Alex Lépic, geboren 1980 in Paris, ist in Deutschland aufgewachsen, setzt sich aber so oft wie nur möglich in den Zug, um in sein heiß geliebtes Paris zurückzukehren, wo er ein kleines Mansardenzimmer im feinen siebten Arrondissement bewohnt. Nach Lacroix und die Toten vom Pont Neuf und Lacroix und der Bäcker von Saint-Germain ist auch Lacroix und die stille Nacht von Montmartre vor allem auf den Terrassen der Pariser Bistros entstanden, wo Alex Lépic zur Zeit, je nach Wetter und Außentemperatur, an Commissaire Lacroix’ viertem Fall arbeitet.
Lacroix wollte es nicht glauben. Aber es war wie immer, wenn sich in dieser Stadt etwas Großes oder Absonderliches ankündigte: Die Welle der stillen Post wogte durch die Straßen, erfasste zuerst die Kioskverkäufer, die ihren Kunden die Neuigkeit zuraunten, dann schwappte die Information etwas abgewandelt und dramatisiert an die alten Zinktresen, wurde von dort aus weitergetragen und überschwemmte schließlich die ganze Stadt. So war es am Morgen Monsieur Hoche gewesen, der Verkäufer des Kiosks in der Rue de la Montagne Sainte-Geneviève vor dem Kommissariat des fünften Arrondissements, der ihm davon erzählt hatte. Ja, es stand in allen Zeitungen! Lacroix hatte wie üblich den Figaro gekauft und sich kopfschüttelnd die Landkarte auf der letzten Seite angesehen. Im Büro hatte er es dann im Radio gehört, das Capitaine Jade Rio neuerdings während der Arbeit leise laufen ließ. France Inter hatte davon gesprochen – und die Journalisten im Maison de la Radio im 16. Arrondissement waren in der Regel hervorragend informiert.
Letztlich war es Yvonne Abeille, Wirtin seines Stammbistros Chai de l’Abbaye, die ihn zu einem Nicken veranlasste, als sie am Mittag noch vor dem Zapfen des ersten Bieres fragte:
»Mon cher Commissaire, hast du es gehört? Es soll schneien! Am Abend schon. Hier. In Paris!«
Da Lacroix, der es sonst vermied, derlei äußere Umstände zu kommentieren, den Kopf hob und sie sogar freundlich ansah, fühlte sie sich bemüßigt, die Sache weiter auszuführen:
»Es ist eine unglaubliche meteorologische Sensation, haben sie im Radio gesagt. Drei Kaltfronten, die über dem Atlantik aufeinandergetroffen sind und in der Bretagne schon für hohe Schneeberge gesorgt haben. Nun zieht die Front gen Osten – und es ist so viel Schnee im Anflug, dass es tatsächlich weiße Weihnachten geben könnte. Das wäre das erste Mal, seit … Ach, was sag ich … Ich kann mich gar nicht an weiße Weihnachten erinnern.«
»2001 sind wir knapp daran vorbeigeschrammt«, murmelte Lacroix. »Aber 1962. 1962 gab es weiße Weihnachten.«
»Stimmt. 1962. Du hast recht. Da warst du wie alt? Drei?«
»Hmm …«
»Und ich war sechs. Herrje, ich habe es fast vergessen. Dabei bin ich mit maman draußen im Buttes-Chaumont Schlitten gefahren. Das war herrlich. Seit wann hast du so fundierte Kenntnisse über die Wetterverhältnisse in Paris?«
»Hmm …« Wieder grummelte er nur.
Yvonne sah ihn fragend an, ging um den Tresen herum und lehnte sich auf den Barhocker, der Lacroix am nächsten stand. Er bemerkte es: Sie war besorgt. Eigentlich hatte sie alle Hände voll zu tun, der Laden war brechend voll jetzt in der Mittagszeit.
