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Kevin Kwan (Far Eastern Kindergarten/ ACS/ Clear Lake High/ UHCL/ Parsons School of Design) wurde 1973 in Singapur geboren und zog als Kind mit seiner Familie in die USA.
Von der TIME wurde er auf die Liste der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten gesetzt.
Die Bände seiner Crazy-Rich-Trilogie waren Spiegel-Bestseller und wurden in 35 Sprachen übersetzt. Kevin Kwan lebt in New York.
Es ist Abneigung auf den ersten Blick: Als Lucie bei einer prachtvollen Hochzeit auf Capri auf George trifft, kann sie ihn auf Anhieb nicht ausstehen. Niemand sollte in einer Speedo-Badehose so gut aussehen! Fünf Jahre später führt sie mit ihrem neuen Verlobten ein Luxusleben in New York. Doch da taucht George wieder auf, und Lucie sträubt sich mit aller Kraft gegen seinen Zutritt in ihre Welt – und in ihr Herz.
Für Capri,
die Insel, die meiner Seele Kraft schenkt,
und für New York,
die Stadt, die mich aufnahm, nährte
und für immer veränderte
Von: Isabel Chiu
An: lucietangchurchill@gmail.com
Betreff: la dolce vita
Lucie!!!
Ich freue mich sooooo sehr, dass du zu meiner Hochzeit auf Capri kommst! Von allen Gästen kenne ich dich am längsten, mal abgesehen von meiner Familie! Kaum zu glauben, dass wir schon befreundet sind, seit ich dreizehn war und du sieben – du warst mein einziges Babysitterkind. Wobei, Babysitten kann man das wohl kaum nennen, immerhin musstest du ständig Roswell mit mir gucken und meinen Herzschmerz ertragen. (Erinnerst du dich noch an Nikolai? Den hab ich neulich bei Erewhon getroffen. Er arbeitet inzwischen als Locationscout für Lawrence Bender hier in L. A. und ist kaum wiederzuerkennen!)
Jedenfalls haben wir uns das Hochzeitsdatum im Juli von Moms Wahrsagerin absegnen lassen. Zu der Zeit ist Capri einfach traumhaft – Dolfi hat in seiner Jugend jeden Sommer auf der Insel verbracht, weil seine Familie dort Wurzeln hat. Es bedeutet mir echt viel, dass du mit uns feierst, und natürlich erinnere ich mich noch an deine Cousine Charlotte und freue mich drauf, sie wiederzusehen. Ich kanns kaum erwarten, mit allen zusammen auf der Insel zu sein und dich meinen Freunden vorzustellen!
Meine Kalligrafin ist leicht im Verzug, weil sie die Anzahl der Gäste unterschätzt hat, aber Ende des Monats sollte dann auch die offizielle Einladung eintrudeln. Freu dich drauf!
Grüße und Küsse,
Issie
Flackernde Fackeln beleuchteten den Weg, und trotzdem wäre Charlotte Barclay mehrmals fast gestürzt. Kein Wunder, sie hatte ja auch die goldene Moderegel gebrochen, an die sie sich als erfahrene Zeitschriftenredakteurin normalerweise hielt – sich auf Reisen stets vernünftig statt frivol zu kleiden. Sie musterte den ramponierten Saum ihres Partykleids und verfluchte sich innerlich für die Entscheidung, sich in letzter Sekunde von Olivia Lavistock Stilettos geliehen zu haben. Sie hatte das Gefühl, seit Stunden durch den Wald zu stolpern, dabei war es gerade mal eine Viertelstunde. Als endlich die hell beleuchteten ionischen Säulen aus der pechschwarzen Dunkelheit auftauchten, stieß sie einen erleichterten Seufzer aus.
Charlotte strich sich den akkuraten blonden Bob glatt – unverändert seit ihrer Schulzeit an der Miss Porter’s – und erklomm die ausgetretenen Marmorstufen zur Terrasse mit Blick auf die Bucht von Neapel. Oben angekommen, hielt sie verwirrt inne. Vor einer Stunde war der Außenbereich noch völlig leer gewesen, doch jetzt hatte ein üppiges Mitternachtsbüfett die Hochzeitsgäste aus dem Ballsaal nach draußen gelockt. Sie sahen aus wie elegante Gazellen, die an langen, mit Köstlichkeiten beladenen Tafeln grasten.
Charlotte blickte sich verstohlen um. Sie hatte das Gefühl, als würde jede Einzelne dieser verdammten italienischen principessas und contessas sie von oben bis unten taxieren. Wie hatte sich die vornehmste Hochzeit ihres Lebens schlagartig in einen Albtraum verwandeln können? Sie beobachtete Auden Beebe, der seinen Teller gerade mit Hummerravioli belud, und verspürte den Impuls, ihn um Hilfe anzuflehen. Nein, er ist der Falsche. Er würde es nicht verstehen. Die Ortiz-Schwestern kamen die Treppe herauf. O Gott, bloß nicht!
Da entdeckte sie Olivia an einem der Stehtische nahe der Hauswand und spürte einen Anflug von Erleichterung. Olivia wüsste, was zu tun war. Olivia würde Ruhe bewahren, schließlich war sie Avantgarderegisseurin. Olivia war Engländerin, aber ganz anders als die anderen Engländer hier. Sie wohnte in L. A. und war in Paris zur Schule gegangen, hatte also garantiert schon Schlimmeres gesehen. Olivia würde ihr aus diesem schrecklichen Schlamassel helfen.
Charlotte ging zu ihr und berührte sie unauffällig am Ellbogen. Olivia blickte auf, interpretierte ihren Gesichtsausdruck jedoch völlig falsch. »Ja, ja, ich bin eine Heuchlerin. Aber was hast du denn erwartet? Ich gucke dir jetzt seit einer Woche dabei zu, wie du dir eine glutenhaltige Schweinerei nach der anderen reinstopfst – Pasta, Focaccia, Biscotti, immer fröhlich rein damit. Die Pizza hier mit weißen Trüffeln und Kaviar ist besser als schmutziger Sex mit Sam Heughan in den schottischen Highlands. Darüber solltest du mal in deiner Zeitschrift berichten.«
Charlottes Kehle war wie ausgetrocknet, sie brachte keinen Ton heraus.
»Also, ich meine natürlich die Pizza, nicht den schmutzigen Sex in Schottland«, stellte Olivia klar, obwohl Charlotte ganz offensichtlich kein Wort mitbekommen hatte. Sie lehnte sich an Olivia und schnappte nach Luft.
»Alles in Ordnung?« Olivia fiel jetzt erst auf, wie sehr Charlotte durch den Wind war.
»Bei mir ja, aber Lucie … Gott steh ihr bei!« Charlotte nahm sich ein Glas Champagner und leerte es in einem Zug. Dann sackte sie hyperventilierend an der Steinbalustrade zusammen.
