Zorn und Stille

Über Sandra Gugić

Foto: © Dirk Skiba

Sandra Gugić, geboren 1976 in Wien, ist eine österreichische Autorin serbischer Herkunft. 2009 begann sie zu schreiben. Sie studierte an der Universität für Angewandte Kunst in Wien und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet. 2012 gewann sie den Open Mike. Ihr erster Roman ASTRONAUTEN (C. H. Beck) erschien 2015 und erhielt den Reinhard-Priessnitz-Preis. 2019 erschien ihr Lyrikdebüt PROTOKOLLE DER GEGENWART im Verlagshaus Berlin. Zuletzt wurden ihr ein Arbeitsstipendium des Berliner Senats und das Heinrich-Heine-Stipendium zugesprochen. Sandra Gugić lebt als freie Autorin mit ihrer Familie in Berlin.

A. und C.

Es geht hier nicht um mich. Es geht um ein Auge. Es ist der Blick, der die Geschichte zusammenhält. Der Standpunkt des Auges ist der Ausgangspunkt der Erzählung.

*

Es war ein Tag mit gutem Licht. Schritte hallten in den leeren Räumen, durch die Fenster drangen die Farben und der Lärm des Draußen, die Geräusche der Stadt als beständiges Summen und Dröhnen, hier drinnen war es still. Sie ging die Zimmer ab und versuchte zu verstehen, was geschehen war, wer sie sein würde, welche Version von sich sie bis zu diesem Augenblick gewesen war. In der Mitte des Wohnzimmers hielt sie einen Moment inne, kratzte mit der Schuhspitze den schmalen Spalt zwischen den Dielen entlang. Kies, Erde und Staub hatten sich darunter gesammelt. Diese Räume hatten einen Teil ihrer Geschichte erzählt. Die Geschehnisse und Begebenheiten, die sich ihren Platz gesucht hatten, befanden sich bereits in der Umerzählung, schon jetzt begann das Möblieren von neuem, das Besetzen, das Zuschreiben. Unten vor dem Fenster trugen fremde Menschen die restlichen Dinge weg, Erinnerungen in verschiedenen Aggregatzuständen, Persönliches, Dinge

– Seid ihr Serben oder Kroaten? Serben oder Kroaten?

Die Wahrheit auf der einen Seite der Leitung und jene auf der anderen markierten zwei simultane Ereignisse, während der eine sprach, raste auf der anderen die Zeit, zwei parallele, sich gegenseitig ebenso verstärkende wie ausschließende Prozesse. Irgendjemand wollte die Wahrheit in Kategorien stecken, Schwarz und Weiß, Gut und Böse, kein Mensch, nur die Wahrheit von irgendjemand hatte bei ihnen angerufen, während ein Flugzeug über diesem Zuhause hinwegdonnerte, das sich weder in Serbien noch in Kroatien befand, sondern in einer Einflugschneise, andernorts, in Europa, in der Pause zwischen zwei Fliegern, in der Stille, die eine Seite der Wahrheit von der anderen trennte.

Sie folgte mit den Augen den Linien der Kondensstreifen, die den Himmel zerschnitten, und war sich gleichzeitig sicher, dass sie bereits in diesem oder dem nächsten Flugzeug saß und einen Plan fasste, was weiter mit ihr geschehen sollte.

Wenn du mittendrin in einer Geschichte steckst, ist es noch keine Geschichte, mehr ein Getöse, ein Rauschen. Es beginnt erst eine Geschichte zu werden, wenn du sie jemandem erzählst. Zu diesem Zeitpunkt kann ich mich selbst nicht mehr hören. Aber die Erzählerin, das bin immer noch ich.

*

Ich hasste die Routine des Reisens, den Maschinenpark der Flughäfen, den Geräuschteppich in den Hallen, die Verbissenheit der Gehetzten, ich hasste den Urlaubsfluggastenthusiasmus ebenso wie die Vielfliegerbusinessarroganz, jedes Mal beim Betreten eines Flughafens gingen mir die gleichen Zeilen durch den Kopf, in der Einsamkeit der Flughäfen atme ich auf, ich bin ein Privilegierter, mein Ekel ist ein Privileg, ein gekipptes Mantra aus dem Zitatwald meines Hirns, die Zuverlässigkeit dieser Erinnerung glich dem Automatismus der sichtbaren und unsichtbaren Abläufe, dem Rhythmus der Gepäckbänder, der Lautlosigkeit der gläsernen Schiebetüren, dem unermüdlichen Öffnen und Schließen der Ein- und Ausgänge. Vor dem Flughafengebäude zählte ich das erste Bild des

