C. L. POLK
Stormsong
In Winterstürmen
Aus dem Englischen
von Michelle Gyo
Klett-Cotta
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Hobbit Presse
www.hobbitpresse.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Stormsong«
im Verlag Tom Doherty Associates, New York
© 2020 by Chelsea Polk
Für die deutsche Ausgabe
© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: Birgit Gitschier, Augsburg
unter Verwendung der Illustration des Originalverlags © Will Staehle
Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen
Printausgabe: ISBN 978-3-608-96495-0
E-Book: ISBN 978-3-608-12017-2
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Für Elizabeth Bear,
die schon immer da war
1
Vierzehn Tage nachdem Miles, Tristan und ich das Aethernetzwerk zerstört hatten, träumte ich, ein Sturm braue sich im Kessel zusammen. Ich beobachtete eine gewaltige vielarmige Wolkenspirale hoch oben im Himmel. Halb wach und halb im Traum öffnete ich die Augen, aber ich sah nur die Vision.
Der Sturm drückte mir Arme und Beine nieder, er schwoll an, wurde größer, immer größer, unglaublich groß, umfasste Hunderte Kilometer. Der Druck lastete auf meiner Brust und nahm mir die Luft zum Atmen. Der Sturm zwang mich, ihm zuzusehen, wie er nach Osten zog. Er kam, und ich konnte mich nicht bewegen, konnte nicht sprechen.
Ein leises, zitterndes Heulen erklang – ich war das, von Grauen gepackt und schwach. Ich zwang mich zu einem weiteren Atemzug für ein weiteres leises und hilfloses Wimmern. Noch mal. Ich sog die Luft ein und schrie.
Das Geräusch befreite mich. Der Sturm verstummte. Ich sah mein Zelt, roch die Luft, schläfrig und von den letzten Resten des Traums erfüllt. Sauer schmeckte ich im Mund den Schlaf einer ganzen Nacht.
Ich versuchte, mich selbst davon zu überzeugen, dass es nur ein Traum gewesen war, öffnete meine Truhe und durchwühlte sie nach Kleidern. Es war nur ein Traum gewesen. Nur ein Traum.
Doch was, wenn nicht?
Ich zog die herrlichen Gewänder an, die mir die Amaranthine gegeben hatten, in prächtigen Farben und kälteerprobt. Draußen ging die Sonne über einer in Weiß gehüllten Winterwelt auf, ein Winter, der zu früh gekommen war, er blendete mich. Die Vision nagte an mir, trieb mich, die Handwerksmeister nach Material für einen Drachen zu fragen. Ich nahm stabilen Zwirn, Rundholzstäbe, Kleber und Flügel aus leuchtend gelbem Papier auf den mit Steinen gekrönten Hang des Bywell Rise mit.
Meine Finger kannten die Aufgabe, wurden aber taub in der kalten Luft. Seit meiner Kindheit hatte ich unter den aufmerksamen Blicken meines Vaters Späherdrachen gebastelt. Ich wartete, bis der Kleber getrocknet war, stand im Wind, den Rücken dem Sonnenaufgang zugekehrt. Unter mir standen die bunt gewölbten Zelte des Amaranthine-Lagers rings um den Hügel, Safrangelb, Scharlachrot, Sommergrün und der größte Pavillon in tiefem Indigo mit Sternen besetzt.
Aelands letzte Ernte lag unter dem Schnee der vergangenen Woche begraben, und was Aeland in Wohlstand und Reichtum durch den Winter hätte bringen sollen, war zerstört. In der Nacht, in der der Zirkel sich gegen den Sturm gestellt hatte, war ich nicht da gewesen. Aeland hatte mich gebraucht, und ich war nicht da gewesen.
Das leise Knirschen von Schnee unter schweren Stiefeln holte mich aus meinen Gedanken. Tristan Hunter erklomm den Hügel und kniete sich neben mich. Ich warf ihm einen Blick zu, dann wandte ich mich wieder gen Horizont. Er zog eine Karaffe aus einer Lederschlinge.
»Guten Morgen, Tristan.«
»Guten Morgen, Grace. Ich sah, dass du schreiend aus einem Albtraum erwacht bist, und jetzt bist du auf dem Hügel und willst einen Drachen steigen lassen.« Tristan öffnete einen Glasbehälter, in dem Tee aus den gerösteten Wurzeln war, mit dem die Amaranthine sich wach hielten. Dampf liebkoste mein Gesicht, als ich einen Schluck nahm, die Bitterkeit der Wurzel von den Gewürzen gedämpft, die sie dem Gebräu zusetzten.
»Er ist für einen Zauber.« Der Tee wärmte mir den Magen. »Es ist dumm, aber ich muss wissen, ob ich einen Traum oder eine Vision hatte – oh, beim Ewigen Hort, das tut gut.«
Tristan tat meinen Dank mit einer Geste ab. »Und dafür brauchst du einen Drachen? Erzähl mir mehr über diesen Zauber – Augenblick.«
Die Luft nahm den Duft von Sommergras und Wiesenblumen an, ein Duft, der von den Portalsteinen hinter mir kam. Tristan lockerte Schwert und Dolch, stellte sich den Steinen zugewandt hin.
»Wer da?«, fragte Tristan.
Ein Mann erschien hinter einem der Wachtsteine auf der Hügelspitze, blieb stehen, hielt die Hände betont weit weg von einem Köcher an seiner Hüfte. Eine eisige Brise ließ seine scharlachrot und safrangelben Gewänder flattern. »Tristan. Was soll das hier? Hat die Großherzogin dir eine Gesandtschaft hinterhergeschickt?«
Ein weiterer Amaranthine. Ich stand auf, bereit, den Kopf zum Gruß zu neigen, sobald ich vorgestellt würde.
»Die Großherzogin kam höchstselbst«, sagte Tristan und verneigte sich etwas tiefer. »Aber warum bist du hier?«
Der Fremde fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. »Weiß Ihre Hoheit, was diese Monster in Laneer tun?«
»Sie wurde in Kenntnis gesetzt.« Tristan verlagerte sein Gewicht – eine beiläufige Geste, aber sie brachte ihn zwischen mich und den anderen Amaranthine. »Warum kommst du aus Laneer hierher statt nach Elondel? Es ist gefährlich.«
Der Fremde wischte die Bemerkung mit einer sorglosen Geste beiseite. »Um dich zu suchen. Um dich zurückzubringen und die Großherzogin zu warnen wegen – warte.« Er sah mich mit schmalen Augen an. »Wer bist du?«
Tristan trat zur Seite, damit der Mann mich ansehen konnte. Ich strich die pelzverbrämte Kapuze der gefilzten Amaranthine-Tunika zurück, die ich trug, und er zuckte zurück. Seine Hand fuhr hoch, und nun hielt er einen gut ausbalancierten Dolch zwischen den Fingern.