»Was ist denn passiert?«, wollte Olivia wissen. »Soll ich Hilfe holen?«
»Sie braucht keine Hilfe, ihr gehts gut. Wobei, nein, eigentlich gehts ihr überhaupt nicht gut. Um Gottes willen, arme Lucie. Jetzt ist alles vorbei! Scheiße, was mache ich bloß?«
Olivia runzelte die Stirn. Was sollte sie von diesem Ausbruch halten? Sie kannte Charlotte Barclay noch nicht sonderlich lange, aber im Laufe der letzten Woche hatten sie sich miteinander angefreundet. Olivia hätte nie für möglich gehalten, dass eine Frau über vierzig, die so unerschütterlich und beherrscht wirkte, derart die Fassung verlieren konnte. »Charlotte, wie viel Champagner hast du beim Essen getrunken?«, erkundigte sie sich vorsichtig.
Charlotte straffte die Schultern und zupfte ein paar Zweige von ihrer Oscar-de-la-Renta-Robe. »Kann ich dir vertrauen, Olivia? Kann ich auf deine Hilfe zählen?«
»Aber natürlich.«
»Du weißt ja, dass ich nur als Lucies Begleitung auf dieser Hochzeit bin. Meine einzige Aufgabe bestand darin, ein Auge auf meine Cousine zu haben. Aber nicht mal das habe ich geschafft. Ich habe auf ganzer Linie versagt. Wären wir bloß nie auf diese Hochzeit gekommen! Wären wir bloß nie nach Capri gekommen! O Gott, ihre Mutter dreht durch, wenn sie das rausfindet! Und meine Großmutter erst! Die bringt mich eigenhändig um!« Charlotte schlug die Hände vors Gesicht.
Olivia konnte ihr ansehen, wie sehr sie sich quälte. »Was soll sie denn rausfinden? Wo ist Lucie überhaupt?«
»Ich weiß es nicht. Ich will es auch gar nicht wissen. Wie soll ich ihr nur je wieder unter die Augen treten?«
»Charlotte, du sprichst in Rätseln! Ich kann dir nicht helfen, wenn du mir nicht sagst, was los ist.«
Charlotte sah sie eindringlich an. »Du musst mir versprechen, dass du es keiner Menschenseele verrätst.«
»Versprochen.«
»Schwör es. Beim Grab deiner Mutter.«
»Meine Mutter ist quicklebendig, aber ich kann gern bei ihrem Leben schwören.«
Charlotte atmete auf. »Wann hast du Lucie zum letzten Mal gesehen?«
»Keine Ahnung … mit dem Gefolge der Braut auf der Tanzfläche? Sie hat mit Sandro getanzt, das weiß ich noch. So ein schönes Paar, er mit den langen Botticelli-Locken und sie in ihrem hauchzarten Kleid. Das sah so toll aus, ich hätte am liebsten ein Foto gemacht und die Szene in irgendeinem Film verwendet.«
»Genau, die beiden haben getanzt. Aber nach dem Feuerwerk war Lucie plötzlich verschwunden. Ich habe mitbekommen, dass ein paar von den jungen Leuten noch mal zur Villa Jovis wollten, also bin ich hoch zu den Ruinen, um da nach ihr zu suchen.«
»Du bist noch mal den ganzen Hügel hochgekraxelt? In meinen Viviers?« Instinktiv fiel Olivias Blick auf Charlottes Füße, wie um zu prüfen, ob ihre Schuhe diese Aktion heil überstanden hatten.
»Nein, irgend so ein Typ hat mich mit einem Golfmobil hochgefahren. Jedenfalls wirst du nicht glauben, was da oben in der Kapelle los war. Gras haben sie geraucht! Wie in so einer Drogenhöhle in Tanger!«
Olivia verdrehte die Augen. »Charlotte, jetzt erzähl mir bitte nicht, dass du dich so aufregst, weil Lucie dabei war. Die rauchen doch jeden Abend hinten am Pool. Dieser Junge, dessen Familie ganz Ecuador gehört, hat anscheinend einen Koffer mit allem möglichen Zeug mitgebracht.«
»Also wirklich, Olivia! Ich lebe doch nicht hinterm Mond! Schon vergessen? Ich war auf dem Smith1. Lucie ist neunzehn Jahre alt, meinetwegen kann sie sich den Schädel zudröhnen, so viel sie will. Lass mich doch erst mal ausreden! Ich bin also durch die Wandelhalle und dann hoch auf den Turm, aber keine Spur von Lucie. Wie eine Blöde bin ich durch diese gottverdammte, nur mit Laternen beleuchtete Ruine gestolpert, und als ich gerade dachte, ich hätte mich endgültig verlaufen, habe ich einen Gang gefunden, der zum Weg an den Klippen führte, diesem gefährlichen Steilküstenpfad am Salto di Tiberio.«
»O Gott, jetzt sag nicht, Lucie ist da runtergestürzt!«
»Nein, nein, keine Sorge! Aber ich bin bis zur Klippe gelaufen, und da waren ein paar Stufen, die zu einer kleinen Grotte hinunterführten, und …« Charlotte atmete einmal tief durch. »… und da habe ich die beiden gesehen.«
»Wen? Und was haben sie gemacht?«
»Ich dachte, ich sehe nicht richtig.« Charlotte stöhnte auf.
»Lass mich raten … Koks?«
»Nein!«
»Ziegenopfer?«
»Olivia, ich kann es kaum aussprechen.«
»Ach komm, so schlimm wirds schon nicht sein.«
Charlotte schüttelte vehement den Kopf. »Ich schäme mich in Grund und Boden. Meine arme kleine Cousine ist nicht mehr zu retten. Sie hat ihr Leben ruiniert!«
Olivia hätte sie am liebsten einmal durchgeschüttelt. »Charlotte Barclay! Jetzt spuck aus, was du gesehen hast. Sofort!«
Charlotte sah sich hektisch um, als würde sie gleich eine Todsünde begehen, und flüsterte Olivia etwas ins Ohr.
Olivia riss die Augen auf. »Mit dem? Wie bitte?! Ich fass es nicht!«
»Genau das habe ich auch gedacht. Ich war so schockiert, dass ich laut ›Stopp!‹ geschrien habe!«
Olivia legte den Kopf in den Nacken und stieß ein ohrenbetäubendes Kreischen aus.
Liebste Lucie, liebste Charlotte,
unser Hochzeitswochenende naht, und wir dachten, wir geben euch schon mal einen kurzen Überblick über die Feierlichkeiten, damit ihr die Reise (und eure Outfits!) besser planen könnt:
Dienstag, 16. Juli
17 Uhr
Willkommenscocktail in den Gärten des Augustus
Gastgeberin: Marchesa Marella Finzi-Contini (Dolfis Tante!)
Dresscode: Leger
Mittwoch, 17. Juli
13:30 Uhr
Lunch im Beach Club Da Luigi
Gastgeberin: Isabel Chiu
Dresscode: Beach Chic
21 Uhr
Dinner im Ristorante Le Grottelle
Gastgeber: Dolfi De Vecchi
Dresscode: Leger
Donnerstag, 18. Juli
Wanderung auf dem historischen »Passetiello«-Weg von Anacapri nach Capri
Führung: Auden Beebe
Dresscode: Lauf- oder Wanderschuhe
21 Uhr
Dinner im Il Riccio
Gastgeber: Constantine und Rebecca Chiu (mein großer Bruder und seine Frau!)
