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Die neue Praxis Dr. Norden
– 6 –

Der anonyme Lebensretter

Er schenkt Reinhold eine Enkelin!

Carmen von Lindenau

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74096-523-5

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»Guten Morgen, Herr Merzinger, wie geht es Ihnen?«, erkundigte sich Danny mit einem freundlichen Lächeln, als der erste Patient des Tages in sein Sprechzimmer kam.

»Schon um einiges besser, Herr Doktor«, entgegnete Korbinian Merzinger. Er öffnete die Knöpfe seiner dunkelblauen Trachtenjacke, bevor er auf dem Stuhl vor Dannys Schreibtisch Platz nahm. »Aber der Arm ist halt noch immer nicht in Ordnung«, sagte er.

»Bis ein Bruch ausgeheilt ist, das dauert seine Zeit. Sie müssen noch ein wenig Geduld haben«, entgegnete Danny. Vor vier Wochen war der Mann seiner freundlichen Haushaltshilfe Valentina im Garten gestürzt und hatte sich eine Knieverletzung und einen Armbruch zugezogen.

»Ich weiß, Herr Doktor«, seufzte der kräftige Mann mit dem dichten grauen Haar und ließ seinen Blick durch das Sprechzimmer gleiten, musterte den großen weißen Schreibtisch, die Designerlampe mit dem weißen Schirm, der direkt über dem Schreibtisch hing, und blieb an der antiken Standuhr hängen, die in der Ecke neben der Untersuchungsliege stand. »In meinem vorgerückten Alter dauert es vermutlich noch ein bissel länger als bei einem jüngeren Menschen«, fügte er mit einem bedauernden Achselzucken hinzu.

»Die Standuhr ist über hundert Jahre alt, dagegen sind Sie mit Ihren 65 Jahren noch ausgesprochen jung«, antwortete Danny, der Korbinians Blick gefolgt war.

»Es fühlt sich aber gerade so an, als sei ich schon recht alt. Bedauerlicherweise werden nun auch noch andere unter meiner momentanen Behinderung leiden müssen.«

»Was genau meinen Sie damit?«, fragte Danny nach.

»In der nächsten Woche wollte ich meinen Titel als Schützenkönig bei den Bogenschützen verteidigen, aber das geht ja nun leider nicht.«

»Das tut mir sehr leid, Herr Merzinger«, entgegnete Danny mitfühlend.

»Das mit der Titelverteidigung trifft nur mich, und ich würde es schon schaffen, mich damit abzufinden, aber da ist noch der Teamwettbewerb.«

»An dem Sie auch teilnehmen wollten, nehme ich an.«

»Richtig, das wollte ich. Leider gibt es keinen Ersatz für mich, und mein Team wird wohl nicht am Wettbewerb teilnehmen können. Ich werde also noch drei hervor­ragende Bogenschützen enttäuschen.«

»Ich war während meines Studiums auch Mitglied in einem Bogenschützenverein. Für mich war es immer ein Sport, bei dem ich abschalten konnte.«

»Es erfordert die ganze Aufmerksamkeit des Schützen, den Pfeil ins Ziel zu bringen. Da bleibt kein Platz für andere Gedanken.«

»Genauso ist es«, stimmte Danny ihm zu. »Ich sehe mir jetzt erst einmal Ihr Knie und Ihren Arm an. Nehmen Sie bitte auf der Liege Platz«, bat er Korbinian. Er wollte sich davon überzeugen, dass die Knieverletzung weiterhin gut verheilte und überprüfen, wie weit der Arm schon belastbar war. »Es sieht alles gut aus«, versicherte Danny seinem Patienten. »Was ist mit der Allergie? Bleiben die Anfälle aus, wenn Sie Sellerie meiden?«

»Bisher schon, und für alle Fälle habe ich die Tropfen immer bei mir, die Sie mir verschrieben haben.«

»Die sollten Sie auch immer bei sich haben.« Korbinian hatte erst vor Kurzem festgestellt, dass er auf bestimmte Lebensmittel allergisch reagierte. Ein allergischer Anfall war auch der Grund für den Sturz in seinem Garten gewesen.

»Valentina und ich haben uns nun doch für eine Reise entschieden, so wie wir sie ursprünglich anlässlich unserer Silberhochzeit geplant hatten.«

»Wohin soll es denn gehen?«, fragte Danny.

»Wir haben eine Rundreise mit dem Bus durch Skandinavien gebucht. Immer nur kurze Strecken, damit es nicht zu anstrengend wird.«

»Sie können sich schon noch einiges zumuten«, entgegnete Danny lächelnd.

»Freilich, aber wir wollen es ein bissel gemütlich haben. Sagen Sie, Doktor Norden, wann haben Sie denn das letzte Mal einen Bogen gehalten?«, fragte Korbinian, während er noch auf der Untersuchungsliege saß.

