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Stefan Selke

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Die Armut mitten unter uns

Econ

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ISBN 978-3-8437-0539-4


© der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013


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eBook: LVD GmbH, Berlin



»Sie (die Armen) fühlen, dass die Wohltätigkeit eine lächerlich ungenügende Art der Rückerstattung ist oder eine gefühlvolle Spende, die gewöhnlich von einem unverschämten Versuch seitens des Gefühlvollen begleitet ist, in ihr Privatleben einzugreifen. War­­um sollten sie (die Armen) für die Brosamen dankbar sein, die vom Tische des reichen Mannes fallen? Sie sollten mit an der Tafel sitzen und fangen an, es zu wissen.« (Oscar Wilde)

Ich erinnere mich noch sehr genau an den Abend, an dem ich zusammen mit meiner damaligen Freundin zum Abschlussball unseres Tanzkurses unterwegs war. Auf dem Weg durch die Stadt sah ich zum ersten Mal in Deutschland einen Mann, der in einer Mülltonne nach Essbarem suchte. Den Abschluss­ball ließ ich platzen. Meiner Freundin aber war mehr nach Tanzen zumute als nach Gesellschaftskritik. Der Preis für meine Empörung bestand darin, als Single nach Hause zu gehen. Jetzt, viele Jahre später, nutze ich die Möglichkeit, mit diesem Buch erneut meiner Empörung Ausdruck zu verleihen. Tanzen kann ich leider noch immer nicht richtig.

Seit 2006 beschäftige ich mich intensiv mit dem, was mich damals, knapp volljährig, so verstörte. Mit der Frage, wie Armut im Reichtum möglich ist. Mein Interesse für diesen Skandal bekam eine für mich unerwartete Aktualität, als ich selbst prekär beschäftigt und von Arbeitslosigkeit bedroht war und darüber nachdachte, wie es weitergehen könnte. Ich beschloss, ein Jahr lang bei einer Lebensmittelausgabe zu hospitieren und exemplarisch eine dieser boomenden Hilfsorganisationen aus der Innenperspektive zu erkunden. Nach und nach wurde ich zu einem kritischen Beobachter des Systems der Lebensmitteltafeln, Suppenküchen und ähnlicher Angebote. Sie werden in diesem Buch zusammenfassend Armuts-, Almosen- oder Hartz-IV-Ökonomie genannt und versinnbildlichen die Armut mitten unter uns.

Was zufällig begann, ist inzwischen fester Bestandteil meiner Forschungs- und Lehrtätigkeit. Zwischenzeitlich wurden einige meiner Thesen von Journalisten und von den Tafeln selbst aufgegriffen – wenn ich gut gelaunt bin, werte ich dies als Erfolg. Ich könnte mit dieser Rolle zufrieden sein. Nicht zufrieden bin ich hingegen nach wie vor mit der Gesellschaft, in der ich lebe. Dieses Buch schrieb ich aus Protest, als mir klarwurde, dass 2013 die Tafeln in Deutschland ihr 20-jähriges Bestehen feiern werden. Ich fragte mich, wie das wohl aussehen würde. Vielleicht wie im Herbst 2012, als ich zur 13-Jahr-Feier der Wiener Tafel in Österreich eingeladen wurde. Der Mode­rator wünschte allen Gästen »gute Unterhaltung bei einem höchst spannenden Thema«. Einen Abend lang standen die Themen ›Motivation älterer Ehrenamtlicher‹ und ›Tafelarbeit als Sinnstiftung‹ im Mittelpunkt. Ein Sozialforscher nannte die Wiener Tafel »vorbildlich«. Der Gründer der Wiener Tafel war begeistert vom Zuspruch anwesender Tafelhelfer. Kein Wort aber zu den Ursachen von Armut inmitten von Reichtum.

War dies ein Vorgeschmack darauf, wie die feierliche Stimmung in Deutschland unter Tafelmenschen, Tafelsponsoren und tafelnahen Politikern aussehen könnte? Für viele, auch für die uninformierte Öffentlichkeit, wird das 20-jährige Bestehen der Tafeln in Deutschland ein Grund zum Feiern sein. Den zu erwartenden Jubel, die eingeübten positiven Selbst­darstellungen der Tafeln sowie die pathetische Rhetorik der Politik möchte ich jedoch nicht unwidersprochen hinnehmen. Vielmehr ist es an der Zeit, dem Selbstlob eine fundiertere ­Perspektive entgegenzusetzen. Denn trotz zwischenzeitlich ­geschärfter sozialwissenschaftlicher Instrumente lässt sich die Public-Relations-Watte, in die die Tafelbewegung gepackt ist, noch immer schlecht durchdringen. Ich habe wenig Lust, mich dem arrangierten Schulterklopfen anzuschließen – lieber möchte ich eine öffentliche Debatte darüber anstoßen, wie es sich aus der Sicht Armutsbetroffener anfühlt, seit vielen Jahren Teil dieses Systems zu sein. Und darüber, wie durch Tafeln und ähnliche Angebote die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich fortgeschrieben wird.

Dafür gibt es aus meiner Sicht gute Gründe. Die seit fast ­einer Generation mitten in Deutschland existierenden Tafeln werfen ernsthafte moralische Fragen auf, bei denen es im Kern um die existentielle Verletzbarkeit des Menschen geht. Um Rechte, die Bürgern dieses Landes (sowie in den deutschsprachigen Nachbarländern Schweiz und Österreich, wo Tafeln nach vergleichbaren Prinzipien betrieben werden) zunehmend aberkannt werden. Zentrale Fragen nach sozialer Gerechtigkeit, Verantwortung, Nachhaltigkeit sowie einem zivilisierten Menschenbild stehen auf dem Prüfstand.

Daher verfolgt dieses Buch das Ziel, einen Ausweg aus dem eher technokratischen Verständnis des Sozialen zu suchen. Wenn die Zivilgesellschaft die Versäumnisse des Sozialstaats kompensieren muss und sich Daseinsfürsorge vermehrt in privaten Almosensystemen erschöpft, wird zivilgesellschaft­liches Engagement nicht nur genutzt, sondern ausgenutzt. Mit diesem Buch ist daher eine Warnung verbunden. Es soll aber auch den Blick dafür schärfen, was es bedeutet, von der eigenen Gesellschaft aussortiert und an den unteren Rand gedrängt zu werden, dorthin, wo das eigene Leben als fremdbestimmt erfahren wird.