Tristan hob die Arme und stellte sich ihm in den Weg. »Aldis, halt. Sie ist eine Freundin.«
Eine Freundin. Sanfte Wärme breitete sich über mein Gesicht, als ich das hörte. Das Gesicht des Fremden verzog sich jedoch verächtlich.
»Sie ist keine Freundin. Sie ist eine Aeländerin. Hast du eine Ahnung, was sie ihn Laneer getan haben? Was sie hier tun?«
»Das wissen wir jetzt«, sagte ich. »Und es ist entsetz…«
»Sprich nicht mit mir«, sagte Aldis.
»Hör auf. Sie hatte keine Ahnung«, rügte Tristan ihn. »Als sie die Wahrheit erfuhr, half sie, das Aethernetzwerk zu zerstören. Ihr Bruder verlor fast sein Leben, als er ungeschehen machte, was in ihrem Namen verübt wurde.«
Ich nickte, doch Aldis starrte mich mit mörderischem Blick an. »Es ist vorbei«, sagte ich. »Diese Abscheulichkeit wurde zerstört.«
»Lass uns noch mal von vorn anfangen«, sagte Tristan, »und höflich. Aldis, das ist die Erlöserin Aelands Dame Grace Hensley. Grace, das ist Sir Aldis Hunter, ein Jäger der Großherzogin.«
Auch ein Hunter, doch sie sahen nicht wie Brüder aus. Beide waren gutaussehend, aber Tristans feinknochige Gesichtszüge und das helle Haar ließen ihn verführerisch wirken, während Aldis das rotbraune Haar in losen Wellen um scharfe Wangenknochen und ein kantiges Kinn in einem ungehobelteren, eckigeren Gesicht fiel. Er beäugte mich mit offenem Missfallen, steckte aber das Messer zurück in die Scheide.
»Guten Tag«, sagte ich.
Aldis ignorierte mich. »Welche Strafe erwägt die Großherzogin? Ich habe ein paar Vorschläge zu machen.«
»Die Großherzogin wird diplomatische Gespräche mit der Königin aufnehmen«, sagte Tristan. »Es gibt viel, was man wissen muss, um sich von diesem Ort einen Eindruck verschaffen zu können.«
Wieder warf Aldis mir einen Blick zu. »Wo finde ich sie?«
»Im indigofarbenen Zelt. Sie wird dich sehen wollen.«
»Gut.«
Aldis marschierte direkt auf mich zu und zwang mich so, beiseitezutreten. Ich sah seiner davonschreitenden Gestalt hinterher und hoffte, ihm würden die Zehen abfrieren.
»Na, der scheint nett zu sein.«
»Wir müssen davon ausgehen, dass Aldis Aelands wahres Ziel hinter der Eroberung Laneers in Erfahrung gebracht hat.« Tristan beobachtete die in Safran und Scharlachrot gekleidete Gestalt, die durch das Lager trottete und auf das tiefblaue Zelt zuhielt, in dem Großherzogin Aife residierte. »Er wird dafür stimmen, Aeland zu bestrafen, und Aife vertraut ihm. Man muss ihm etwas entgegensetzen.«
Wie sollten wir Aelands abscheulichem Motiv für den Krieg gegen Laneer etwas entgegensetzen? Es würde kein Tag vergehen, an dem mich beim Gedanken an die Seelenmaschinen im Keller vom Clarity House nicht das Grauen packte. Aife hatte nicht mit mir über diese Abscheulichkeit gesprochen und zog es stattdessen vor, mich als entscheidende Akteurin bei der Befreiung der Toten anzusehen. Aldis war jedoch selbst in Laneer gewesen. Er hatte die Gräuel des Kriegs gesehen, hatte begriffen, dass Aeland verantwortlich war für jeden Tropfen Blut, der die Erde dort getränkt hatte. Er würde Aife davon erzählen, und danach würde sie mich nicht mehr voller Freundlichkeit ansehen.
»Aife vertraut dir«, sagte ich.
Tristan presste die Lippen aufeinander. »In der Tat. Sollen wir fortfahren?«
»Ja.« Ich packte den Drachen fester und stieg den Hang ganz hinauf.
Auf dem Hügel erwartete uns ein totes Kind. Ich konnte durch seine von Geschwüren bedeckte Haut und die löchrige Tunika hindurchsehen, die von einer knochigen Schulter herabhing. Es starrte auf den Drachen unter meinem Arm, bevor es zu mir aufsah. Seine Lippen bewegten sich, aber ich konnte es nicht hören.
»Ahoi.« Ich kniete nieder, als lebte der Kleine, und zeigte ihm den Drachen. Er streckte die Hand aus, doch seine Finger glitten durch das Papier, und er verschwand.
Die Geisterkinder waren die schlimmsten unter all den Erscheinungen, die auftauchten, seit die Seelenmaschinen zerstört worden waren, die das Aethernetzwerk betrieben hatten. Sie verdienten es am allerwenigsten, und ich konnte nichts tun, um ihnen zu helfen, hatte keine Gabe, die ihnen genutzt hätte. Sie waren vom Ewigen Hort abgeschnitten, alle Pfade zwischen hier und dort von den Amaranthine im Lager verschlossen.
»Armer Kerl«, sagte Tristan. »Das Leben war nicht freundlich zu ihm.«
Er hätte den Trost des Ewigen Horts erfahren sollen, als er starb, statt des Schicksals, das er nun erlitt.
»Gut.« Tristan ging zu dem hohen Stein und lehnte sich dagegen. »Wie funktioniert der Drachen-Zauber?«
»Mit ein wenig Hexerei. Etwas Blut, dann bin ich mit dem Drachen verbunden.« Ich streifte den Handschuh und den Fäustling von meiner linken Hand, fischte meine Bolline mit weißem Griff aus der Tasche und vergoss drei Tropfen Blut auf die Nase des Drachen.
