»Da trat Petrus zu ihm und sprach: Herr, wie oft soll ich meinem Bruder, der wider mich sündigt, verzeihen? Bis auf siebenmal?
Jesus antwortete ihm: Ich sage dir, nicht bis auf siebenmal, sondern bis auf siebenzigmal sieben.«
(Ev. Matthäi, XVIII, 21–12.) »Was siehest du aber den Splitter in deines Bruders Auge, des Balkens aber in deinem Auge achtest du nicht?«
(Ev. Matthäi, VII, 3.) »Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.«
(Ev. Johannis, VIII, 7.) »Der Jünger ist nicht über seinen Meister; jeder Vollkommene aber wird wie sein Meister sein.«
(Ev. Lucä, VI, 40.)

6

Inhaltsverzeichnis

Der Vorsitzende kam früh ins Gericht. Es war ein hoher, starker Mann mit großem, ergrauendem Backenbart. Er war verheiratet, führte aber ein sehr lockeres Leben, ebenso wie seine Frau. Sie störten einander nicht. Heute früh hatte er von der Gouvernante, einer Schweizerin, die im Sommer bei ihnen in Stellung gewesen war, und die jetzt aus dem Süden nach Petersburg durchfuhr, die Mitteilung erhalten, sie erwarte ihn in der Stadt im Gasthofe »Italie« zwischen drei und sechs Uhr. Daher wollte er die Verhandlung des heutigen Tages gern früher anfangen und schließen, um vor sechs Uhr bei der rothaarigen Klara Wasiljewna sein zu können, mit der er im vorigen Sommer auf dem Lande einen Roman gehabt hatte.

Nachdem er in sein Zimmer eingetreten, riegelte er die Tür zu, holte aus dem Aktenschrank vom untersten Brett zwei Hanteln und machte zwanzig Bewegungen nach oben, nach vorn, seitwärts, nach unten und dann ließ er sich leicht dreimal nieder, wobei er die Hanteln über dem Kopfe hoch hielt.

»Nichts erhält einen so, wie Wassergüsse und Gymnastik«, dachte er, mit der linken Hand, die einen goldenen Ring auf dem Ringfinger trug, den angespannten Bizeps des rechten Armes betastend. Ihm blieb noch übrig, einen »Moulinet« zu machen, – er pflegte diese zwei Bewegungen immer vor dem langen Sitzen der Verhandlung auszuführen, – als die Tür erzitterte. Jemand wollte sie aufmachen. Der Vorsitzende legte eilig die Gewichte auf ihre Stelle und öffnete die Tür.

»Verzeihen Sie«, sagte er.

In das Zimmer kam ein Gerichtsmitglied mit goldener Brille, ein nicht sehr großer Mann mit hochgezogenen Schultern und einem finsteren Gesicht.

»Wieder ist Matwej Nikititsch nicht da«, sagte das Gerichtsmitglied unzufrieden.

»Noch, nicht da?« antwortete der Vorsitzende, die Uniform anziehend. »Immer verspätet er sich.«

»Erstaunlich, schämt er sich denn gar nicht?« sagte das Mitglied und setzte sich voll Unwillen, indem es Zigaretten aus der Tasche holte.

Dieses Gerichtsmitglied, ein sehr pünktlicher Mann, hatte heute früh einen unangenehmen Zusammenstoß mit seiner Frau gehabt, weil sie das ihr für einen Monat gegebene Geld vorzeitig verbraucht hatte. Sie hatte ihn gebeten, ihr Vorschuß zu geben, aber er sagte, daß er sich nicht darauf einlassen könne. Es gab eine Szene. Die Frau sagte, wenn es so sei, so würde es auch nichts zu Mittag geben, er möge ja zu Hause kein Mittagessen erwarten. Damit fuhr er weg und fürchtete, daß sie ihre Drohung wahr machen werde, weil man bei ihr auf alles gefaßt sein mußte. »Da soll nun einer ein gutes, moralisches Leben führen«, dachte er, indem er den strahlenden, gesunden, munteren und gutmütigen Vorsitzenden ansah, der mit seinen schönen, weißen Händen, indem er die Ellbogen breit auseinanderstellte, seinen dichten, langen, ergrauenden Backenbart zu beiden Seiten des gestickten Kragens ausbreitete, »der ist immer zufrieden und lustig, ich aber quäle mich.«

Der Sekretär trat ein und brachte Prozeßakten mit.

»Meinen besten Dank«, sagte der Vorsitzende, und rauchte eine Zigarette an. »Welchen Prozeß nehmen wir zuerst?«

»Ich würde meinen, den Giftmord«, sagte scheinbar gleichgültig der Sekretär.

»Nun gut, nehmen wir zuerst den Giftmord vor«, sagte der Vorsitzende, nachdem er überlegt, daß dies ein Prozeß sei, den man bis vier Uhr beenden könne, um dann gleich wegzufahren. »Und ist Matwej Nikititsch noch nicht da?« »Immer noch nicht.«

»Und ist Herr Breve hier?«

»Jawohl«, antwortete der Sekretär.

»So sagen Sie ihm, wenn Sie ihn sehen, daß wir mit dem Giftmord anfangen.«

Breve war derjenige Staatsanwalt, welcher bei dieser Verhandlung die Anklage vertreten sollte.

Als er in den Korridor hinausging, traf der Sekretär Herrn Breve.

Mit hochgezogenen Schultern, in nicht zugeknöpfter Uniform, schritt er rasch, eine Aktenmappe unter dem Arm, fast laufend und mit den Absätzen klappernd, den Korridor entlang; dabei schwenkte er den freien Arm so, daß die Handfläche zu der Richtung seines Ganges senkrecht war.

»Michail Petrowitsch möchte wissen, ob Sie fertig sind?« fragte ihn der Sekretär.

»Versteht sich, ich bin immer fertig«, sagte der Staatsanwalt, »welcher Prozeß ist der erste.«

»Der Giftmord.«

»Das ist schön«, sagte der Staatsanwalt, aber er fand es gar nicht schön: er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Er war zu einem Abschiedsschmaus zu Ehren eines Kollegen gewesen, man hatte viel getrunken und bis zwei Uhr gespielt, und war nachher zu Frauen gefahren, in dasselbe Haus, in welchem noch vor sechs Monaten die Maslowa war, – so daß er gerade die Akten zu dem Giftmord noch nicht hatte lesen können, und sie jetzt erst flüchtig durchsehen wollte. Der Sekretär aber hatte absichtlich dem Vorsitzenden geraten, diesen Prozeß als ersten vorzunehmen, weil er wußte, daß jener die betreffenden Akten nicht gelesen hatte. Der Sekretär war von liberaler, ja fast radikaler Denkungsart. Breve aber war konservativ und sogar, wie alle in Rußland im Staatsdienst stehenden Deutschen, besonders streng orthodox, und der Sekretär hatte ihn nicht gern und beneidete ihn um seine Stellung.

