Mein hohes Alter läßt es nicht mehr zu, so wie ich es früher oft und gern getan habe, zu meinen Genossinnen zu sprechen.
Die fortschreitende Entwicklung hat den Frauen neue Aufgaben zugewiesen, an deren Erfüllung ich mich nicht mehr beteiligen kann, obwohl mein Sehnen und Wünschen mich noch immer dazu drängt. So will ich durch dieses Buch noch einmal zu den älteren und jungen Genossinnen sprechen. Ich will denen, die in jenen Zeiten mit mir für unser großes, heiliges Ziel gekämpft, die in zähem, gemeinsamem Ringen manches Stück Freiheit erobert haben, aus vollem Herzen danken, den jüngeren aber zurufen: »Haltet die Rechte, die euch die neue Zeit gebracht hat, fest und gebraucht sie wie eine heilige Pflicht für die Zukunft, für den Sozialismus!«
Es ist mir aber auch ein Herzensbedürfnis, an dieser Stelle der Genossin Johanna Heymann, die mir bei der Bearbeitung des Materials so hilfreich zur Hand gegangen ist und mir so viele Stunden geopfert hat, laut und herzlich meinen Dank zu sagen.
Ottilie Baader
Es war nicht meine Absicht, in diesen Erinnerungen auch von mir selbst, von meinem eigenen Leben zu sprechen. Aber mein Leben ist von kleinauf Arbeit gewesen, und all das, wovon ich hier erzählen will, baut sich auf diesem Arbeitsleben auf und ist von dieser Grundlage aus erst recht zu verstehen. Es ist auch kein besonderes Leben; so wie ich lebte und schaffte, haben Tausende von Arbeitermädchen meiner Zeit gelebt und geschafft.
Meine Eltern lebten in Frankfurt an der Oder, wo der Vater in einer Zuckerfabrik als Zuckerscheider arbeitete. Zu dieser Arbeit waren chemische Kenntnisse nötig, die der Vater, der eine bessere Schule hatte besuchen können, sich angeeignet hatte. Seine bessere Schulbildung ist mir schon in den Kinderjahren und dann noch mehr in sehr viel späteren Jahren gut zustatten gekommen. Er hat für sich selbst nie großen Nutzen daraus gezogen und sich auch nie recht zur Geltung bringen können. Ich bin als zweites Kind meiner Eltern 1847 geboren. Nach mir kamen noch zwei Geschwister. Mir waren nur wenige sorglose Kinderjahre beschieden, und es sind liebe und freundliche Bilder, die aus jenen ersten sieben Jahren meines Lebens aufleuchten. Die Mutter war eine fleißige Frau mit einem sanften Gesicht, und wir Kinder haben kein scharfes Wort von ihr gehört. Aber sie hat manches Wort gesagt, das die vielen Jahre meines Lebens nicht aus der Erinnerung haben wegwischen können, und ich habe oft gedacht, daß ich das Beste doch von ihr gelernt habe. Mir ist, als sähe ich sie noch am Fenster unserer Stube sitzen und nähen. Sie arbeitete auch mit, soweit es irgend ging, und nähte dann für die Zuckerfabrik Preßtücher. Manchmal kamen wir zu ihr gesprungen, hatten uns kleine, purpurrote Spinnen, die wir »Liebgotteskühe« nannten, auf die Hand gesetzt und zeigten sie ihr. Sie freute sich darüber, sagte aber dann: »Nun trag schnell das Tierchen wieder dahin, wo du es gefunden hast, sonst stirbt es.« Wir haben nie Maikäfer gefangen und in Schachteln gesperrt, und auch mein älterer Bruder hat nie ein Tier gequält. Ich weiß, daß ich einmal einen Schmetterling, einen ganz einfachen Kohlweißling, gefangen hatte, und es gefiel mir so, die Flügelchen zwischen den Fingern zu reiben. Auf einmal merkte ich, daß der zarte Schimmer von den Flügeln fort war, und ich ging ganz erstaunt zur Mutter und zeigte es ihr. »Ja«, sagte sie, »weißt du auch, was du gemacht hast? Du hast ihm weh getan, und er muß wahrscheinlich früher sterben. Das ist so, als wenn man dir die Kleider aus ziehen würde und du müßtest nackt herumlaufen. Du könntest dir dann schon noch wieder andere Kleider anziehen, aber solchem armen Schmetterling wächst kein neues Kleid mehr.« Ich habe sicher keinem Schmetterling wieder den Staub von den Flügeln gestreift.