Bald schon flatterte er fröhlich gelb am klaren blauen Himmel, und eine Faser meiner Seele spannte sich zwischen mir und dem Blut, das ich auf das Papier geträufelt hatte. Der Drache sackte ab und wirbelte wieder hoch hinauf in die höher wehenden Brisen, schien dann die Luft anzuhalten und sich zu stabilisieren, also leerte ich meinen Geist und sandte meine Sinne aus. Gen Westen, über die Polarwinde hinweg. Gen Westen, gegen den Wind über das Meer hinweg, wo die Luft feucht wurde und um die flaue Luft aus dem Norden herumwirbelte. Und wo sie kämpften …
Der Drache sackte ab, stürzte zu Boden. Ich zog an der Leine, fing den Wind erneut ein, und was ich da sah, zerrte an meinem Glauben:
Ein Sturm breitete sich kilometerweit aus, drehte ab von dem Kessel vor der Küste. Er war falsch: zu weitläufig, zu gefährlich. Der Sturm kam nach Osten und schwoll zornig an. Nach Osten gen Kingston, wo Millionen sich ohne den Aether in der Dunkelheit und Kälte zusammendrängten.
Mit zittrigen Händen holte ich den Drachen ein.
»Ein ordentlicher Trick«, sagte Tristan. »Du hättest zuerst etwas essen sollen.«
»Ja, Mutter.« Mir drehte sich alles, das Land drehte sich, mein Hunger vom Lesen des Windes vervielfacht. Ich hatte nicht geträumt. Ich hatte mich nicht geirrt. Der Sturm, den ich im halbwachen Dämmerzustand gespürt hatte, war echt. Und wenn er auf die Küste traf, konnte ich nicht ermessen, wie viele er töten würde.
Tristan packte mich an der Schulter und stützte mich. »Du bist ernsthaft grün um die Nase. Was hast du gesehen?«
Ich schüttelte den Kopf, versuchte, klar zu denken. Vielleicht träumte ich immer noch. Vielleicht war das hier immer noch ein Albtraum. »Ein Sturm. Er ist schlimm. Es ist … ich muss los.«
»Wohin? Grace? Was willst du …?«
Ich legte den Drachen in den Schnee und lief los, meine Füße gerieten auf dem Abhang ins Rutschen. Tristan rief meinen Namen, aber ich hielt meinen Kurs bei, hielt auf das lange Zelt zu, das als Stall diente.
»Grace.« Tristan packte meinen Arm und hielt mich fest. »Erklär es mir und lass mich helfen.«
»Ich muss nach Kingston. Da ist ein Sturm. Er ist gewaltig, und er hält direkt auf uns zu.«
»Und du musst dort sein.«
In einer weitausholenden Geste schwang ich den Arm herum. »Sieh doch, was geschah, als ich nicht da war.«
»Das kannst du dir nicht vorwerfen. Die Unsichtbaren haben dich hinausgeworfen, schon vergessen? Außerdem brauchte Miles dich.«
»Du hast recht«, sagte ich. »Doch Schuld wurde noch nie mit Rationalität bezwungen. Dieser Sturm ist schlimmer als letzte Woche. Ich muss zurück …«
Tristan hielt meine Hand fest. »Und dann wirst du wegen Hochverrat eingesperrt. Was nutzt du dann?«
»Ich kann nicht nur hier herumsitzen!«
»Darum bittet dich niemand. Miles kann verlegt werden, wenn wir einen Wagen auspolstern. Aife steht kurz vor einer Entscheidung. Hilf mir, sie davon zu überzeugen, das Lager zu verlegen. Es ist sowieso an der Zeit, nach Kingston zu gehen. Komm schon«, sagte Tristan und hielt auf das Zelt der Großherzogin zu. »Je weniger Zeit Aldis hat, ihr Gift einzuflüstern, desto besser.«
Zwei Sonnenaufgänge nachdem ich den Drachen hatte steigen lassen, kehrte ich nach Hause zurück und traf auf Streikposten, die sich auf dem Paradeplatz vor dem Mountrose Palace versammelt hatten. Sie hielten Schilder, die die Wut und Angst der Menschen zum Ausdruck brachten, in großen Buchstaben gemalt: »Bringt uns Licht« und »Wir haben Hunger – Uns ist kalt.« Auf den meisten Schildern stand ein Wort in schwarzer Schrift: »Schande.«
Ätzend und heiß füllte es meinen Magen. Ich konnte ihnen nicht sagen, warum Kingston dunkel war, warum die drahtlosen Empfänger und Telefone schwiegen. Erführen sie die Wahrheit, würde Aeland von ihrer Raserei brennen.
So schnell es ging, war ich in Begleitung der Amaranthine hergekommen. Als ich in Aifes Zelt hereingeplatzt war und ihr von dem Sturm erzählt hatte, stimmte sie dem Abbruch des Lagers so rasch zu, dass ich rätselte, was Aldis ihr erzählt hatte, bevor Tristan und ich eintrafen. Der Sturm hatte noch an Geschwindigkeit und Wildheit zugenommen, obschon noch Hunderte Kilometer entfernt, und die Meereswinde peitschten uns seinen Zorn entgegen. Uns blieb keine Zeit mehr.
Doch erst einmal versetzten wir Kingston mit unserem Anblick in Erstaunen. Wir verblüfften Zeitungsjungen, die mit ihren Stapeln der Tageszeitung unterwegs waren, verwirrten Kutscher und Wachtmeister, überraschten die Montagearbeiter beim Dienstwechsel, die nach der Nachtschicht den Heimweg antraten. Einige ließen stehen und liegen, was sie taten, und folgten uns, schubsten einander, um einen besseren Blick auf die Prozession zu erhalten. Jetzt starrten die Demonstranten uns an, ihre wütenden Schilder hielten sie schief.
Unter unsere Zeugen mischten sich die Toten. Ihre Lippen bewegten sich, aber kein Laut entkam ihnen. Das Licht schien durch ihre transparenten Körper, und sie griffen nach den Lebenden, die vor ihrer Berührung zurückzuckten, da sie ihnen Gänsehaut bereitete. Sie umdrängten uns, und Aldis schnalzte mit der Zunge, lenkte sein Pferd in die Mitte der Prozession. Er erblickte mich und verzog das Gesicht, wandte sich dann ab, um seinen Abscheu den Leuten zu zeigen, die näher kamen.