»Nun, und wie ist es mit dem Prozeß der Skopzen?«

»Ich habe schon gesagt, daß ich den nicht nehmen kann,« sagte der Staatsanwalt, »weil die Zeugen fehlen, ich werde das auch dem Gericht erklären.«

»Aber es ist ganz gleich …«

»Ich kann nicht«, sagte der Staatsanwalt und, auf die gewohnte Weise mit der Hand abwehrend, eilte er in sein Zimmer.

Er schob den Prozeß der Skopzen auf wegen der Abwesenheit eines gar nicht wichtigen und für den Prozeß nicht nötigen Zeugen, nur darum, weil dieser Prozeß, wenn er vor einem Gericht mit Geschworenen aus gebildeten Kreisen vor sich gehen würde, mit Freisprechung endigen konnte. Im Einverständnis mit dem Vorsitzenden sollte dieser Prozeß auf eine Session in einer Kreisstadt verlegt werden, wo es mehr Bauern und darum mehr Aussicht für eine Verurteilung geben würde.

Die Bewegung auf dem Korridor nahm immer noch zu. Am meisten Leute waren vor dem Saal der Zivilabteilung, wo die Verhandlung vor sich ging, von der der ansehnliche Herr, der Liebhaber von Gerichtssachen, den Geschworenen gesprochen hatte.

Während der Pause kam aus diesem Saal jene alte Dame, welcher der geniale Advokat so geschickt das Vermögen zugunsten des Profitmachers weggenommen hatte, der auf dieses Vermögen kein Recht hatte. Das wußten auch die Richter und noch mehr der Kläger und sein Advokat; aber der von ihnen ausgedachte Kniff war solcher Art, daß es unmöglich war, dem alten Mütterchen sein Vermögen nicht wegzunehmen und es dem Profitmacher nicht auszuliefern.

Die alte Dame war eine dicke Frau in einem prächtigen Kleide mit kolossalen Blumen auf dem Hute. Nachdem sie aus der Tür herausgekommen, blieb sie in dem Korridor stehen und, die dicken, kurzen Arme ausbreitend, wiederholte sie immer, sich an ihren Advokaten wendend: »Was soll denn das sein? Sein Sie doch so gut! Was heißt denn das?« Der Advokat betrachtete die Blumen auf ihrem Hut und hörte nicht zu, indem er etwas überlegte.

Gleich nach der Alten kam rasch aus der Tür des Saals der Zivilabteilung, mit dem Plastron in weit offener Weste und mit einem selbstzufriedenen Gesichte glänzend, eben jener berühmte Advokat heraus, der es so gewendet, daß das alte Mütterchen mit den Blumen das Nachsehen hatte, der Profitmacher aber, der ihm zehntausend Rubel gegeben, mehr als hunderttausend bekam. Alle Augen wandten sich auf den Advokaten; er fühlte das und sein ganzes Auftreten schien zu sagen: »es sind keine Äußerungen der Ergebenheit nötig«, und er ging rasch an allen vorbei.

14

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Nechliudow kehrte bei den Tanten ein, weil ihr Gut auf dem Wege zu seinem Regiment lag, welches ihm vorausmarschierte, dann auch, weil sie ihn sehr darum gebeten hatten; hauptsächlich aber, um Katjuscha zu sehen. Vielleicht lauerte schon in der Tiefe seiner Seele die schlimme Absicht gegen Katjuscha, die ihm der jetzt zügellose animalische Mensch zuflüsterte; aber er war sich dieser Absicht nicht bewußt, und er wünschte einfach, den Ort zu besuchen, wo es ihm so wohl gewesen; die ein wenig lächerlichen, aber lieben und gutmütigen Tanten zu sehen, die ihn immer, unmerklich für ihn, mit einer Atmosphäre der Liebe und des Entzückens umgaben, und die liebe Katjuscha zu sehen, an welche ihm eine so angenehme Erinnerung geblieben war.

Er traf Ende März ein, am Karfreitag, zur Zeit der schlechtesten Wege, unter einem Gußregen, so daß er bis zum letzten Faden durchnäßt und durchfroren ankam, aber munter und angeregt, wie er sich immer um diese Zeit fühlte.

»Ob sie wohl noch da ist?« dachte er, als er in den bekannten, mit dem von den Dächern herabgefallenen Schnee vollgeschütteten altertümlichen, mit einer niederen Ziegelwand umzäunten Gutshof der Tanten einfuhr.

Er erwartete, daß sie auf die Treppe herauskommen werde, wenn sie die Glocke seines Gefährts höre. Aber es kamen auf den Dienstbotenflur zwei barfüßige, aufgeschürzte Weiber mit Eimern heraus, die augenscheinlich den Boden im Hause scheuerten. Sie war auch auf dem Vorderflur nicht; es erschien nur Tichon, der Lakai, in der Schürze, anscheinend auch er mit Putzen beschäftigt. In das Vorzimmer, kam Sophia Iwanowna im seidenen Kleid und in der Haube.

»Aber das ist lieb, daß du gekommen bist!« sprach Sophia Iwanowna, ihn küssend.

»Maschenka ist ein wenig unwohl, von der Kirche ermüdet. Wir haben das Abendmahl genommen.«

»Ich gratuliere, Tante Sonja,« sprach Nechliudow, indem er Sophia Iwanownas Hand küßte, »verzeihen Sie, ich habe Sie naß gemacht.«

»Geh in dein Zimmer, du bist ganz durchnäßt. Und einen Schnurrbart hast du schon … Katjuscha! Katjuscha! schnell Kaffee für ihn!«

»Sogleich!« antwortete die so wohlbekannte, angenehme Stimme aus dem Korridor, und Nechliudows Herz zog sich freudig zusammen. »Hier!« Und es war ihm, als ob die Sonne aus den Wolken hervorguckte.

Nechliudow begab sich fröhlich mit Tichon in sein früheres Zimmer, um sich umzukleiden. Er wollte eigentlich Tichon über Katjuscha befragen: »Wie geht es ihr? Wie lebt sie? Heiratet sie nicht bald?« Aber Tichon war so ehrerbietig und zugleich streng, und so fest bestand er darauf, daß er ihm selber Wasser aus dem Handwaschbecken über die Hände gießen müsse, daß Nechliudow sich nicht entschließen konnte, ihn über Katjuscha auszufragen; er fragte ihn nur nach seinen Enkeln, nach dem alten Hengst, nach dem Hofhund Polkan. Alle waren am Leben und gesund, außer Polkan, der im vorigen Jahre toll geworden war.

Als Nechliudow alles Nasse abgeworfen hatte und sich eben auszuziehen begann, hörte er rasche Schritte, und es klopfte an die Tür. Nechliudow erkannte sowohl die Schritte, als auch das Klopfen. So ging und klopfte nur sie. Er warf sich den nassen Mantel um und trat zur Tür.