Dresscode: Cocktail
Freitag, 19. Juli
11 Uhr
Ausflug zur Villa Lachowski in Positano
Führung: Mordecai von Ephrussí
Dresscode: Leger
19:30 Uhr
Sonnenuntergangskonzert mit Bankett
im Kloster Certosa di San Giacomo
Gastgeber: Conte und Contessa De Vecchi
Dresscode: Formell
Samstag, 20. Juli
17 Uhr
hochzeitszeremonie
Villa Lysis
hochzeitsfeier
Villa Jovis
Dresscode: Formell
Sonntag, 21. Juli
14 Uhr
Abschiedslunch an Bord der Superjacht Bravo Olympia
Dresscode: Resort Chic
Bitte entscheidet selbst, wann ihr anreisen möchtet. Unsere Hochzeitsplanerin Gillian (gillian@devecchichiuwedding.com) wird sich mit euch in Verbindung setzen, um euren VIP-Transfer nach Capri in die Wege zu leiten. Natürlich hoffen wir, euch schon ab Dienstag dabeizuhaben. Wir fühlen uns geehrt, dass ihr uns eure kostbare Zeit schenkt, und können es kaum erwarten, unsere Hochzeitswoche auf dieser zauberhaften Insel mit so vielen besonderen Momenten und vor allem mit euch zu verbringen!
Grüße und Küsse,
Issie & Dolfi
Ein paar Kilometer außerhalb von Neapel riss der Vormittagsnebel plötzlich auf, und Capri tauchte glitzernd daraus hervor. Aus dem Hubschrauber ähnelte die Insel einem riesigen Smaragd, den die Götter ins Meer geworfen hatten. Lucie (92nd Street Y Nursery School/Brearley/Brown ’16) schaute hinunter auf das tiefblaue Wasser und fragte sich, wie warm es wohl war und wann sie hineinspringen konnte. Sie liebte das Gefühl von Meerwasser auf der Haut.
»Was willst du als Erstes machen?«, fragte sie ihre Cousine Charlotte (Rippowam/Miss Porter’s/Smith) vorfreudig.
»Ich will ins Michel’angelo. Das ist für seine Spaghetti mit frischen Campania-Tomaten und Burrata bekannt. Die sollen himmlisch schmecken.«
»Klingt lecker!«
»Und du?«
»Ich will auf jeden Fall in der Blauen Grotte schwimmen.«
»Kann man da drin schwimmen?«
»Warum denn nicht?«
»Hmm … ist die nicht sehr tief?«
»Ich bin schon im Atlantik und in der Karibik geschwommen. Wieso dann nicht in einer kleinen Inselhöhle?«, erwiderte Lucie unbekümmert. Sie hoffte inständig, Charlotte würde sich auf der Reise nicht so viele Sorgen um sie machen wie ihre Mutter. Aber zum Glück war ihre Cousine durch den Ausblick aus dem Fenster schon wieder abgelenkt.
»Fantastisch, oder?« Charlotte bestaunte das dramatische, in Wolken gehüllte Bergpanorama der Insel.
»Kaiser Tiberius hielt Capri für den schönsten Ort auf Erden«, erklärte Lucie. »Deshalb hat er im 1. Jahrhundert die Hauptstadt des Römischen Reiches hierher verlegt. Issies Hochzeit findet in den Ruinen seines Palastes statt.«
Charlotte lächelte. »Deshalb verreise ich so gern mit dir. Ich kann mich immer darauf verlassen, dass du deine Hausaufgaben gemacht hast. Du bist mein persönliches Wikipedia und Yelp in einem. Weißt du noch, als wir mal über Weihnachten in Quebec waren und du den kompletten Trip danach ausgerichtet hast, welche Cafés die beste heiße Schokolade hatten?«
»Nee, da ging es um die beste Poutine für Freddie«, berichtigte Lucie.
»Igitt, Freddie und seine Poutine! Mir schwant Übles, wenn der mal seinen Teenager-Stoffwechsel verliert. O Gott, sollen wir da etwa landen?« Charlotte zeigte auf den Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach eines majestätischen Hotels, dessen Terrassen mit Arkaden gesäumt waren.
»Sieht ganz so aus.«
»Aber da übernachten wir doch nicht, oder?«
»Nein, wir sind im Bertolucci untergebracht. Ich glaube, hier steigen immer die ganzen Promis ab. Mariah Carey und Julia Roberts und so.«
»Na, dann bin ich aber froh, dass wir nicht hier schlafen«, sagte Charlotte. »Solche Promihotels sind meistens schrecklich. Wenn man nicht berühmt ist, wird man da wie der letzte Dreck behandelt.«
Der AgustaWestland AW109 landete mit einem spektakulären Manöver auf dem Hoteldach. Mehrere Angestellte eilten herbei, um ihnen das Gepäck abzunehmen, und eine Dame in einem eleganten weißen Etuikleid im Retrolook begrüßte sie. »Sie müssen die Signorine Churchill und Barclay sein. Willkommen in Anacapri! Darf ich Ihnen einen Willkommensdrink anbieten?« Sie strich ihre Namen von einer Liste auf ihrem iPad, und ein livrierter Kellner reichte ihnen eiskalte Bellinis in hohen venezianischen Gläsern. Hinter ihm erschien ein zweiter mit einem Tablett frischer, in weiße Schokolade getauchter Erdbeeren.
Charlotte griff zögerlich nach einer Erdbeere. »Danke! Aber Sie wissen doch sicher, dass wir nicht bei Ihnen übernachten?«
»Natürlich. Aber als Hochzeitsgäste von Miss Chiu sind Sie selbstverständlich auch bei uns willkommen. Ihr Hotel befindet sich in Capri-Stadt, wir schicken Ihr Gepäck dorthin.«
»Und das kommt auch wirklich an?«, erkundigte sich Charlotte besorgt.
»Keine Bange, Signora, bei uns ist Ihr Gepäck in den besten Händen. Kommen Sie mit nach unten, wir haben den Transport bereits organisiert.« Die Dame eskortierte sie in die Lobby, vor der bereits ein Taxi wartete – ein aufwendig restauriertes, knallrotes Fiat-Cabriolet aus den Fünfzigerjahren.
Der Fahrer öffnete ihnen schwungvoll die Tür. »Buongiorno! Ich bringe Sie nach Capri, sind nur zehn Minuten.«
Lucie machte es sich im Auto gemütlich. »Also, wenn das die Behandlung für den letzten Dreck war, dann will ich gern mal wissen, wie Julia Roberts hier hofiert wird.«
»Na, vielleicht haben sie mich ja gegoogelt und gesehen, wer ich bin«, kommentierte Charlotte ohne den leisesten Hauch von Ironie. Sie zog beträchtliches Selbstvertrauen aus ihrer Tätigkeit als eine der leitenden Redakteurinnen von Amuse Bouche. Schließlich war es ein einflussreiches Magazin und gehörte zur noch einflussreicheren Muttergesellschaft Barón Snotté. Jetzt richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das hübsche, creme-gelb gestreifte Verdeck des Oldtimers.