»Was ist los, mon Commissaire?«
»Ach, es ist nichts«, sagte er und sah sie zum ersten Mal richtig an. »Mir ist nur furchtbar langweilig. Es ist seit Tagen so ruhig im Kommissariat, ich könnte den ganzen Tag hier an der Theke sitzen. Und nun reden auch noch alle nur über den Schnee, der heranzieht. Bis Weihnachten wird es kein anderes Thema mehr geben – und es wird nichts mehr passieren.«
Sie sah ihn nach seinem unwirsch vorgetragenen Monolog kurz an, erstaunt zwar, doch sie kannte ihn so gut wie kaum jemand und wusste: Lacroix konnte Langeweile einfach nicht ertragen.
»Mach es dir gemütlich. Plat du jour ist confit de canard aus der Gascogne, jetzt, wo es so schön kalt ist. Wein oder Bier?«
»Ein Roter wäre gut.«
»Besser als ein Toter«, sagte sie und musste über ihren eigenen Witz laut lachen. Nur Lacroix’ Laune war immer noch im Keller.
Sie stellte einige Augenblicke später ein Glas mit dem kalten Chinon von der Loire vor ihm ab, den Lacroix so mochte. Er nahm einen Schluck, während die Wirtin im Gastraum verschwand, um die Angestellten der umliegenden Büros zu bedienen. Ein angenehmer Klangteppich aus Stimmen und leisem Gelächter umgab den Commissaire. Doch er sah nur in fremde Gesichter, das Quartier war voller Touristen und Weihnachtsgeschenkekäufer, die hier kurz Rast machten. Stammgäste waren nicht zu sehen, auch nicht die beiden anderen Männer ihrer Theken-Troika, deren Gesellschaft Lacroix hätte aufmuntern können: Pierre-Richard hielt die Mittagsmesse und würde erst später kommen. Lacroix konnte sich kaum an die Zeit erinnern, als sein Bruder noch nicht Pfarrer der altehrwürdigen Basilique Sainte-Clotilde in der Rue las Cases im siebten Arrondissement gewesen war. Und auch bei Alain, dem Gemüsehändler gegenüber, standen die Hausfrauen Schlange, um fürs dîner einzukaufen. Lacroix würde also allein bleiben. So griff er nach dem Parisien, der verlassen auf der Theke lag, und blätterte missmutig darin herum.
In der Titelgeschichte ging es um die neuen Fahrradwege an den Quais, darunter stand eine Hommage an eine kürzlich verstorbene Filmschauspielerin. Im Innenteil gab es eine größere Geschichte über Korruptionsvorwürfe gegen einen Politiker aus den Yvelines und ein Porträt einer berühmten Nonne, die in Sacré-Cœur erwartet wurde. Die Schlagzeile lautete: Die Mutter Teresa der Moderne kommt nach Paris. Lacroix rümpfte die Nase. Dann las er aufmerksam die kurzen Berichte aus den einzelnen Quartieren. Ein Wohnungsbrand an der Place d’Italie. Eine Notiz über die gestiegenen Besucherzahlen auf dem Weihnachtsmarkt an den Champs-Élysées. Doch was war das? Er stutzte und las die kurze Meldung noch einmal.
Diebstahl der Weihnachtsbeleuchtung auf der Place du Tertre
Auf der beliebten Place du Tertre in Montmartre ist in der Nacht zu gestern die komplette weihnachtliche Beleuchtung entwendet worden. Erst vor einer Woche hatte Charles Dufour, Bürgermeister des 18. Arrondissements, die eintausend glänzenden Lichter eingeweiht, die rund um den Platz angebracht waren, gesponsert von Électricité de France, Frankreichs führendem Stromkonzern. Einem Straßenkehrer war der Diebstahl in den frühen Morgenstunden aufgefallen, von den Tätern fehlt jede Spur. Hinweise nimmt das Kommissariat des 18. entgegen, Commissaire Violet leitet die Ermittlungen.
»Deine Keule«, sagte Yvonne, und Lacroix erschrak kurz, weil er so in Gedanken versunken war, doch dann machte er Platz, und sie stellte den dampfenden Teller vor ihm auf den Tresen. Die Ente war kross und die Soße aus Rotwein und Zwiebeln dunkel und glänzend. So hatte er es am liebsten. Dazu servierte Yvonnes Gatte, der in der winzigen Küche des Bistros unentwegt werkelte, weiße Bohnen aus Tarbes, einer kleinen Stadt in den Pyrenäen. Die Sämigkeit der Bohnen passte wunderbar zu dem feinen Geschmack des tiefroten Entenfleischs.