Heute war mir, als bewegte ich mich an der Oberfläche einer dünn gewordenen Außenhaut der Dinge, sie schien sich unter meinem Gewicht, der Last meiner Gedanken weiter zu spannen, bis kurz vor dem Zerreißen. Oder machte ich mir etwas vor, weil ich etwas fühlen wollte, war da gar nichts, setzte ich meine Schritte in einem Vakuum. Ich musste an den Trick mit der Muschel denken, die uns, gegen das eigene Ohr gedrückt, Meeresrauschen hören lässt, dabei ist es nicht einmal das Rauschen unseres eigenen Blutes. Was wir hören, sind die Frequenzen unserer unmittelbaren Umgebung. Sie haben uns reingelegt, als Kinder schon.

Der Pass, den ich über das Pult schob, war mein guter Pass, mein A-Land-Pass, damit war ich überall willkommen, weitgehend visafrei, und wenn nicht, stellte auch das kein Problem dar, dabei hätte ich diesmal den anderen nehmen können, den ich noch nie verwendet hatte, meinen serbischen Pass. Aus einem diffusen Schuldbewusstsein heraus konnte ich den unnützen Pass nicht seinem Ablaufdatum überlassen, hatte ich ihn trotzdem jedes Mal wieder verlängern lassen. Ich musste an den Konsulatsbeamten denken, der mich auf mein Zögern, eine seiner Fragen zu beantworten – mein Zögern, das nichts weiter war als ein Suchen, ein Tasten nach den richtigen Worten in dieser Sprache, weil ich die Sätze zuerst auf Deutsch dachte, nicht anders denken konnte –, gefragt hatte: Verstehen Sie nicht, oder wollen Sie nicht verstehen? An einem Herbsttag im holzvertäfelten Erdgeschoss der

 

– Enjoy your flight, das routinierte Lächeln der Frau hinter dem Schalter, die Stimmen aus den Lautsprechern wiederholten ihr tägliches Mantra: Dear passengers, please proceed to. Ich stellte mir vor, wie meine Mutter am Check-in-Schalter in Wien alle fünf Minuten mit nervösen kleinen Bewegungen den Inhalt ihrer Handtasche kontrollierte, sie hatte sich für die Reise zurechtgemacht, aber nichts schien am rechten Platz zu sein, die Frisur war heute morgen nicht in Form zu bringen gewesen, das Make-up war hastig aufgetragen und jetzt schon in die Linien unter ihren Augen und um ihre Mundwinkel

 

In der Flughafentoilette schob sich eine Frau umständlich samt ihrem Koffer in eine der Kabinen, ein paar Schritte weiter redete eine junge Mutter durch die Kabinentür schon eine ganze Weile auf ihr Kind ein, das sich auf der anderen Seite mit seinem Stuhlgang abzumühen schien, sie sprach in einem beruhigenden Tonfall, gab anschließend präzise

Parfum, Tabak und Schweiß, ich schnupperte an meinem T-Shirt, das war ich, ich musste vergessen haben zu duschen. Als ich frühmorgens das Taxi bestellt hatte, wollte mir meine Adresse im ersten Moment nicht einfallen, ich hielt vor dem Fenster inne, mein Blick verlor sich zwischen den Häusern, fing sich an der Fassade gegenüber an einem Balkon, von dem aus mich eine graue Katze fixierte. Die Stimme am anderen Ende der Leitung änderte ihren Ton von freundlichem Singsang zu Ungeduld, im nächsten Augenblick rollte der Name der Straße wie von selbst über meine Lippen. Ich war erst seit ein paar Wochen in Budapest, hatte mich kurz nach meinem vierzigsten Geburtstag hier verschanzt, um Ruhe zu finden und eine Idee, wie es weitergehen konnte. Meine Arbeit war nur ein Vorwand gewesen, um einmal mehr aufzubrechen, Berlin und eigentlich die Beziehung zu Ira Goldfarb für eine Weile hinter mir zu lassen. Im Gepäck hatte ich nur das