»Herein!«

Das war sie – Katjuscha. Immer dieselbe, noch holder als früher. Ebenso von unten her schauten ihre lächelnden, naiven, ein ganz klein wenig schielenden schwarzen Augen. Sie trug ganz wie früher eine saubere weiße Schürze. Sie brachte ihm ein eben erst ausgewickeltes parfümiertes Stück Seife und zwei Handtücher: ein großes russisches und ein rauhes. Und die noch unangerührte Seife mit den abgedruckten Buchstaben und die Handtücher und sie selbst – alles das war gleich rein, frisch, unangetastet, angenehm. Ihre lieblichen, festen, schönen Lippen spitzten sich bei seinem Anblick, ebenso wie früher immer, in nicht zurückzuhaltender Freude.

»Herzlich willkommen, Dmitrij Iwanowitsch!« brachte sie mit Mühe hervor, und Röte übergoß ihr ganzes Gesicht.

»Ich grüße dich … ich grüße Sie«, er wußte nicht, ob er sie »du« oder »Sie« nennen sollte und wurde ebenso rot wie sie. »Sind Sie wohl und gesund?«

»Gottlob. Hier haben die Tanten Ihre Lieblingsseife, die Rosaseife, geschickt«, sagte sie, indem sie die Seife auf den Tisch und die Handtücher auf die Lehnstuhlarme legte.

»Der Herr haben seine eigene Seife«, sagte, die Selbständigkeit des Gastes verteidigend, Tichon, indem er stolz auf das geöffnete große Necessaire Nechliudows mit den silbernen Deckeln und den ungeheuren Quantitäten von Fläschchen, Bürstchen, Schnurrbartpomaden, Parfüms und allerlei Toilettengegenständen zeigte. »Sagen Sie den Tanten meinen Dank. Und wie ich mich freue, daß ich da bin«, sagte Nechliudow, indem er fühlte, daß es in seiner Seele ebenso licht und hold wurde, wie es früher manchmal gewesen.

Sie lächelte nur zur Erwiderung auf diese Worte und ging hinaus.

Die Tanten, die Nechliudow ja immer liebhatten, nahmen ihn dieses Mal noch freudiger als gewöhnlich auf. Dmitrij zog ja in den Krieg, wo er verwundet, getötet werden konnte. Das rührte die Tanten.

Nechliudow hatte seine Reise so eingerichtet, daß er bei den Tanten nur vierundzwanzig Stunden verweilen wollte, als er aber Katjuscha sah, willigte er ein, den Ostersonntag, der nach zwei Tagen war, bei den Tanten zu feiern, und er telegraphierte seinem Freund und Kameraden Schönbock, mit dem er in Odessa zusammentreffen sollte, daß er auch zu den Tanten kommen solle.

Vom ersten Tage an, als er Katjuscha gesehen hatte, empfand er das frühere Gefühl für sie. Jetzt wie früher konnte er nicht ohne Gemütsbewegung ihre weiße Schürze sehen; er konnte nicht ohne Freude ihren Gang, ihre Stimme, ihr Lachen hören, nicht ohne Rührung in ihre feuchten, Johannisbeeren ähnlichen, schwarzen Augen blicken, besonders wenn sie lächelte; und die Hauptsache, er konnte nicht ohne Bestürzung sehen, wie sie bei der Begegnung mit ihm errötete. Er fühlte, daß er verliebt war, aber nicht so, wie früher, als diese Liebe für ihn ein Geheimnis war, als er nicht sich selbst zu gestehen wagte, daß er liebe, und als er überzeugt war, daß man nur einmal lieben könne. Jetzt aber war er verliebt und wußte das und freute sich darüber, während er sich unklar bewußt war, worin diese Liebe besteht und was dabei herauskommen kann, obgleich er es vor sich selber verbarg.

In Nechliudow lebten, wie in allen Menschen, eigentlich zwei Menschen; einer – der geistige, der für sich nur solch ein Heil begehrt, das auch anderen Menschen zum Heil wäre, und ein anderer – der animalische Mensch, der nur für sich das Heil sucht und bereit ist, für dieses Heil das Heil der ganzen Welt zu opfern. In dieser Periode des tollen Egoismus, den das Petersburger militärische Leben in ihm hervorgerufen hatte, herrschte in ihm der animalische Mensch, und er unterdrückte vollständig den geistigen. Aber als er Katjuscha sah und wieder das empfand, was er damals für sie empfunden hatte, erhob der geistige Mensch sein Haupt und fing an, sein Recht zu verlangen. Und während dieser zwei Tage bis Ostern ging in Nechliudow ununterbrochen ein innerer, für ihn unbewußter Kampf vor sich. In der Tiefe der Seele wußte er, daß er abreisen müsse, und daß es keinen Zweck habe, bei den Tanten zu bleiben; er wußte, daß nichts Gutes dabei herauskommen könne; aber es war so freudvoll und schön, daß er sich dies nicht sagte und daß er blieb.

Am Ostersonnabend abends kam der Priester mit dem Diakon und dem Küster, um die Frühmesse zu lesen, nachdem sie, wie sie erzählten, mit Not und Mühe die drei Werst, welche die Kirche vom Hause der Tanten trennten, im Schlitten durch Pfützen und über die bloße Erde gemacht hatten. Nechliudow hörte mit den Tanten und dem Gesinde die Frühmesse, wobei er unaufhörlich Katjuscha ansah, die an der Tür stand und das Rauchfaß darreichte. Er küßte sich mit dem Geistlichen und den Tanten und wollte schon schlafen gehen, als er im Korridor die Vorbereitungen der Matriona Pawlowna, des alten Zimmermädchens der Maria Iwanowna, wahrnahm, die mit Katjuscha zusammen in die Kirche gehen wollte, um Osterbrote und Osterkuchen weihen zu lassen. »Ich will auch hin«, dachte er.

Es gab keinen fahrbaren Weg zur Kirche, weder für Schlitten noch für Wagen, darum befahl Nechliudow, der bei den Tanten wie zu Hause war und über alles verfügte, das Reitpferd, den sogenannten »Bruderhengst« zu satteln, und anstatt zu Bett zu gehen, zog er eine glänzende Uniform mit dicht anliegenden Reithosen an, nahm den Mantel um und ritt auf dem fett und schwerfällig gewordenen, unaufhörlich wiehernden alten Hengst in der Dunkelheit durch Pfützen und Schnee zur Kirche.

22

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Nach den letzten Worten der Angeklagten und nach den Besprechungen der Parteien über die Form der Fragestellung, die noch ziemlich lange Zeit dauerten, waren die Fragen gestellt worden, und der Vorsitzende begann sein Resümee.

Vor der Darstellung des Tatbestandes erklärte er sehr lange den Geschworenen mit angenehmer, familiärer Intonation, Raub sei Raub, aber Diebstahl sei Diebstahl, und daß Entwendung aus einem verschlossenen Raum eine Entwendung aus einem verschlossenen Raum sei; Entwendung aber aus einem nicht verschlossenen Raum sei eine Entwendung aus einem nicht verschlossenen Raum. Und indem er das erklärte, blickte er besonders häufig auf Nechliudow, als ob er vor allem wünschte, ihm diesen wichtigen Umstand beizubringen, in der Hoffnung, daß er, nachdem er ihn begriffen, ihn auch seinen Kollegen klarmachen werde. Dann, als er annahm, daß die Geschworenen schon genug von diesen Wahrheiten durchdrungen wären, begann er eine andere Wahrheit zu entwickeln – daß Mord eine Handlung sei, durch welche der Tod eines Menschen erfolgt, daß Vergiftung daher auch ein Mord sei. Und als auch diese Wahrheit, seiner Meinung nach, von den Geschworenen erfaßt war, erklärte er ihnen, daß, wenn ein Diebstahl und ein Mord zusammen verübt worden sind, den Bestand des Verbrechens in diesem Falle ein Diebstahl und ein Mord ausmachen.