Das Material dafür liefern zahlreiche persönliche Begegnungen und Gespräche mit Nutzern von Tafeln und anderen existenzunterstützender Einrichtungen, die ich in den letzten Jahren bundesweit besucht habe. Daraus entstand eine detaillierte Analyse der Lebensrealität armutsbetroffener Menschen. Dieses Buch zeigt, dass der Preis für die dabei sichtbar werdende, weichgespülte Auffassung von Sozialpolitik hoch ist. Denn diese neigt immer mehr dazu, soziale Verantwortung an Freiwillige auszulagern und die Symptombehandlung von Armutsphänomenen an Agenturen wie Tafeln, Suppenküchen und Kleiderkammern zu delegieren. Hilfeleistungen werden hier nicht angeboten, weil die Empfänger ein Recht dazu haben – sondern aus karitativen Motiven, die einer eigenen Logik folgen, nicht aber die Bedürfnisse der Betroffenen im Blick haben. Da sich für die vielen Anbieter der Eigennutz der Hilfe immer wieder in den Vordergrund schiebt, bleiben die Hilfesuchenden oft genug auf der Strecke. In der Folge verwandelt sich unser Land in ein Schamland, in dem die Gewinner sich gegenseitig applaudieren, die Verlierer aber beschämt werden.

Während zahlreicher Podiumsdiskussionen und öffent­licher Veranstaltungen, zu denen ich als Experte zum Thema ›Tafeln und Armut‹ seit 2007 eingeladen wurde, fiel mir immer öfter auf, dass sich dort sehr selten diejenigen befanden, um die es eigentlich geht: die Armen. Mir gefiel überhaupt nicht, wie über eine gesellschaftliche Realität geredet wurde, von der die meisten der Anwesenden nur wenig Ahnung hatten. Das Wissen über die Armut stammte in aller Regel nur aus den Medien, die ihrerseits nur eine Oberfläche zu sehen bekamen. Armut ist Teil von Lebenswelten, zu denen man gerne auf sicherer Distanz bleibt. Immer offensichtlicher wurde, dass gerne über von Armut betroffene Menschen gesprochen wurde, nicht aber mit ihnen. In anderen Worten: Mir wurde immer klarer, dass in der Debatte über die Sinnhaftigkeit privater Hilfsformen (die ich zum Teil selbst mit angestoßen hatte) sowie über ›richtige‹ oder ›falsche‹ Strategien der Armutsbekämpfung eine zentrale Perspektive fehlte.

Diese Leerstelle störte mich im Laufe der Zeit so sehr, dass ich beschloss, die Perspektive der Armutsbetroffenen in diesem Buch konsequent in den Mittelpunkt zu stellen. Im öffentlichen Diskurs schoben sich – unmerklich, aber doch verlässlich – meist die ehrenamtlichen Helfer in den Vordergrund. Menschen, die versuchen, mit viel Engagement eine Arbeit zu leisten, die bis vor kurzem noch der Sozialstaat übernommen hatte. Die Helfer sind dabei mit der moralischen Pose aus­gestattet, immer das Richtige zu tun; sie werden angetrieben vom Gefühl ihrer eigenen Wichtigkeit und sind vor Kritik durch ihre Lobby und das Lob aus der Politik weitgehend geschützt.

Gerade deswegen erscheint mir ein Perspektivwechsel dringend notwendig. Es ist an der Zeit, dass über den weniger bekannten Teil der Gesellschaft gesprochen wird. Es geht um die Gedankenwelt und Lebenswirklichkeit derjenigen Menschen, die arm sind inmitten unseres gemeinsamen Wohlstands. Ich wünsche mir, dass bedürftige Menschen nicht als Kulisse einer Bewegung missbraucht werden, die sich selbst immer ungehemmter selbst feiert. Diese Menschen sind keine Komparsen in einem Stück, das die tugendhaften Helfer in den Himmel lobt. Sie sind vielmehr die eigentlichen Hauptdarsteller.

Deshalb dieses Buch. Es ist verbunden mit der Hoffnung, dass das Bühnenstück von der »sozial gerechten Gesellschaft« in Zukunft unter einer vernünftigeren Regie aufgeführt wird als bisher. Von verantwortungsbewussten Menschen, die bereit sind, eine Perspektive einzunehmen, die Betroffene ernst nimmt, anstatt ihnen die eigene Sichtweise bevormundend auszureden. Wird dieser Perspektivwechsel vollzogen, dann wird eine neue gesellschaftliche Realität sichtbar, die für Millionen von Menschen Alltag ist. Denn der Staat trägt die Verantwortung für eine angemessene und menschenwürdige Versorgung der Armen, die ja auch Bürger mitten unter uns sind. Niemand sollte deren Wunsch, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, als »spätrömische Dekadenz« diskreditieren, wie Guido Westerwelle es 2010 prominent tat.1 Stattdessen geht es in diesem Buch darum, in Zeiten grassierender Markttyrannei das Soziale im Interesse der Humanität zu verteidigen.

Für einen »Öffentlichen Soziologen« ist das eine Gratwanderung. Soziologie öffentlich und für die Öffentlichkeit zu betreiben, ist in letzter Zeit unmodern geworden. Kern meiner Öffentlichen Soziologie ist der Drang, mich in Debatten einzumischen und darin eine Haltung zu zeigen. Meine Sozio­logie ist eine wütende Wissenschaft. Sie ist nicht neutral, sondern interessegeleitet. Sie nimmt Anteil an den Sorgen der Menschen. Ich betreibe normativ engagierte Gesellschaftsforschung, die hoffentlich an manchen Stellen die Kraft hat, die herrschende Sprachlosigkeit zu beenden, weil sie die Sprache der Gesprächspartner ernst nimmt. Die Nationale Armutskonferenz2 forderte in einem Positionspapier, dass Armen eine Stimme gegeben werden müsse. In diesem Buch kommen sie zu Wort. Da mein Ziel darin besteht, Soziologie öffent­lich zu vermitteln, verzichte ich gerne auf die polierte Optik unnötiger Fachbegriffe. Ich versuche damit, den Beschränkungen komplizierter Sprachspiele zu entkommen, die Wissenschaftlichkeit lediglich suggerieren. Damit möchte ich vor allem dazu beitragen, die Enttäuschten und Ungeschützten wieder in die Mitte des gesellschaftlichen Diskurses zu rücken.

Ich vertrete dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die hier dargestellten Szenen und Skizzen sind winzige Mosaiksteine, die sich aber zu einem großen Bild der Gesellschaft zusammenfügen lassen. Damit folge ich einem vielfach an mich herangetragenen Auftrag. »Das System muss wissen, dass es beobachtet wird« – diesen Satz schrieb mir ein Journalist, der seinen Namen nicht veröffentlicht sehen möchte. In ähnlicher Weise gab mir ein Tafelnutzer zum Abschied nach einem Gespräch folgende Bitte mit auf den Weg: »Ich wünsche mir, dass Sie ganz genau hingucken.« Nicht mehr länger wegschauen, genau hingucken, um Zusammenhänge zu erkennen, Interessen aufzudecken und Gesellschaft zu verändern – darum geht es. Ich teile meine Beobachtungen mit Ihnen, um Lust darauf zu machen, selbst nachzudenken. Ich wünsche mir, dass Sie als Lesende Ihre eigenen Schlüsse daraus ziehen können. Denn Denken ist Widerstand gegen Informationen. Der Inhalt dieses Buches kann und soll kritisiert, aber auch als ­Gesellschaftsdiagnose ernsthaft geprüft werden.