Die beruhigende Fremdheit von Budapest nahm mich zuverlässig wieder auf, ich glitt durch die Tage, verlief mich absichtlich, fand mich als kleinen blauen Punkt auf meinem Display im Netz der Straßen wieder. Bald nach meiner Ankunft begann ich wieder zu arbeiten, an der Fortsetzung einer Serie von Porträts. Bereits im Jahr zuvor hatte ich ein paar Wochen hier verbracht, im Sommer der ersten großen Welle von Geflüchteten, in dem ich Balász und Skip kennenlernte, die sich am Budapester Ostbahnhof um die Menschen kümmerten. Skip war als amerikanischer Tourist in die Stadt gekommen, ein Reiseblogger auf Zwischenstopp, der es gewohnt war, die Welt wie eine Speisekarte zu studieren und zu beschreiben, aber die Szenen am Bahnhof, ein Gefühl von Verantwortung und vor allem die Bewunderung für Balász und dessen leidenschaftliches Engagement hielten ihn in der Stadt fest.

 

– Den Hasen?, fragte ich.

– Nein, das Kaninchen, sagte mein Mutter, unser Kaninchen.

Ich erinnerte mich. Meine Tante war damals Reinigungskraft in einer Tierversuchsklinik. Sie wusste, dass ich mir nichts mehr wünschte als einen kleinen Hund, ich sprach von nichts anderem. Das brachte sie auf die Idee, mir einen weißen Hasen aus der Klinik mitzubringen, ein hochnervöses Tier, das sie, ihren eigenen Angaben nach, gerettet hatte. Das Tier kam in einem Käfig, den wir unter ein Fenster unserer Wohnung stellten, wo der Hase an den Nachmittagen in einem Streifen Sonnenlicht baden konnte. Aber ich ertrug es nicht, den zitternden Hasen in der Enge seines Käfigs sitzen zu sehen, und ließ ihn – entgegen der Anweisung meiner Mutter – in der Wohnung frei, er lief den ganzen Tag wie verrückt die Wände entlang, hinterließ dabei überall Kötel, in den Ecken und unter den Möbeln. Mutter mochte keine Tiere, der Geruch erinnerte sie an den harten Alltag als Bauernkind, doch sie ertrug die beengte Wohnsituation mit dem Hasen erstaunlich lange, bevor sie das Tier fortbrachte. Sie versprach mir, was alle Eltern ihren Kindern versprechen: Der Hase würde es anderswo besser haben, auf dem Land in einem offenen Gehege.

– Das Kaninchen, korrigierte meine Mutter am anderen Ende der Leitung.

– Ja, gut, das Kaninchen, sagte ich.

Sie erzählte mir, dass sie das Kaninchen, das den ganzen Tag unseren Schuhschachtelwohnraum zuschiss, aus einem Aberglauben heraus so lange ertragen hatte. Das Kaninchen hatte eine Erinnerung in ihr wachgerufen. Sie und mein Vater

– Dein Vater ist tot.

 

Mein Vater ist tot. Der Satz als Echo in meinem Kopf. Zum ersten Mal aussprechen konnte ich ihn Ira gegenüber. Dann erst wurde er wahr.

 

Seit ich mit siebzehn Jahren mein Elternhaus verlassen hatte, war ich unterwegs gewesen, hatte vermieden, zu lange irgendwo zu bleiben, dabei war ich eine unaufmerksame Reisende, meine Erinnerung hielt Gesichter, Licht und Landschaft viel eher fest als die Namen der Straßen und Orte. Meine Großeltern hatten ihre Dörfer nie verlassen. Mein Großvater hatte mir als Kind auf meine Frage, ob er niemals Lust gehabt hatte zu verreisen, geantwortet, auch der Wechsel der Jahreszeiten sei eine Reise. Ich habe immer in Städten gelebt und verstand erst spät, dass die Jahreszeiten den Takt seines Lebens bestimmten, seinen Alltag auf dem Hof. Großvater hatte akzeptiert, aber nicht befürwortet, dass meine Mutter nicht nur das Dorf, sondern bald darauf auch das Land hinter sich gelassen hatte, und ich fragte mich, was er zu meinem Leben gesagt hätte. Peter Pan nannte mich meine Mutter, eine Touristin auf endloser Vergnügungsreise, eine Getriebene, sie verstehe nicht, was das für ein Leben sein solle, überhaupt für eine Frau. Es gibt nur wenige Fotos von meinem Großvater als jungem Mann, eigentlich ist es eine einzige überbelichtete Serie, die ihn im Sonntagsanzug zeigt, er trägt einen Strohhut

 