»Wäre es nicht toll, wenn die Taxis in der Stadt2 auch so aussehen würden? So viel besser als diese albernen ›Taxis of Tomorrow‹, die schon jetzt abgeranzt wirken.«
»Dieses Leinenverdeck würde in der Stadt doch keine Woche überleben.« Lucie strich lachend mit dem Finger über das Verdeck und ließ die Hand im Fahrtwind baumeln. Als das Taxi um eine Haarnadelkurve bog, rief sie: »Oh, wow! Guck mal nach links!«
Charlotte warf einen kurzen Blick über die Steilküste aufs Meer, das weit unter ihnen lag, und schnappte nach Luft. »O Gott, mir wird schwindelig! Da guck ich lieber nicht runter!« Sie sah sich nach etwas um, woran sie sich festhalten konnte, fand aber lediglich einen gekühlten Champagner mit einer jadegrünen Schleife um den Flaschenhals. An der Schleife hing eine Karte mit ihren Namen darauf. »Oh, guck mal, der ist für uns! Deine Freundin ist echt großzügig. Zwei First-Class-Flugtickets, der Hubschraubertransfer von Rom nach Capri, dieses tolle Auto und dann noch Champagner? Dabei bist du nicht mal Brautjungfer!«
»Das ist typisch Issie. Früher in der Park 788 war sie unsere Nachbarin, weißt du noch? Sie hat mir viele ihrer Kleider geschenkt. Die meisten Outfits hat sie nur ein, zwei Mal angehabt, daher hatte ich übrigens auch das kleine …«
»Das kleine weiße Chanel-Täschchen, damals in der dritten Klasse!«, beendete Charlotte Lucies Satz. »Stimmt! Das hatte ich ganz vergessen. Ich dachte, du kennst Isabel von der Brown.«
»Nein, sie ist ja viel älter als ich. Für mich war sie immer so was wie eine große Schwester.«
»Na, da wirst du ja ganz schön verwöhnt von deiner großen Schwester, hm? Eine Woche voller Partys, und dann noch eine Hochzeitsfeier, die garantiert die von Kate und William in den Schatten stellt.« Charlotte brachte es fertig, gleichzeitig vorfreudig und missbilligend zu klingen. »Wie viel hat ihr Vater sich den Spaß wohl kosten lassen?«
»Das hat Issie mir nicht erzählt, dafür ist sie viel zu gut erzogen. Aber ich wette, die Hochzeit wird keine Wünsche offenlassen.« Lucie konnte ihr Glück immer noch kaum fassen. Zum einen war es die erste Hochzeit, zu der sie als Erwachsene eingeladen war, im Gegensatz zu den Familienhochzeiten, zu denen man sie als Kind immer mitgeschleppt hatte, und zum anderen war es der erste richtige Urlaub ohne ihre Mutter und ihren Bruder.
Als Lucie die verschnörkelte, handgravierte Einladung erhalten und das Datum gesehen hatte, war ihr das Herz in die Hose gerutscht: 20. Juli. Obwohl sie neunzehn Jahre alt war und tun und lassen konnte, was sie wollte, war ihre Mutter noch immer ihre wichtigste Bezugsperson. Jedes Jahr am dritten Juliwochenende fand die von ihrer Mutter organisierte Spendengala für den Animal Rescue Fund von Long Island statt, und Lucie war als Tochter der Vorstandsvorsitzenden fest als Helferin eingeplant. Erst nach zähen Verhandlungen hatte ihre Mutter widerwillig nachgegeben – Lucie durfte zur Hochzeit, aber nur unter der Bedingung, dass ihre ältere Cousine Charlotte sie begleitete. Ihr Bruder Freddie nannte die vierundvierzigjährige Charlotte hinter ihrem Rücken »Spaßbremse«, aber Lucie war zuversichtlich. Klar, ein bisschen nervig war es, aber sie würde schon mit ihr zurechtkommen – die Hochzeit war es auf jeden Fall wert.
Lucie war zwar im selben, in den 1930ern von Rosario Candela entworfenen Haus aufgewachsen wie ihre Freundin, aber Isabels Leben war um einiges glamouröser. Ihr Vater war Diplomat und stammte – wenn man den Liftboys des Hauses Glauben schenkte – aus einer der erfolgreichsten Geschäftsdynastien Asiens. Die Chiu-Familie residierte im weitläufigen Duplex-Penthouse mit achtzehn Zimmern, während die Churchills in einer classic seven3 im zehnten Stock wohnten. Die Portiers munkelten, dass die Chius immer via Teterboro Airport reisten – ein todsicheres Zeichen, dass die Familie nur mit dem Privatjet flog.
Mit ihrer atemberaubenden Schönheit, dem quirligen Charme und akademischen Ehrgeiz gehörte Isabel zu den beliebtesten Schülerinnen am Lycée Français. Mit achtzehn debütierte sie beim Le Bal4 in Paris und zierte das Cover des Taiwan Tatler, und als sie schließlich den Brown-Abschluss in der Tasche hatte, war die Schar ihrer Instagram-Follower auf über dreißigtausend angewachsen. Inzwischen arbeitete sie in Los Angeles für eine Filmproduktionsfirma, sodass Lucie hauptsächlich über Social Media mitbekam, an welche beneidenswerten Orte sie reiste – zur Frieze Art Fair in London, nach Park City fürs Sundance, zu einer Party bei Caetano Veloso in Bahia – und mit welchen coolen Freunden sie sich umgab.
Charlotte platzte mit einer Frage in ihren Tagtraum: »Wie heißt Isabels Verlobter noch gleich? Der Graf?«
»Dolfi. Sein vollständiger Name ist Adolfo De Vecchi. Ich glaube, er ist auch gar kein Graf, nur sein Vater.«
»Und er spielt Polo?«
»Genau, er hat ein Handicap von 9. In seiner Familie wird seit Generationen Polo gespielt.«
»Der polospielende Sohn eines italienischen Grafen heiratet eine taiwanesische Erbin. Lucie, Lucie, du verkehrst ja wirklich mit der internationalen Crème de la Crème.«
Kurze Zeit später erreichten sie Capri, das hoch oben auf dem Berg mit Blick auf den Hafen lag. Am geschäftigen Taxistand an der Via Roma wartete ein Italiener Mitte zwanzig in einem kurzärmeligen weißen Hemd und weißer Hose. Beides wirkte mindestens zwei Nummern zu klein. »Willkommen in Capri! Ich bin Paolo vom Bertolucci. Darf ich Sie zum Hotel eskortieren? Ist nur ein Katzensprung von hier.«
Sie schlenderten über den zentralen Platz in der Innenstadt, wo gegenüber der historischen Kathedrale Santo Stefano ein strahlend weißer Glockenturm in die Höhe ragte. Vier konkurrierende Cafés mit Bistrotischen im Freien säumten den Platz, voll besetzt mit elegant gekleideten Gästen, die plaudernd Cappuccino tranken und Leute beobachteten.
»Das ist die Piazzetta, das sogenannte Wohnzimmer von Capri«, erklärte Paolo.