»Es ist schon einige Jahre her.«

»Wie gut waren Sie im Bogenschießen?«

»Ich habe an einigen Vereinsmeisterschaften teilgenommen und ganz gut abgeschnitten.«

»Könnten Sie sich vorstellen, noch einmal an einer Meisterschaft teilzunehmen?«

»Sie denken aber nicht daran, dass ich Sie in diesem Teamwettbewerb vertreten könnte?«, fragte Danny verblüfft.

»Genau daran habe ich gedacht«, gab Korbinian zu.

»Ich bin aber kein Mitglied in Ihrem Verein. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass Sie keinen besseren Ersatz finden könnten.«

»Ich bin sicher, Sie sind die beste Wahl. Einen Fremden nimmt der Verein gewöhnlich nicht so schnell auf, bei Ihnen werden Sie eine Ausnahme machen. Die Leute mögen Sie. Sie haben hier bereits einen ausgezeichneten Ruf. Der Verein wird sich gern mit Ihrer Mitgliedschaft schmücken.«

»Das klingt, als wäre ich eine bekannte Persönlichkeit.«

»Bekannt und beliebt. Die Leute sind dankbar, dass Sie Ihre Praxis hierher zu uns verlegt haben.«

»Das halte ich allerdings auch für eine gute Entscheidung.«

»Freilich, war es eine gute Entscheidung, Herr Doktor, schon wegen der Nachbarschaft«, entgegnete Korbinian schmunzelnd.

»Da kann ich nicht widersprechen«, antwortete Danny lächelnd. Er wusste natürlich, dass Korbinian auf die Mais anspielte, deren Garten an seinen grenzte.

»Die Leute glauben, dass Sie und Frau Doktor Mai bereits ein Paar sind.«

»So ist es aber nicht«, widersprach Danny dieser Vermutung der Nachbarschaft.

»So wird es aber kommen. Vertrauen Sie dem Gespür eines alten Mannes mit Lebenserfahrung«, antwortete Korbinian augenzwinkernd.

»Mal sehen, was die Zukunft bringt«, entgegnete Danny, weil ihm das Thema wie immer unangenehm war. Es war kein Geheimnis, dass er und die junge Psychologin befreundet waren und hin und wieder miteinander ausgingen. Sie waren aber kein Paar, obwohl es sich manchmal so anfühlte, und er sich eigentlich auch mehr Nähe zu Olivia Mai wünschte. Es war nur diese Angst vor einer neuen Enttäuschung, die ihn davon abhielt, mehr zuzulassen.

»Wissen Sie, Herr Doktor, manchmal braucht es nur einen Schritt, um die Schatten der Vergangenheit loszuwerden.«

»Und welcher Schritt wäre das in meinem Fall?«, fragte Danny. Er hatte zu Korbinian ebenso viel Vertrauen wie zu Valentina, die ihm stets mit mütterlicher Herzlichkeit begegnete.

»Soll ich es ganz direkt aussprechen?«

»Ich bitte darum.«

»Dann würde ich sagen, es wäre der erste Kuss.«

»Ich werde darüber nachdenken.«

»Das sollten Sie tun.«

»Vielen Dank, für diesen Rat«, sagte Danny lächelnd.

»Sehr gern, Herr Doktor. Um noch einmal auf den Teamwettbewerb der Bogenschützen zurückzukommen. Wären Sie denn bereit, mitzumachen, sollte sich die Vereinsleitung darauf einlassen?«

»Ich müsste vorher trainieren.«

»Kein Problem, das arrangiere ich.«

»Sie dürfen nicht zu viel von mir erwarten. Ich werde nicht mit den Besten mithalten können.«

»Die Hauptsache ist, dass wir einen vierten Mann haben.«

»Also gut, dann versuchen Sie es«, erklärte sich Danny einverstanden.

»Ich melde mich bei Ihnen. Vielen Dank, Herr Doktor.«

»Wir sehen uns dann in vierzehn Tagen zur nächsten Kontrolle wieder«, sagte Danny, als er Korbinian gleich darauf die Tür des Sprechzimmers aufhielt und sich von ihm verabschiedete.

»Ich nehme an, dass wir uns vorher noch einige Male sehen werden. Der Wettbewerb findet bereits am übernächsten Wochenende statt.«

»Das ist nicht viel Zeit.«

»Stimmt, aber Sie bekommen das hin, da bin ich sicher«, sagte Korbinian und wünschte Danny noch einen schönen Tag, bevor er das Sprechzimmer verließ.

Hoffentlich kann ich dieser Vorstellung gerecht werden, die Sie von mir haben, dachte Danny, als er zurück zu seinem Schreibtisch ging, um Frau Lechner, seine nächste Patientin aufzurufen.

»Sie sehen erholt aus, Frau Lechner«, begrüßte er Agnes Lechner, die vor einiger Zeit ihren achtzigsten Geburtstag gefeiert hatte.