Letztlich geht es darum, eine um sich greifende Blindheit für die soziale Misere zu vermeiden. Gerne zitiere ich die einzige Folge der TV-Serie Die Simpsons, die ich je gesehen habe: Homer Simpson verursacht eine Massenkarambolage auf dem Highway. Er schaut in den Rückspiegel und sieht, wie sich die nachfolgenden Autos ineinander verkeilen. Seine Reaktion ­darauf kann als Sinnbild für die zweifelhafte Gnade der kollektiven Selbsttäuschung verstanden werden. Homer sieht die Autowracks und dreht daraufhin den Rückspiegel ein wenig zur Seite. Im Spiegel erscheint nun ein friedlich grasendes Reh auf einer wunderschönen Lichtung. Genau dies darf nicht passieren. Soziale Verantwortung zu übernehmen bedeutet, den Rückspiegel der eigenen Wahrnehmung nicht dauernd so zu verdrehen, dass darin nur das sichtbar wird, was gerade erwünscht ist.

Dieses Buch ist ein exemplarischer Blick in den unverstellten Rückspiegel der eigenen Gesellschaft. Es zeigt die Hin­terbühne eines reichen Landes und vermeidet dabei den be­ruhigenden Blick auf die liebliche Lichtung. Diesem Blick standzuhalten heißt nicht, in depressive Empörung zu verfallen. Vielmehr geht es darum, den Aufbruch in eine bessere Zukunft vorzubereiten. Denn eine Gesellschaft muss sich ­daran messen lassen, wie sie mit den Schwächsten umgeht. Neben der gesellschaftlichen Analyse stehen in den Kapiteln »Trostbrot« und »Der Chor der Tafelnutzer« die O-Töne von Armutsbetroffenen im Zentrum. Sie summieren sich hoffentlich zu einen hilfreichen Zeitdokument, das dazu beitragen kann, alle Beteiligten an einen Tisch zu holen – auch wenn dieser bei zukünftigen Diskussionen gehörig wackeln wird.

Wien, im Januar 2013

Die Menschen, die ich in den folgenden Kapiteln des Buches in den Mittelpunkt rücke, bleiben sonst auf sonderbare Weise unsichtbar. Es handelt sich um Menschen, die Sie nicht persönlich kennen und deren Lebenswelt Ihnen – höchstwahrscheinlich – nicht vertraut ist. Für die meisten von Ihnen stellt es also eine Reise zu »unbekannten Wesen« dar. Es soll aber auch eine Einladung sein, Armutsbetroffene als Mit­bürgerinnen und Mitbürger anzuerkennen und verstehen zu lernen. Deshalb steht im Folgenden konsequent die Perspektive von Armutsbetroffenen im Vordergrund – schon damit nicht einmal mehr nur die Politiker, Wohltäter und Journalisten das letzte Wort haben.

Neu ist die Klage über die Unsichtbarkeit der Betroffenen natürlich nicht. Die Historikerin Elisabeth Herrmann-Otto weist schon für die Antike eine gravierende Einseitigkeit des Quellenmaterials nach. Die Ärmsten und Bedürftigsten hinterließen keine Zeugnisse, nur die Wohltäter. Um Armut zu verstehen, bleibt dann nur ein Zerrbild, das allein die Ge­berperspektive zeigt.67 Genau das ist aber nicht zielführend. Wenn diejenigen, die die Mittel verwalten, auch die Defini­tionshoheit beanspruchen, bleibt die Armut im Wesentlichen unverstanden.

Ich wollte diese Definitionshoheit brechen. Dafür war es unerlässlich, dass ich mich direkt mit den betroffenen Menschen traf – abstraktes Wissen und »Verandasoziologie«68 helfen an dieser Stelle nicht weiter. Mein Weg führte mich dabei über die Tafeln: 2009 beschloss ich, eine Studie in mehreren Etappen zu unternehmen. Der Auslöser war ein Aha-Erlebnis. Irgendwann wurde ich von einer Tafel eingeladen, die ihr 5-jähriges Bestehen »feiern« wollte. Die Veranstalter hatten sich eigentlich eine Podiumsdiskussion gewünscht, an der auch einige der eigenen ›Kunden‹ teilnehmen sollten. Ich hatte stattdessen vorgeschlagen, zwei Nutzer dieser Tafel zu interviewen und dann im Rahmen meiner Rede stellver­tretend für sie als eine Art Botschafter zu sprechen. Ich sprach daher ausführlich mit zwei Frauen und verband ihre Aussagen mit meinen Beobachtungen. Mit einigen O-Tönen (natürlich in anonymisierter Form) unterfüttert, breitete ich die Erfahrungen der Tafelnutzerinnen vor anwesenden ehrenamt­lichen Helfern, örtlichen Spendern und lokalen Politikern aus. Nach meiner Rede herrschte betretenes Schweigen im vollen Saal. Die Stimmung war im Eimer. Einmal mehr zeigte sich, was passiert, wenn Informationen nicht mit der eigenen Weltsicht übereinstimmen. Ich lieferte keine Beschreibungen aus der heilen Welt, so wie sie sich die Zuhörer wohl gerne gewünscht hätten. Vielmehr schilderte ich den gestörten Alltag von Menschen, die sich in Randgebieten der Gesellschaft panisch damit abquälten, ein Stückchen Normalität zu erhalten. Mir wurde plötzlich klar, dass viele der Anwesenden fast gar nichts über die Menschen wussten, denen sie zu helfen versuchten. Und vieles auch nicht wissen wollten. Und ich selbst wusste auch noch zu wenig.

Als ich nach Hause fuhr, gab ich mir selbst zwei Versprechen: Ich wollte nie wieder einen Vortrag halten, bei dem ich nicht auch auf die Perspektive der Betroffenen hinwies. Und ich wollte zu einer Reise aufbrechen, an deren Ende ich selbst hoffentlich ein genaueres Bild von jenem »unbekannten Wesen« haben sollte. Als Soziologe und Feldforscher sah ich mich dazu aufgerufen, die Scheinwerfer in die Welt zu richten, in der wir leben, um diese in einem anderen Licht zu zeigen.