»Nach so einem Wohnzimmer kann man in Amerika lange suchen«, meinte Charlotte. »Wie schick hier alle sind!«
Als sie in die Via Vittorio Emanuele einbogen, sah Charlotte sich kritisch um, fand jedoch nichts, woran sie etwas aussetzen konnte. Capri war ein faszinierendes Zusammenspiel von historisch und modern, hoch und tief, schlicht und dekadent. In der Kopfsteinpflastergasse, die sie gerade entlanggingen, schmiegte sich ein einfacher Tabakkiosk an eine schicke Boutique mit handgefertigten Mokassins, und ein Schaufenster mit funkelnden Juwelen befand sich nur wenige Schritte entfernt von einer rustikalen Gelateria, die den köstlichen Duft frisch gebackener Waffeln verströmte. »Bezaubernd! Einfach bezaubernd!«, rief Charlotte an jeder Ecke. »Unglaublich, dass es so einen Ort wirklich gibt!«
»Einfach wunderschön, ja«, pflichtete Lucie ihr erleichtert bei. Zum Glück war ihre Cousine bisher rundum zufrieden. Allerdings konnte sich Lucie auch kaum vorstellen, was einem an dieser Insel missfallen könnte – nicht einmal der abgestumpften Charlotte. Lucie erfreute sich an den italienischen Kinderscharen, die lachend über die Straße tollten, den alten Großmütterchen, die ihre müden Knochen auf den Stufen von Designerboutiquen ausruhten, und den herausgeputzten sonnengebräunten Pärchen, die Hand in Hand an ihnen vorbeiflanierten. Und egal, wohin man schaute, der Ausblick war phänomenal – sanfte, mit weißen Villen getupfte Hügel, uralte Burgruinen auf jedem Bergkamm, und dazwischen das Meer, das in der goldenen Sonne funkelte.
Charlotte blieb vor einem Sandalengeschäft stehen und sah wie gebannt ins Schaufenster.
»Wir sind berühmt für unsere Sandalen, Signora«, sagte Paolo stolz. »Beyoncé, Sarah Jessica Parker – alle Promis kaufen Sandalen aus Capri.«
»Wenn ich Beyoncés Shoppingbudget hätte, würde ich die orangefarbenen da nehmen. Und die goldenen. Und die da drüben mit den süßen kleinen Pompoms. Ach, ich würde einfach das ganze Fenster leer räumen!« Charlotte war ganz aus dem Häuschen.
»Mir darfst du gern die mit den pinkfarbenen Wildlederfransen kaufen«, sagte Lucie.
»Das glaub ich dir sofort. Weißt du was? Wir könnten deiner Mutter doch ein Paar mitbringen. Diese geflochtenen Ledersandalen würden ihr bestimmt gefallen, oder? Den Laden müssen wir uns unbedingt merken!«
Da entdeckte Lucie ihr Spiegelbild im Schaufenster und stieß einen spitzen Schrei aus.
»Charlotte! Wie kannst du mich so durch die Stadt laufen lassen? Ich sehe ja aus wie ein Cockerspaniel!«
»Ach Quatsch«, entgegnete Charlotte lächelnd. »Du siehst aus, als hättest du gerade eine Spritztour an der Amalfiküste hinter dir. Was ja auch stimmt.« Sie wusste, dass Lucie schon immer mit ihrer Naturkrause gehadert und ihr halbes Leben damit verbracht hatte, sich die Haare zu glätten. Die Glückliche hatte ja keine Ahnung, wie umwerfend sie mit ihren langen, wilden Locken aussah, vor allem kombiniert mit der perfekten Mischung aus östlichen und westlichen Gesichtszügen. Vielleicht war das auch besser so – dann musste sie weniger Zeit damit verschwenden, Lucie die Verehrer vom Leib zu halten.
Paolo führte sie eine enge, verwinkelte Gasse hinunter, und kurz darauf erreichten sie das Hotel Bertolucci, eine reizende moderne Villa, an deren weißen Mauern sich üppige lila Bougainvilleen rankten. Sie betraten die weitläufige Lobby mit den weißen Sofas, Solimene-Keramik und glänzenden blau-weißen Majolikakacheln.
Charlotte war begeistert. »Genau so habe ich mir das vorgestellt! Jetzt fühlt es sich endgültig nach Urlaub an.«
Sie wurden zu einem kleinen Aufzug geführt, mit dem sie zwei Stockwerke nach oben fuhren, und dann einen Korridor entlang, der mit creme-blau gestreiftem Sisalteppich ausgelegt war.
»Ich zeige Ihnen zuerst Ihr Zimmer, danach bringe ich Ihre Freundin in ihres«, sagte Paolo zu Charlotte.
»Wir sind Cousinen«, erwiderte diese.
»Ach, Cousinen?« Paolo sah überrascht zu Lucie, die jedoch schweigend lächelte. Sie wusste genau, dass Charlotte gleich zu der Standarderklärung ansetzen würde, mit der Lucie seit ihrer Kindheit vertraut war.
»Ja, ihr Vater war mein Onkel«, erklärte Charlotte. »Ihre Mutter ist Chinesin, ihr Vater war Amerikaner.«
Mom doch auch. Immerhin ist sie in Seattle geboren, hätte Lucie am liebsten gesagt, verkniff sich den Kommentar jedoch.
Paolo drehte am ersten Zimmer einen schweren goldenen Schlüssel mit Fransenanhänger im Schloss und stieß die Tür auf. Die beiden Frauen betraten den Raum, und kaum hatte Paolo die Vorhänge aufgezogen, um Licht hereinzulassen, gefror ihnen das Lächeln auf dem Gesicht. Lucie warf ihrer Cousine einen entsetzten Blick zu.
Charlotte starrte aus dem Fenster. Auf einer niedrigen Steinmauer sonnte sich eine Glückskatze. »Was ist das denn?«
»Eine Katze«, antwortete Paolo.
»Ich sehe, dass das ›eine Katze‹ ist«, äffte Charlotte ihn nach. »Das meinte ich nicht. Können wir bitte das andere Zimmer sehen?«
»Natürlich, ist nur zwei Türen weiter.«
Paolo öffnete die Tür zu Lucies Zimmer, und sie warfen einen Blick hinein. »Gefällt es Ihnen, Signorina?«
Doch ehe Lucie etwas sagen konnte, meldete sich Charlotte zu Wort. »Mr Paolo, hier muss ein Irrtum vorliegen. Bitte bringen Sie uns zum Hotelmanager, und zwar pronto!«
Die Kellnerin führte Lucie und Charlotte zu einem Tisch in der Mitte des Speisesaals, aber davon wollte Charlotte nichts wissen. »Wir setzen uns hier hin, wenn Sie nichts dagegen haben«, schnaubte sie und stellte ihre gelbe Stofftasche so resolut auf einem Fenstertisch ab, als müsste sie den Südpol mit einer Flagge markieren.