Die Amaranthine, die um mich herumritten, warfen mir Blicke zu, die Mienen angespannt und missbilligend. Ich schrumpfte im Sattel zusammen und lenkte mein Reittier so, dass es neben dem Wagen lief, in dem mein Bruder lag. Er setzte sich auf und versuchte, an den Pferden und Reitern vorbeizusehen, aber gab mit einem entnervten Seufzen auf und ließ sich zurück auf die Pritsche sinken.
Miles fing meinen Blick auf und versuchte, mich mit einem Lächeln zu erweichen. »Ich kann reiten.«
»Nein, kannst du nicht«, erwiderte ich. »Außerdem sind wir endlich da.«
Er seufzte und starrte in den Himmel. »Und du wirst davonrennen und irgendetwas Dummes anstellen.«
»Tu ich nicht«, sagte ich, dann zuckte ich zusammen, als die Luft gegen meinen Kopf drückte.
Jemand mit einem Stativ, einer großen Kamera und einem Blitzlicht darauf rannte auf uns zu. Sie stellte das neumodische Gerät ab, und die Amaranthine blickte neugierig auf sie herab. Sie schoss ein Bild, und die ganze Gesandtschaft zuckte überrascht zusammen; erschreckte Rufe erklangen um mich herum.
»Was ist das?«, fragte Aldis.
Tristan sprach laut, sodass man ihn hörte. »Das ist eine Kamera. Wunderbare kleine Dinger. Sie fangen das Bild eines Menschen perfekt ein.«
Die Fotografin richtete sich auf und musterte die Gruppe genauer. »Sir Tristan?«
Diese Stimme kannte ich. Ich stellte mich in den Steigbügeln auf, um besser sehen zu können.
Sie war es. In meiner Erinnerung sah ich sie wieder in den Starlight-Ballsaal im neu eröffneten Edenhill schreiten, gewandet in Skandale. Sie hatte gegen den eisernen Kodex rebelliert, der unverheirateten Frauen nur Weiß zu tragen gebot, das frisch geschnittene Haar tiefschwarz gefärbt und glatt und kurz gehalten, sodass es sich an ihre Wangenknochen schmiegte und ihren Mund betonte, der so rot war wie das Ballkleid, das ihre Schultern einhüllte. Die blassen Arme steckten in schwarzseidenen Opernhandschuhen.
Wie angewurzelt hatte ich dagestanden, mein Herz höchst erfreut, sie zu sehen, dann voller Entsetzen, da ihr wütender Vater ihr ein weißes Tischtuch über den Kopf geworfen hatte und sie so gewaltsam aus dem Raum zerrte, dass sie schmerzerfüllt aufschrie.
Das war sie: das schwarze Haar, die schrägen Wangenknochen, der herzblutfarbene Lippenstift. Ihr mit Pelz verbrämter Mantel war vor zwei Wintern modern gewesen, und ihr Hut war ein Trilby, wie ihn Reporter bevorzugt trugen. Und doch war sie es, und sie ließ mich wieder erstarren so wie damals an Neujahr.
Tristan hob die Hand zum Gruß. »Zu Ihren Diensten, Miss Jessup.«
Avia Jessup war eine Erbin gewesen, das älteste von drei Mädchen, der das Vermögen von Jessup Family Foods zufallen sollte. Ich hatte sie auf Gesellschaften herumschweben sehen, lachend, glamourös und glitzernd, und ich hatte mir immer gewünscht, mit ihr reden zu können. Jetzt war sie ein Einauge in einem Mantel aus zweiter Hand, und ich konnte es mir nicht vorstellen – sie hatte beharrt, hatte sich geweigert, ins samtene Leben zurückzukehren, damit sie bei einer Zeitung arbeiten konnte. Sie hatte ihre eigenen Wünsche gewählt, ihre eigenen Ambitionen, sich selbst. Es war schockierend. Sie war interessant. Ich wünschte, ich wäre nicht von Gesegneten umgeben und dass mir etwas Kluges einfallen würde, das ich zu ihr sagen könnte.
Mein Reittier schwang den Kopf herum und wieherte leise einem anderen zu, das sich näherte. Ich riss den Blick von ihr los und begrüßte Großherzogin Aife mit einem Nicken. Sie lächelte mich an, eine Brise griff ihre goldenen Korkenzieherlocken und ließ sie um ihr scharf geschnittenes braunes Gesicht wehen. Sie kam an meine Seite und neigte den Kopf, sah zu, wie Avia eine weitere Platte in ihre Kamera schob und den Auslöser drückte, das Blitzlicht flammte ein letztes Mal hell auf, dann verlosch es mit dem Geruch nach verbranntem Draht.
Aldis streckte die Hand aus und versperrte ihr die Sicht. »Hör auf. Das ist unhöflich.«
»Vielleicht«, räumte Avia ein. »Aber ihr seid die neueste Nachricht, wisst ihr.«
Tristan schob Aldis’ Hand nach unten. »Sie ist hier, um die Geschichte unserer Ankunft zu hören. Das ist ihre Aufgabe.«
Aldis beäugte Tristan. »Sie ist ein Herold?«
Tristan zuckte mit den Schultern. »So in etwa.«
Aldis schnaubte. Er warf Avia einen strengen Blick zu und sprach dann etwas zu laut: »Wir folgen Großherzogin Aife vom Ewigen Hort, Erbin des Throns der Großen Schöpfung, segenreiche Tochter von Königin Eilidh der Wächterin. Sag ihnen das in deinem Lied, Herold. Sag ihnen, wir kommen mit gezückten Schwertern. Sag ihnen, wir kommen, um eure Leute von dem Bösen zu befreien, das ihr angerichtet habt.«
Tristan seufzte, laut und verärgert. »Genug, Aldis. Darüber weiß sie nichts.«
Avia ließ die Kamera los, dann zog sie einen Notizblock und einen Stift aus ihrem Mantel. »Aife vom Ewigen Hort, vom Thron der Großen Schöpfung …« Sie ließ den Stift in den Schnee fallen. »Ihr seid Hüter. Ihr seid Amaranthine. Ihr seid echt.«
Die Demonstranten hinter ihr wurden unruhig. Eine Frau stieß Avia zur Seite und fiel auf die Knie. »Gesegnete. Was haben wir getan, um eure Strafe auf uns zu lenken?«
»Ihr habt nichts falsch gemacht.« Ich stupste mein Pferd leicht mit den Fersen an und lenkte es vor Aldis’. »Die Schuld liegt nicht bei euch, Menschen von Aeland. Bitte, bleibt ruhig. Dies sind die Gesegneten, und sie sind gekommen, um mit Königin Constantina zu reden. Lasst sie in Frieden in den Palast weiterziehen.«
Ich gestattete mir, einen letzten Blick auf Avia Jessup zu werfen. Sie sah mir zu, wie ich mich der Kohorte der Wachen in scharlachroten Mänteln zuwandte, und eisiger Wind biss mir in die Ohren.