Als ich dann schon etwas älter war, hat sie und auch der Vater mir und meinem Bruder die ersten Schulkenntnisse beigebracht. Wir wohnten etwa eine Meile außerhalb der Stadt und gingen nicht regelmäßig in die Schule. Aber wir durften, wenn wir wollten, mit den anderen Kindern in die Dorfschule gehen und dort zuhören.
Großen Wert legte die Mutter auf die Gewöhnung ihrer Kinder an Ordnung. So mußten wir jeden Abend, wenn wir uns auszogen, unsere Sachen nachsehen, und wenn irgendein Schaden an Strümpfen oder Kleidern war, mußten wir es ihr bringen, damit sie es, wenn wir im Bett waren, wieder heilmachen konnte. Eines Abends hatte ich meinen Strumpf, an dem, wie ich ganz genau wußte, ein Loch war, aus Müdigkeit oder Nachlässigkeit nicht gebracht. Vielleicht hat sie dann, als ich schlief, selber nachgesehen. Ich zog am andern Morgen den Strumpf mit dem Loch wieder an und sprang vergnügt mit den andern Kindern in die Schule. Als ich aber dann nach Hause kam, sagte die Mutter: »Du hast ja ein Loch im Strumpf!« Sprachlos schaute ich sie einen Augenblick an und sagte dann rasch: »Aber das sieht man doch nicht!« – »Doch«, sagte sie, »das sieht man ganz genau, wenn jemand ein Loch im Strumpf hat!« Sie meinte, man sähe es dem Menschen an, wenn er an sich selbst und seiner Kleidung nachlässig wird.
Der Vater hatte seine Arbeit in der Zuckerfabrik aufgegeben und war nach Berlin gegangen. Hier arbeitete er bei Borsig. Er hatte die Absicht, uns nachkommen zu lassen, wenn er erst eingerichtet und eine Wohnung gefunden hatte. Drei Taler verdiente er in der Woche, davon schickte er regelmäßig zwei Taler an die Mutter, und für uns Kinder wurde immer ein Groschen mit eingesiegelt. Heute fahren die Familienväter, die auswärts arbeiten, jeden Sonnabend nach Hause. Das ging damals nicht. Mit der Post war es teuer oder es mußte eine Gelegenheit abgewartet werden. So kam es, daß der Vater eine ganze Zeitlang nicht zu Hause war. Als er dann wiederkam, erschrak er über das Aussehen unserer Mutter und ließ den Arzt kommen. Dieser ging nach der Untersuchung mit ihm heraus und sagte, er wollte etwas verschreiben und nach zwei Tagen wiederkommen und sehen, ob noch zu helfen wäre. Aber es war zu spät, und sie starb dann sehr bald an der galoppierenden Schwindsucht. Von uns Kindern war das älteste acht und das jüngste drei Jahre alt. Aber selbst solch ein Unglück muß noch einen Gefährten haben! Es waren schlimme Wintertage und draußen war Glatteis. Mein Vater fiel und verstauchte sich die rechte Hand. So fiel mir siebenjährigem Ding gleich die ganze Arbeit zu. Das erste aber war, daß ich die tote Mutter waschen und ihr die Haube aufsetzen mußte. Die Leute kamen und lobten mich und nannten mich ein »gutes Kind«, und niemand wußte, welches Grauen in mir war vor der Unbegreiflichkeit des Todes. Der Verdienst des Vaters reichte kaum zum dürftigsten Leben. Wir wußten deshalb nicht, woher das Geld nehmen für die Beerdigung der Mutter. Da kamen als Retter in der Not die Borsigschen Arbeiter und brachten uns eine Summe Geldes, die sie unter sich gesammelt hatten.
Der Vater hat sich nicht wieder verheiratet. Während der Kinderzeit und bis in meine späteren Jahre hinein wurde bei vielen Gelegenheiten immer wieder gefragt: Was würde die Mutter dazu sagen, und was würde sie tun? Das wuchs sich fast zu einem Kultus aus, der für die freie Entwicklung sicher hemmend war.
Durch die Verhältnisse gezwungen, mußte mein Vater nun wieder in Frankfurt arbeiten.
Aber sein Verdienst reichte nie so weit, daß er hätte für den Haushalt eine ordentliche Wirtschafterin nehmen können. So waren wir Kinder uns meist selbst überlassen und wuchsen ohne mütterliche, ja ohne weibliche Fürsorge auf. Arbeiten und Sorgen haben wir aber von früh- auf kennengelernt.