Die Kellnerin zog sich mit einem Schulterzucken zurück, doch Charlotte war noch nicht fertig. »Wir hatten explizit zwei Zimmer mit Meerblick reserviert, und jetzt wollen die uns weismachen, wir könnten sie nicht haben, nur weil irgendwer auf einmal länger bleiben will? Reine Augenwischerei!«
»Meinst du nicht, sie sind wirklich ausgebucht wegen der Hochzeit?«
»Selbst wenn, das ist doch nicht unser Problem! Sollen doch diese anderen Leute dem blöden Kater dabei zugucken, wie er sich in der Gasse die Eier leckt! Werden die Kater auf dieser Insel eigentlich nicht kastriert?«
Lucie bemerkte, dass die Leute an den Nebentischen schon zu ihnen herüberschauten, und versuchte, ihre Cousine zu besänftigen. »Immerhin ist es eine sehr hübsche Gasse.«
»Es gibt keine hübschen Gassen, Lucie. In Gassen lungern Penner rum. Es gibt genau drei Gründe, warum man sich in einer Gasse aufhält: um zu kotzen, mit Drogen zu dealen oder sich abstechen zu lassen.«
»Ach, Charlotte, das kann ich mir hier beim besten Willen nicht vorstellen. Und der Hotelmanager meinte doch, er würde uns sofort neue Zimmer geben, sobald welche frei werden.«
»Warts bloß ab, wahrscheinlich kriegen wir die am allerletzten Tag.« Charlotte biss in die Focaccia, die in einem Körbchen auf dem Tisch stand, und spuckte sie sofort diskret in ihre Serviette. »Igitt! Die Focaccia ist pappig. Die steht hier garantiert schon seit heute Morgen.«
Lucie seufzte. Sie waren gerade erst angereist, und schon regte Charlotte sich künstlich über jede Kleinigkeit auf. Ob es wohl daran lag, dass der Hotelmanager sie nur ausdruckslos angestarrt hatte, als sie triumphierend verkündete, sie sei »Redakteurin bei Amuse Bouche, einem der führenden Food- und Lifestylemagazine Amerikas«? An ihrer Zimmersituation hatte es jedenfalls herzlich wenig geändert.
»Ma’am? Signora! Hallo?«, bellte Charlotte. »Könnten wir bitte eine frische Focaccia bekommen? Und zwar warm und knusprig, hören Sie? Warm und knusprig! Und etwas olio d’oliva und balsamico dazu.«5 Sie wandte sich an Lucie. »Ich kann nicht fassen, dass dich das so kaltlässt. Dabei ist das doch in erster Linie dein Urlaub und nicht meiner.«
»Ich bin schon enttäuscht, aber wir können es eh nicht ändern, oder?« Lucies Mutter hatte ihr von klein auf eingetrichtert, immer dankbar zu sein und sich nie zu beklagen. Ihr war durchaus bewusst, dass ihr Zimmer in diesem Fünf-Sterne-Hotel auch ohne Aussicht wesentlich besser war als alles, was sich die meisten Menschen auf diesem Planeten je würden leisten können, deshalb verkniff sie sich ihren Frust.
Charlotte hingegen sah die Sache ganz anders. »Ich blättere doch keinen Haufen Geld für ein Zimmer hin, das den Fotos auf der Homepage nicht im Geringsten entspricht. Von der Einrichtung will ich gar nicht erst anfangen!«
»Was stimmt damit denn nicht?«
»Die ist doch grottenhässlich! Mein Zimmer sieht aus, als wäre da drin ein Versace-Kleid explodiert.« Charlotte kriegte sich überhaupt nicht mehr ein. »Du bist zum ersten Mal auf Capri, einem der schönsten Orte der Welt. Um meinetwillen würde ich mich ja gar nicht so aufregen, aber es ist einfach ungerecht, dass du kein Zimmer mit anständiger Aussicht bekommst.«
Da ertönte eine Stimme hinter ihnen. »Miss, entschuldigen Sie, Miss.«
Lucie und Charlotte drehten sich um. Am Nebentisch saß eine lächelnde Asiatin um die fünfzig. Sie trug ein pinkfarbenes, sarongartiges Wickelkleid und einen riesigen schwarz-weiß gestreiften Hut.
»Ja, bitte?«, fragte Charlotte.
»Mein Sohn und ich haben Zimmer mit Blick aufs Meer und die Faraglioni-Felsen. Wir können gern tauschen.« Die Dame deutete auf ihren Sohn – einen jungen Mann von etwa zwanzig Jahren –, der ihr gegenübersaß.
Charlotte schwieg. Das Angebot hatte sie aus dem Konzept gebracht. Wer war diese Frau mit dem UFO-Hut, übertriebenem Lidschatten und pseudobritischem Akzent überhaupt? Und warum wollte sie ihr Zimmer abgeben? »Äh … das ist wirklich sehr nett von Ihnen, aber wir werden es schon überleben, danke.«
»Natürlich werden Sie es überleben, aber nehmen Sie doch bitte unsere Zimmer, wenn Sie mit Ihren so unglücklich sind.«
Charlotte lächelte verkrampft. »Wir sind nicht unglücklich.«
»Nicht? Aber warum beklagen Sie sich dann seit zehn Minuten?«
Charlotte fühlte sich sofort angegriffen. »Entschuldigen Sie, wenn wir Sie gestört haben, aber …«
»Das haben Sie nicht. Aber wenn Sie und Ihre Freundin so gern das Meer sehen möchten, dann nehmen Sie bitte unsere Zimmer. Genau genommen sind es sogar Deluxe-Suiten mit je einem hübschen Wohnzimmer, Badezimmer, Whirlpool und Balkon. Die Aussicht ist fantastisch, glauben Sie mir.«
»Aber das wäre ja noch ungerechter«, meldete Lucie sich zu Wort. Der Junge starrte sie so unverhohlen an, dass es ihr unangenehm war. Im Gegensatz zu seiner aufgetakelten Mutter trug er khakifarbene Shorts, ein schwarzes Unterhemd und Birkenstock-Sandalen. Allerdings konnte das schlichte Outfit nicht verhehlen, wie unfassbar, nahezu unerträglich gut er aussah. Ihre Blicke begegneten sich, und Lucie spürte einen regelrechten Stromschlag. Hastig schaute sie wieder zu seiner Mutter, die immer noch nicht lockerließ.
»Gerecht oder ungerecht, darum geht es doch gar nicht. Wir waren schon mal auf Capri, und in unserer Wohnung in Hongkong haben wir immer Ausblick auf den Hafen. Außerdem besitzen wir ein Haus in Sydney, in Watsons Bay, wo wir die Wale springen sehen, und ein Strandhaus in Lanikai auf Hawaii. Wir können uns das Meer anschauen, bis es uns zu den Ohren rauskommt, also können wir hier gut auf die Aussicht verzichten.«
Charlotte schnappte nach Luft. Die Frau wandte sich an Lucie und musterte sie von oben bis unten. »Sind Sie wegen Isabel Chius Hochzeit hier?«
»Genau«, sagte Lucie.
»Wir auch! Woher kennen Sie Isabel?«
»Wir waren schon als Kinder befreundet.«
Die Frau sah sie überrascht an. »Ach, dann kommen Sie aus Taipeh?«
»Nein, aus New York.«
»Ach, New York. Ich liebe New York! Ich bin Rosemary Zao (Maryknoll Convent School/University of Sydney/Central Saint Martins), eine Cousine von Isabels Mutter, und das ist mein Sohn George (Diocesan Boys’ School/Geelong Grammar/UC Berkeley ’15). Bitte nehmen Sie doch mein Angebot mit dem Zimmertausch an!«
»Darf ich fragen, wie viel Sie für die Deluxe-Suite zahlen?« Charlotte hatte wenig Lust, am Ende mit einer astronomischen Hotelrechnung dazustehen.