»Grace, halt!«
Miles’ Stimme. Ich ritt jedoch weiter mit erhobenen Händen, hielt mein Pferd in ruhigem Schritt. »Ahoi«, sagte ich. »Ich bin Fiona Grace Hensley.«
Die Wachen erhoben die Gewehre in einer einzigen Bewegung. »Ihr werdet wegen Verdachts auf Hochverrat gesucht«, sagte der Hauptmann der Wache. »Ergebt Euch.«
»Bitte, sorgt dafür, dass die Gesegneten bequem und gastfreundlich untergebracht werden. Ich muss mit der Königin reden. Es geht um Leben und Tod.« Beschwörend breitete ich die leeren Hände aus.
Im Chor spannten sich die Hähne der Waffen, ein Schleifen und Klicken. Ein Ruf erklang von den Amaranthine, und Tristan ritt vor, eine Hand beschwichtigend erhoben.
»Die Erlöserin wird von der Großherzogin Aife vom Ewigen Hort geschützt«, rief Tristan. »Sie ist unser Gast, und wir werden sie vor Beleidigung und Gewalt verteidigen.«
Sie konnten kämpfen. Gleich hier. Die Wachen und ihre Gewehre gegen die Ewigen und ihre Magie. Wären sie dumm genug, das Blut der Amaranthine zu vergießen?
Ich würde nicht zulassen, dass sie kämpften, nicht wegen mir. Ich stemmte eine Hand auf den Sattel und stieg ab. »Tristan, zurück. Bitte. Ich muss das tun. Sie muss es sofort erfahren.«
Tristan schüttelte den Kopf. »Du stehst unter dem Schutz von Großherzogin Aife.«
Ich hob die Hände, die Handflächen nach vorn. »Sollte ich meine Königin beleidigen, indem ich diesen Schutz nutzte, wo doch eine treue Untertanin sich der Weisheit ihrer Monarchin anvertrauen würde? Ich ergebe mich ihrer Gnade. Ich habe volles Vertrauen, dass sie mich anhören wird.«
»Königin Eilidh würde das Gleiche erwarten«, erwiderte Tristan nur.
Etwas an seinem Tonfall brachte mich dazu, ihn anzusehen, und ich versuchte, in seiner Miene zu lesen. Sie war jedoch so unbewegt wie ein Teich, und er trat zurück, erlaubte mir, mich zu ergeben.
»Packt sie«, befahl der Hauptmann der Wache, und scharlachrote Mäntel umringten mich. Einer wand mit Kupfer überzogene Handschellen um meine Handgelenke. Kalte Flammen zuckten über meine Haut. Meine Lippen schmeckten Metall. Die Welt verzog sich, dann schnappte sie mit einem Knall wieder an ihren Platz. Mein leerer Magen rumorte, und zwei weitere Wachen packten mich, bevor ich stürzen konnte.
Ich konnte nichts tun. Konnte nicht schreien oder würgen oder auf irgendeine Weise andeuten, dass ich die Berührung von Kupfer auf meiner Hand nicht ertrug. Sie hatten gewusst, was ich war, und niemand konnte mich noch vor den Ermittlern schützen.
»Vorsichtig«, sagte Aife. »Sie hat sich ergeben. Behandelt sie mit Respekt.«
Der Wachhauptmann betrachtete Aife mit besorgt zusammengezogenen Brauen. »Sie wird wegen Hochverrats gesucht, oh Strahlende.«
»Hoheit reicht«, erwiderte sie. »Ich bin Großherzogin Aife vom Ewigen Hort, Hand des Throns der Großen Schöpfung. Ich wünsche Eure Königin sofort zu sehen. Werdet Ihr das ausrichten?«
Der Hauptmann gab einen Befehl, und ein Untergebener rannte los, sodass Schneebrocken umherflogen, als er durch die Tore rannte.
Die anderen führten mich davon, den mit festgestampftem Schnee bedeckten Pfad zum Kingsgrave-Gefängnis hinab.
»Ich muss die Königin sehen«, sagte ich. »Es geht um das Schicksal des Königreichs.«
»Wir haben unsere Befehle, und die kommen nicht von dir«, sagte eine Wache. »Und jetzt halt den Mund und lauf.«
Ich hielt den Mund. Wir kamen unter einer Esche vorbei, die Zweige von Schnee bedeckt. Ein Schwarm scharlachroter Eichelhäher umkreiste den rauen grauen Stein des Gefängnisturms, dann schwangen die schweren Türen auf, um mich zu verschlingen.
Im Kingsgrave-Gefängnis war es Zeit für das Essen, doch ich konnte keine weitere Minute bleiben. Der Sturm, dessen Kommen ich spürte, übte Druck in meinem Nacken aus, sorgte dafür, dass sich mein Magen verknotete und meine Träume sich in der Dunkelheit verdrehten. Mittlerweile mussten es die anderen auch gespürt haben. Sie mussten mit der Botschaft bereits bei der Königin gewesen sein. Und sie würde mich nicht hierlassen, nicht, wenn sie mich brauchte. Ich konnte sie überzeugen, wenn ich nur mit ihr reden könnte. Sie würde alles verstehen. Wenn sie mich nur empfing, und sei es auch nur für einen kurzen Moment.
Mit einem knirschendem Stöhnen öffnete sich die rostige Tür. Prinz Severin schritt in den Zellenblock, sein modischer Aufzug fehl am Platz inmitten des grob behauenen Steins und dem Gestank nach Gefängnis. Von den polierten Schuhspitzen bis zu den von Hand gesäumten Schultern seines Anzugs und dem dunklen glänzenden Haar sah er noch genau so gut aus, wie als ich ihn zuletzt gesehen hatte. Eine orangefarbene Seidenkrawatte, gefärbt wie das Wappen der Hensleys, lugte unter seinem Hemdkragen heraus. Mir hingen die Haaren wirr in die Augen, nach den anderthalb Tagen, die ich hier war. Ich war ungewaschen und in einen formlosen Kittel aus ungefärbtem Hanf gekleidet, wie die Gefangenen sie trugen.