Doch Lacroix konnte noch nicht essen. »Darf ich kurz telefonieren?«
»Nimm es dir bitte selbst«, antwortete Yvonne, »ich muss servieren. Aber lass dein Essen nicht kalt werden.«
Er ging um den Tresen herum, fiel fast über Yvonnes braunen Yorkshireterrier Idefix, der hinter der kleinen Klapptür lag und schlief, und griff sich den Hörer des alten Telefons. Er kramte in seinem Notizbuch und fand schnell die Nummer, die er suchte. Am anderen Ende wurde sogleich abgehoben.
»Commissariat du 18ème, Commissaire Violet?«
»Rose …«, Lacroix’ Stimme war so sanft geworden, dass Yvonne ihn misstrauisch von der Seite ansah, »hier ist …«
»Der berühmte Lacroix«, ergänzte die rauchige Stimme am anderen Ende mit einer Mischung aus Vertrautheit und kaum verborgener Ironie. »Der berühmte Lacroix, der sich hier seit Jahren nicht mehr hat blicken lassen. Herrgott, ich freue mich, deine Stimme zu hören!«
»Es ist so merkwürdig, Rose, wie weit der Weg auf deinen Berg von hier aus erscheint.«
»Ach, ihr Flachlandpariser. Dabei schlägt das Herz der Stadt doch genau hier oben.«
»Ich habe gerade überlegt, ob ich den Weg mal wieder auf mich nehmen sollte.«
»Wie komme ich zu der Ehre? Es ist doch gar kein Mord geschehen, den ich nicht allein aufklären kann und für den ich die Hilfe des berühmtesten aller Pariser Commissaires brauche. Hier herrscht absolut tote Hose, schon die ganze Adventszeit lang. Auch mal schön, kann ich dir sagen. Nur ein paar Taschendiebstähle und diese Lichterketten. Nichts, wofür ich vier Tage vor Weihnachten meinen Allerwertesten aus dem Sessel hebe.«
Er musste es klug anstellen, dachte Lacroix. Seine Eingebung war zu merkwürdig, er verstand sie ja selbst nicht. Und Rose Violet war zwar eine sehr gute Bekannte, nein, eine enge Freundin, aber sie bewachte ihre Bezirksgrenzen wie ein Schießhund und konnte es kilometerweit riechen, wenn andere Commissaires versuchten, sich in ihre Angelegenheiten einzu- mischen.
»Ich habe gerade den Parisien gelesen und bin über genau diese Lichterketten gestolpert«, sagte er beiläufig. »Und da ich hier unten auch nichts zu tun habe, dachte ich, ich komme mal hinauf und sehe mir das an. Es ist doch zu kurios …«
»Kurios, du sagst es. Mein Brigadier war draußen und hat die Sache aufgenommen, Castraux, ein neuer Mann, du kennst ihn noch nicht. Er sagte, die Maler seien außer sich, weil die Touristen wegblieben, wenn nicht alles glitzert und funkelt. Das Rathaus hat auch schon angerufen, ich muss mich da wohl mal blicken lassen. Und wenn ich dich mit einer so faden Geschichte auf den Berg locken kann, dann ist mir das gerade recht. Also, Lacroix, sagen wir: Sechzehn Uhr auf der Place du Tertre?«
Lacroix sah auf die Bahnhofsuhr an der Wand. Er konnte in aller Ruhe essen und dann sogar ein Stück laufen, er hatte noch viel Zeit.
»Einverstanden. Bis nachher, Rose.«
»Bis nachher, Lacroix.«
Er ging um den Tresen herum, zog den Teller zu sich und begann, die Entenkeule zu zerlegen. Dann nahm er das Glas und trank einen Schluck von dem fruchtigen Wein, bevor er sein Mahl begann. Seine Laune war schon erheblich besser als noch vor wenigen Minuten.