Rosemary winkte ab. »Aiya, machen Sie sich darum mal keine Gedanken. Ich lade Sie ein.«
»Nein, das können wir auf gar keinen Fall annehmen«, entgegnete Charlotte.
Während die beiden ihr Protestgetue fortsetzten, beobachtete Lucie, wie George seine Papierserviette in aller Seelenruhe zu falten begann. Innerhalb kurzer Zeit hatte er eine langstielige Origamirose daraus gezaubert. Er hielt sie kurz hoch, als wolle er sie Lucie überreichen, dann legte er sie jedoch seiner Mutter, die ihm den Rücken zugewandt hatte, auf die Hutkrempe.
Spinner, dachte Lucie und tat, als hätte sie es nicht bemerkt, weil sie nicht wusste, wie sie die Geste verstehen sollte.
Inzwischen war Rosemarys Stimme um einige Dezibel lauter geworden. »Nein, nein, Sie sind zum ersten Mal auf Capri, da müssen Sie doch Zimmer mit Aussicht haben. Den Sonnenaufgang muss man gesehen haben, und den Sonnenuntergang erst recht, und die Möwen! Die sind so niedlich, versuchen immer, mir beim Frühstück auf dem Balkon den Toast zu klauen. Geben Sie sich einen Ruck, ich weiß genau, dass es Ihnen gefallen wird. Nehmen Sie unsere Zimmer!« Inzwischen starrte der gesamte Speisesaal in ihre Richtung.
»Auf gar keinen Fall«, erwiderte Charlotte entschlossen.
Rosemary sah sie entgeistert an und wandte sich schließlich an ihren Sohn. »Warum bloß wollen sie unsere Zimmer nicht? George, nei tung keoidei gong la. Keoidei wui teng nei ge.«6
Bisher hatte George so schweigend dagesessen wie die Sphinx, jetzt jedoch schaute er auf und sagte leise mit einem gedehnten Akzent, der entfernt an einen australischen Surfer erinnerte: »Was soll ich sagen? Natürlich nehmen Sie unsere Zimmer. Wir bestehen darauf.«
»Und ich bestehe darauf, dass wir unsere Zimmer behalten!«, schnaubte Charlotte.
George ging nicht darauf ein und sagte zu seiner Mutter: »Komm, wir reden mit dem Manager, der kümmert sich drum.«
»Ja, ja! Ettore kann den Zimmerservice veranlassen, unsere Sachen zu packen und den Tausch in die Wege zu leiten!« Rosemary war mit Feuereifer bei der Sache.
Das war endgültig zu viel für Charlotte. Sie stand auf. »Zu freundlich, aber das kommt absolut nicht infrage. Schönen Tag noch. Komm, Lucie, wir gehen.«
Draußen fanden Charlotte und Lucie einen freien Tisch in der Loggia am Pool. Sie setzten sich, und Lucie warf ihrer Cousine einen Blick zu. Dann konnte sie ihr Kichern nicht mehr unterdrücken – das passierte ihr immer in peinlichen Situationen.
Charlotte schüttelte entnervt den Kopf. »Um Gottes willen, was war das denn für eine Verrückte? Wie sie ihre Immobilien mit Meerblick aufgezählt hat! Sollte uns das etwa beeindrucken? Als wären wir auf Almosen angewiesen und würden vor lauter Dankbarkeit auf die Knie sinken, weil sie uns ihre ›Deluxe-Suiten‹ aufs Auge drücken will.«
»Ich glaube, sie hat einfach nur die chinesische Auntie gegeben.«
»Na, sie ist ja wohl weder deine noch meine Tante.«
»Ich meine bloß, dass sie zwar ein bisschen angibt, aber gleichzeitig großzügig sein will. Mom hat einen Haufen solcher Frauen in der Familie. Wie die sich beim Mittagessen um die Rechnung streiten! Da kommt man sich vor wie in der Oper.«
»Wieso, weil sie ihren Anteil nicht bezahlen wollen?«
»Im Gegenteil. Sie streiten sich drum, wer die gesamte Rechnung übernehmen darf«, erklärte Lucie. »Da wird gekreischt und an der Rechnung gezerrt und die Kellner bestochen, damit sie auch ja keine andere bezahlen lassen. Dieses Theater gehört anscheinend zum guten Ton.«
»So was ist mir ja völlig fremd«, erwiderte Charlotte. »Für meinen Geschmack ging das eindeutig zu weit. Sag mal, was hältst du eigentlich von ihrem Sohn?«
»Weiß nicht, er hat ja kaum den Mund aufgemacht.« In Wirklichkeit konnte sie gut aussehende Männer nicht ausstehen, seit Ryan Frick – eine Art junger Jared Leto – sie in der achten Klasse mit Maggie Hoover betrogen hatte, die an die Spence ging und sich allgemeiner Bekanntheit erfreute, weil sie sich die ganze Faust in den Mund stopfen konnte.
»Ein arroganter Rotzbengel ist das«, ereiferte sich Charlotte. »Wie kommt der auf die Idee, er könnte auf einen Tausch bestehen? Dieses Hotel ist ein einziger Albtraum. Erst kriegen wir die falschen Zimmer, und dann müssen wir uns noch mit solchen Leuten rumschlagen. Hätte ich mal lieber auf Giles aus der Reiseredaktion gehört und ein bisschen mehr für das Punta Tragara hingeblättert, da wäre so was nie passiert. Ganz klassisch am falschen Ende gespart. Soll ich da mal anrufen und fragen, ob noch was mit Meerblick frei ist? Mir egal, was das kostet. Zur Not rufe ich Diane im Family Office an und setze ein paar Aktien ab.«
Lucie wollte gerade etwas erwidern, da entdeckte sie ein vertrautes Gesicht. »Guck mal, da oben. Das ist doch Auden Beebe, oder?«
Ein groß gewachsener Mann Mitte vierzig mit gepflegtem Bart und schulterlangem, blondem Haar trat durch den Bogengang der Lobby hinaus auf die Terrasse. »Aber ja!«, rief Charlotte. »Auden! Hier drüben!«
Auden Beebe (City and Country/Saint Ann’s/Amherst7) kam auf sie zu und begrüßte sie warmherzig, wobei er die beiden offensichtlich nicht genau einordnen konnte. Als Yogameister, Lifecoach, Motivationstrainer und Selbsthilfeautor (The Preppie Guru stand seit zwei Jahren auf der Bestsellerliste der New York Times) begegnete er ständig Leuten, die der Meinung waren, persönlich mit ihm verbunden zu sein.
»Charlotte Barclay und Lucie Churchill«, klärte Charlotte ihn auf. »Wir waren letzten Frühling bei Ihrem Workshop auf der Canyon Ranch in Lenox!«
»Ach ja, die zwei Cousinen.« Auden lächelte jetzt breit. »Was hat euch nach Capri verschlagen?«
»Wir sind auf eine Hochzeit eingeladen«, antwortete Lucie.