»Ich kam, so schnell ich konnte«, sagte er. »Ich kann nicht glauben, dass Sie die Gesegneten zu uns gebracht haben.«
»Eure Hoheit. Bitte. Ein Sturm zieht auf …« Ich hob den Kopf und stöhnte. »Tut mir leid. Es tut so weh.«
»Ich weiß von dem Sturm. Die anderen haben vor einer Stunde Botschaften geschickt, sie alle lauten gleich.«
Ich kämpfte mich hoch und saß nun. »Wir dürfen keine Zeit verlieren. Es ist der größte Sturm, den ich je gesehen habe. Hat Ihre Majestät Euch geschickt, mich zu holen? Niemand sonst kann das Ritual leiten.«
Er trat näher an die mit Kupfer überzogenen Stäbe. »Hören Sie mir zu. Ich kann Ihnen aus dieser Zelle heraushelfen, aber ich brauche etwas von Ihnen.«
Ich stand auf, schwankte, blieb aber auf den Füßen. »Wenn es in meiner Macht liegt.«
»Was immer sie sagt, egal, was sie sagt, lassen Sie sich nicht auf die Forderungen der Königin ein.« Prinz Severin sprach so leise, dass ich von seinen Lippen ablesen musste. »Ich brauche Sie auf meiner Seite. Aeland steckt in tiefen Schwierigkeiten mit den Amaranthine wegen dieser ganzen Sache mit dem Aether und den Sanatorien, und sie wird nicht auf mich hören.«
Ich ging so nahe an die Stäbe heran, wie ich es wagte. »Welche Art Schwierigkeiten?«
»Sie wünschen Dinge, zu denen die Königin nicht bereit sein wird. Ich will einen Kompromiss finden, aber sie lässt sich nicht davon überzeugen, sich zu beugen.«
»Und Ihr wollt, dass ich dabei helfe, sie zu überreden?«
»Ich will, dass Aeland diesen Sturm und das Urteil der Amaranthine übersteht«, sagte Prinz Severin. »Wir müssen uns in ihr Wort fügen und tun, was sie sagen, aber Mutter will nicht. Doch es steht sogar noch schlimmer. Das Volk ist wütend.«
Wie wütend? Ich hatte absolut keine Ahnung, was in Kingston geschehen war, seit wir die Wahrheit im Keller unter Clarity House aufgedeckt hatten. Waren es mehr als nur die Demonstranten auf dem Paradeplatz? »Es sollte auch wütend sein. Die Lichter sind aus.«
»Wir werden viel Zeit haben, das zu diskutieren, wenn Sie erst frei sind. Werden Sie mich unterstützen?«
»Was fordern die Amaranthine, was will Königin Constantina ihnen nicht geben?«
Severin hob einen Finger. »Reparationen für Laneer, wegen Aelands Angriff.«
»Oh.« Die alten Geschichten waren also wahr. Das Urteil eines Amaranthine kostet den Bestraften das, was er am allerwenigsten geben möchte. Königin Constantina rühmte sich für ihre erfolgreiche Herrschaft, die sich in Millionen von Mark maß. »Ist das alles, was sie fordern?«
»Nein.« Er hob einen zweiten Finger. »Sie wollen, dass die Hexen freikommen und dass auch sie Reparationszahlungen erhalten.«
Und sobald sie frei waren, würden sie ihre Geschichten erzählen. Dieses Wissen würde die Menschen in Rage versetzen. Constantina könnte angesichts dieser Enthüllung die Krone verlieren. Vielleicht sogar den Kopf. »Das wird sie niemals tun.«
»Sie muss«, sagte Prinz Severin. »Und letztlich wollen sie, dass die Aeländer die Wahrheit erfahren über das, was in ihrem Namen getan wurde.«
Ich starrte auf den dritten Finger, der den Punkt aufzählte, der uns vernichten würde. »Aeland wird bis auf die Grundfesten niederbrennen, wenn das geschieht.«
»Wir könnten diesen Teil vielleicht kontrollieren, wenn wir Mutter davon überzeugen können einzuwilligen«, sagte Severin.
»Und wenn sie das nicht tut?«
»Dann brauche ich Sie.«
Damit ich der Königin den Rücken kehre, meinte er. Severin deutete an, dass ich ihm versprach, Hochverrat zu begehen, als Bedingung dafür, dass er mich jetzt von genau dieser Anschuldigung freisprach. Wie sehr würde er sich aber noch für die Stellung seiner Mutter einsetzen, wenn ich mich auf seine Seite schlug? Wie konnte ich mich gegen die rechtmäßige Monarchin wenden? Wie konnte ich Generationen, die der Krone gedient hatten, zu Staub zermalmen, indem ich sie hinterging?
»Müsst Ihr mich darum bitten, Euer Hoheit? Gibt es nichts sonst, das ich Euch zusichern kann?«
Er legte die Finger um die Stäbe und begegnete meinem Blick mit erhobenem Kinn. »Ich möchte es nicht tun. Doch es sind die Amaranthine, Grace. Sie sind es. Hier im Palast.«
Seine Augen glänzten vor Ehrfurcht und Staunen. Das verstand ich. Auch mich traf es gelegentlich, wenn mir in den Sinn kam, dass sie die Gesichter unserer Schöpfer kannten. Ich vergaß es leicht – aber der Prinz gehörte zum Tempel. Er führte sein Buch der Meditationen. Er sah sie auf andere Weise. »Ist es manchmal seltsam?«
»Es ist ein Segen«, antwortete Prinz Severin. »Der Umstand, dass sie uns die Möglichkeit gewähren, um Gnade zu bitten, darf nicht vergeudet werden. Sie begreift nicht, dass sie einfach Gerechtigkeit üben könnten, und was das für Aeland bedeuten würde.«
»Was werden sie tun?«
Severin zog die Schultern hoch. »Du kennst die Gesegneten besser als ich. Einer der Höflinge der Großherzogin ist kein Freund Aelands. Weißt du, wen ich meine?«
»Aldis.« Sein Rat an Aife würde uns kein bisschen Wohlwollen einbringen. »Was will er?«
»Er will, dass sie die Königsfamilie und die Ritter der Königin einsperren, und uns zu einem Vasallenstaat von Laneer machen …«
»Das können sie nicht!«
»Und wenn wir uns weigern«, fuhr Prinz Severin fort, »verlangt er, dass wir verdorren sollen.«
Mir stockte der Atem. Dichter sangen von der Amaranthine, die einst König Randulf verflucht hatte, seine zwanzig Erben und Bastarde, und seine achtundsechzig Enkel. »Du wirst verdorren.«
Seine Frau erlitt urplötzlich eine Fehlgeburt. Im Jahr darauf erwies sich, dass weder er noch seine Kinder noch die Kinder seiner Kinder fruchtbar waren. Zehn Jahre darauf gab man Bräute zurück, brach Abkommen, nahm das Land ein oder befreite es, und Randulfs Ahnen wurden alt und starben machtlos, verschwanden gänzlich bis auf ihre Erwähnung in Gedichten und Legenden.