Ich war vielleicht elf Jahre alt, lag auf dem Bauch, flach auf der Erde, die Augen geschlossen, lauschte dem gleichmäßigen Geräusch, dem Rhythmus der Axt auf dem Hackstock. Großmutter hackte Holz vor der Scheune, an ihren Armen zeichneten sich deutlich die Adern ab, jede Sehne schien angespannt, während mein kleiner Bruder über mir hockte,

– Mach die Augen zu! Dreh dich nicht um! Pass auf!,

und mit seinem Finger Buchstaben auf meinen Rücken zeichnete. Wir übten das Alphabet, ich hatte es ihm zu Beginn der Ferien beigebracht, auf der langen Autofahrt von Wien hierher ins Dorf hatten wir geübt. Jeden Sommer verbrachten wir bei den Großeltern. Großmutter mit ihren knapp ein Meter fünfzig und einem Körper, der nur aus Sehnen und Muskeln zu bestehen schien, konnte stundenlang Holz hacken, mühelos mit uns Kindern um die Wette laufen, störrische Schafe einfangen, den betrunkenen Großvater quer über die Wiese vom Hoftor bis vors Haustor schleifen – das war die Vorstellung von ihr in meiner Erinnerung. Wenn ich an Großvater denke, rieche ich Schwarztee, sehe die Handbewegung, mit der er den Bodensatz seiner Tasse, ein Rest Flüssigkeit und Teeblätter, in hohem Bogen auf die Wiese kippt. Eines Tages klagte er über heftige Schmerzen in der Brust, und nach seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus in der Stadt, das er nie wieder betrat, saß er nur noch im Hof, trank seinen Schwarztee, drehte Zigaretten, überließ der Großmutter und meinem Onkel alle Aufgaben, wurde langsam weniger,

– Tun die bloß so? Tun die bloß so, als könnten sie nicht ordentlich sprechen?

 

Zu Hause war damals die Vorstadt von Wien, dieses Zuhause mit seinen strengen Regeln holte uns jedes Jahr nach den Ferien zuverlässig wieder ein. Das oberste Gebot meiner Eltern war das aller braven Migranten: um keinen Preis auffallen oder Aufsehen erregen, unsichtbar und unangreifbar sein vor den Blicken und dem Urteil der Anderen. Sie waren Gastarbeiter, ihr Bleiben war nicht vorgesehen. Wir lebten in einem Häuserkomplex aus roten Backsteinen, in einer Substandardwohnung im zweiten Stock, die aus einem Zimmer und einer Küche bestand. Die Wände waren so dünn, dass man die Nachbarn husten, streiten, lachen und ficken hören konnte, das Gurgeln in den Wasserleitungen, das Klappern in den Küchen, Schritte auf Holzböden, gedämpfter auf Linoleum, manchmal das Trappeln von Pfoten, obwohl das Halten von Hunden nur in Ausnahmefällen erlaubt war. Unter der Spüle in der Küche lagerten wir eine Sitzbadewanne aus Plastik, die Toilette befand sich auf dem Hausflur. Unsere Wohnung war

 

Ich erinnere mich an die Angst auf dem Weg zur Toilette. Den schweren Schlüssel in der Faust umklammert, zählte ich meine Schritte und war mir jedes Mal sicher, dass hinter der Tür, auf der anderen Seite des Flurs, der zu den Gemeinschaftstoiletten führte, ein Abgrund sich auftun und ich fallen würde. In vielen Sprachen ist Enge der semantische Kern von Angst. Jahre später würde ich lernen, dass das Wort Angst selbst ein Migrant ist, der sich auch in die englische Sprache eingebürgert hat.

Im gleichen Haus wie wir lebte eine unscheinbare junge Familie, die den Zeugen Jehovas angehörte. Sie hatten einen kleinen Sohn, ein zarter rotblonder Junge, der immer höflich grüßte, weil er musste, so wie auch ich angehalten war, höflich zu sein. Ich bewunderte heimlich die Sommersprossen auf seiner durchscheinenden Haut, manchmal hob sich der Vorhang seiner hellen Wimpern, und unsere Blicke hielten sich im Stiegenhaus aneinander fest, nur für Augenblicke, in denen wir einander als Außenseiter erkannten und vielleicht die Angst des einen im anderen. Dann hielt seine Mutter ihn an zu grüßen, der Klang ihrer Stimme ließ ihn den Blick

 