Rose Violet war die dienstälteste Leiterin der Pariser Kommissariate, Lacroix folgte ihr auf dem Fuß. Immer wenn sie sich begegneten, und das war in den letzten Jahren nicht sehr häufig vorgekommen, verstanden sie sich prächtig. Sie frotzelten miteinander, wie altgediente Beamte das eben taten, aber vor allem war da beiderseits großer Respekt.
Darüber dachte Lacroix nach, während er durch die leeren Straßen ging. Er hatte das Chai de l’Abbaye Richtung Norden verlassen und am Pont Neuf die Seine überquert. Auf dem schmalen Gehweg musste er üblicherweise ständig Haken schlagen, um den vielen Passanten auszuweichen, heute waren ihm vielleicht fünf Menschen begegnet, alle dick eingemummelt, doch auch Schals und Mützen verhüllten nicht die Atemwolken, die durch die Luft waberten. Es war so kalt, dass die, die es sich leisten konnten, Taxi fuhren. Die Touristen hatten sich sicher für den warmen Louvre entschieden, überlegte er, oder es sich in einer der überfüllten Brasserien gemütlich gemacht. Die meisten Pendler waren hingegen in den Untergrund ausgewichen. Lacroix fuhr nie mit der Metro, er war nicht dafür gemacht, elend lange Treppen hinabzusteigen und dann grau gewandeten Menschen mit traurigen Gesichtern im kalten Licht der Schächte zu begegnen. Er nahm regelmäßig den Bus, doch die meiste Zeit lief er zu Fuß durch seine Stadt. So hielt er es auch heute, obwohl er sich tatsächlich nicht erinnern konnte, wann ihm zuletzt so kalt gewesen war. Es roch nach Schnee, keine Frage.
Sein Wintermantel und der dicke Hut schützten ihn. Er wandte sich nach Westen in Richtung der großen Boulevards. Schon hier spürte er, dass er sich dem Berg näherte. Die Straßen wurden ein wenig steiler, je weiter er nach Norden kam. Er sah auf die Uhr und entschied sich dann doch für den 85er-Bus Richtung Saint-Ouen. Jeder Platz war besetzt, die Luft war muffig. Er blieb stehen und beobachtete, wie die Stadt sich veränderte. Je weiter sie fuhren, desto bunter wurden die Leuchtreklamen über den Schaufenstern, desto mehr Schwarze standen in den Straßen rund um Barbès. An der Station Rochechouart stieg er aus, in der Ferne konnte er das Moulin Rouge ausmachen. Pigalle, in seiner Jugend ein Sündenpfuhl, war heute eine Mischung aus purer Kulisse und schäbiger Patina.
Lacroix stapfte die steile Straße empor, die ihn zur Station des funiculaire führte, und stieg in die fast leere Bergbahn. Er hätte ohne Probleme die Treppen hinauf zur Kirche nehmen können, doch er liebte die sonderbare Einrichtung dieser grauen Züge, die auf einem Zahnrad den Montmartre emporsausten. Eine Kabine hinauf, eine herab. Es war keine große Anhöhe, die Fahrt dauerte nur anderthalb Minuten. Doch der Blick war atemberaubend: Dort oben stand Sacré-Cœur, die weiße Kirche mit den drei runden Türmen und den feinen Ornamenten. Am Ende der Fahrt drehte er sich um, und da war: Paris. Die Stadt breitete sich vor ihm aus, erst die verwinkelten Dächer des 18. Arrondissements, dann der Abhang hinunter zum neunten. In der Ferne die Türme von Notre-Dame, rechts davon die lange Linie des Louvre – und ganz rechts, wie eine Verheißung, der Eiffelturm. All das konnte er von hier überblicken, eine Stadtrundfahrt in neunzig Sekunden zum Preis eines Metrotickets. Manchmal musste er sich kneifen, dass das Leben ihn ausgerechnet hierhergeführt hatte.