Trotzdem er selber Lust hatte, etwas früher mit der Sache fertig zu sein, und trotzdem die Schweizerin schon auf ihn wartete, war er an seine Beschäftigung so gewöhnt, daß er, als er einmal zu reden angefangen, schon nicht mehr aufhören konnte und daher die Geschworenen belehrte, daß sie das Recht haben, wenn sie die Angeklagten schuldig finden, sie für schuldig zu erklären; wenn sie sie aber unschuldig finden, so haben sie das Recht, sie für unschuldig zu erklären; wenn sie sie aber des einen Verbrechens schuldig und des anderen unschuldig finden, so haben sie das Recht, sie des einen schuldig, des anderen aber unschuldig zu erklären. Darauf setzte er ihnen noch auseinander, daß sie, ungeachtet dessen, daß dieses Recht ihnen zuerkannt sei, von demselben in vernünftiger Weise Gebrauch machen müßten. Er wollte ihnen auch erklären, daß, wenn sie auf die gestellte Frage eine bejahende Antwort gäben, sie durch diese Antwort alles das, was in der Frage enthalten sei, anerkennen, und daß, wenn sie nicht alles, was in der Frage enthalten sei, anerkennen, sie eine Klausel machen müßten über das, was sie nicht anerkennen wollten. Aber er blickte auf die Uhr, und als er sah, daß es schon fünf Minuten vor drei Uhr war, entschloß er sich, sogleich zur Darlegung des Tatbestandes überzugehen.

»Der Tatbestand dieser Sache ist folgender«, fing er an und wiederholte alles das, was schon mehrere Male gesagt war, von den Verteidigern sowohl wie von dem Staatsanwalt und von den Zeugen.

Der Vorsitzende sprach, aber die Mitglieder zu seinen Seiten hörten ihn mit tiefsinnigem Ausdruck an und blickten hie und da auf die Uhr, weil sie seine Rede zwar sehr gut, also so, wie sie sein muß, aber etwas zu lang fanden. Eben solcher Meinung war auch der Staatsanwalt, wie überhaupt alle Gerichtsangehörigen und alle in dem Saal Anwesenden. Der Vorsitzende beendete seine Zusammenfassung.

Es schien, alles war gesagt worden. Aber der Vorsitzende konnte sich nicht von seinem Recht, zu sprechen, trennen – so angenehm war es ihm, die eindringlichen Intonationen seiner Stimme zu hören – und er fand es nötig, noch einige Worte zu sagen von der Wichtigkeit jenes Rechts, welches den Geschworenen gegeben ist, darüber, wie sie es mit Aufmerksamkeit und Vorsicht benutzen und nicht mißbrauchen müssen, darüber, daß sie einen Eid geleistet haben, daß sie das Gewissen der Gesellschaft sind, und daß das Geheimnis des Beratungszimmers heilig sein muß…

Seitdem der Vorsitzende zu sprechen angefangen, sah ihn die Maslowa an, ohne die Augen abzuwenden, als ob sie besorgte, ein Wort zu verlieren; darum fürchtete Nechliudow nicht, ihr mit den Augen zu begegnen und sah sie ohne Unterbrechung an. Und in seiner Vorstellung ging jene gewöhnliche Erscheinung vor sich, daß ein seit langem nicht gesehenes Gesicht eines geliebten Menschen, nachdem es zuerst mit seinen äußerlichen Veränderungen, welche während der Trennung stattgefunden haben, überrascht hatte, nach und nach wieder vollkommen dasselbe wird, wie es vor vielen Jahren gewesen; alle stattgefundenen Veränderungen verschwinden, und vor dem geistigen Auge tritt nur der Hauptausdruck der ausschließlichen, unwiederholbaren geistigen Persönlichkeit hervor. Eben dasselbe ging in Nechliudow vor sich.

Ja, trotz der Gefängniskleidung, dem ganzen breiter gewordenen Körper, der ausgewachsenen Brust, trotz dem inzwischen auseinandergegangenen unteren Teil des Gesichtes, trotz der Fältchen auf der Stirn und an den Schläfen, und trotz der etwas angeschwollenen Augen – war das unzweifelhaft dieselbe Katjuscha, welche am Ostersonntag ihn, den von ihr geliebten Menschen, mit ihren verliebten, vor Freude und Fülle des Lebens lachenden Augen so unschuldig von unten nach oben angesehen.

»Und ein so merkwürdiger Zufall. Und mußte es sich so treffen, daß der Prozeß gerade auf meine Session fällt; daß ich, ohne ihr seit zehn Jahren irgendwo zu begegnen, sie hier auf der Bank der Angeklagten treffe. Und womit wird das alles enden? Wäre es schneller, ach, schneller zu Ende!«

Er unterwarf sich noch immer nicht jenem Gefühl der Reue, welches anfing, in ihm zu reden. Er hielt alles für einen Zufall, der vorübergehen würde, ohne sein Leben zu stören. Er fühlte sich in der Lage jenes Hündchens, das sich im Zimmer schlecht aufgeführt hat, und welches der Herr am Nacken packt und mit der Nase in diejenige Abscheulichkeit, die es gemacht hat, hineinstößt. Das Hündchen winselt, zieht sich zurück, um möglichst weit von den Folgen seines Betragens wegzugehen, um sie zu vergessen, aber der unerbittliche Herr läßt es nicht fort. Ebenso fühlte auch Nechliudow die ganze Abscheulichkeit dessen, was er vollbracht, fühlte auch die mächtige Hand des Herrn, aber er verstand noch immer nicht die Bedeutung dessen, was er getan hatte, erkannte den Herrn nicht. Er wollte immer noch nicht daran glauben, daß das, was vor ihm war, sein Werk sei. Aber die unerbittliche, unsichtbare Hand hielt ihn, und er ahnte schon, daß er nicht werde entrinnen können. Er spielte noch den Tapferen, und, angenommener Gewohnheit nach, ein Bein über das andere gelegt, saß er, nachlässig mit dem Zwicker spielend, in selbstbewußter Haltung auf seinem zweiten Stuhl der ersten Reihe. Unterdessen aber fühlte er schon in der Tiefe seiner Seele die ganze Grausamkeit, Niederträchtigkeit, nicht nur dieser seiner Tat, sondern seines ganzen müßigen, lockeren, grausamen und selbstherrlichen Lebens, und jener furchtbare Vorhang, welcher durch irgendein Wunder während dieser ganzen Zeit, diese ganzen zwölf Jahre hindurch, vor ihm dies sein Verbrechen und sein ganzes folgendes Leben verborgen hatte, schwankte schon, und er blickte schon hie und da hinter denselben.