Ich begriff, warum Severin so blass war. Ich musste hier raus.
»Die Großherzogin sagte, sie würde uns ihre Entscheidung mitteilen, nachdem sie das wahre Aeland gesehen hat, aber ich fürchte, sie wird nicht geduldig sein angesichts des Widerstands von Mutter.«
Königin Constantina würde lieber ersticken, bevor sie sich bei Laneer entschuldigte und zugab, dass der Krieg ein Verbrechen war. Erfuhr sie von den Plänen des Prinzen, würde sie nicht zögern. Er würde gehängt, und seine Komplizen auch.
Doch brachte sie Verderben auf Aeland herab, konnte ich dann wirklich zusehen und Treue vorschieben? Niemals. Nie würde ich Aeland fallen lassen, wenn ich es verhindern konnte.
Und so beging ich Hochverrat, diesmal wirklich. »Gut, ich unterstütze Euch. Und wenn es wirklich so kommt, stehe ich Euch bei.«
Severin stieß den Atem aus, den er angehalten hatte. »Ich danke Ihnen. Und nun lasst mich Euch hier herausholen. Wache!«, rief er. »Öffnet die Tür. Dame Grace steht ab jetzt unter meiner Obhut.«
2
Severin ließ mir Zeit und Privatsphäre, damit ich die geliehenen Gewänder der Amaranthine anziehen konnte, bevor er mir seine Begleitung durch die kühlen Hallen von Kingsgrave anbot. Ich passte mich seinem Schlendern an, auch wenn ich lieber gerannt wäre. Ich hatte so viel zu tun, angefangen damit, die zu versammeln, die vom Zirkel der Unsichtbaren noch übrig waren. Dennoch konnte ich die Zeit nutzen, wenn der Prinz mich darüber in Kenntnis setzte, was geschehen war, während ich in Bywell gewesen war.
»Die Königin hat sie alle inhaftiert?« Meine Stimme hallte von den Steinen zurück und klang mir in den Ohren. Ich senkte sie zu einem Murmeln, wandte den Kopf, sodass die Worte direkt an Severins Ohr drangen. »Das gesamte Kabinett?«
Severin neigte den Kopf in meine Richtung, vertraut mit den akustischen Eigenarten des Steingangs. »Sie sind alle im Gefängnis.«
Deshalb hatte es vor einer Woche so heftig geschneit. Der gesamte Erste Ring lag in Ketten. Verdient hatten sie es gewiss. Sie waren durchaus schuldig.
Doch vom Sturm schmerzte mir der Kopf und verkrampfte sich mein Magen, ich brauchte ihre Macht und Fähigkeiten, um gegen ihn anzugehen. »Seit wann? Oh, verzeiht, Eure Hoheit. Es ist nur so dringend …«
Er bedeckte meine Hand, die in seiner Ellenbeuge lag, mit seiner. »Severin. Ich zähle auf deine Offenheit, Grace. Bitte halte dich nicht vor mir zurück, nicht, wenn ich sie so dringend brauche.«
»Severin«, sagte ich.
Er schenkte mir das Lächeln, bei dem halb Kingston aufseufzte, das Lächeln, das so viele Fotografien von ihm an der Seite von Aelands berühmtesten Schönheiten in den Zeitungen zierte. »Um deine Frage zu beantworten, etwa drei Tage, nachdem die Lichter ausgingen.«
»Das war vor dem Sturm am Achten«, sagte ich. »Und das war nur ein Schneesturm. Er hat den letzten Rest unserer Ernte vernichtet.«
»Wir ernten immer einen Überschuss«, sagte Prinz Severin mit einem Schulterzucken. »Wir kommen zurecht.«
So leicht würde es nicht. Hunderte Tonnen Nahrung lagen unter dem Schnee und verrotteten. Tausende. »Ich meine, dass dieser kommende Sturm schlimmer ist. Sein Auge ist gewaltig. Für das Ritual brauche ich jeden Sturmsänger, den ich bekommen kann. Ich brauche den Ersten Ring.«
»Das weiß ich. Aber Mutter ist wütend. Ich bin nicht sicher, ob sie ihn dir zur Verfügung stellen wird.« Severin lotste mich erneut um eine Ecke, tief hinein in das Labyrinth, das jeden in die Irre führte, der ihm zu entkommen versuchte. Gingen wir nicht falsch? Der Prinz wandte sich nach rechts, wo wir nach links hätten gehen sollen. In seinem Kopf brodelte nicht der Kessel im Westen, und er kannte den Palast besser, als ich es je hoffen konnte.