Er löste sich von dem Anblick, wandte sich direkt nach links und ging an der Panoramaterrasse entlang. Für einen Besuch der Kirche fehlte ihm heute die Zeit. Die Straßen wurden voller, hier oben hielten es also doch noch einige Touristen aus, obwohl es so zog. Eine Kutsche bog um die Ecke, Lacroix musste zweimal hinsehen: Die ganze Holzkonstruktion war mit weißem Kunstschnee beklebt, der Kutscher trug ein Weihnachtsmannkostüm samt Rauschebart, und das braune Pferd hatte ein Elchgeweih auf den Ohren. Hinten saßen lachende Chinesen und machten mehr Fotos von ihrem Gefährt als vom heiligen Berg. Der Commissaire schüttelte den Kopf und ging weiter, noch eine Linkskurve, und dann breitete sie sich vor ihm aus: die Place du Tertre, umgeben von stattlichen Bürgerhäusern, in den Erdgeschossen Restaurants, deren farbige Markisen den grauen Winternachmittag erleuchteten. Und dann, unter dicken Heizstrahlern, die Maler und Porträtisten. Es mussten bestimmt einhundert von ihnen sein, auch heute, bei dieser Kälte. Sie saßen dort Staffelei an Staffelei und sahen ungeduldig zu den Zugängen des Platzes, warteten auf Kundschaft. Aber wer wollte allen Ernstes Modell sitzen bei dieser Hundekälte?, fragte sich Lacroix.
Bevor er in die Bäume schauen konnte, den Ort des Verbrechens, sah er sie schon. Sie schritt den Platz ab, als sei er ihr untertan. Sie trug einen schwarzen Mantel, der sie wie Brigitte Bardot aussehen ließ, eine füllige Ausgabe der Bardot vielleicht, doch er stand ihr ganz ausgezeichnet. Rose Violet musste ein wenig älter sein als er, aber er hatte sie nie gefragt – sie war der Typ Pariser Lady, den man nicht mit solchen Dingen behelligte. Sie rauchte ohne Unterlass, zog bei jedem zweiten Schritt an ihrer Zigarette. Lacroix fiel erst jetzt auf, dass er vergessen hatte, seine Pfeife anzuzünden. Er war wirklich in Gedanken gewesen. Er nahm sie aus der Tasche, überlegte es sich dann aber anders und steckte sie wieder ein. Dann standen sie voreinander, und sie zog ihn unumwunden an sich, um ihm Wangenküsse zu geben. Keine Chance auf Gegenwehr. Warum auch?
»Rose«, sagte er, ehrlich erfreut.
»Mein lieber Lacroix, eine Freude«, sagte sie. »Das ist Brigadier Castraux, einer der wenigen fähigen Leute, die sie einem heute von der Akademie schicken.« Sie wies auf einen jungen Mann, den der Commissaire bislang gar nicht wahrgenommen hatte, so konzentriert war er auf Rose gewesen. Der Brigadier war klein und schlaksig, dünn gar, er steckte in der Uniform der jungen Leute: Jeans, Poloshirt, dazu diese scheußlichen Turnschuhe. Sie gingen doch nicht joggen, herrje.
»Sehr erfreut«, sagte Lacroix, und der junge Mann schüttelte ihm ehrfurchtsvoll die Hand.
»Ich frage dich nicht, was das soll, Lacroix«, sagte Rose mit einem Stirnrunzeln, »noch nicht. Denn dass du mich aus dem warmen Büro holst, das werde ich dir nur verzeihen, wenn du mich zum apéro einlädst. Aber wenn wir schon hier sind, dann sehen wir es uns auch an.« Sie wies einmal um sich. »Wie Sie sehen, sehen Sie nichts.«
»Es ist lange her, dass ich das letzte Mal im Advent hier oben war«, sagte Lacroix. »Wie sah es denn vorher aus?«
Castraux nahm sein Telefon aus der Hosentasche – was denn auch sonst? – und wischte mit dem Finger über den Bildschirm.
»Hier, bitte …«
Lacroix griff nach dem Gerät, als würde er sich daran verbrennen, und besah sich die gestochen scharfen Aufnahmen. Er schnalzte mit der Zunge.
»Wie auf einem Rummel«, sagte er.
»Oh ja, Électricité de France hat keine Kosten und Mühen gescheut, und der Bürgermeister hat das Sponsoring mit Freuden begrüßt«, bestätigte Violet.