29

Inhaltsverzeichnis

Die Maslowa kehrte erst um sechs Uhr abends in ihre Zelle zurück, nach einem fünfzehn Werst weiten Gange über Steine, des Gehens ungewöhnt, ermüdet und mit schmerzenden Beinen, außerdem über das unerwartet harte Urteil bestürzt und hungrig.

Als, noch während einer Pause, die Wächter neben ihr eine Mahlzeit aus Brot mit hartgekochten Eiern einnahmen, wässerte ihr der Mund, und sie fühlte, daß sie hungrig sei; sie zu bitten hielt sie aber für erniedrigend für sich. Als aber danach noch drei Stunden verflossen waren, verlor sie schon die Lust zu essen, und sie empfand nur Schwäche. In solchem Zustande vernahm sie das unerwartete Urteil. In der ersten Minute glaubte sie, sich verhört zu haben, sie konnte den Begriff einer Zwangsarbeiterin nicht fassen; sie konnte nicht auf einmal glauben, was sie hörte. Aber als sie die ruhigen Geschäftsgesichter der Geschworenen, der Richter sah, die diese Nachricht als etwas vollkommen Natürliches und Erwartetes empfingen, empörte sie sich und schrie durch den ganzen Saal hin, daß sie unschuldig sei. Als sie aber sah, daß auch ihr Schreien als etwas Natürliches, Erwartetes aufgenommen wurde, das die Sache nicht ändern könne, entsetzte sie sich und fing an verzweifelt zu weinen, da sie fühlte, daß sie sich dieser grausamen und überraschenden Ungerechtigkeit, die gegen sie verübt wurde, unterwerfen müsse. Besonders setzte sie der Umstand in Erstaunen, daß es Männer waren, die sie so grausam verurteilten, junge, keine alten Männer, dieselben, welche sie immer so freundlich ansahen. Nur der Staatsanwalt allein hatte heute ein ganz anderes Gesicht gemacht.

Während sie im Gefangenenzimmer saß und das Gericht erwartete und während der Sitzungspausen sah sie, wie diese Männer, indem sie so taten, als sei es aus einem anderen Anlaß, an der Tür vorbeikamen oder in das Zimmer traten und sie freundlich ansahen. Und plötzlich verurteilten diese selben Männer sie zu Zwangsarbeit, trotzdem sie unschuldig war an dem, dessen man sie beschuldigte. Erst weinte sie, dann wurde sie still, und im Zustande vollkommener Stumpfheit saß sie im Gefangenenzimmer und harrte der Abführung. Sie wollte jetzt nur zweierlei: rauchen und Schnaps trinken. In solchem Zustande traf sie der Wächter, der ihr drei Rubel bares Geld brachte.

»Nimm, hier, eine Dame hat es dir geschickt«, sagte er, ihr das Geld reichend.

»Was für eine Dame?«

»Nimm nur! Soll ich auch noch lange mit euch reden?«

Dieses Geld hatte die Kitajewa, die Inhaberin des Bordells, geschickt. Als sie aus dem Gericht wegging, wandte sie sich an den Gerichtskommissar mit der Frage, ob sie der Maslowa Geld geben dürfe. Der Beamte sagte, sie dürfte das. Dann, nachdem sie die Erlaubnis bekommen hatte, zog sie den dänischen Handschuh mit drei Knöpfen von der aufgedunsenen, weißen Hand, nahm aus den hinteren Falten des seidenen Rockes eine moderne Geldtasche, und nachdem sie aus einer ziemlich großen Menge eben von den Wertpapieren abgeschnittener Coupons, die sie in ihrem Hause verdient hatte, einen zu zwei Rubel und fünfzig Kopeken ausgesucht und zwei Zwanzigkopekenstücke und ein Zehnkopekenstück hinzugefügt hatte, übergab sie dieses Geld dem Beamten. Dieser ließ einen Wächter kommen und in Gegenwart der Spenderin übergab er dem Wächter dieses Geld.

»Bitte, geben Sie es richtig ab«, sagte Karolina Albertowna zu dem Wächter.

Der Wächter fühlte sich durch dieses Mißtrauen beleidigt, und darum war er so unfreundlich zu der Maslowa.

Die Maslowa freute sich über das Geld, weil es ihr das gab, was sie einzig jetzt wünschte.

»Wenn ich nur Zigaretten und Schnaps kriegte!« sprach sie zu sich, und alle ihre Gedanken drehten sich jetzt um den Wunsch, zu rauchen und zu trinken. Sie sehnte sich nach dem Schnaps so sehr, weil sie in der Phantasie seinen Geschmack und seine Stärke fühlte; und sie atmete gierig die Luft, wenn sie den Geruch des Tabakrauches spürte, der aus den Zimmertüren in den Korridor hinausdrang. Aber sie mußte noch lange warten, weil der Sekretär, welcher sie entlassen sollte, die Angeklagten vergaß und sich mit einem Advokaten in ein Gespräch, ja sogar in einen Streit über den verbotenen Aufsatz einließ. Einige junge und alte Leute kamen auch nach der Gerichtssitzung, um sie zu sehen und flüsterten untereinander, aber sie bemerkte sie jetzt nicht einmal.

Endlich entließ man nach vier Uhr erst die Botschkowa und Kartinkin, und nachher führten die Eskortesoldaten, der Tschuwasche und der von Nishnij-Nowgorod, die Maslowa ab. Und nun gab sie im Flur des Gerichtsgebäudes ihnen fünfzig Kopeken, mit der Bitte, zwei Kalatsche, Zigaretten und eine halbe Flasche Branntwein zu kaufen. Der Tschuwasche lachte auf, nahm das Geld und sagte: »Gut, wir kaufen es«, und wirklich besorgte er ehrlich Zigaretten und Kalatsche und brachte den Rest des Geldes zurück; Schnaps zu kaufen aber verweigerte er, so daß sie die Möglichkeit, etwas Schnaps zu trinken, bis zur Rückkehr in das Gefängnis verschieben mußte. Unterwegs stillte die Maslowa ihren Hunger mit dem Kalatsch und kehrte ins Gefängnis erst nach der Kontrolle zurück. Um dieselbe Zeit, als sie zur Tür des Gefängnisses geführt wurde, brachte man von der Eisenbahn etwa hundert neue Gefangene. In dem Durchgang stieß sie mit ihnen zusammen.

Die Gefangenen, bärtige, rasierte, alte, junge, Russen, Fremde – manche mit halbrasierten Köpfen, rasselten mit den Beinschellen, erfüllten den Vorraum mit Staub, mit dem Getöse ihrer Schritte, mit Gerede und ätzendem Schweißgeruch. Als die Gefangenen an der Maslowa vorbeigingen, besahen sie sie gierig, und manche näherten sich ihr lächelnd, mit vor Lüsternheit veränderten Gesichtern, mit glänzenden Augen und berührten sie.