Ich kam erst etwa im zehnten Jahre in die Schule. Lesen, Schreiben und Rechnen hatte ich von meinem Vater gelernt. Bei der Prüfung wurde ich für die dritte Klasse reif befunden. Es war eine Mittelschule, in einem alten Kloster untergebracht, und sie galt für die damalige Zeit als eine gute Schule. Es hieß, daß die Mädchen dort vor allem zu »guten Sitten« erzogen wurden. Leise, zart und sanft sein war das Frauenideal dieser Zeit, und der Vater hatte gerade an der Mutter ihre Sanftheit geliebt und wollte, daß auch seine Töchter so wurden.
Lange bin ich nicht in die Schule gegangen. Als ich dreizehn Jahre alt wurde, zog der Vater mit uns nach Berlin, und hier war es mit meinem Schulbesuch vorbei. Ich mußte arbeiten und mußte mitverdienen. Es brauchte kein großer Familienrat abgehalten zu werden, um den richtigen Beruf zu wählen, denn groß war die Auswahl für Mädchen damals nicht. In der Schule war ich immer gelobt worden, weil ich gut nähen und vor allem gute Knopflöcher machen konnte. Ich sollte also Wäsche nähen. Die Frau eines Sattlergesellen hatte in der Neanderstraße eine Nähstube für Oberhemden. Es wurde noch alles mit der Hand genäht. Nähmaschinen waren noch recht wenig im Gebrauch. Einen Monat lernte ich unentgeltlich, dann gab es monatlich drei Taler. Zwei Jahre später verdiente ich schon fünf Taler jeden Monat. Dabei aber blieb es dann auch einige Jahre. Um noch etwas nebenbei zu verdienen, nahm ich abends Manschetten zum Durchsteppen mit nach Hause. Durchsteppen – das hieß: mit der Hand immer über zwei Fäden. Einen Groschen gab es für das Paar. Wie oft mögen mir jungem Ding da wohl die Augen zugefallen sein, wie mag mir der Rücken geschmerzt haben! Zwölf Stunden Arbeitszeit hatte man immer schon hinter sich, von morgens acht bis abends acht, mit kurzer Mittagspause.
Freundlich ist die Erinnerung an meine erste Meisterin nicht. Ich habe nie wieder in so schamloser Weise von den intimsten Vorgängen reden hören wie von dieser Frau. Es war noch eine andere Näherin da, ein Mädchen, die in der Art zu der Frau paßte, und die beiden legten sich denn auch vor mir keinen Zwang auf. Ich habe wohl manchmal große Augen gemacht, wenn mir das alles böhmische Dörfer waren, und dann hieß es: »Na, Kleine, du brauchst ja deine Ohren nicht überall dabei zu haben!« Diese Gemeinheiten blieben aber an mir nicht haften. Nur einzelnes Unverständliches blieb mir im Gedächtnis, und nachdem ich durch das Leben schon so manches erfahren hatte, kam hier und da ganz plötzlich das Verständnis für so ein unbewußt im Gedächtnis gebliebenes Wort. So habe ich mir nicht denken können, was das hieß: Die Näherinnen gehen ja doch alle auf den Strich! Da ich selbst Näherin war, ging es mich doch wohl auch an. Zum Fragen aber war ich zu schüchtern, und so haben mir erst viel spätere Jahre auch hierfür ein grelles Licht des Verstehens angesteckt. Und auch darüber habe ich oft nachdenken müssen, wie so ein junges Ding, wenn es empfänglich dafür ist, durch die Leichtfertigkeit solcher Frau schon frühzeitig in Grund und Boden verdorben werden kann.
Ich blieb einige Jahre beim Wäschenähen und arbeitete dann auch mit meiner Schwester, die nun herangewachsen war, zusammen. Sie war dreister als ich, und sie hat dann auch dafür gesorgt, daß wir uns andere Arbeit suchten. Wir fanden sie in der Wollfabrik von Schwendy in der Gitschiner Straße, aber wir kamen in verschiedene Arbeitssäle.
Etwas mehr verdienten wir wohl hier, zwei Taler in der Woche, dafür aber waren die Zustände in dieser Fabrik ganz furchtbar, und es hieß, wer ein paar Jahre dort arbeitet, hat die Schwindsucht. Unser Meister war gut, aber Macht hatte auch er nicht. Organisationen, die unser Interesse wahrnahmen, gab es nicht, ebensowenig gab es eine Gewerbeaufsicht. So mußten wir diese Zustände eben hinnehmen.