Zwischen 2009 und 2012 reiste ich daher von Castrop-Rauxel im Westen bis nach Thüringen im Osten, von München bis nach Ostfriesland, um immer wieder Gespräche mit Armutsbetroffenen zu führen. Winter wie Sommer reihten sich die Gespräche aneinander, immer wieder war ich in meiner vor­lesungsfreien Zeit für zwei oder drei Wochen unterwegs. Meine Reise führte mich durch ein vordergründig heiles Land. Der eigentliche Schauplatz dieser Reise aber war ein Land im Land, das ich erst mühsam entdecken musste – das Schamland.

Einen Teil der dabei gemachten Beobachtungen habe ich zu kleinen soziologischen Szenen verdichtet. Diese Ansichten aus dem Schamland erheben keinen Anspruch auf Voll­ständigkeit oder Repräsentativität. Sie sind vielmehr Teil einer fortlaufenden Erzählung, die sich aus der Tiefe der eigenen Beobachtungen und der Unvergesslichkeit der zwischenmenschlichen Begegnungen speist.

Ich habe für meine Leser die Szenen ausgewählt, die mir am deutlichsten in Erinnerung geblieben sind. Diese bilden das zweite Kapitel Trostbrot, in dem ich von Begegnungen bei Tafeln, Tiertafeln, Suppenküchen, Wärmestuben, Sozialkaufhäusern und in einem Sammellager für Asylbewerber erzähle. Im dritten Kapitel Der Chor der Tafelnutzer konzentriere ich mich ganz auf die Welt der Tafeln. Ich verbinde darin zahlreiche ­Gesprächspassagen zu einer kollektiven Schilderung eines Gangs zur Tafel und der dort gemachten Erfahrungen aus der Perspektive von ›Tafelkunden‹. Die beiden letzten Kapitel ­enthalten ergänzende Analysen zum Phänomen der Armut und zu den neuen Grenzen der Zivilgesellschaft. Im Kapitel Zurückbleiben, bitte! beschäftige ich mich mit den Folgen von Armut, der Sprache über Armut, dem Phänomen der Alters­armut, den neuen Armutsökonomien sowie den immer belieb­ter werdenden Armutsspektakeln. Anlässlich des 20-jährigen Bestehens der Tafeln in Deutschland fasse ich im Kapitel Nach dem Lob den Werdegang der Tafelbewegung zusammen und erläutere noch einmal kurz die Kernthese vom schleichenden sozialen Wandel und der Gewöhnung an Missstände als dem eigentlichen Skandal.

In dieses Buch gingen also sowohl eigene Beobachtungen als auch Fakten und Analysen anderer ein. Ich weiß, dass ich mich mit den darin enthaltenden Schilderungen und Schlussfolgerungen in ein Minenfeld begebe. Aber so ganz an der ­Realität vorbei können meine Schlussfolgerungen nicht sein. Eines Tages erhielt ich eine Mail von einem Tafelnutzer mit folgendem Inhalt: »Sie sind einer der wenigen, der Armut in seiner Tiefe versteht. Ich bin selbst Betroffener und bin auf der Hartz-IV-Galeere angekettet, von daher weiß ich, wie es sich anfühlt, ein Galeerensträfling zu sein. Ich möchte Ihnen einfach nur danke sagen.«

Das ist der Stoff, der mich antreibt.

II
Trostbrot

Wo sonst ist die Welt noch in Ordnung? Arbeitslosigkeit ist hier ein Fremdwort. Gerhard Schröder sprach einmal im Bun­destag vom »Geist fleißigen Tüftelns« und einer »Mentalität der Standfestigkeit«, die in diesem »engen Tal im Schwarz­wald« zu finden seien. Er meinte damit Furtwangen, die Kleinstadt, in der ich lebe und arbeite. Eine Stadt, die nur deshalb so selbstbewusst mit ihrer charmefreien Funktionalität umgehen kann, weil sie von einer atemberaubend schönen Landschaft umgeben ist. Ausgerechnet hier, einem der letzten Orte in Deutschland, an dem es noch keine Tafel gibt, beginnt meine Reise ins Schamland.

Der erste Besuch bei Tafelnutzern hat sich mir schon deshalb tief ins Gedächtnis eingegraben, weil er mich zu zwei meiner Studierenden führte. Für mich ist das ein Skandal. Wer als Studierender in einer Wissensgesellschaft zu einer ­Tafel gehen muss, fühlt sich gleich doppelt ausgegrenzt. Zum einen, weil die eigenen Mittel nicht reichen, das Nötigste im nächsten Supermarkt zu kaufen. Zum anderen, weil es mit den eigenen Teilhabechancen – dem Versprechen auf Arbeit, Anerkennung und Aufstieg – offenbar nicht so weit her ist wie gedacht. Nur ein paar Gehminuten entfernt von meiner Wohnung komme ich bei einem vor kurzem frisch renovierten mehrstöckigen Wohnblock an. Ein Spruch auf dem Zigarettenautomaten neben der Eingangstür zieht mich in den Bann: »Der sicherste Weg zum Ziel.« An dieser Stelle, der größtmöglichen Wunde, beginne ich meinen Bericht über die Armut mitten unter uns.

Im fünften Stock öffnet mir eine schwangere junge Frau die Türe. Ich kannte sie bislang als Studentin aus einem meiner Seminare. Hinter ihr steht der Ehemann, ein wenig zögerlich und misstrauisch. Auch er ist Student, steht kurz vor dem ­Abschluss. Ich treffe zwei vorbildliche junge Menschen, die wissbegierig sind und sich gerade auf ihr zweites Kind freuen. Und trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, stehen sie am Rand der eigenen Gesellschaft. Eine Erfahrung, die schon erste Spuren hinterlassen hat. Sie laden mich freundlich in die perfekt aufgeräumte Wohnung ein. Ich bitte um ein Glas Wasser. Mit dem Satz »Das haben wir gerade noch«, geht der Student in die Küche. Wie viel Verbitterung, Verletzung und Zorn stecken wohl in dieser Aussage?

Ich frage zuerst danach, wie die Tafel in ihr Leben gekommen ist. Später merke ich, dass jede Geschichte, die mir auf dieser Reise erzählt wird, immer mit einer Begründung beginnt, selbst wenn ich es nicht darauf anlege. So als müssten sich alle dafür rechtfertigen, arm zu sein. So als müssten alle zeigen, dass sie die Hilfe verdient haben, ihrer ›würdig‹ sind. So als müssten sich alle, die zur Tafel gehen, bei der Allgemeinheit entschuldigen. Dieses Bedürfnis, sich zu rechtfer­tigen, ist die unsichtbare Klammer um alle individuellen Erfahrungen, so unterschiedlich diese auch sein mögen. Auch wenn sie es selbst nie so ausdrücken würden, es ist in den Worten, den Gesten und den Blicken.