»Ei Mädel, – schön«, sprach der eine. »Hab’ die Ehre, Tantchen«, sprach der andere, mit dem Auge blinzelnd. Ein Schwarzer mit rasiertem blauen Nacken, und mit einem Schnurrbart in dem rasierten Gesicht, sprang, sich in seinen Ketten verfangend und mit ihnen klirrend, auf sie zu und umarmte sie.

»Willst du nichts wissen von einem guten Freunde? Ziere dich nicht«, schrie er, die Zähne entblößend und mit den Augen blinzelnd, als sie ihn wegstieß.

»Was tust du, Spitzbube«, schrie der Gehilfe des Direktors, der von hinten hinzugetreten war.

Der Gefangene zog sich ganz zusammen und sprang eilig zurück. Der Beamte aber fuhr auf die Maslowa los.

»Warum bist du hier?«

Die Maslowa wollte sagen, daß man sie aus dem Gericht gebracht hätte, aber sie war so müde, daß sie schon zu faul war, zu sprechen.

»Aus dem Gericht, Euer Wohlgeboren«, sagte der führende Eskortesoldat, indem er aus der Mitte der Vorbeigehenden trat und die Hand an die Mütze legte.

»Nun, dann übergib sie dem Oberwächter. Was ist das für eine Wirtschaft!«

»Zu Befehl, Euer Wohlgeboren.«

»Sokolow! Übernehmen!« schrie der Beamte.

Der Oberwächter kam und stieß die Maslowa böse an die Schultern, und ihr mit dem Kopfe winkend, führte er sie in den Korridor der weiblichen Abteilung. Dort durchsuchte man sie und ließ sie in dieselbe Zelle ein, die sie heute früh verlassen hatte.

37

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In dieser Nacht konnte die Maslowa lange nicht einschlafen; sie lag mit geöffneten Augen, sah die Tür an, die von der hin und her gehenden Küsterstochter verdeckt wurde, und sann.

Sie dachte darüber nach, daß sie keinesfalls einen Zwangsarbeiter auf der Insel Sachalin heiraten werde; so oder so würde sie sich schon mit einem der Vorgesetzten einrichten, mit dem Schreiber, oder mit dem Aufseher, oder etwa mit dem Unteraufseher. Sie sind alle darauf erpicht. »Nur nicht mager werden, sonst bist du verloren.« Und sie erinnerte sich, wie der Verteidiger sie angesehen hatte und der Vorsitzende, und wie die ihr begegnenden und absichtlich an ihr vorbeigehenden Leute im Gericht sie angesehen hatten; sie erinnerte sich, wie die sie im Gefängnis besuchende Berta ihr erzählte, daß der Student, den sie liebte, als sie bei der Kitajewa wohnte, bei ihnen gewesen war, nach ihr gefragt und sie sehr bedauert hätte. Sie erinnerte sich an viele, nur nicht an Nechliudow. Ihrer Kindheit und Jugend und besonders ihrer Liebe zu Nechliudow erinnerte sie sich niemals. Das tat ihr allzu weh. Diese Erinnerungen lagen unberührt, irgendwo tief in ihrer Seele. Sogar im Traum sah sie Nechliudow nie. Heute in der Gerichtssitzung hatte sie ihn nicht erkannt, nicht so sehr, weil sie ihn zum letzten Male in Uniform, ohne Vollbart, nur mit einem kleinen Schnurrbärtchen und mit, wenn auch kurzen, so doch dichten und sich kräuselnden Haaren gesehen hatte, er jetzt aber nicht mehr jung aussah und einen Vollbart trug, sondern weil sie nie an ihn gedacht hatte. Ihre Erinnerungen an ihn hatte sie in jener schrecklichen, dunklen Nacht begraben, als er, von der Armee kommend, vorübergefahren und bei den Tanten nicht eingekehrt war.

Das war damals, als Katjuscha schon wußte, daß sie schwanger sei. Bis zu dieser Nacht, solange sie darauf hoffte, daß er kommen werde, belästigte sie das Kind nicht nur nicht, welches sie unter dem Herzen trug, sondern sie ward oft durch seine weichen und manchmal heftigen Bewegungen erstaunt, gerührt. Aber von dieser Nacht an ward alles anders. Und das künftige Kind ward ihr nichts als ein Hindernis.

Die Tanten erwarteten Nechliudow, baten ihn, zu kommen, aber er telegraphierte, er könne nicht, weil er zu einem bestimmten Termin in Petersburg sein müsse. Als Katjuscha dies erfuhr, entschloß sie sich, auf den Bahnhof zu gehen, um ihn zu sehen. Der Zug kam um zwei Uhr nachts durch. Katjuscha brachte ihre Damen zu Bette, und nachdem sie ein Mädchen, die Tochter der Köchin, Maschka, beredet, mit ihr zu gehen, zog sie alte Schuhe an, hüllte sich in ein Kopftuch, schürzte sich auf und lief nach dem Bahnhof.

Es war eine dunkle, regnerische, windige Herbstnacht. Der Regen begann bald mit großen warmen Tropfen zu peitschen, bald hörte er auf. Auf dem Felde war der Weg unter den Füßen nicht zu sehen, im Walde aber war es schwarz wie in einem Ofen, und obgleich Katjuscha den Weg gut kannte, kam sie im Walde vom Wege ab und erreichte die kleine Station, wo der Zug drei Minuten hielt, nicht mehr zur rechten Zeit, wie sie hoffte, sondern erst nach dem zweiten Glockenzeichen. Als Katjuscha auf den Bahnsteig hinausstürmte, sah sie ihn sogleich am Fenster eines Wagens erster Klasse. In diesem Wagen war besonders helles Licht. Auf den Samtsesseln saßen einander gegenüber zwei Offiziere und spielten Karten. Auf dem Tischchen am Fenster brannten überfließende dicke Kerzen. Er saß in stramm anliegenden Hosen und weißem Hemd auf der Armlehne des Sessels, stützte sich auf die Rückenlehne und lachte über irgend etwas. Sobald sie ihn erkannte, klopfte sie mit der frierenden Hand an das Fenster. Aber in demselben Augenblick erscholl das dritte Läuten. Der Zug rührte sich langsam; erst zurück; dann schoben sich die Wagen, einer nach dem anderen, stoßweise vorwärts. Einer der Spielenden stand mit den Karten in der Hand auf und sah durchs Fenster. Sie klopfte noch einmal und drückte ihr Gesicht an die Scheibe. In dem Augenblick rückte auch der Wagen, bei welchem sie stand, an und ging vorwärts. Sie ging ihm nach und sah ins Fenster. Der Offizier wollte das Fenster herunterlassen, aber es gelang ihm nicht. Nechliudow stand auf, stieß den Offizier beiseite und drückte das Fenster hinab. Die Bewegung des Zuges wurde schneller, so daß Katjuscha mit raschen Schritten gehen mußte. Der Zug fuhr noch schneller, – das Fenster fiel herunter; gleichzeitig stieß sie der Schaffner fort und sprang in den Wagen. Sie lief immer auf den nassen Brettern der Plattform hin; dann, als die Plattform zu Ende war, wäre Katjuscha fast gefallen, als sie die Treppe hinunter und auf die Erde lief. Sie lief, aber der Wagen erster Klasse war schon längst vorbei. Neben ihr liefen schon die Wagen zweiter Klasse, dann kamen, noch schneller, die Wagen dritter Klasse vorüber, aber sie fuhr dennoch fort, zu laufen. Als der letzte Wagen mit den Laternen vorbeirollte, war sie schon hinter dem Pumpenhause, ohne Schutz, und der Wind stürzte auf sie los, das Tuch von ihrem Kopf herunterreißend und das Kleid von einer Seite um ihre laufenden Beine drückend. Der Wind entriß ihr das Tuch, aber sie lief immer noch. »Tante Michajlowna!« schrie das Mädchen, kaum mit ihr gleichen Schritt haltend. »Ihr Tuch haben Sie verloren!«

Katjuscha blieb stehen und, den Kopf zurückwerfend und mit den Händen an die Stirn fassend, brach sie in Weinen aus.