Wir hatten von dicken Wolltupfen dünnere Stränge zu spinnen. Wenn nun die Wolle schleuderte und Schlingen warf, die wieder in Ordnung gebracht werden mußten, durfte nicht etwa die Maschine angehalten werden, sondern wir mußten in das laufende Getriebe hineinfassen, in aller Geschwindigkeit die dicken Stellen herausnehmen, die Fäden wieder zusammenwirbeln und -knoten, damit sie durch die Öse gingen. Das gab zerschundene Hände und Knie. Schlimm war hier so manches. Die Aborte lagen neben dem Arbeitssaal. Da noch alle Kanalisation fehlte, kam es nicht eben selten vor, daß sie überliefen und im Arbeitssaal eine kaum zu ertragende Luft verbreiteten. In dieser Luft mußten junge Menschen Tag für Tag arbeiten. Dann mußte sehr oft nachts gearbeitet werden. Das geschah in der Weise, daß gewöhnlich die Nacht vom Freitag auf den Sonnabend eingelegt wurde. Der Sonnabend war dann aber nicht etwa frei, sondern mußte ebenso durchgearbeitet werden wie alle anderen Tage. Das heißt also, es waren drei Tagesschichten hintereinander, ohne nennenswerte Pausen dazwischen. In der Nacht gab es eine Tasse Kaffee, d.h. dicke Zichorienbrühe, die ich nicht herunterbringen konnte. Ich war damals so elend, daß ich wohl wie eine halbe Leiche an der Maschine stand. Das fiel sogar dem Chef auf. Ich höre noch, wie er zu dem Werkführer sagte: »Wie sieht denn die aus? Die ist wohl krank?« – »Ja«, sagte der Werkführer, »die kann das Nachtarbeiten eben nicht vertragen. Das ist auch zuviel für ein ordentliches Mädchen« Es ist später hier nicht mehr nachts gearbeitet worden.
Dieser Chef führte dann auch eine neue Lohnmethode ein, wie es hieß, zu unserm Vorteil. Wir sollten die vollgesponnenen Rollen abwiegen, und was wir mehr als ein bestimmtes Quantum hatten, sollte uns extra bezahlt werden.
Wir waren natürlich, verlockt durch die Aussicht, mehr zu verdienen, dazu bereit und arbeiteten nun um die Wette. Da hatte eine der Arbeiterinnen ein für die damalige Zeit merkwürdig richtiges Einsehen. Ich sehe sie noch, wie sie eines Tages mitten unter uns stand, ein hübsches, rotblondes Mädchen aus Rixdorf, und uns sagte: »Kinder, seid doch nicht dumm! Der will doch bloß sehen, wieviel wir arbeiten können. Wenn wir wirklich ein paar Wochen lang ein paar Groschen mehr dabei haben, das ziehen sie uns doch nachher wieder ab.«
Ich bin zwei Jahre in dieser Fabrik gewesen. Dann habe ich verschiedenes gearbeitet, auch Mäntel genäht. Man mußte eben allerlei versuchen, wenn man keine regelrechte Lehre durchgemacht hatte.
Eine eigentliche Lehrzeit, wenn auch nur eine sehr kurze, habe ich erst später gehabt.
Die Nähmaschinenindustrie hat sich in Deutschland erst in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts so entwickelt, daß die Nähmaschine auch hier zu allgemeinerer Verwendung kam. Das rief vor allem in der Frauenerwerbsarbeit, und namentlich in der Wäscheherstellung, eine große Umwälzung hervor. Als besondere Branche entstand die Herstellung von Kragen und Manschetten, die vorher feste Bestandteile des Herrenoberhemdes gewesen waren. In Berlin waren es damals vier oder fünf Firmen, die ihre Herstellung im großen betrieben.