Die Sophoras, die japanischen Bäume mit ihren lichten Zweigen, die den Platz säumten, waren über und über mit goldenen Lichtern geschmückt, die in Form von Weihnachtssternen, Sternschnuppen und Rentieren erstrahlten. Über den Lampen wehten kleine Banderolen mit dem Logo des Energiekonzerns. Nicht mal an Weihnachten gab es etwas geschenkt. Er ließ das Telefon sinken und betrachtete die graue Realität. Die Bäume waren noch da. Die Beleuchtung aber fehlte.
»Es ist …«
»… ja, es ist sehr merkwürdig«, sagte Commissaire Violet. »Wer klaut denn Glitzerzeugs? Das habe ich meine Jungs gefragt. Sie hatten auch keine Antwort. Vor allem so viel auf einmal. Das kann sich ja auch niemand zu Hause hinhängen.« Sie schüttelte den Kopf.
»Wie ist es denn passiert?«
»Nun, es war ein ganz normaler Abend, vorgestern, meine ich. Die Beleuchtung war eingeschaltet, sagten die Maler, die mein Kollege vernommen hat. Doch es hat geregnet, scheußlicher Nieselregen. Deshalb hatten die Restaurants früher geschlossen als sonst. Ideale Bedingungen für einen Dieb. Obwohl, es ist die Place du Tertre, hier ist immer ein knutschendes Pärchen unterwegs. Ach, diese verliebten Paare. Siehst du denen auch immer so sehnsüchtig nach, Lacroix? Wo sind nur die Jahre geblieben.« Sie sah wehmütig in die Ferne, besann sich dann aber. »Der Straßenkehrer war am nächsten Morgen der Erste hier, zumindest der Erste, dem aufgefallen ist, dass etwas nicht stimmt. Er sagte aber, dass er erst nach zwanzig Minuten in die Bäume gesehen hat. Alles war weg, alles, selbst der letzte Weihnachtsstern. Alle Kabel. Der Aufbau hat zwei Tage gedauert, sagt der maire. Das muss eine Heidenarbeit gewesen sein, das alles in nur einer Nacht abzubauen. Wer macht so etwas?«
»Hat der Bürgermeister Anzeige erstattet?«
»Brauchte er nicht. Öffentliches Interesse. Aber er hat gleich mal Le Parisien eingeladen. Offenbar war er fuchsteufelswild und erwartet, dass wir uns ordentlich anstrengen, um den Diebstahl aufzuklären. Aber, Herrgott, es sind Lichterketten.«
Lacroix betrachtete die Bäume, sie waren leer und karg. »Hier hing alles voll?«
Rose nickte. »Es ist nichts übrig geblieben, nicht mal die Kabeltrommeln oder etwas von der Stromversorgung.«
»Die Diebe haben ganze Arbeit geleistet. Gibt es eine Videoüberwachung?«
»Nicht auf der Place du Tertre. Die Anwohner haben sie abgelehnt. Datenschutz.« Rose lachte bitter.
»Ich würde gern mit den Malern sprechen«, sagte Lacroix.
»Tu, was du nicht lassen kannst.«
»Kannst du mich begleiten? Dich kennt man hier.«
»Du bist Lacroix. Ganz Paris kennt dich!«
»Rose …«
»Es ist so kalt.« Sie rang mit sich, warf dann aber die aufgerauchte Zigarette weg. »Na gut. Aber dafür gibst du mir gleich einen Wein aus.«
»Einverstanden.«
La Mère Catherine, Au Cadet de Gascogne, Le Sabot Rouge, Chez Eugène. Die Restaurants in den alten Bürgerhäusern hatten ihre Terrassen fein säuberlich mit kleinen Zäunen abgeteilt, jeweils in den Farben des Restaurants gehalten, blau-rot oder in bordeauxrotem Karo. Um die Außenplätze, die verwaist waren, gruppierten sich die Maler. Sie waren der Grund, warum die Restaurantterrassen das ganze Jahr über gut gefüllt waren. Aber auch die Menüs waren günstig und reichhaltig. Dennoch würde kein Pariser hier auch nur einen Baguettekorb ordern. Lacroix kannte die Horrorgeschichten über mit Käsescheiben überbackene Zwiebelsuppen aus dem Tetra Pak oder Steaks, die so zäh und sehnig waren, dass jeder Pariser Fleischer sich eher entleibt hätte, als derlei zu verkaufen. Deshalb machten die Commissaires einen weiten Bogen um die Speisekarten, die auf großen Tafeln notiert waren, und gingen zum hinteren Teil des Platzes. Zwei ältere Damen standen rauchend neben ihren Staffeleien, eine von ihnen trug einen Pelzmantel, der echt zu sein schien.
