwerpunkt auf kulturelle Aspekte in der Begegnung mit Menschen gelegt und professionelle Handlungsmöglichkeiten im Kontext Sozialer Arbeit aufgezeigt. Durch Blitzlichter in die Lebenswelten orientalischer Familien werden Missverständnisse, beispielsweise infolge von Un- bzw. Halbwissen aufgelöst werden. Es wird der Fokus auf die selbstreflexive Auseinandersetzung mit eigenen kulturellen Brillen und blinden Flecken gelegt und Methoden aufgezeigt, die die eigenen gewohnten Denk- und Handlungsmuster unterbrechen können.

Im ersten Kapitel werden migrationsspezifische Phänomene beschrieben. Der Fokus liegt zunächst auf einigen religiösen Aspekten, um zu reflektieren, welche Faktoren einen Menschen prägen und welchen Stellenwert hierbei die Religion haben kann.

Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den Herausforderungen von Eltern aus Ländern des Orients, die hier in Deutschland leben. Es werden Themen beleuchtet, die in der Interkulturellen Sozialen Arbeit durchaus berücksichtigt werden sollten. Neben der Gefahr einer Re-Traditionalisierung und der Angst vor Freiheit aufseiten der Adressaten finden auch kulturelle Wissensordnungen, die beispielsweise in Wertehierarchien zum Ausdruck kommen, Beachtung.

Das dritte Kapitel richtet den Fokus auf uns Fachkräfte und unsere Herausforderungen und Chancen in der Interkulturellen Sozialen Arbeit. Es geht darum, welche professionelle Haltung wir in unserer Arbeit entwickeln und welche Rolle wir in der Arbeit mit muslimischen Kindern, Jugendlichen und Familien einnehmen sollten. Es werden das „Demokratieprinzip“, die „interkulturelle Kompetenz“ und die „Selbstfürsorge“ näher beleuchtet und auf mögliche destruktive Kommunikationsprozesse hingewiesen. Das Kapitel wird mit dem Blick auf Elternrechte in Deutschland abgerundet. Denn besonders in der Zusammenarbeit mit Eltern ist es für Fachkräfte wichtig zu wissen, welche Rechte und Pflichten Eltern im Grundgesetz haben und in welchem rechtlichen Rahmen die Soziale Arbeit in Deutschland agiert.

Das vierte Kapitel gibt pädagogische Impulse für den direkten Arbeitsalltag mit muslimischen Familien an die Hand. Neben pädagogisch sinnvollen Handlungsstrategien für die Arbeit mit muslimischen Familien, die genauso für die Arbeit mit allen anderen Familien, unabhängig von Herkunft, Kultur, Religion, Schichtzugehörigkeit, Bildungsstand etc. gelten, wird aufgezeigt, wie mögliche Stolpersteine und Irritationen in der direkten Arbeit mit orientalischen Familien zu Türöffnern umgewandelt werden können. Weiterhin werden Besonderheiten beim Hausbesuch sowie das Konzept der kulturellen und religiösen Dolmetscher*innen vorgestellt.

Als Koranübersetzung habe ich, soweit nicht anders angegeben, die Übersetzung der Azhar-Universität Ägypten des Obersten Rates für islamische Angelegenheiten, „Al-Muntakhab“, von Prof. Dr. Moustafa Maher aus dem Jahr 1999 verwendet. Die Überlieferungen habe ich, wenn nicht anders angegeben, aus den Sammlungen „Riyad us-Salihin – Gärten der Tugendhaften“ (1996 und 2002) von Abu Zakariya an-Nawawi übernommen.