Ich hatte inzwischen, wie schon gesagt, allerlei versucht. Jetzt aber lernte ich auf der Maschine nähen und kam in eine dieser Fabriken in der Spandauer Straße. Dort wurden etwa fünfzig Maschinennäherinnen und ebensoviele Vorrichterinnen beschäftigt. Je eine Arbeiterin dieser beiden Gruppen mußten sich immer zusammentun und gemeinsam arbeiten, und auch der Lohn wurde gemeinsam berechnet. Von morgens acht bis abends sieben Uhr dauerte die Arbeitszeit, ohne namhafte Pause. Mittags verzehrte man das mitgebrachte Brot oder lief zum »Budiker« nebenan, um für einige Groschen etwas Warmes zu sich zu nehmen. Sieben, höchstens zehn Taler die Woche war der von Vorrichterin und Maschinennäherin gemeinsam verdiente Lohn. Da das Maschinennähen körperlich anstrengender als das Vorrichten war, so bestand die Gepflogenheit, daß die Maschinennäherin vom Taler 171/2 und die Vorrichterin 121/2 Groschen erhielt. Vor der Teilung wurden aber von dem gemeinsam verdienten Lohn die Kosten für das vernähte Garn und etwa zerbrochene Maschinennadeln abgezogen, was durchschnittlich auf den Taler 21/2 Groschen betrug.
Den ersten Anstoß, eine Änderung dieser ganzen Verhältnisse selbst in die Hand zu nehmen, brachte uns erst der Deutsch-Französische Krieg. Unmittelbar nach seinem Ausbruch gab es auch in der Wäscheindustrie einen Stillstand des Absatzes. Arbeiterinnen wurden entlassen und standen mittellos da, denn von dem Verdienst konnte niemand etwas erübrigen. Unsere Firma wollte das »Risiko« auf sich nehmen, uns auch bei dem eingeschränkten Absatz voll zu beschäftigen, wenn wir für den »halben« Lohn arbeiten wollten. Von Organisation hatten wir keine Ahnung – und wir waren in einer Notlage, denn die meisten Arbeiterinnen waren auf sich selbst angewiesen; sie lebten, wie man sagt, von der Hand in den Mund. So sagten wir zu, es einmal eine Woche zu versuchen.
Nun wurde drauflosgeschuftet. Das Resultat aber war kläglich; von dem um die Hälfte gekürzten Lohn wurden uns die vollen Kosten für Garn und Nadeln in Abzug gebracht. Das brutale Vorgehen des Unternehmers brachte uns zur Besinnung. Wir beschlossen einmütig, lieber zu feiern, als für einen solchen Schundlohn zu arbeiten, von dem zu existieren nicht möglich war. Drei Arbeiterinnen, zu denen auch ich gehörte, wurden bestimmt, dies dem Chef mitzuteilen. Als die Deputation ihm nun den Gesamtbeschluß vortrug, wollte er uns damit beschwichtigen, daß er erzählte, sobald Siegesnachrichten eingingen, würde das Geschäft sich sofort wieder heben und die Löhne steigen. Er hatte wohlweislich vermieden zu sagen, »die alte Höhe erreichen«. Wir waren glücklicherweise in dem Moment schlagfertig genug zu antworten, der Lohn steige nie so schnell, wie er herabgesetzt würde und zudem habe dann das Geschäft ein volles, zu den niedrigen Löhnen hergestelltes Lager. Als der Chef merkte, daß wir uns nicht so leicht unterkriegen ließen, wurde er so wütend, daß er uns rot vor Ärger anschrie: »Na, dann werde ich euch den vollen Preis wieder zahlen! Wollt ihr nun wieder arbeiten?« Da antworteten wir ihm kurz: »Jawohl, nun werden wir wieder arbeiten.«
Wir waren durch unsern Erfolg selbst überrascht. Dem Unternehmer aber war es ebenso neu, daß Arbeiterinnen sich zusammenfanden und geschlossen ihre Forderungen stellten. Er war überrumpelt worden, zudem waren die Kragennäherinnen damals auch sehr gesucht. Mich ließ der Chef dann bald nachdem einmal in sein Kontor rufen und sagte mir, ich brauchte nicht zu befürchten, daß mir mein Eintreten in dieser Sache bei meiner Arbeit etwa schaden würde. Solange er Arbeit hätte, würde ich auch bei ihm zu tun finden. Das hörte sich zwar ganz gut an, stimmte aber nicht. Es wurde hier und da an meiner Arbeit herumgetadelt, und es dauerte nicht lange, da gefiel mir diese Art nicht mehr, und ich ging von selbst fort. Die Einmütigkeit der Arbeiterinnen, die uns diesen Erfolg gebracht hatte, war nicht von Dauer. Es stellte sich auch nach den Siegesnachrichten der geschäftliche Aufschwung nicht so schnell wieder ein. Die Unternehmer hatten aber gelernt. Sie griffen eben nicht wieder so brutal ein, sondern gingen behutsamer vor. Es wurden mit einzelnen Arbeiterinnen, die in besonderer Notlage waren, Lohnabzüge vereinbart. Statt des Zusammenhalts entstand dadurch natürlich Mißtrauen unter den Arbeiterinnen, und es dauerte noch manches Jahr, bis die Arbeiterinnen die Absicht erkannt, und dem Unternehmertum in geschlossener Organisation entgegentraten. Das war für viele ein langer Leidensweg.