»Excusez-nous, Mesdames«, sagte Violet.
»Oh, Commissaire«, sagte die Frau im Pelz, »kleine Lizenzprüfung?«
Die Lizenzen auf der Place du Tertre waren begehrt und streng limitiert, sie bekam nur, wer dem maire nachweisen konnte, dass er wirklich gut zeichnete – ähnlich wie bei den Musikern in der Metro, die die besten Stationen auch nur bekamen, nachdem sie erfolgreich der Stadtverwaltung vorgespielt hatten.
Lacroix betrachtete die Bilder auf den Holzrahmen, die als Beispiele ausgestellt waren: Die Dame im Pelz zeichnete liebliche Porträts in Aquarell, strahlende Farben und verwischte Konturen. Die andere schien sich auf Karikaturen spezialisiert zu haben, sie benutzte Kreide. Ein Bild des Präsidenten mit großen Ohren und wütenden Augen hing dort.
»Nein, Mesdames, wir sind hier wegen der gestohlenen Lichterketten.«
»Ein Jammer«, sagte die eine Frau. »Wir haben die neue Beleuchtung so gemocht, sie glänzte so schön. Mir wurde immer ganz warm ums Herz.«
Sie mussten ein kurioses Bild abgeben, die drei älteren Damen, über deren Köpfen der Tabakrauch aufstieg. Lacroix dachte wieder an seine Pfeife. Aus dem Augenwinkel sah er, wie ein Fotograf mit professionellem Equipment Bilder vom Platz machte. Der Commissaire dachte kurz, er würde auch sie fotografieren, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Warum sollte er?
»Waren Sie in der Nacht vor Ort?«, fragte Violet. »Wir sind auf der Suche nach Zeugen.«
»Sie sehen es ja, tote Hose. So ist es seit Tagen. Vorgestern hat es gegossen wie aus Eimern. Der Einzige, der da noch arbeitet, ist der alte Fuchs.«
Lacroix sah sie fragend an, doch Rose Violet nickte wissend.
»Der arbeitet immer. Und er hat auch immer zu tun. Anders als wir …«
»Ist er noch an seinem alten Platz?«
»Der schlechteste Platz. Mit der meisten Kundschaft. Viel Spaß, wenn Sie ihn befragen wollen.«
»Merci, Mesdames.«
»Wen meinen die Malerinnen?«, fragte Lacroix. Er mochte es gar nicht, bei solchen Gesprächen unwissend danebenzustehen. Doch das hier war eben nicht sein Bezirk. Im fünften, sechsten und siebten Arrondissement, da kannte er allen Klatsch und Tratsch und wusste stets, was in den Ecken geraunt wurde. Und wenn er mal nicht Bescheid wusste, dann konnte er getrost Yvonne oder seinen alten Freund Alain, den Gemüsehändler, fragen.
»Sie meinen Serge Foll.«
Den Namen allerdings hatte Lacroix schon gehört. »Der renitenteste Künstler von Paris?«
Sie grinste ihn von der Seite an. »Ich habe schon befürchtet, dass wir nicht darum herumkommen werden, ihn zu befragen, hatte bislang aber keine Lust. Und ich hatte die leise Hoffnung, dass vielleicht auch die Damen etwas wissen.«
»So schlimm?«
»Du wirst es gleich sehen, mein lieber Lacroix.«
Sie gingen um den Platz herum, weg von den Restaurantterrassen. Leichter Uringeruch hing in der Luft. Der Commissaire war sicher, dass sich hier nun