Was also war passiert? »Das Konto hat gesprochen«, lautet die lapidare Antwort des Mannes. Als verheiratete Studierende erhielten sie eine Zeitlang kein BAföG – so die gesetzliche Regelung. Sie machten alles richtig (Kinder, Heiraten, Studium), nur nicht in der erwünschten Reihenfolge (Studium, Heiraten, Kinder). Die Zufälle des Lebens hielten sich in diesem Fall offenbar nicht an die Regeln der Bürokratie. In Deutschland reicht allein das aus, um ein existentielles Problem entstehen zu lassen und ein junges Paar nach einiger Zeit zu regelmä­ßigen Tafelnutzern zu machen. »Im Nachbarort eröffnete eine Tafel, Flyer lagen aus. Man hörte immer mal was. Vor allem, dass man da nicht hingeht«, betont der Student. Warum? »Weil da nur die Armen hingehen! Und wer will schon arm sein? Niemand!«, legt seine Frau nach. »Aber das Konto sprach eine deutliche Sprache. Man konnte nicht anders«, antwortet nun wieder der Mann auf die Frage nach dem Grund für die Tafelnutzung. Und versteckt sich dabei hinter dem »man«, so als spräche er über andere und nicht über sich und seine Frau. Dieser sonderbaren Distanz zum eigenen Leben werde ich später immer wieder begegnen. Sie funktioniert wie ein Schutz­mechanismus, um den krisenhaften Bruch mit der Norma­lität überhaupt aushalten zu können.

Alle Vorurteile des Paares wurden dann auch beim ersten, nie für möglich gehaltenen Kontakt mit der ›zuständigen‹ Tafel bestätigt, als die ehrenamtliche Tafelhelferin ihre gesamte Existenz mit nur einem einzigen achtlos dahingeworfenen Satz in Frage stellte: »Ja, ja, man sollte sich das Kinderkriegen eben gut überlegen …« Auch noch ein Jahr nach dieser übergriffigen Dreistigkeit sehe ich Wut und Fassungslosigkeit in ihren Gesichtern eingeschrieben.

Doch in einem Jahr kann, auch bei diesem Paar, viel pas­sieren. Inzwischen ist der regelmäßige Gang zur Tafel fester Bestandteil ihres Lebensplanspiels geworden. »Jede Woche Einkäufe für ein paar Euro bei der Tafel«, berichten sie. Die ­Tafeln verlangen einen kleinen Betrag von den Besuchern, entweder eine ›symbolische Münze‹ (1 bis 2 Euro pauschal) oder einen Anteil des ehemaligen Ladenpreises (ca. 10 bis 15 Prozent). Das Pärchen rechnet mir vor: »Bei Aldi wären das zwischen 40 und 80 Euro im Monat für die gleiche Menge an Lebensmitteln. Die sparen wir dann eben.« Diese Hunger-Arith­metik wird gegenwärtig hunderttausendfach angewandt, so oder so ähnlich. Einfach nur, um das Konto zum Schweigen zu bringen.

Die Welt der Tafel erleben die beiden als eine durch und durch anormale Welt. Eine Welt, in der man eine Nummer bekommt. In der eine Person mit der Nummer 55 (oder 65, 75, 85 …) keine Chance mehr auf das hat, was für die »niedrigen Nummern« im Angebot war. »Das Angebot wird dann dünn. Manche streiten sich um die letzte Schale Erdbeeren«, so berichten beide übereinstimmend. Die Tafel ist eine Welt, in der von ihnen verlangt wird, sich über eine halbgefüllte Shampoo-Flasche zu freuen. Sie haben, wie viele andere Tafelnutzer, unzählige weitere Beispiele – Anzeichen für eine schleichende Verschiebung innerhalb unserer Gesellschaft, Signale einer Abwärtsspirale der Menschlichkeit. Es beginnt damit, sich Vorhaltungen darüber anhören zu müssen, was man in seinem Leben alles falsch gemacht hat.

Noch problematischer als diese Spirale ist die Tatsache, dass sich alle, wirklich alle, die am Bau dieser Welt beteiligt sind, daran gewöhnen. Eine Demaskierung des Selbstverständ­lichen ist nach 20 Jahren Tafeln in Deutschland gar nicht mehr vorgesehen. Auch meine beiden Gesprächspartner sind erstaunt darüber, »wie normal das alles inzwischen geworden ist«. Auch wenn der Stachel, den die erste Begegnung hinterlassen hat, tief sitzt, übertüncht die Macht der Gewohnheit fast alles: »Irgendwann fällt es einem gar nicht mehr auf. Das ist völlig normal, da gewöhnt man sich dran.«

Die Tafel ist für die beiden zum Glück nur eine Durchgangsstation. An ihren Zukunftsplänen bin ich in winzigen Details beteiligt. Was dieses Paar angeht, kann ich aufatmen. Es wird gutgehen. So gesehen erfüllen hier die Tafeln ihre Funktion als Notanker in einer zeitlich begrenzten Lebens­situation – für viele andere aber wird es keinen solchen Ausweg geben. Das bestätigt mir auch mein Gesprächspartner: »Viele werden dort hängenbleiben. Die Leute werden versorgt. Man bekommt, was man braucht. Das ist eher so, dass die ­Tafeln die Armut fördern!« Bei der Tafel sehen sie andere ­Menschen, denen es »richtig schlecht« geht – eine unendliche Serie persönlicher Niederlagen, dort, wo Menschen auf Erfolge hofften und vom Leben enttäuscht wurden. Sie sehen auch, dass viele Menschen sich innerlich gebrochen in einer Parallelwelt eingerichtet haben: »Die wollen da gar nicht mehr raus. Die haben sich da gut eingerichtet, da fehlt der eigene Antrieb«, fasst die Studentin zusammen. Kein Zweifel, dass dies für sie selbst anders ist. Und ihr Mann fügt noch einen Satz hinzu, der das Ausmaß der Gewöhnung an ein Almosensystem innerhalb der neuen Armutsökonomie drastisch auf den Punkt bringt: »Die lassen sich dort einfach abfüttern.«

Nach zwei Tagen voll mit Begegnungen ist es Zeit zu fahren. Vom Ruhrgebiet, wo die vierspurigen Schnellstraßen fast bis an den Wohnzimmertisch reichen, ist es ein weiter Weg bis zu den bayerischen Wiesen am Rande eines Kleinstadtidylls. Wieder eines dieser Häuser, die nicht vermuten lassen, dass hier Menschen wohnen, die zur Tafel gehen. Aber die Adresse stimmt.

Ich treffe ein freundliches kinderloses Ehepaar im Renten­alter, das inmitten einer Büchersammlung lebt, die drei von vier Wänden des Wohnzimmers einnimmt. Als ich mir ­einige der Buchtitel ansehe, kommt unser zunächst träge dahin­plätscherndes Gespräch in Schwung. »Die hätten wir in so einer Sozialwohnung gar nicht untergebracht. Wir haben schon alles aufgegeben und verloren. Nicht auch noch die ­Bücher!«, klagt mein Gesprächspartner. Bei Kaffee und selbstgebackenem Kuchen beginnen die beiden, mir ihre Geschichte zu erzählen.