»Lasst mich raten … die von Dolfi De Vecchi?«
»Genau«, erwiderten Charlotte und Lucie wie aus einem Munde.
»Dolfi besucht meine Workshops seit Jahren, und Isabel mittlerweile auch. Ich vollziehe die Trauung.«
»Was für ein Zufall!« Die Kombination von Audens Prominenz, dem Eintrag seiner Familie im Social Register und seiner verblüffenden Ähnlichkeit zu Alexander Skarsgård hatte ganz offensichtlich einen berauschenden Effekt auf Charlotte.
»Mr Beebe, stimmt es, dass Sie bald eine Preppie Guru Lounge in East Hampton eröffnen?«, fragte Lucie.
»Ja, nächsten Sommer. Und ihr könnt mich übrigens gern duzen. Erst mal wird es nur ein Pop-up auf der Newtown Lane, direkt neben James Perse. Wir fangen an mit einer ayurvedischen Saftbar, Qigong, Puppy-Yoga, Atemmeditation und vielleicht noch etwas Klangheilung. Und dann schauen wir, was am besten ankommt.«
»Auf die Gefahr hin, dass ich gleich völlig ahnungslos dastehe – was bitte ist Puppy-Yoga?«, fragte Charlotte.
»Yoga in einem Raum voller Welpen, die um die Matte herumtollen und einem das Gesicht abschlecken, während man den herabschauenden Hund macht.«
»Wie niedlich!«, rief Lucie. »Wir verbringen den Sommer jedes Jahr in East Hampton. Da komme ich bestimmt täglich zum Puppy-Yoga.«
»Super! Einstweilen gebe ich jeden Morgen Yoga hier unten am Pool. Ohne Welpen.«
Da traten zwei Damen Mitte sechzig in maßgeschneiderten Hosenanzügen aus Leinen an ihren Tisch. Eine lächelte Charlotte schief an. »Wir waren eben auch im Speisesaal. Es tut mir so leid, dass Sie das durchmachen mussten. Wie kann man sich nur so danebenbenehmen?«
»So geht das schon die ganze Woche«, fügte die andere Frau hinzu. »Sie hat mitbekommen, wie wir von den Orchideen beim Floristen an der Kirche geschwärmt haben, und als wir zurück auf unsere Suite gingen, war dort alles voller Orchideen, mit den besten Wünschen von Rosemary Zao. Jetzt sieht es da drin aus wie bei einer Beerdigung!«
»Ich hoffe, das mit den Zimmern für Sie und Ihre Freundin klärt sich bald.« Die erste Frau lächelte Charlotte mitfühlend an.
»Danke. Aber Lucie ist meine Cousine. Meine Mutter und ihr Vater waren Geschwister.«
»Ach, wie nett«, erwiderten die beiden im Chor. Dann nickten sie Auden kurz zu und gingen weiter Richtung Garten.
»Darf ich fragen, was genau im Speisesaal vorgefallen ist?«, wollte Auden wissen. »Die unerschütterlichen Ortiz-Schwestern aus Manila lassen sich doch sonst nicht aus der Ruhe bringen.«
Lucie und Charlotte zögerten kurz, was Auden nicht entging. »Entschuldigung, ich bin mal wieder viel zu neugierig.«
»Nein, ist schon in Ordnung.« Charlotte gab ihm eine rasche Zusammenfassung der Ereignisse. »War das peinlich! Sie hat einfach nicht lockergelassen und eine Riesenszene daraus gemacht. Irgendwann sind wir dann hierher geflüchtet.«
»Ich glaube ja, es war nur nett gemeint«, warf Lucie ein. »Sie hat es einfach etwas unglücklich rübergebracht.«
»Wenn das mal nicht die Untertreibung des Jahres ist! Ich verstehe nicht, was sie mit dem Gehabe bezwecken wollte.«
»Und wenn sie überhaupt nichts damit bezwecken wollte?«, gab Auden zu bedenken. »Wir New Yorker suchen immer überall nach niederen Beweggründen, das geht mir ganz genauso. Aber so wie ich Mrs Zao einschätze, kam das Angebot bestimmt von Herzen. Wir kennen uns erst seit ein paar Tagen, aber sie hat mich schon nach Hongkong eingeladen, um dort einen Workshop zu veranstalten. Sie will sich um den Ort kümmern und alle ihre Freundinnen einladen. Und gestern hat sie am Pool einfach so Ananas-Kokos-Sorbets für alle ausgegeben.«
Charlotte stieß einen tiefen Seufzer aus. »Na, da haben wir uns wohl getäuscht. Du meinst also, ich war wieder zu misstrauisch und vorschnell?«
»Charlotte, das hat Auden doch gar nicht …«, setzte Lucie an.
»Überhaupt nicht«, bestätigte dieser.
»Ich bin einfach zu verkrampft und korrekt und lege viel zu viel Wert auf Etikette. Das sagen alle.«
Lucie hätte am liebsten die Augen verdreht. Diese Masche war ihr bestens vertraut – Charlotte suhlte sich nur zu gern in Schuldgefühlen. »Dabei hege ich nur die besten Absichten. Ich will bloß deinen guten Namen schützen.«
»Meinen guten Namen?« Lucie lachte. »Wir sind doch nicht bei Eduard dem Siebten!«
»Lucie, du bist eine Churchill, vergiss das nicht. Dein Name und dein guter Ruf sind das Allerwichtigste, und egal, wo du bist, du repräsentierst die Familie.«
Und da war sie, »die Familie«, die Charlotte nur zu gern beschwor. Charlotte war über alle Maßen stolz auf ihre Wurzeln – die ganze Geschichte von wegen ihre Vorfahren wären auf der Mayflower gewesen und hätten in Englands Hochadel eingeheiratet und das Schlossdach mithilfe des Wall-Street-Vermögens ihres Urururgroßvaters instand gehalten. Lucie wiegelte ab, doch Charlotte ließ nicht locker.
»Deine Mutter hat mich ausdrücklich gebeten, auf dich aufzupassen, aber vielleicht war ich zu streng. Soll ich noch mal nachfragen, ob die Zaos aus ihren Zimmern gescheucht werden wollen? Möchtest du in der Schuld dieser Wildfremden stehen?«
Lucie seufzte. »Nein, natürlich nicht.«
»Meine Damen, dürfte ich einen Vorschlag zur Güte machen?«, fragte Auden. »Ich kenne die Zaos ein bisschen besser und kann gern mit ihnen reden. Wenn das Angebot noch steht und sie wirklich die Zimmer tauschen wollen, sorge ich dafür, dass es ihnen keine Umstände bereitet.«
»Aber es wäre mir schon wichtig, dass uns daraus keine weiteren Verpflichtungen entstehen«, merkte Charlotte an.
Auden verstand sofort. »Natürlich. Und falls die Zaos es sich anders überlegt haben, vergessen wir die Sache einfach.«
Charlotte schaute noch einmal kurz zu Lucie und wandte sich dann an Auden. »Auden, du bist ein Engel.«