Ich versuchte, die Frage elegant zu formulieren, aber da bog Severin erneut ab und sagte: »Ich dachte, Sir Christopher der Jüngere wäre tot.«
So viel zum Versuch meines Bruders, frei und unentdeckt zu leben. »Er wollte es so«, sagte ich. »Und er nennt sich nun Miles.«
Die Lippen des Prinzen hoben sich zu einem Lächeln. »Ein Deckname? Wie schneidig.«
»Es ist sein Verdienst, weil er das Richtige getan hat und dem Zorn der Amaranthine standhielt. Er war derjenige, der handelte. Ich habe nur geholfen.«
»Hast du gezögert, ihm zu helfen?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Nein. Er hatte recht.«
»Dann ist es auch dein Verdienst. Viele Menschen hätten nicht so rasch gehandelt, um das Richtige zu tun. Doch du hast eine harte Entscheidung getroffen, zum Wohle Aelands.«
Seine Anerkennung wärmte mir die Wangen. »Danke, Eure Hoh… Severin.«
Er nahm meine Hand und führte mich um eine weitere Ecke. »Du gewöhnst dich daran. Nun zu den Amaranthine.«
Ich war nicht die Einzige, die Informationen brauchte. »Was möchtest du wissen?«
Wieder lächelte er mich an, und um seine schönen dunklen Augen bildeten sich kleine Fältchen. »Ist es wahr, dass sie nicht lügen können?«
»Ich habe nie einen Amaranthine dabei ertappt.«
»Das bedeutet nicht, dass sie immer die Wahrheit sagen, oder?« Er zupfte leicht an meinem Arm und schritt auf eine breite Steintreppe zu, die nach oben führte.
Wie angewurzelt blieb ich stehen. »Das ist der Turm der Seufzer.«
»Ja«, sagte Prinz Severin. »Jemand möchte dich sehen.«
Ich kämpfte gegen den Drang an, mich von ihm loszureißen. »Mein Vater.«
»Er ist mit dem Rest des Kabinetts im Turm und wartet auf sein Urteil.«
»Und wie wird dieses Urteil lauten?« Meine Stimme hallte vom Stein zurück, lauter, als ich es beabsichtigt hatte. Er wusste nicht, was Vater getan hatte, dass er fast seinen eigenen Sohn getötet hatte. Severin hielt es vermutlich für eine freundliche Geste – und als solche musste ich es annehmen.
»Das ist ein komplizierter Fall. Alle Verschwörungen sind das. Es braucht Zeit, zu enträtseln, wer genau was wusste, und wann und was man deshalb unternommen hat. Man muss gewissenhaft vorgehen und sicher sein, wenn man eine Strafe vollzieht. Und manchmal muss man schnell sein.«
Wir blieben auf einem Absatz neben einem Fenster stehen. Draußen räumten Soldaten in grauen Mänteln die Stiege eines Galgens frei und schippten Kaskaden von Schnee zur Seite.
Prinz Severin sprach erneut, brach die schreckliche Faszination der Szene draußen. »Wie viel Zeit haben wir noch, bis der Sturm kommt?«
Ich blickte an der Richtstätte vorbei, ließ den Horizont vor meinen Augen verschwimmen, spürte den Wind und las in ihm. »Hätte ich den ganzen Zirkel zur Verfügung, wäre er heute schon in Reichweite.«
»Und ohne den Ersten Ring?«
»Morgen Abend. Er könnte in dieser Zeit etwas an Wucht verlieren, oder er könnte stärker werden.«
»Du wirst tun, was du kannst«, sagte Prinz Severin. »Das weiß ich. Und Mutter auch.«
Er führte mich an den mit Gittern eingefriedeten Zellen vorbei. Auf dieser untersten Ebene schmachtete die Delegation aus Laneer, die unter dem Vorwand einer Kapitulation hergekommen war, in nackten Zellen vor sich hin, die langen, gebleichten Haare zu Zöpfen geflochten und um die Köpfe gewunden, um die langsam herauswachsenden dunklen Ansätze zu verbergen. Die Augenbrauen wuchsen ebenfalls wieder, und ihre Gesichter waren frei von der aufwendigen bunten Bemalung, mit der sie Rang und Bedeutung gezeigt hatten. Sie hielten sich in der Nähe der mit Kupfer überzogenen Stäbe und beobachteten uns, schweigend und voller Hass. Manche glühten vor magischem Talent, die Auren waren mit Hexenmalen gesprenkelt.
Vor den Zellen stand Sir Aldis Hunter, bebend vor Wut.
»Was hat es mit dieser Misshandlung auf sich?«, wollte er wissen.
»Guten Morgen, Sir Aldis«, sagte Severin und verbeugte sich. »Ich hatte nicht erwartet, Sie hier zu sehen.«
»Ihre Hoheit wünscht einen Bericht über die Lage der diplomatischen Gesandten, die Laneer geschickt hat«, sagte Aldis. »Und ihr kerkert sie ein, demütigt sie mit diesen Lumpen. Ihr nehmt ihnen alles, lasst ihnen nur das Allernötigste.«
Severins Miene wurde ausdruckslos. »Es sind Gefangene.«
Aldis machte einen Schritt auf Severin zu, und nun war er so nah, dass er über dem Prinzen aufragte. »Sie sind Botschafter. Die Haft sollte zeremoniell sein. Sie hätten schon vor Tagen freigelassen werden sollen.«
»Wir befinden uns in einem Ausnahmezustand, Sir Aldis«, erwiderte Severin. »Wir mussten die Wachen und Polizei in der Stadt verstärken, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Wir haben kein Personal mehr, um sie zu beaufsichtigen.«
Aldis bebte förmlich, jeder Muskel steif vor unterdrücktem Zorn. »Das werde ich Ihrer Hoheit melden.«
Er schob sich an uns vorbei und ging davon.
»Er ist wirklich nicht glücklich mit uns«, sagte ich.
»Er ist wütend«, sagte Severin. »Er ist eine Prüfung.«
Ich war nicht sicher, was er meinte, also schwieg ich, und Severin führte mich weiter.
Wir kamen an Zellen vorüber, die mit Teppichen, seidenen Steppdecken, Federkissen und sogar Gemälden ausgestattet waren, bezahlt mit Schmiergeld. Geld tat nichts zur Sache, wenn es um die Bequemlichkeit von Patriarchen und Matriarchinnen der Ritter der Königin ging. Sie starrten mich durch die Gitterstäbe wütend an, verwirrt angesichts der königlichen Begleitung. Ich nickte ihnen zu und folgte Prinz Severin bis ganz hinauf.
Die Zelle meines Vaters war mit Kohlepfannen ausgestattet, es gab ein bequemes Bett, einen kleinen Esstisch, Bücher auf Regalbrettern und ein Fenster. Ein Porträt von mir, auf dem ich sechzehn gewesen war, hing an der Wand direkt über seinem Bett. Das Fenster war wenig mehr als eine Schießscharte, und eine dicke graue Brieftaube hockte auf dem Sims und pickte Hirse.