Sie beginnt, wie fast immer, mit besseren Zeiten. »Früher« gab es ein Architekturbüro mit gut einem Dutzend Angestellten. Rund dreißig Jahre lang ging das gut. Große Aufträge, große Spesenrechnungen, große Reisen, immer dabei beim Après-Ski, oft in der Schweiz. Bis sie von einem Geschäftspartner betrogen wurden. Es war, als würde ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen. Ich höre das nicht zum ersten Mal. »Wir haben so richtig in die Scheiße gegriffen. Und am Schluss alles verloren. Wir waren einfach zu blauäugig. Wie fies Menschen sein können, kann man sich gar nicht vorstellen, wenn man es nicht selbst erlebt. Plötzlich standen wir vor dem Nichts. Wir hatten keine Rente eingezahlt, wir waren selbständig. Kurzfristig standen wir dann ohne Dach über dem Kopf da. Und heute leben wir von der Grundsicherung im Alter. Es war grauenhaft!«, erinnern sich beide. Sie reden sich in einen Rausch der Entrüstung. Ich blicke beiden abwechselnd in die Augen. Ich spüre, dass sie möchten, dass ich ihnen glaube und dass ich ihr Schicksal nicht auch als ihre Schuld ansehe. Ihnen diese Version ihres Lebens abnehme, auf die sie sich geeinigt haben, eine Version, die sie aushalten können. An diesem Punkt meiner Reise erkenne ich, dass ich den Anspruch auf Objektivität über Bord werfen muss, wenn ich meinen Gesprächspartnern gerecht werden will. Es geht nicht um Realismus, sondern um eine erzählerische Wahrheit, die ich zu respektieren habe. Ich erkenne, dass die wesentlichen Fragen und Antworten in dieser Welt nicht an Fakten, sondern an Geschichten hängen.

Also lehne ich mich zurück und lasse die beiden weiter im Strom ihrer Erinnerungen treiben – Komplizen im Geiste. So gelangen wir schließlich an den Erinnerungsort, an dem die Tafeln ins Spiel kommen. Was gerade noch selbstsichere Entrüstung war, wird nun zerbrechliche Kleinmütigkeit. Die Stimmen werden leiser und brechen immer wieder. Tränen fließen. Beschämt geben sie zu Protokoll: »Von dem Geld, das wir bekommen, bleiben uns für Essen und Trinken und für den persönlichen Verbrauch knapp 100 Euro.«

Diese wenigen Worte reichen aus, um das Koordinatensystem eines Lebens im schlanken Sozialstaat abzustecken. Ein System, in dem immer mehr Lücken entstehen, weil die ›Grundsicherung‹ einfach nicht für ein menschenwürdiges Leben ausreicht. Und weil meist jegliches Erfahrungswissen darüber fehlt, wie mit dem Mangel umgegangen werden soll. »Die Situation war plötzlich völlig neu für uns. Wir hatten kein Geld und gar nichts mehr. Und dann hatte ich auch nichts mehr zu essen daheim. Da sagte jemand von der Caritas zu mir: Ja, wieso haben Sie denn gar nichts mehr? Gehen Sie doch zur Tafel! Und sagen Sie einen schönen Gruß von mir. Und dann bin ich dahin gegangen. Mir blieb ja nichts anderes ­übrig«, erinnert sich die Ehefrau. Der mitgegebene Gruß war die Eintrittskarte in die Welt der Armutsökonomie.

Diese Welt gleicht einer Geisterbahn, die von vielen nur sehr widerwillig betreten wird. »Mein Mann ist das erste Jahr gar nicht hingegangen. Ich wollte auch nicht, dass er das tut. Das war ja alles so schwer für ihn. Sein ganzes Lebenswerk ist ja den Bach runter.« An dieser Stelle offenbart sich die tief­sitzende und meist völlig unverstandene Symbolik der Tafeln. Allein beim Gedanken an eine Tafel wird ein innerer Schalter umgelegt. Das eigene Leben rattert durch die imaginäre Rechenmaschine des sozialen Vergleichs. Am Ende wird das ­Ergebnis, wie auf einer altmodischen Lochkarte, ausgespuckt: versagt! Die Tafeln mögen ein logistisches Erfolgs­modell sein, weil sie es schaffen, Lebensmittel von A nach B zu transpor­tieren. Aber trotz (oder wegen?) all dieser Bemühungen wird konsequent übersehen, dass Tafeln selbst zu einem Symbol des sozialen Abstiegs geworden sind, das den gesellschaftlichen Misserfolg derjenigen schonungslos offenlegt, die euphemistisch ›Kunden‹ genannt werden. Und wie sehen es meine Gesprächspartner? »Im Alltag kann man das ganz gut verdrängen. Aber wenn man vor der Tafel steht und sieht, dass man auf Almosen angewiesen ist, dann ist das schlimm, dann ist es ganz offensichtlich, dann kann man nichts mehr verdrängen. Das ist dann erbarmungslose, schonungslose Offenheit.«

Trotz jahrelanger Tafelnutzung, trotz abnehmender Widerstände, bleiben die beiden auf sicherer Distanz. Noch immer fällt es ihnen sichtlich schwer, das Ergebnis zu akzeptieren, das die soziale Rechenmaschine für sie ausgegeben hat. Immer wieder versuchen sie durch Verdrängung, zu einer befriedigenden Bilanz zu gelangen. Verdrängung bedeutet in ihrem Fall auch, sich nur minimal auf andere Menschen einzulassen, die ihnen bei der Tafel begegnen. Sie sind Teil einer Welt, mit der sie eigentlich nichts zu tun haben wollen. »Wir haben da jetzt nicht die Kontakte gesucht. Wir suchen keinen Anschluss. Wir wollen uns nicht groß unterhalten. Es fehlt der richtige Draht zu den Leuten. Da fühlt man sich überhaupt nicht wohl. Wir sagen: Grüß dich! Servus! Mehr Kontakt suchen wir nicht.«

Der Grundton ihrer Geschichte ist, allen Widrigkeiten zum Trotz, optimistisch. Mit bewundernswerter Hartnäckigkeit glauben sie an sich und daran, mit Ende 60 noch etwas Neues aufbauen zu können, auch wenn dabei der Mut immer wieder verlorengehen kann, etwa, wenn aus Kleinigkeiten echte Hemmnisse werden. »Ich muss zum Beispiel überlegen, wie ich zehn Briefe verschicken kann. Das ist schon ein schwieriges Unterfangen. Zehn Briefe bedeuten immerhin zehn Briefmarken, also 5,50 Euro. Das fällt einem dann ein. Früher war das eine Nebensächlichkeit. Heute muss ich überlegen, wie ich das hinbekomme.« Was meinen Gesprächspartner aber wirklich wütend macht und ihm die Zornesröte ins Gesicht treibt, sind die Entmutigungen, die von außen kommen. »Ich ver­suche, etwas aufzubauen. Aber die vom Sozialamt wollen das gar nicht. Die sagen: Ach, lassen Sie das doch sein. Sie ­haben ein Sofa und einen Fernseher, damit können Sie doch zu­frieden sein. Wir sind zu alt, ist die Botschaft. Wir müssen ja nicht arbeiten. Wir sollen uns mit dem abfinden, was wir haben. Und froh sein über das, was wir bei der Tafel kriegen.« Wer gegen solche Widerstände arbeiten muss, kann schnell den letzten Mut verlieren.