Den Kleinkrieg der Nachbarn in der Siedlung verfolgte ich wie einen Krimi. Da war der alte Hausmeister, der gern mit nichts als seinen weißen Feinrippunterkleidern und weißen Sportsocken in Plastikbadeschuhen über den Flur zu den Toiletten schlurfte, er führte Krieg gegen eine junge Frau, die allein lebte und gerne bei offenem Fenster vögelte, das Echo ihres Stöhnens hallte im Hof, drang durch die dünne Wand, wir wohnten nebenan. Ich wusste schon ungefähr, was da vor sich ging, und wenn ich mein Ohr an das Mauerwerk legte oder meine Hand, schien es mir, als könnte ich die fremde feuchtgeschwitzte Haut berühren. Die Frau hielt sich zur Empörung des Alten darüber hinaus auch einen kleinen Hund, sein Kläffen hallte durch die Flure, manchmal spätabends oder nachts, vielleicht befeuerte er das Gevögel seiner Besitzerin. Kurwa, fluchte der Alte, und ich wusste, was das bedeutete. Dabei störte er sich wahrscheinlich nicht am plakativ hörbaren Sex, sondern an ihrem Hund. Mit einer gewissen Regelmäßigkeit fand sich ein großer Rinderknochen, an dem noch ein paar Fleischfetzen hingen, vor der Tür der jungen Frau. Der Knochen war kein Geschenk – das Schoßhündchen, das von der Frau hauptsächlich getragen wurde, hätte ihn niemals angerührt –, sondern eine Drohung. Einmal, frühmorgens auf dem Weg zur Toilette, ertappte ich den Alten, wie er im Flur stand, vor ihrer Tür, die Unterhose merkwürdig verrutscht, in einer Hand den Rinderknochen, mit der anderen Faust rieb er seinen blassroten, schlaffen Penis. Hinter der Tür das Stöhnen. Er bemerkte nicht, dass ich eine Weile dastand und mich nicht von dem Bild lösen konnte, hin- und hergerissen zwischen Abscheu und Neugier.

 

Die Verfassung meiner Mutter pendelte zwischen Zurückhaltung und unkontrollierten Ausbrüchen. Sie funktionierte Tag für Tag, war liebevoll und umsorgend, dann wieder schrie sie uns unvermittelt an, verteilte im Affekt Ohrfeigen oder führte akribisch und kühl Bestrafungen durch. Im Streit ging sie manchmal mit Fäusten und Gegenständen auf meinen Vater los. Tag für Tag arbeiteten sie ihren Zorn über die

 

Der Lärm dieser Tage ließ mich still werden, mein Blick auf meine Umgebung und darüber hinaus jedoch blieb neugierig, hungrig, vergrößerte alles schmerzhaft, zoomte heran, was ich nicht sehen sollte, und ließ mich Dialoge und Momente aufschnappen, die ich nicht hören sollte. Alles war mir zu laut, zu intensiv, gleichzeitig konnte ich nicht genug bekommen, sog alle Eindrücke auf, vergaß nichts. Der Geruch meiner Mutter, ihr warmer bitterer Schweiß, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam. Der Trost, den ich als kleines Kind in ihrer Umarmung, gehüllt in die Wärme und den Geruch ihres Körpers, fand. Wann hatten wir aufgehört, einander zu berühren, einander in den Arm zu nehmen? Wann hatte ich aufgehört, Trost bei ihr zu suchen?

Mein Halt war die Zärtlichkeit, mit der mein Bruder und ich einander von Anfang an zugewandt waren. Als wir Kinder

 

Lange Zeit gehorchte ich meinen Eltern, ich wollte perfekt sein, um sie stolz zu machen. Aber nach und nach wurde mir klar, dass das echte Leben ein anderes sein müsse, das wahrscheinlich parallel zu dem Leben meiner Eltern existierte. Ich ahnte, dass sie nicht immer so gewesen sein konnten, geduckt vor der Welt. Dankbarkeit und Demut wurden Tugenden, die ich mit allen Mitteln loswerden musste, um außerhalb ihrer Wirklichkeit zu bestehen. Der Zorn würde später kommen.

 

Der Kaffeebecher war heiß, ich drehte ihn nervös in meinen Händen, dabei hatte ich noch Zeit, bevor ich durch die Sicherheitskontrolle musste, ein bisschen zu viel Zeit. Ich schickte Ira ein paar Schnappschüsse, die ich auf der Taxifahrt hierher gemacht hatte.

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