Ich kaufte mir dann eine eigene Maschine und arbeitete zu Hause. Dabei habe ich das Los der Heimarbeiterin zur Genüge kennengelernt. Von morgens um sechs bis nachts um zwölf, mit einer Stunde Mittagspause, wurde in einer Tour »getrampelt«. Um vier Uhr aber wurde aufgestanden, die Wohnung in Ordnung gebracht und das Essen vorbereitet. Beim Arbeiten stand dann eine kleine Uhr vor mir und es wurde sorgfältig aufgepaßt, daß ein Dutzend Kragen nicht länger dauerte wie das andere, und nichts konnte einem mehr Freude machen, als wenn man ein paar Minuten sparen konnte.
So ging das zunächst fünf Jahre lang. Und die Jahre vergingen, ohne daß man merkte, daß man jung war und ohne daß das Leben einem etwas gegeben hätte. Um mich herum hatte sich auch so manches geändert. Meine Schwester und dann auch mein Bruder hatten geheiratet, meine jüngste Schwester war bei einer Kahnpartie ertrunken. Der Vater konnte schon lange nicht mehr arbeiten, und so war es mir gegangen, wie es sooft alleingebliebenen Töchtern in einer Familie geht, die nicht rechtzeitig ein eigenes Lebensglück fanden: sie müssen das Ganze zusammenhalten und schließlich nicht nur Mutter, sondern auch noch Vater sein, das heißt Ernährer der Familienmitglieder, die sich nicht selbst erhalten können. So habe ich meinen Vater über zwanzig Jahre erhalten, und ich habe immer so viel arbeiten können, daß es mir gelang, eine Wohnung von Stube und Küche zu halten.
Meinem Bruder starb die Frau, als das erste Kind, ein Mädchen, noch ganz klein war. Ich habe dieses Kind zu mir genommen, und es hat mir in dem Jahr viel Freude gemacht. Es hat dann bei mir laufen gelernt. Aber als mein Bruder sich wieder verheiratete, mußte ich es zurückgeben. Mein Bruder starb selber nach einigen Jahren, und ich habe dann häufig auch noch die beiden Jungens aus der zweiten Ehe bei mir gehabt, weil die Mutter verdienen mußte.
Ich kann nicht sagen, daß ich immer sehr froh war. Schließlich hatte auch ich etwas anderes vom Leben erhofft. Ich habe manchmal das Leben so satt gehabt, so Jahr um Jahr immer an der Nähmaschine, immer nur Kragen und Manschetten vor sich, ein Dutzend nach dem anderen, das Leben hatte gar keinen Wert, man war nur eine Arbeitsmaschine und hatte keine Zukunftsaussichten. Und von dem Schönen in der Welt sah und hörte man nichts, davon war man einfach ausgeschlossen.
Es ging mir dann eine Zeitlang wenig gut. Ich war bei meiner anhaltenden Arbeit krank geworden, und der Arzt sagte, ich müßte dieses dauernde Maschinennähen aufgeben. Da fing ich an, Schürzen zu nähen, bei denen doch etwas Handarbeit zwischendurch zu machen war. Ich bekam dann auch einen Halbtagsposten zum Abnehmen fertiger Ware. Das war wohl etwas Abwechslung, aber im ganzen ging die Arbeit weiter wie bisher.
Als junges Mädchen gehörte ich auch eine Zeitlang dem Arbeiterinnenverein an, den Lina Morgenstern gegründet hatte. Es wurde Unterricht im Rechnen, Schreiben und Deutsch gegeben, und zwar vollständig unentgeltlich. Aber nicht alle Lehrer waren pünktlich zur Stelle, und so haben wir die für uns so kostbaren Sonntagvormittagsstunden öfter unnütz warten müssen. Wir erklärten dann Frau Morgenstern, den Unterricht lieber bezahlen zu wollen, als unsere Zeit so nutzlos zu vergeuden.