Zur Tafel zu gehen bedeutet, nichts mehr verdrängen zu können. Und wer nichts mehr verdrängen kann, fühlt sich in seinem Selbstbild bedroht. Mit diesem Mechanismus kommt nur klar, wer es unbedingt muss. So erklärt sich, dass zunächst nur die Ehefrau zur Tafel ging. Für sie stand weniger auf dem Spiel, sie fühlte sich robuster: »Wenn es schlimm wird, dann funktioniere ich wie ein Roboter! Auch wenn ich die Welt nicht mehr verstehe. Als wir dann zur Tafel gehen mussten, habe ich wieder funktioniert. Tagsüber habe ich alles gemacht. Am Abend habe ich dann eine Flasche Cognac getrunken.« Erst als seine Frau für längere Zeit krank wurde, ging schließlich, »gezwungenermaßen«, auch der Mann. Zuvor baute er sich einen dicken Schutzpanzer auf: »Ich hatte große Angst davor, in ein dunkles Loch zu fallen. Ich dachte, dann kann ich aufhören, dann kann ich mich auch beerdigen lassen. Aber ich habe mir gesagt: An meiner Würde knabbert keiner. Ich bin Mensch und ich habe mein Leben lang gearbeitet. Ich habe eine entsprechende Bildung. Ich weiß, was ich kann. So habe ich es dann geschafft, mich zu retten.« Was ihm hilft, ist die radikale Versachlichung der eigenen Lebenssituation. Zur Versachlichung gehört auch die Annahme, dass die Tafelnutzung nur ein Provisorium darstellt. Was auch hilft, ist Gewöhnung. »Die Widerstände nehmen ab«, resümiert er. »Aber es kostet unendlich viel Kraft«, entgegnet sie.

Hinter den fein herausgeputzten Einfamilienhäusern – kleinbürgerliche Anstandsbauten mit schicken Autos in der Einfahrt – verbirgt sich, völlig unerwartet, die Armut mitten unter uns. Ich besuche Herrn T. und seine Lebensgefährtin. Die beiden haben die Rollen getauscht, denn Herr T. ist längst nicht mehr der Ernährer der Familie. Obwohl er schon lange Zeit arbeitslos ist, sieht er seine Chancen durch eine rosa Brille. Für den Realismus ist die Partnerin zuständig. Sie weiß, wie lange er schon keinen Job mehr hat. Sie spricht das harte Urteil mit weicher Stimme, fast liebevoll, aus. Es ist nicht als Vorwurf gemeint, sondern als Feststellung über ihre gemeinsam geteilte Welt: »Er kriegt jetzt gar nichts mehr«, wirft sie ein, »noch nicht einmal Hartz IV.« Herr T. verlor seinen Führerschein wegen Trunkenheit am Steuer. Seitdem ist es vorbei. »Es ist schwer, ohne Führerschein einen Job zu finden. Aber ich habe selbst Schuld. Ich habe ihn versoffen.« Schuld ist einfacher als Scham. Ein Schuldeingeständnis beinhaltet noch einen letzten Rest von Aktivität. Scham hingegen ist passives und stummes Leiden. Der einstige Ernährer leidet sehr darunter, dass er seine Familie nicht mehr versorgen kann und auf seine Frau angewiesen ist. Dabei verdient sie als ungelernte Helferin in Teilzeit in einem Altenpflegeheim nur das Nötigste: 800 Euro netto im Monat. Dazu kommt das Kindergeld für zwei Kinder. Weit kommt die Familie damit nicht, meint Herr T., der das Rauchen aufgehört hat, weil er seine Frau nicht um Tabak »anbetteln« will.

Das Haus, geerbt von den Eltern der Frau, ist marode, Dach und Heizung sind kaputt. Das Geld für Reparaturen fehlt seit Jahren. Von außen sieht alles fast normal aus, doch die Fassade täuscht: »So ein Haus, das ist schweineteuer. Das sehen die meisten Leute nicht. Klar, wir zahlen keine Miete. Aber wir brauchen eine neue Heizung, wir brauchen Möbel. Ich schaue jetzt immer in die Zeitungen, wo etwas verschenkt wird. Zu den Sozialkaufhäusern gehe ich nicht, das kostet ja auch ­wieder Geld. Den Wohnzimmerschrank habe ich geschenkt bekommen. Die Garnitur habe ich geschenkt bekommen. Ein Kinderzimmer war noch nicht dabei. Man will immer, aber man schafft es nicht! Und die Kinder selbst, die wachsen auch. Tagtäglich gehen die in die Höhe. Da kann man zugucken.«

In dieses Leben passte die Tafel nicht ohne innere Widerstände. »Niemals. Da gehen wir nicht hin!«, erinnern sie sich gemeinsam an den ersten Eindruck, als sie über Freunde von der Tafel in ihrem Ort erfuhren. Aber der Druck wurde immer größer: »Als das Geld immer knapper wurde und wir überhaupt nicht mehr klarkamen, haben wir anders darüber gedacht. Und als am Ende des Monats nichts mehr da war, waren wir bereit. Der Kühlschrank war leer, die Vorratskammer war leer. Und dann haben wir gesagt, ach komm, probieren wir es einfach mal.«

Mittlerweile sind die beiden bei der Tafel »gut integrierte Nutzer«. Die Tafel ist für sie sogar zu einem neuen Lebens­mittelpunkt geworden, zu einem Umschlagplatz für kleine und größere Akte der Solidarität. Seit sich dort Selbsthilfe­zirkel gebildet haben, ist in der Familie so etwas wie Optimismus zu spüren: »Mittlerweile hat man da schon seine Freunde gefunden. Man hilft sich untereinander. Hast du einen Schrank? Ich habe eine Couch! Ich habe das, ich brauche jenes. Das sind auch so Kriterien, wo man sagen kann: gut, dass ich da hingehe.« Die Tafel ist für sie eine Art der eingeschränkten Selbstversorgung auf niedrigem Niveau: »Man legt schon mal einen Blick auf die Regale und sagt sich: Mein Gott! Du hast die Nummer 25. Wenn man die Nummer 1 hat, dann kann man sich glücklich schätzen. Da hat man den vollen Zugriff. Dann kann man richtig schön ›einkaufen‹. Und sich auch wirklich gute Sachen aussuchen.« Viel Auswahl gibt es nicht, deshalb bleibt nur Hoffnung. Immer wieder drängen sich diese Fragen in den Vordergrund: Was gibt es hier? Was gibt es woanders? »Die haben uns versprochen, dass es bald Fleisch und Wurstwaren gibt. Wenn die einen Kühlwagen haben. So abgelaufenes Fleisch.«