»Mir geht es auch gut«, sagte Agnes, die in ihrem hellbeigen Kostüm äußerst elegant aussah.

»Das heißt, Sie bleiben bei Ihrer Familie?«, fragte Danny, nachdem Agnes an seinem Schreibtisch Platz genommen hatte.

»Ja, ich bleibe, und inzwischen sogar ohne schlechtes Gewissen. Mein Sohn, meine Schwiegertochter und mein Enkel haben mich gebeten, nicht ins Altenheim zu ziehen. Sie haben gesagt, dass ich ihnen fehlen würde. Sie meinten, ich müsste in Zukunft auch gar nichts mehr tun, weder im Haushalt noch in unserem Handarbeitsladen, falls mir diese Arbeiten inzwischen zu viel seien.«

»Ich nehme an, auf diesen Vorschlag sind Sie nicht eingegangen.« Vor ein paar Wochen war die alte Dame bei ihm gewesen, weil sie glaubte, sie müsse sich in ihrem Alter einen Platz im Altenheim suchen, um ihrer Familie nicht zur Last zu fallen. Er hatte sie gebeten, sich das noch einmal zu überlegen, weil er wusste, wie sehr sie an ihrer Familie hing.

»Auch in meinem Alter will man sich doch noch nützlich fühlen. Wir haben beschlossen, dass erst einmal alles so bleibt, wie bisher.«

»Das ist eine gute Nachricht.«

»Ich wollte Ihnen danken, dass Sie mich dazu gebracht haben, nicht voreilig zu handeln.«

»Dafür bin ich da, meine Patienten vor Schaden zu bewahren.« Er wusste, dass Olivia neulich bei einem Besuch im Handarbeitsladen der Lechners mit Agnes’ Schwiegertochter über die Bedenken älterer Menschen, auch in hohem Alter bei der Familie zu wohnen, gesprochen hatte. Das hatte offensichtlich dazu geführt, dass der Familie bewusst geworden war, was in Agnes gerade vor sich ging. »Was kann ich denn heute für Sie tun, Frau Lechner? Brauchen Sie neue Salbe gegen Ihre Schuppenflechte«, fragte er.

»Ein Rezept würde ich schon gern mitnehmen, obwohl es mir zurzeit sehr viel besser geht. Das liegt wohl daran, dass ich nicht mehr über einen Umzug ins Altenheim nachdenke.«

»Das ist durchaus möglich«, stimmte Danny ihr zu. »Darf ich mal sehen«, bat er sie.

»Aber ja.« Frau Lechner zog die Jacke aus, die sie über ihrem kurzärmligen Pulli trug. Die unheilbare Krankheit beschränkte sich bei ihr hauptsächlich auf die Arme und den Hals.

»Kaum etwas zu sehen, das sieht wirklich gut aus«, stellte Danny zufrieden fest, nachdem er sich die sonst stark geröteten Hautpartien angesehen hatte.

»Mei, ein wohlmeinender Rat ist halt oft die beste Medizin«, sagte Frau Lechner und zog ihre Jacke wieder an, während Danny ihr ein Rezept für die Salbe ausstellte, die sie immer auf Vorrat zu Hause hatte.

»Vielen Dank, Herr Doktor. Schade, dass Sie dem Korbinian nicht auch mit einer Salbe helfen können, seinen Arm zu heilen. Er hat mir vorhin im Wartezimmer erzählt, dass er sich ganz schlecht fühlt, weil er sein Team im Bogenschützenverein beim kommenden Wettbewerb nicht unterstützen kann. Mein Mann, Gott hab ihn selig, war auch ein recht guter Bogenschütze in diesem Verein. So ein Teamwettbewerb war immer ganz was Besonderes«, erzählte Agnes.

»Vielleicht findet sich ein Ersatz«, sagte Danny, nachdem er Frau Lechner das Rezept gereicht hatte und sie zur Tür brachte.

»Da müsst schon ein Wunder geschehen, hat der Korbinian gemeint. Aber wer weiß, hin und wieder gibt es Wunder. Auf Wiedersehen, Herr Doktor, und noch mal vielen Dank«, verabschiedete sich Agnes.

Vielleicht bin ich ja das Wunder, dachte Danny und lächelte in sich hinein, als er die Tür hinter Agnes schloss.

An diesem Vormittag kamen die meisten Patienten wegen Kleinigkeiten zu ihm. Hautabschürfungen, Schnupfen, leichte Magenschmerzen, verursacht durch zu fettes Essen. Zwei Patienten, zwei älteren Herren, die trotz ihrer Diabeteserkrankung nicht auf ihre Ernährung achteten, musste er ins Gewissen reden. Kurz nach zwölf hatte der letzte Patient das Sprechzimmer verlassen, und Danny ging zum Empfangstresen, um Sophia und Lydia, seine beiden Mitarbeiterinnen, zu fragen, ob es vor der Mittagspause noch etwas zu besprechen gab.