»Er ist weg«, schrie sie auf.

»Er sitzt in dem erleuchteten Wagen, auf dem Samtsessel, scherzt, trinkt, ich aber bin hier, im Kot, im Dunklen, unter Regen und Wind, stehe und weine«, dachte sie bei sich selbst, und sie setzte sich auf die Erde und fing so laut an zu weinen, daß das Mädchen erschrak und sie in dem nassen Kleid umarmte.

»Tante, wollen wir nicht nach Hause gehen!«

»Kommt der Zug vorbei – unter den Wagen und fertig«, dachte inzwischen Katjuscha, ohne dem Mädchen zu antworten.

Sie beschloß, so zu tun. Aber sogleich, wie es ja immer im ersten Augenblicke der Beruhigung nach einer Aufregung zu sein pflegt, fuhr das Kind, sein Kind, das in ihr war, plötzlich zusammen, es stieß sich, reckte sich leicht und fing an, wieder mit etwas Feinem, Zartem und Scharfem zu klopfen. Und plötzlich trat alles das zurück, was sie vor einer Minute so gequält, daß es ihr unmöglich schien, weiterzuleben; alle Bosheit gegen ihn und der Wunsch, sich an ihm, wenn auch durch ihren eigenen Tod, zu rächen, alles das trat plötzlich zurück. Sie beruhigte sich, machte sich zurecht, stand auf, zog das Tuch über den Kopf und ging nach Hause.

Abgeplagt, naß, schmutzig kehrte sie nach Hause zurück, und mit diesem Tage begann jene seelische Umwandlung, infolge welcher sie zu dem wurde, was sie jetzt war. Von dieser schrecklichen Nacht an hörte sie auf an Gott und an das Gute zu glauben. Früher glaubte sie selber an Gott und daran, daß auch andere Menschen an ihn glauben, aber seit dieser Nacht war sie der Überzeugung, daß niemand an ihn glaube, und daß alles, was man von Gott und von seinem Gesetz spreche, Betrug und Ungerechtigkeit sei. Er, den sie liebte und der sie liebte – das wußte sie –, hatte sie verlassen, nachdem er seinen Spott mit ihren Gefühlen getrieben. Er aber war der beste aller Menschen, die sie kannte. Und alle übrigen waren schlechter als er. Und alles, was weiter mit ihr geschah, bestätigte das bei jedem Schritt. Seine Tanten, die frommen Alten, jagten sie fort, als sie ihnen nicht mehr so dienen konnte wie früher. Alle Menschen, mit welchen sie zusammentraf – die Frauen suchten durch sie Geld zu bekommen, die Männer, von dem alten Stanowoj angefangen bis zu den Gefängnisaufsehern – betrachteten sie als einen Gegenstand der Lust. Und für niemand war etwas anderes in der Welt als die Lust, und namentlich diese Lust. Darin bestärkte sie noch mehr der alte Schriftsteller, mit dem sie im zweiten Jahre ihres unabhängigen Lebens ein Verhältnis angefangen hatte. Er sagte ihr geradezu, daß darin – er nannte es Poesie und Ästhetik – das ganze Lebensglück bestehe.

Alle lebten nur für sich, für ihre Lust, und alle Worte von Gott, vom Guten, waren Betrug. Wenn hie und da sich Fragen erhoben darüber, warum alles in der Welt so schlecht eingerichtet sei, daß alle einander nur Böses tun, und daß alle leiden, so durfte man nicht weiter darüber nachdenken. Wird es einem ungemütlich, so raucht man, man trinkt, oder – am besten – man liebelt mit einem Manne – und es geht vorüber.

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Nechliudow hatte erwartet, daß Katjuscha bei der ersten Zusammenkunft, nachdem sie ihn gesehen und seine Absicht, ihr zu dienen und seine Reue erkannt, sich freuen und gerührt sein und wieder die alte Katjuscha werden würde. Aber zu seinem Entsetzen sah er, daß es keine Katjuscha, sondern nur eine Maslowa gab. Das wunderte und entsetzte ihn.

Hauptsächlich wunderte es ihn, daß die Maslowa sich nicht nur ihrer Lage nicht schämte – nicht der Lage als einer Strafgefangenen – deren schämte sie sich – aber ihrer Lage als Prostituierte – es schien vielmehr, als ob sie damit zufrieden, ja fast stolz darauf wäre. Übrigens konnte es auch gar nicht anders sein. Jeder Mensch muß, um handeln zu können, seine Tätigkeit für wichtig und gut halten. Sei daher die Lage des Menschen, wie immer sie wolle – stets wird er sich eine Ansicht über das menschliche Leben überhaupt bilden, die ihm seine Tätigkeit als wichtig und gut erscheinen läßt.

Man glaubt gewöhnlich, daß der Dieb, der Mörder, der Spion, die Prostituierte, indem sie ihren Beruf als schlecht erkennen, sich seiner schämen müssen. Aber gerade das Gegenteil davon trifft zu. Menschen, welche durch das Schicksal und durch ihre Sünden und Fehler in eine gewisse Lage geraten sind, sei sie auch noch so schief, bilden sich auch in dieser Lage eine allgemeine Ansicht vom Leben, die ihnen ihre Lage als gut und ehrbar erscheinen läßt. Um aber solche Ansicht aufrechtzuerhalten, halten sich die Leute instinktiv an jenen menschlichen Kreis, wo der von ihnen gebildete Begriff vom Leben und von ihrem Platz darin anerkannt wird. Wir verwundern uns, wenn es sich um Diebe handelt, die mit ihrer Gewandtheit, um Prostituierte, die mit ihrer Liederlichkeit, um Mörder, die mit ihrer Grausamkeit prahlen. Aber es verwundert uns nur deshalb, weil der Kreis, die Atmosphäre dieser Leute beschränkt ist, und hauptsächlich, weil wir uns außerhalb desselben befinden. Aber haben wir nicht dieselbe Erscheinung bei den Reichen, die mit ihrem Reichtum, das heißt mit ihrem Raube, prahlen? Bei Feldherren, die mit ihren Siegen, das heißt mit ihren Mordtaten, prahlen? Bei Herrschern, die mit ihrer Macht, das heißt mit ihrer Gewalttätigkeit, prahlen? Nur deshalb sehen wir bei diesen Menschen über die Verdrehung ihrer Begriffe vom Leben, vom Guten und Bösen nicht klar, weil der Kreis der Leute mit solchen verkehrten Begriffen größer ist, und weil wir selbst zu ihm gehören.