Aber Hoffnungen allein nähren niemanden. Solange es ­dieses Angebot noch nicht gibt, geht die Familie geschlossen in eine Suppenküche. »Hier in der Nähe gibt es auch einen Mittagstisch. Der ist von Montag bis Samstag geöffnet. Das kostet für jeden von uns 1,25 Euro. Also wenn man mit vier Personen dort hingeht, sind das 6 Euro. Dafür bekommt man beim REAL schon gute Dosen. Die kann man aufreißen, das ist dann billiger. Oder Fischstäbchen mit Kartoffelpüree. Das ist halt ein Rechenexempel. Was schaffe ich zu Hause für 1,25 Euro? Beim Mittagstisch gab es schon mal Gulasch mit Nudeln. Das ist eine schwerwiegende Sache. Das kostet schon! So ein halbes Pfund Gulasch, das kostet. Und dann muss man noch die Nudeln dazurechnen. Und die Soße kann man ja nicht mit Wasser einrühren!« Armut bedeutet, das eigene Leben als Rechenexempel zu erfahren, die eigenen Bedürfnisse in Zahlenkolonnen zu zerlegen. »Da freut man sich eben schon auf den Dienstag oder den Freitag. So rein tafelmäßig.«

Beide wünschen sich, dass ihr Leben besser läuft, vor allem wünschen sie sich, dass es sich besser anfühlt, denn: »Zur ­Tafel zu gehen fühlt sich an, als ob wir die Letzten wären, ein komisches Gefühl.« Als ob man nicht mehr Teil der Gesellschaft ist. »Im Moment fühle ich mich, als ob ich eine Nummer wäre. Ich bin nur eine Nummer. Insgesamt. Statistisch gesehen bin ich eine Nummer. Ich habe keine Krankenversicherung, ich habe keinen Job. Ich bin eine Null, aber ich bin eine Nummer.«

Hinter der demonstrativen Wohlanständigkeit verbirgt sich immer häufiger abgrundtiefe Verzweiflung. Das Modell der kleinbürgerlichen Familie, des Häuschens im Grünen, der auf Fleiß und Anständigkeit beruhenden gesellschaftlichen Existenz ist brüchig geworden, so wie auch die damit zusammenhängenden Selbstbilder. Herr T. ist erschüttert. Aber er gibt nicht auf. »Ich hoffe, dass ich demnächst einen festen Job bekomme. Und dann brauchen wir nicht mehr zur Tafel zu gehen. Tafel ade! Das wär’s dann. Wir bräuchten dann dort nicht mehr ›einzukaufen‹, weil man dann selbst genug zur Ver­fügung hat. Mit einem festen Job wird es anders sein. Richtig gut würde ich mich fühlen, wenn ich einen festen Job hätte. ­Einen, wo ich sagen kann: Ich bin was! Ich verdiene mein Geld! Dann könnte ich nach zwei oder drei Jahren einen Kredit aufnehmen. Und damit das Dach reparieren, eine neue Heizung und Möbel für die Kinderzimmer kaufen.« Er träumt von einer Firma, die ihm einen neuen Führerschein bezahlt. Irgendwann würde er gerne mit einem Mercedes vor der Tafel vorfahren. Nur um zu sagen: »Seht her, ich habe es geschafft!« Nicht um anzugeben oder andere zu verletzen, sondern nur, um zu beweisen, dass es möglich ist »rauszukommen«.

Als ich ihm zum Abschied von meiner Reise erzähle, werden seine Augen feucht. Eine lange Zeit unterdrückte Sehnsucht quillt über. Üblicherweise begraben unter Pragmatismus, sucht sie sich nun ihren Weg. Rauskommen aus dieser Welt ist für viele, die ich unterwegs treffe, ein großes Thema. Einer meiner Gesprächspartner besitzt ein Rentner-Ticket. Er berichtete mir von seiner besonderen Reise. Er wollte sich selbst davon vergewissern, dass es noch eine Welt ›da draußen‹ gibt. Also hat er einen Ausflug gemacht – in die nächste größere Stadt, 50 Kilometer entfernt. »Ich habe mich morgens in den Zug gesetzt, bin in die Stadt gefahren, habe geguckt. Und tatsächlich: Das gibt es ja! Und dann bin ich wieder zurückgefahren.«

An einem sommerwarmen Sonntag in Berlin scheint sich die Welt in Wohlgefallen aufzulösen. Leere, breite Straßen strahlen Ruhe und Behäbigkeit aus, modisch gekleidete Mütter schieben Designerkinderwagen vor sich her. Tatsächlich aber erholt sich die Welt nur für eine weitere Runde Chaos. In der Nähe riesiger Wohnblocks bin ich mit einer Tafelnutzerin zum Kaffee verabredet, die ihre Tochter gleich mitbringt und mir davon erzählt, wie sie erfolglos versuchte, mit der Zucht von Perserkatzen das große Geld zu verdienen. Mein zweiter Gesprächspartner öffnet mir die Wohnungstür im Kaftan und erzählt mir von seinem neuen Glauben. Und schließlich treffe ich mich mit Frau C., einer jungen Italienerin, mit der ich über das Containern spreche.

Sie öffnet mir verdutzt die Tür, da sie unseren Termin völlig vergessen hat, reagiert aber gelassen und macht uns erst mal einen doppelten Espresso. Dann berichtet sie, wie sie zum Containern kam. In Berlin möchte sie ein Aufbaustudium machen. Weil sie kaum Geld hat, praktiziert sie Couch-Surfing – im Moment lebt sie fast umsonst in einer Wohngemeinschaft. Gäste kommen und gehen, gekocht wird gemeinsam, eine Art praktizierte Philosophie. »Einfach zusammen leben, nette Leute einladen, zusammen Abendessen. Das ist wie Volks­küche«, erklärt sie. In dieser Gemeinschaft besteht ein starkes »Wir-Gefühl« trotz unterschiedlicher Lebensziele. »Wir sind jung, wir haben kein Geld. Aber wir sind keine Hartz-IV’ler und sehen auch nicht so aus. Manche wollen studieren, manche wollen reisen, manche einfach nur Geld sparen.«