Und eine gleiche Ansicht über ihr Leben und ihren Platz in der Welt hatte sich die Maslowa gebildet. Sie war eine zu Zwangsarbeit verurteilte Prostituierte, und dessenungeachtet hatte sie sich eine Weltanschauung zurechtgelegt, die ihr erlaubte, sich für gut zu halten und sogar auf ihre Stellung unter den Leuten stolz zu sein.

Diese Weltanschauung bestand darin, daß das Hauptglück aller Männer, aller ohne Ausnahme, der alten und jungen, der Gymnasiasten und Generale, der Gebildeten und der Ungebildeten im Geschlechtsverkehr mit anziehenden Frauen bestehe, und daß daher alle Männer, obgleich sie sich anstellen, als wären sie mit anderen Dingen beschäftigt, im Grunde nur dies allein begehren. Sie aber – eine anziehende Frau – kann dies Begehren befriedigen oder nicht befriedigen, und daher ist sie eine wichtige und notwendige Person. Ihr ganzes früheres und jetziges Leben war eine Bestätigung der Richtigkeit dieser Ansicht.

Im Verlauf von zehn Jahren hatte sie überall, wo sie gewesen war, gesehen, daß alle Männer, mit Nechliudow und dem alten Stanowoj angefangen, bis zu den Gefängnisaufsehern, ihrer bedurften; jene Männer, die ihrer nicht bedurften, sah und bemerkte sie nicht. Und darum erschien ihr die ganze Welt wie eine Versammlung von Begierden beherrschter Menschen, die von allen Seiten auf sie lauerten und sich mit allen möglichen Mitteln – durch Betrug, Gewalt, Kauf und List – ihrer zu bemächtigen suchten.

So verstand die Maslowa das Leben, und bei dieser Lebensanschauung war sie nicht nur nicht die letzte, sondern eine sehr wichtige Person. Und die Maslowa hielt diese Lebensanschauung mehr als alles in der Welt wert; sie konnte nicht umhin, sie wertzuhalten, denn wenn sie diese Lebensauffassung änderte, so verlor sie jene Bedeutung, welche ihr diese Ansicht unter den Menschen verlieh. Und um ihre Bedeutung im Leben nicht zu verlieren, hängte sie sich instinktiv an jenen Menschenkreis, der das Leben so wie sie betrachtete. Da sie aber witterte, daß Nechliudow sie in eine andere Welt hinausführen wollte, widerstrebte sie ihm, weil sie voraussah, daß sie in jener Welt, in die er sie hinauszog, diese ihre Stellung im Leben verlieren müsse, die ihr Sicherheit und Selbstachtung verlieh. Aus demselben Grunde scheuchte sie auch die Erinnerungen an die erste Jugend und die ersten Beziehungen zu Nechliudow von sich. Diese Erinnerungen stimmten mit ihrer jetzigen Weltanschauung nicht überein und waren daher aus ihrem Gedächtnis vollständig weggestrichen, oder lagen vielmehr in ihrem Gedächtnis unangetastet aufbewahrt, aber sie waren so verschlossen, eingekittet, wie die Bienen die Nester schädlicher Larven, welche die ganze Bienenarbeit zugrunde richten können, verkitten, damit kein Zugang zu ihnen bleibt. Und so war der jetzige Nechliudow für sie nicht jener Mann, welchen sie einst mit reiner Liebe geliebt hatte, sondern nur ein reicher Herr, von dem man Nutzen ziehen konnte und mußte, und zu welchem nur ebensolche Beziehungen wie zu allen anderen Männern möglich sein konnten.

»Nein, die Hauptsache konnte ich ihr nicht sagen«, dachte Nechliudow, indem er mit den übrigen sich zum Ausgang begab. »Ich habe ihr nicht gesagt, daß ich sie heiraten will. Ich hab’ es nicht gesagt, aber ich tu’ es«, dachte er.

Die an den Türen stehenden Aufseher zählten beim Hinauslassen abermals zweihändig die Besucher, damit kein Überzähliger weggehe und keiner im Gefängnis bleibe. Daß man Nechliudow jetzt auf den Rücken schlug, beleidigte ihn nicht nur nicht, sondern er merkte dies nicht einmal.

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»Kann man da hineinsehen?« fragte Nechliudow.

»Bitte sehr«, sagte mit liebeswürdigem Lächeln der Unterinspektor und fragte den Aufseher nach etwas.

Nechliudow blickte durch eine Öffnung hinein. Drin ging ein hochgewachsener, junger Mann, nur in Unterkleidern, rasch hin und her. Als er das Geräusch an der Tür hörte, blickte er hin, zog die Augenbrauen zusammen und fuhr fort, auf und ab zu gehen.

Nechliudow blickte in eine andere Öffnung hinein. Sein Auge traf ein anderes, sonderbares, großes Auge, das durch das kleine Loch sah; er zog sich eilig zurück. Durch die dritte Öffnung hineinblickend, sah er ein auf dem Bette schlafendes, mit dem Kopfe in den Kaftan gehülltes, zusammengekauertes Männchen von sehr kleinem Wuchs.

In der vierten Zelle saß ein bleicher Mann mit breitem Gesicht, den Kopf tief gesenkt, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Als er die Schritte hörte, erhob der Mann den Kopf und blickte auf. In dem ganzen Gesichte, besonders in den großen Augen, lag ein Ausdruck hoffnungsloser Sehnsucht. Ihn interessierte augenscheinlich nicht, zu erfahren, wer zu ihm in die Zelle hereinblickte. Es mochte hereinsehen, wer wollte, – augenscheinlich erwartete er von niemand etwas Gutes.

Nechliudow ward ängstlich zumute. Er blickte nicht weiter hinein und näherte sich Menschows Zelle. Nummer einundzwanzig.

Der Aufseher sperrte das Schloß auf und öffnete die Tür.

Ein junger, muskulöser Mann mit langem Hals und guten, runden Augen, mit kleinem Bart, stand neben der Schlafbank, und mit erschrockenem Gesicht, eilig den langen Rock anziehend, sah er die Eintretenden an.

Besonders fielen Nechliudow die großen, runden Augen auf, die fragend und erschrocken von ihm auf den Aufseher, auf den Unterinspektor und zurück liefen.

»Hier, der Herr will dich über deine Sache befragen.«

»Wir danken Ihnen bestens.«

»Ja, man hat mir von Ihrer Sache erzählt,« sagte Nechliudow, trat in die Tiefe der Zelle und blieb bei dem schmutzigen Gitterfenster stehen; »und ich möchte von Ihnen selbst darüber hören.«